Todeskrähe - Susanne Buchholz - E-Book

Todeskrähe E-Book

Susanne Buchholz

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Beschreibung

Paula Maschke ist Kriminalkommissarin mit Leidenschaft. Für ihren Beruf gibt sie alles, auch wenn Privat- und Familienleben regelmäßig darunter leiden. Ausgerechnet, als sich ihre private Situation zuspitzt, muss sie sich einem besonders extremen neuen Fall widmen: Im Lübecker Stadtpark wird die grausam zugerichtete Leiche eines jungen Mannes gefunden. Während Paula und ihre Kollegen noch über die Hintergründe rätseln, taucht schon der nächste Tote auf. Als sich herausstellt, dass beide Morde mit einer Reihe mysteriöser Vermisstenfälle unter Jugendlichen zusammenhängen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn je länger Paula braucht, um den Fall aufzuklären, desto größer die Wahrscheinlichkeit, auf eine dritte Leiche zu stoßen ...

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Buch

Paula Maschke ist Kriminalkommissarin mit Leidenschaft. Für ihren Beruf gibt sie alles, auch wenn Privat- und Familienleben regelmäßig darunter leiden. Ausgerechnet, als sich ihre private Situation zuspitzt, muss sie sich einem besonders extremen neuen Fall widmen: Im Lübecker Stadtpark wird die grausam zugerichtete Leiche eines jungen Mannes gefunden. Während Paula und ihre Kollegen noch über die Hintergründe rätseln, taucht schon die nächste Leiche auf. Als sich herausstellt, dass beide Morde mit einer Reihe mysteriöser Vermisstenfälle unter Jugendlichen zusammenhängen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn je länger Paula braucht, um den Fall aufzuklären, desto größer die Wahrscheinlichkeit, auf eine dritte Leiche zu stoßen …

Autorin

Susanne Buchholz hat schon früh ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckt. Bereits in der Schulzeit hat sie für ihre Geschwister Aufsätze geschrieben, Kurzgeschichten und Artikel für die Schülerzeitung verfasst und quasi jede Gelegenheit genutzt, etwas zu Papier zu bringen. Mit ihrem nun vorliegenden Kriminalroman »Todeskrähe« hat sie den ersten Platz des Elizabeth-George-Schreibwettbewerbs gewonnen. Die Autorin – seit über 30 Jahren verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder – lebt in Schleswig-Holstein und arbeitet hauptberuflich als Juristin in der Rechtsabteilung eines Unternehmens.

Susanne Buchholz

Todeskrähe

Kriminalroman

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Juni 2024

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Lisa Wolf

TH · Herstellung: ik

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32395-0V001

V001

www.goldmann-verlag.de

Prolog

Obwohl sie die Stimme dicht an ihrem linken Ohr hören konnte, verstand Klara kein Wort. Ihr Kopf dröhnte wie nach einem Hieb mit dem Vorschlaghammer, und ihre Gedanken wirbelten durcheinander, ohne dass sie in der Lage war, sie festzuhalten. Schmerzen zogen ihre Wirbelsäule hoch, so als hätte sie zu lange in einer Position gelegen, ohne sich zu bewegen. Sie konnte spüren, dass sie auf einer harten Unterlage auf dem Rücken lag, und hörte das leise Rascheln von Bettzeug, das glatt gestrichen wurde.

Verzweifelt versuchte Klara, sich auf die Stimme zu konzentrieren, aber da waren auch noch andere Geräusche, die sie immer wieder ablenkten. Monotones Surren und ein leises, stetes Piepen, das an den Nerven zerrte, begleiteten das Gemurmel, das wie durch dichten Nebel zu ihr drang.

Eine sanfte Berührung an ihrer rechten Wange ließ sie kurz zusammenzucken. Ihr Körper verkrampfte sich.

Was war das?, dachte sie panisch. Erinnerungsfetzen ließen Schauer über ihren Rücken laufen, ohne dass sie verstand, warum. Verzweifelt versuchte sie, sie festzuhalten, aber es war zwecklos. Ein kurzes Aufblitzen bedrohlich geballter Fäuste, die unbeschreiblichen Schmerzen, wenn die Fäuste wieder und wieder auf ihren Körper trafen, und dann das unendliche Nichts, das sie umfing.

Das Dröhnen in ihrem Kopf ließ nach, und die Geräusche um sie herum wurden deutlicher. Monotoner Singsang durchdrang die Dunkelheit, und plötzlich konnte sie die Worte verstehen, die wie ein Mantra in ständiger Wiederholung in ihr Bewusstsein drangen.

»Klara, ich bin’s«, flüsterte jemand heiser, und eine Hand strich behutsam über ihre Wange. »Komm, wach auf. Es ist bald vorbei, Klara. Es ist bald vorbei.«

Klara hörte, wie der leise Gesang allmählich in ein Schluchzen überging, welches in einem tiefen Seufzer endete.

Die sanfte Stimme erweckte in ihr eine Sehnsucht, die sie nicht einordnen konnte. Sie kannte diese Stimme, wusste aber nicht, woher. Mit geschlossenen Augen lauschte sie. Die Traurigkeit, die sie heraushörte, erschütterte sie. Sie wollte mitweinen, aber es kam kein Ton über ihre Lippen. Sie war wie gelähmt und konnte nichts dagegen tun. Wie gern hätte sie die Hand, die sie streichelte, genommen und gedrückt, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als einfach nur dazuliegen und zu lauschen.

Das Streicheln hörte auf. Dort, wo vorher die warme Hand an ihrer Wange gewesen war, wurde es kalt. Klänge einer Violine drangen zu ihr durch den Nebel, der ihr Bewusstsein gefangen hielt. Sie kannte diese Melodie, und sie beruhigte und tröstete sie.

Wie aus dem Nichts erschien die Nummer 78, und ein Taxischild leuchtete kurz auf. Die Nummer hatte keine Bedeutung für sie. Woher kam sie dann? Unruhe ergriff sie, und sie versuchte, das Bild festzuhalten, aber es verschwand ebenso plötzlich, wie es aufgetaucht war. Gesichter tauchten aus der Dunkelheit auf, und Hände griffen nach ihr. Hämische Fratzen lachten ihr ins Gesicht, während die Hände sie im Kreis herumschubsten, immer wieder und wieder, bis sie zu Boden ging. Sie wusste nicht, ob es die brutalen Hände gewesen waren, die sie zu Boden gerissen hatten, oder ob sie gestolpert war, aber sie konnte die Hilflosigkeit fühlen, die Ohnmacht und das Bewusstsein darüber, ausgeliefert zu sein.

Blonde lange Haare, einem Heiligenschein gleich, die um einen Kopf flogen, ein glockenhelles, irres Lachen, das die nächtliche Stille durchbrach, und dann das hässliche Knacken wie von einem trockenen Ast, der gebrochen wurde, durchzuckten ihren Geist. Was folgte, war eine gespenstige Stille, die durch das Heulen eines Krankenwagens abgelöst wurde – und dann das absolute Nichts.

Die Violine war verstummt. Erneut ertönte die Stimme an ihrem Ohr.

»Es ist so weit, Klara«, flüsterte sie. »Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, es kann beginnen.«

Kapitel 1

Nur zögernd wich der graue Nebel zurück und beugte sich der Kraft der Sonne, die zunächst zaghaft und dann immer mutiger ihre Strahlen durch die dichten Wolken schickte und der Welt langsam Stück für Stück ihre Farben zurückgab. Vereinzelte Nebelschwaden versuchten hartnäckig, Widerstand zu leisten und verharrten noch eine Weile trotzig über dem kleinen Tümpel im Lübecker Stadtpark, bis auch sie sich schließlich widerwillig auflösten. Die Konturen der Bäume zeichneten sich zunehmend klarer vor dem Hintergrund des weitläufigen Parkgeländes ab. Die morgendliche Stille wurde lediglich vom leisen Vogelgezwitscher ringsumher unterbrochen. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen Florian Martens, der sie begleitete, liebte Kriminalhauptkommissarin Paula Maschke diese frühen Morgenstunden, wenn die Natur gerade erwachte. Sie vermittelten ihr ein Gefühl, als ob die Welt noch in Ordnung sei, auch wenn das gelbe Absperrband, das jetzt unmittelbar vor ihr flatterte, das Gegenteil vermuten ließ. Ihr Kollege teilte diese Vorliebe nicht. Müde und missmutig trottete er hinter Paula her, ohne nach rechts und links zu schauen. Die Schönheit des Parks interessierte ihn nicht. Er hockte am liebsten im Büro vor seinem Computer und recherchierte. Die Arbeit außerhalb dieser gesicherten vier Wände lag ihm nicht. Ich müsste mal wieder joggen gehen, dachte Paula spontan, ohne auf ihren Kollegen zu achten. Ihre Jeans fing schon wieder an zu kneifen, nur ließ ihr Job regelmäßigen Sport nicht zu.

Kurz vor dem Absperrband blieb Paula stehen und ließ die Szenerie, die sich ihr bot, auf sich wirken. Sie zuckte erschrocken zusammen, als sich aus den Bäumen, die um den Teich standen, plötzlich ein Krähenschwarm laut kreischend und mit aufgeregtem Flügelschlag in die Lüfte erhob. Das schrille Krächzen der Vögel ließ Paula einen Schauer über den Rücken rieseln. Wie sie diese Viecher hasste. Ihr Anblick ließ sie stets an Gräber und Tod denken, auch wenn sie wusste, dass ihre Abneigung übertrieben war und Krähen mit zu den intelligentesten Vögeln gehörten, die es gab. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Für sie waren es Vögel, die an den Tod mahnten. Todeskrähen. In ihrer Erinnerung erschien das Bild von der Beerdigung ihrer geliebten Großmutter, wie diese bleich und still in dem in der Kirche aufgebahrten Sarg gelegen hatte. Und wie dieser dann später langsam in die Grube herabgelassen wurde, während Paula selbst wie erstarrt den Krähen zugesehen hatte, die auf den umliegenden Grabsteinen saßen und die Trauergäste mit ihren blanken Knopfaugen beäugten.

Damals war sie erst sieben Jahre alt gewesen, aber dieses Bild hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Auf dem Nachhauseweg vom Friedhof hatte sie sich die ganze Zeit gefragt, ob die Vögel wohl nur darauf warteten, dass die Trauergäste endlich gingen, damit sie sich mit ihren scharfen Schnäbeln über ihre Oma hermachen konnten. Die tröstenden Worte ihrer Mutter hatten sie nicht von dieser Vorstellung abbringen können. Heute wusste sie es natürlich besser, aber trotzdem konnte sie ihre Abneigung gegen diese Tiere nicht verbergen. Fröstelnd zog Paula die Schultern hoch, während sie dem Kreisen der Todeskrähen über den Bäumen zusah.

Florian hielt sich abwartend zwei Schritte hinter ihr, und Paula hörte ihn genervt seufzen. Als sie sich fragend zu ihm umdrehte, sah sie, wie er angewidert seine Schuhe betrachtete, die bereits durch den kurzen morgendlichen Gang durch den Park schmutzig geworden waren. Paula schmunzelte leise in sich hinein. Sie kannte Florian und seine penible Art und wusste, dass er nichts so sehr hasste wie Schmutz und Unordnung. Sie war sich sicher, dass er seine Schuhe sofort putzen würde, sobald sie zurück im Büro waren.

Paula atmete tief die klare Luft ein. Das Plätschern der leisen Wellenbewegungen des kleinen, abgesperrten Tümpels, vor dem sie nun stand, klang beruhigend und half ihr, sich auf das vorzubereiten, was sie gleich erwarten würde. Der Beschreibung ihrer Kollegen nach, die bereits vor Ort waren und den Tatort abgesperrt hatten, erwartete sie kein schöner Anblick, aber das war es ihrer Erfahrung nach eigentlich nie, wenn es um Leichenfunde ging. Paula bewegte sich langsam auf den Tümpel zu. Ein uniformierter Kollege, der etwas blass um die Nase wirkte, hob das Absperrband an, sodass sie und Florian Martens bequem darunter durchschlüpfen konnten. Offenbar wusste er, wer sie waren, auch wenn Paula selbst ihn noch nie gesehen hatte. Ihr Blick wanderte zum nahe gelegenen Teich und blieb an einem unförmigen Klumpen hängen, der dort halb verborgen unter den herabhängenden Ästen der Trauerweide sanft im Wasser hin- und herschaukelte. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte auf den Teich zu und erkannte dann, dass eine weißlich schimmernde Hand aus dem unförmigen Gebilde ragte und im Wasser sanft hin und her schwang, so als wollte sie ihr zuwinken oder sie einladen, zu ihr ins Wasser zu kommen. Soweit Paula es erkennen konnte, handelte es sich bei dem Toten um einen jungen Mann. Der Leichnam war offenbar noch nicht bewegt worden. Paula sah sich suchend um, konnte aber die zuständige Gerichtsmedizinerin Gerda May nirgendwo entdecken.

»Frau May ist auf dem Weg«, sagte der junge Polizist am Absperrband, dessen Namen sie nicht kannte, hilfsbereit, als er ihren suchenden Blick bemerkte. »Ich denke, er ist ermordet worden«, fügte er noch hinzu. Als er den finsteren Blick von Paula bemerkte, zog eine leichte Röte langsam seinen Hals hinauf. Unbehaglich wand er sich unter ihrem forschenden Blick.

»Vielen Dank für Ihre ungemein erhellende Analyse. Sind Sie Gerichtsmediziner?«, antwortete Paula genervt. »Sagen Sie mir lieber, wer ihn gefunden hat.«

Der junge Polizist schluckte hörbar. Eingeschüchtert hob er den Arm und zeigte vage in die andere Richtung des Parks auf eine junge Frau, die sichtlich erschüttert dort stand und zu ihnen herüberstarrte.

»Juliette … Meyer«, stotterte der Uniformierte schließlich. Trotz der morgendlichen Kühle schwitzte er stark und wischte sich mit dem Ärmel seiner Uniform verlegen durch das inzwischen hochrote Gesicht.

Paula nickte wortlos und winkte Florian zu sich. »Geh bitte zu der jungen Frau dort und befrage sie, okay? So wie es aussieht, hat sie den Toten wohl gefunden. Ich schaue mich hier noch etwas um und warte auf die Gerichtsmedizinerin. Danach fährst du gleich zurück ins Büro und gehst die Vermisstenmeldungen der letzten Tage durch. Vielleicht ist ja jemand dabei, auf den die Beschreibung passt.«

Paula wollte sich gerade wieder dem übereifrigen Polizisten zuwenden, als Florian sie zurückhielt.

»Sei nicht so hart zu dem armen Mann«, zischte er ihr vorwurfsvoll zu, bevor er den Anweisungen seiner Chefin Folge leistete und zu Juliette Meyer ging.

Verdutzt blickte Paula ihm hinterher. Was hatte er denn plötzlich? Sie war doch nicht hart zu dem jungen Mann gewesen, sondern hatte nur klargestellt, dass er voreilige Schlüsse gezogen hatte. Irgendjemand musste ihm das doch sagen. Kopfschüttelnd sah sie ihrem Kollegen hinterher und holte tief Luft, bevor sie sich wieder dem jungen Mann vor ihr zuwandte.

»Wissen wir, um wen es sich bei dem Toten handelt?«, fragte sie betont höflich.

Der Polizist schüttelte stumm den Kopf, während er hektisch seine Notizen durchsah.

»Nein, er hatte keine Papiere dabei«, presste er schließlich gequält hervor. »Wir haben den ganzen Park abgesucht, aber da war nichts«, fügte er noch schnell hinzu, als er sah, wie Paulas Miene sich bei seinen Worten erneut verfinsterte.

»Okay, dann suchen Sie mal weiter«, wies Paula ihn an. Dienstbeflissen nickte der junge Polizist und eilte davon. Genervt sah Paula ihm hinterher.

»Junger Mann, um die zwanzig, von guter körperlicher Konstitution. Starker Muskeltonus, ausgeprägte Oberarme. Wahrscheinlich ein Sportlertyp. Ich würde auf Bodybuilding tippen«.

Die Gerichtsmedizinerin Gerda May ging langsam um den Stahltisch herum, auf dem der Tote aus dem Park lag, und sprach dabei in ihr Diktiergerät. Sorgfältig registrierte sie jedes Detail, das ihr auffiel, und blickte dabei hochkonzentriert durch ihre altmodische Schildplattbrille, die viel zu groß für ihr schmales Gesicht war, während sie sich zielstrebig um den Tisch herumbewegte. Die Brille verlieh ihr das Aussehen einer strengen Lehrerin aus den alten Spielfilmen der Fünfzigerjahre. Ab und zu blieb sie kurz stehen, um den Leichnam näher zu begutachten, und setzte dann ihre Runde fort. Nachdem Gerda May bereits im Park eine kurze oberflächliche Untersuchung des Leichnams vorgenommen hatte, war der Tote direkt in die Gerichtsmedizin gebracht worden.

Kriminalhauptkommissarin Paula Maschke sagte nichts. Sie kannte die Gerichtsmedizinerin gut und wusste, wann es besser war zu schweigen. Gerda May mochte es gar nicht, wenn ihr jemand dazwischenfunkte. Geduldig wartete sie also, bis die May mit der äußeren Begutachtung des Toten fertig war. Ganz anders ihr neuer Kollege Hubert Birkholz, der sich erst seit Kurzem vom Drogendezernat in Berlin zur Mordkommission Lübeck und in ihre Abteilung hatte versetzen lassen, um »näher an der Ostsee« zu sein, wie er mit seltsam hoher Stimme nicht müde wurde zu betonen, wenn ihn jemand danach fragte. Klein und drahtig, wie er war, lief er nervös hin und her. Seine Füße waren erstaunlich groß für seine geringe Körpergröße und erinnerten Paula immer ein wenig an die eines Hobbit. Ab und zu blieb er stehen und musterte interessiert die Gerichtsmedizinerin. Offensichtlich gefiel ihm, was er sah, denn sein Blick verklärte sich immer dann, wenn die May bei ihrer Wanderung um den Seziertisch an ihm vorbeiging.

Paula wusste, dass die May im Kollegenkreis den Namen Oberlehrerin May verpasst bekommen hatte, was in ihren Augen nicht gerade ein schmeichelhafter Spitzname war. Aber sie musste zugeben, dass der Name zutreffend war. Trotzdem fand sie es nicht in Ordnung, dass die Kollegen und sogar die Kolleginnen sich über sie lustig machten.

»Sehen Sie diese Spuren hier?«, fragte die Gerichtsmedizinerin plötzlich.

Verwirrt sah Paula sie an. Sprach sie jetzt noch in ihr Gerät, oder hatte sie ihr tatsächlich eine konkrete Frage gestellt?

Die May winkte Paula und Hubert ungeduldig herbei und zeigte auf mehrere Flecken am Körper des Toten, die wie Brandspuren aussahen.

»Was ist das?«, fragte Paula und runzelte die Stirn. Die Spuren sahen tatsächlich merkwürdig aus. Verbrannt, aber irgendwie auch wieder nicht. Schwer einzuordnen.

»Na, kommen Sie nicht drauf?« Lauernd sah Gerda May Paula an. Die Gerichtsmedizinerin liebte es, ihre unbedarften Zuhörer mit ihrem Wissen zu beeindrucken, und nutzte dazu jede sich bietende Gelegenheit.

»Das hier«, dozierte sie mit einem strengen Blick durch die riesige Brille, die ihr fast von der Nase rutschte, während sie mit ihren behandschuhten Händen hin und wieder auf verschiedene dunkle Flecken am Körper des jungen Mannes zeigte, »wurde höchstwahrscheinlich durch Stromstöße verursacht. Hundertprozentig kann ich es erst nach der Obduktion sagen, aber ich verwette meine Oberlehrerin-Brille, dass ich recht habe. Halten Sie dagegen?«, fragte sie grinsend.

Erschrocken und auch leicht überrascht sah Paula die Gerichtsmedizinerin an. Das Gegacker von Hubert überhörte sie dabei geflissentlich. Na so was, dachte Paula, sie weiß offenbar ganz genau, was da über sie geredet wird, aber es scheint ihr nichts auszumachen. Sie hätte gern genauso viel Selbstbewusstsein gehabt wie die May, war sich aber sicher, dass sie selbst nicht so gelassen reagiert hätte.

Sichtlich zufrieden setzte Gerda May ihre Ausführungen fort.

»Ja, ich würde mal sagen, da hat jemand versucht, diesen jungen Mann zu grillen. Muss ziemlich schmerzhaft gewesen sein, und es hat vor allem wohl auch sehr lange gedauert, bis der arme Kerl endlich erlöst wurde. Sehen Sie hier die offenen Stellen am Arm? Sieht so aus, als wenn dort die Klemmen befestigt waren, durch die der Strom dann durchgeleitet wurde. Der Täter hat dem armen Kerl dazu die Arme so weit geöffnet, dass man schon die Muskelstränge erkennen kann, sehen Sie?«, fragte die May und zeigte mit ihrem durch Handschuhe geschützten Zeigefinger auf die entsprechende Stelle.

Paula und Hubert traten näher an den Leichnam heran. Tatsächlich, die Muskelstränge waren in dem weit geöffneten Armen deutlich zu sehen. Eigentümlich verdorrt erinnerten sie an verschmorte Stromkabel. Paula verspürte eine leichte Übelkeit, als sie daran dachte, was das bedeutete. Die May nickte wissend mit dem Kopf, als sie Paulas erschrockenes Gesicht bemerkte.

»Ja, der junge Mann hier hatte keinen leichten Tod. Was ich jetzt schon sagen kann, ist, dass er über Stunden gefoltert worden ist. Die Fesselspuren an seinen Handgelenken, die Sie hier sehen können, zeugen ganz deutlich davon, dass er während der Tortur gefesselt war. Da half ihm das Bodybuilding letztlich auch nicht«, seufzte sie mitfühlend. Ihr Blick ruhte noch einige Augenblicke mitleidig auf dem geschundenen Körper, bevor sie sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrierte. »Zur genauen Todesursache kann ich ohne eingehendere Untersuchung zwar noch nichts sagen, aber ich könnte mir vorstellen, dass es zu akutem Herzversagen gekommen ist. Tausende von Volt hält der Körper nicht lange aus. Außerdem habe ich noch einige Anhaftungen gefunden, die ich noch nicht genau zuordnen kann, da müsste ich eine Analyse machen lassen. Die ist aber sehr teuer, habe ich Ihr Einverständnis dafür?«

Paula nickte der Gerichtsmedizinerin zu. »Alles, was uns bei der Aufklärung hilft, sollte auch gemacht werden«, sagte sie.

»Das sehe ich genauso«, antwortete die Gerichtsmedizinerin und blickte zu dem jungen Mann vor sich auf dem Obduktionstisch. »Armer Kerl«, schloss sie mitleidig, während sie die starren, aber ebenmäßigen Gesichtszüge des Toten vor ihr betrachtete. »War ein hübscher Kerl«, resümierte sie bedauernd und warf Hubert dabei einen raschen Seitenblick zu. Hubert reagierte prompt und zwinkerte der May zu.

Paula zog scharf die Luft ein. Solche sexistischen Andeutungen gefielen ihr überhaupt nicht, egal, ob sie von einer Frau oder einem Mann kamen, aber sie hielt den Mund und schluckte die Bemerkung, die ihr auf der Zunge gelegen hatte, herunter. Die May war eben manchmal etwas grob, aber sie war eine gute Gerichtsmedizinerin und konnte zudem auch Mitleid mit den Opfern entwickeln, die auf dem Tisch vor ihr lagen. Das war wahrscheinlich ihre Art, mit der Tatsache fertigzuwerden, täglich mit dem sinnlosen und brutalen Tod von den Opfern konfrontiert zu sein, besonders wenn es sich um Menschen handelte, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Bei Hubert war sie sich noch nicht so sicher, ob er immer so reagierte oder ob er einfach die sich bietenden Gelegenheiten ergriff, um sich selbst ins Licht zu rücken. Sie nahm sich vor, das Verhalten ihres Kollegen im Auge zu behalten und ihn notfalls zurechtzuweisen, wenn es öfter vorkommen sollte.

»Weiteres gibt es nach der Obduktion, wie immer«, sagte Gerda May resolut und wedelte Paula und Hubert ungeduldig aus dem Raum, um sich weiter ungestört ihrer Aufgabe zu widmen.

Kapitel 2

Schon als Kriminalkommissarin Paula Maschke am nächsten Morgen ihr Büro betrat, wusste sie, dass es kein guter Tag werden würde. Der Streit mit ihrem Mann Michael saß ihr noch in den Knochen. Sie wusste, dass sie überreagiert hatte, konnte aber nichts dagegen tun. Diese ständigen Reibereien zu Hause gingen ihr an die Nieren. Andererseits konnte sie doch auch nicht tatenlos zuschauen, wie ihre Tochter ihr Leben verpfuschte, und Michael wollte das einfach nicht verstehen. Nachdenklich blickte sie aus dem weit geöffneten Fenster ihres Büros hinaus in den frühen Morgen und nippte an ihrem Kaffee.

In Gedanken war sie immer noch zu Hause. Der Morgen hatte eigentlich ganz normal mit dem üblichen Chaos begonnen. Als der Wecker um halb sechs klingelte, hatte sie sich schlaftrunken ins Bad geschleppt. Wie immer war sie als Erste wach. Mit halb geschlossenen Augen, die vom Schlaf noch verquollen waren, sah sie in den Spiegel und fragte sich, wer die Person war, die ihr da entgegenblickte. Erst unter der Dusche begannen ihre Lebensgeister sich langsam zu regen, und sie ging gedanklich die Dinge durch, die heute anstanden. Als Erstes musste sie wie immer ihren Mann aus dem Bett werfen, die Kaffeemaschine anschalten, damit der Kaffee fertig war, wenn er aus dem Bad kam. Ohne seine Tasse Kaffee am Morgen war Michael nicht ansprechbar. Wenn sie die anstehenden Aufgaben besprechen wollte, musste sie sicher sein, dass er auch zuhörte. Andernfalls würde er behaupten, er wüsste von nichts.

»Du kannst ins Bad«, rief sie ihm wie jeden Morgen zu und warf ihr Nachthemd haarscharf an seinem Kopf vorbei aufs Bett. Anschließend ging sie die Treppe zur Küche hinunter. Bevor sie die letzte Stufe erreicht hatte, hörte sie schon das vertraute zarte Pfeifen, mit dem ihr Meerschweinchen Roxy verkündete, dass es Hunger hatte, und sie musste unwillkürlich lächeln.

»Ja, ja, du bekommst gleich was«, murmelte sie zärtlich. »Aber erst setze ich den Kaffee auf, nicht jeder ist so geduldig wie du.«

Erwartungsvoll presste Roxy sich in der Hoffnung auf Futter an die Gitterstäbe des großen Käfigs, balancierte auf den Hinterpfötchen und beobachtete ganz genau, was Paula in der Küche so trieb. Als sie schließlich mit einem saftigen Stück Gurke und einem Salatherz auf sie zukam, fing Roxy vor Freude an, lautstark pfeifende Geräusche von sich zu geben und aufgeregt im Käfig hin und her zu laufen. Jeden Tag bekam sie das Gleiche, und jeden Tag tat sie so, als wenn es das absolut Größte wäre. So zufrieden müssten die Kinder auch mal sein, dachte Paula bei diesem Anblick und schämte sich gleich darauf für diesen Gedanken. Komm schon, Paula, altes Haus, so schlimm und verwöhnt sind sie ja nun auch nicht, redete sie sich selbst gut zu, während sie die Treppe wieder hinauf zu den Zimmern ihrer Kinder ging, um sie zu wecken. Sie waren nun mal in der Pubertät, da musste man wohl etwas nachsichtiger sein. Sie erreichte das Zimmer ihrer Tochter und klopfte an die Tür. Heute würde sie cool und gelassen bleiben und sich von Sarah nicht provozieren lassen. Aber schon in dem Moment, als sie die durch die Zimmertür gedämpfte, hörbar genervte Stimme ihrer Tochter hörte, wurde ihr klar, dass ihr das wieder nicht gelingen würde.

»Lass mich schlafen«, murmelte die körperlose Stimme.

Mit einem Mal packte Paula eine unerklärliche Wut auf ihre Tochter. Mit beiden Fäusten hämmerte sie auf die Tür ein.

»Steh jetzt auf! Ich habe keine Lust mehr, alle paar Minuten den Weckdienst zu spielen, und es geht mir tierisch auf die Nerven, dass du ständig zu allem zu spät kommst«, schrie sie. Sie spürte, wie die Wut wuchs und wuchs. Seit Wochen ging das nun schon so, ohne dass sich etwas änderte.

»Lass mich in Ruhe, du nervst. Ich bin volljährig, da kann ich machen, was ich will. Merk dir das endlich.« Die entspannte Stimme ihrer Tochter wirkte zusätzlich wie ein rotes Tuch auf Paula.

»Dann benimm dich gefälligst auch wie eine Erwachsene. Jeden Morgen der gleiche Mist, ich habe die Schnauze voll.« Inzwischen hatte sie sich so in Rage geredet, dass Paula die letzten Worte regelrecht geschrien hatte. Die Hand, die sich von hinten beruhigend auf ihre Schulter legen wollte, schüttelte sie wütend ab. Michael war gekommen, um seine aufgebrachte Frau zu beruhigen.

»Lass sie, sie ist alt genug. Sie muss ihre Fehler selbst machen. Es nützt nichts, dich so aufzuregen. Lass uns in Ruhe unten einen Kaffee trinken.« Vergeblich versuchte er dabei, sie von der Tür wegzuziehen.

»Lass mich los, wie kannst du da nur so ruhig bleiben? Ist es dir völlig egal, wenn sie sich ihre Zukunft durch ihre Faulheit verbaut? Wie oft ist sie in diesem Jahr schon zu spät gekommen? Zehn Mal! Aber das ist dir ja offensichtlich egal. Kein Wunder, dass sie macht, was sie will. Vielen Dank für deine Unterstützung«, brüllte Paula.

Im nächsten Moment riss sie die Tür auf und stürmte wutentbrannt an ihrem verblüfften Mann vorbei ins Zimmer ihrer Tochter. Sie zerrte an der Bettdecke, die Sarah sich wie einen Schutzwall erschrocken über den Kopf gezogen hatte.

»Du stehst jetzt auf«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und wenn ich dich eigenhändig in die Schule schleppen muss. Noch wohnst du zu Hause und lebst von meinem Geld, da kann ich wohl erwarten, dass du dich an die Spielregeln hältst.«

Mit einem Ruck hatte sie die Bettdecke hochgerissen und sie in hohem Bogen quer durchs Zimmer geworfen. Mit einem unsanften Plumps landete die Decke auf den aufgestellten Fotorahmen, die das Sideboard ihrer Tochter zierten. Scheppernd fielen die Rahmen zu Boden. Auch das Zerbrechen von Glas war zu hören. Erschrocken starrte Paula auf den Scherbenhaufen, für den sie verantwortlich war. Was hatte sie getan? Mein Gott, was war nur los mit ihr? Hilflos sah sie ihren Mann an, der nur stumm den Kopf schüttelte. Verachtung und Mitleid spiegelten sich in seinem Gesicht.

»Bist du bescheuert?« Sarah hatte sich mit verwuschelten Haaren aus dem Bett gekämpft. »Du bist doch echt krank. Gott sei Dank kann ich bald ausziehen!«

Mit steifen Schritten marschierte sie Richtung Bad, ließ die Badezimmertür hinter sich zuknallen und drehte den Schlüssel von innen so unsanft herum, dass er im Schloss knirschte.

Tobias stand mit einem großen Fragezeichen im Gesicht im Flur und starrte verwundert auf seine Mutter. Sein Blick wanderte weiter zu seinem Vater, der nur vollkommen hilflos mit den Schultern zuckte und auf die geschlossene Badezimmertür starrte, hinter der Sarah verschwunden war. Mit einem letzten verständnislosen Blick auf seine Eltern schlurfte Tobias schließlich müde in sein Zimmer zurück. Sein Bett protestierte ächzend, als er sich hineinwarf. Abrupt drehte Paula sich um und stürmte die Treppe hinab. Im Vorbeigehen zerrte sie ihre Tasche vom Garderobenhaken und griff nach den Autoschlüsseln im Schlüsselkasten.

»Da du ja so gut mit Sarah kannst, überlasse ich es dir, sie zur Schule zu schicken. Ich fahre zur Arbeit. Anscheinend kann ich sowieso nichts richtig machen. Warte nicht auf mich, es kann spät werden«, rief sie noch, bevor sie die Haustür erreichte.

»Paula, das habe ich doch gar nicht gesagt«, hörte Paula ihren Mann noch rufen, bevor die Haustür hinter ihr zufiel, aber seine versöhnlichen Worte verpufften im Nichts.

Im Nachhinein tat Paula ihr Ausraster leid. Sie wusste ja, dass Michael recht hatte, und trotzdem war sie wütend auf ihn. Konnte er sie denn nicht einmal unterstützen und auch ihre Sichtweise verstehen? Sie ertrug es einfach nicht, dass Sarah sich ihre Zukunft wegen ihrer ständigen Unpünktlichkeit verbaute. Warum, verdammt noch mal, sah er das denn nicht? Sarah war doch auch seine Tochter. War es ihm denn völlig egal, was sie mit ihrem Leben anstellte?

Sie überlegte gerade, ob sie ihn anrufen sollte, um den Streit beizulegen, als es an ihrer Bürotür klopfte und ihr Kollege Hubert Birkholz den Kopf hereinsteckte. Übermotiviert und engagiert, wie er war, hoffte er darauf, bald einen großen Fall zu bekommen, an dem er sich beweisen konnte. Paula hatte allerdings auch schon festgestellt, dass er sich nur ungern etwas sagen ließ und immer das letzte Wort haben musste. Das würde sich hoffentlich mit der Zeit geben. So war ich auch mal, dachte Paula, während sie Hubert betrachtete. Meine Güte, das musste gefühlt tausend Jahre her sein. Im Moment spürte sie jedes einzelne ihrer 45 Jahre, wenn sie an die ewigen Machtkämpfe mit ihrer pubertierenden Tochter zu Hause dachte. Wie sollte sie sich dabei noch auf den Job konzentrieren? Sie fühlte sich ausgelaugt und müde und völlig unzulänglich. Wenn es doch nur bald vorbei wäre, betete sie im Stillen. Schade, dass man Pubertierende zwischen vierzehn und neunzehn Jahren nicht einfrieren konnte. Sie stellte sich Sarah und Tobias in einer riesigen Tupperwareschale vor, wie sie im Keller ihres Hauses darauf warteten, wieder aufgetaut zu werden, sobald sie wieder zurechnungsfähig waren.

»Ja, das wäre schön«, dachte Paula und bemerkte erst, dass sie diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte, als Hubert sie irritiert ansah.

»Paula, brauchst du ’ne Extraeinladung oder einen roten Teppich, oder was? Können wir dann mal los?«, fragte er ungeduldig und war schon halb aus der Tür, als Paula aufschreckte.

»Hm. Wohin?«, entgegnete sie abwesend. Hubert sah sie immer noch fragend an.

»Na, nach unten ins Besprechungszimmer. Da wartet ein Herr Jens Markwardt auf uns. Herr Markwardt hat seinen Sohn Jakob als vermisst gemeldet. Jakob ist gestern nach einer Party von seinem Freund in der Sibeliusstraße nicht nach Hause gekommen. Er sollte um Mitternacht zu Hause sein und hatte noch durchgerufen, als er sich auf den Weg gemacht hatte. Jakob ist erst sechzehn Jahre alt. Das war seine erste größere Party. Der Vater hat es nur erlaubt, weil er den Freund seines Sohnes gut kennt, bei dem er eingeladen war, und weil er am nächsten Tag erst zur dritten Stunde in die Schule musste. Sein Freund wohnt nur ein paar Straßen von seinem eigenen Zuhause entfernt in der Markgrafenstraße, und deshalb durfte er auch allein nach Hause gehen und ist nicht von seinem Vater abgeholt worden. Der Vater ist jetzt unten und will uns unbedingt sprechen, weil er glaubt, dass Jakob etwas passiert ist. Er hat noch gestern Nacht eine Vermisstenanzeige aufgeben und ist total aufgelöst, weil Jakob immer noch nicht wiederaufgetaucht ist. Die Kollegen haben ihm schon gesagt, dass das keine Sache für die Kriminalpolizei ist, aber er hat nicht lockergelassen und unseren Chef um Hilfe gebeten, den kennt er wohl vom Golfen oder so. Jedenfalls gibt es jetzt Order von oben, dass wir uns mal anhören sollen, was er will. Ich weiß auch, dass wir dafür nicht zuständig sind, aber es ist eine direkte Anordnung vom Polizeidirektor Müller.«

Was für ein Scheißtag, dachte Paula genervt. Jetzt müssen wir uns auch noch um entlaufene Jugendliche kümmern, die sowieso nur das machen, was sie wollen, und keine Rücksicht auf ihre Eltern nehmen. Als wenn wir nicht auch so genug zu tun hätten.

»Okay, dann lass uns mal. Hol bitte Florian dazu und benachrichtige auch Olaf Clausen, falls der Vater psychologischen Beistand braucht. Ich muss noch mal auf die Toilette und komme dann in ein paar Minuten nach, okay? Wir treffen uns dann unten«, sagte Paula und machte sich auf den Weg.

Als Paula ein paar Minuten später den Besprechungsraum betrat, waren bereits alle versammelt. Herr Markwardt wurde hereingeführt. Er war ein distinguiert wirkender Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Mit vollendeter Höflichkeit begrüßte er zuerst Paula und verbeugte sich kurz vor ihr, als er ihr die Hand gab. Sieh an, einer von der alten Schule, dachte Paula angenehm überrascht und stellte sich und die anderen Anwesenden kurz vor.

»Olaf Clausen?«, stutzte Herr Marquardt kurz, als ihm der Polizeipsychologe vorgestellt wurde. »Der Olaf Clausen, der im Gymnasium meines Sohnes Kurse in Psychologie gibt? Jakob ist total begeistert davon. Er will unbedingt Psychologie studieren.«

Verlegen wehrte Olaf Clausen die Lobeshymne ab. »Das freut mich«, erwiderte er lächelnd und bot Herrn Markwardt einen Platz an.

Verwundert hatte Paula den kurzen Wortwechsel verfolgt. Sie kannte Olaf Clausen bereits seit Jahren und hatte sich hin und wieder auch über private Dinge mit ihm unterhalten. Ihr gegenüber hatte er nie erwähnt, dass er nebenbei auch Psychologiekurse an Gymnasien gab. Wie wenig man die Menschen, mit denen man fast täglich zu tun hat, doch kennt, dachte sie amüsiert, während sie sich ebenfalls setzte und das Gespräch eröffnete.

»Herr Markwardt, Sie haben Ihren Sohn Jakob als vermisst gemeldet, weil er gestern Abend nicht nach Hause gekommen ist«, leitete sie das Gespräch ein, während sie den Besucher unauffällig musterte. Sie bemerkte, wie Herr Markwardt nervös die Hände knetete, als er zustimmend nickte.

»Ja, so ist es«, sagte er leise.

Ungeduld und auch Angst spiegelten sich in seinen Augen wider. Er öffnete den Mund, um fortzufahren, und schloss ihn sogleich wieder, als seine Gefühle ihn offenbar zu überwältigen drohten. Hilflos fuhr er sich mit der Hand über die Augen, so als wollte er die trüben Gedanken wegwischen. Paula betrachtete ihn mitleidig.

»Ist das schon öfter vorgekommen, dass Ihr Sohn über Nacht weggeblieben ist, ohne Ihnen Bescheid zu sagen?«, fragte sie mit betont sachlicher und ruhiger Stimme.

Dankbar blickte er sie an. »Nein, das ist es ja gerade, Jakob ist immer sehr zuverlässig. Er hat doch auch extra noch angerufen, als er von der Party los ist, so wie wir es vereinbart hatten.«

Paula wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, aber Herr Markwardt ließ es gar nicht dazu kommen.

»Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen, aber so ist er nicht, das müssen Sie mir glauben. Ihm ist etwas zugestoßen, ich spüre das«, schloss er aufgeregt, als ob er ihre Zweifel spürte.

Paula wechselte einen raschen Blick mit dem Psychologen Olaf Clausen und sah, dass dieser ihr ein Zeichen gab, dass er nun mit der Befragung weitermachen wollte. Zustimmend neigte sie den Kopf und lehnte sich in ihrem Stuhl abwartend zurück, um dem Gespräch aufmerksam zu folgen.

»Herr Markwardt, ich verstehe, dass Sie sich Sorgen um Ihren Sohn machen«, hob der Psychologe Clausen an, »aber Ihnen ist sicher auch bewusst, dass ein Junge in diesem Alter seinen Eltern nicht immer alles erzählt. Es liegen uns zurzeit keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Jakob etwas passiert sein könnte. Anfragen, die in der Nacht an Krankenhäuser gerichtet wurden, waren alle negativ. Kann es nicht sein, dass er auf der Party ein nettes Mädchen kennengelernt und lediglich vergessen hat, Ihnen Bescheid zu geben, dass er mit ihr nach Hause gehen wollte? So etwas kommt leider öfter vor, als man denkt. Machen Sie sich keine Sorgen, er taucht schon wieder auf«, redete er beruhigend auf den besorgten Vater ein.

»Sie glauben mir nicht«, schrie Herr Markwardt plötzlich los. »Jakob ist nicht so, er sagt mir immer Bescheid. Das haben wir so vereinbart, seit seine Mutter vor drei Jahren bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen ist. Er weiß, dass ich mir Sorgen um ihn mache. So etwas würde er mir nie antun. Ich habe doch nur noch ihn«, schloss er und brach in Tränen aus.

Paula schluckte bewegt, als sie die Verzweiflung des aufgebrachten Vaters sah. Wenn sie sich vorstellte, dass es ihr eigener Sohn wäre, der nicht nach Hause gekommen wäre, krampfte sich ihr Herz vor Mitleid zusammen. Sie traf eine Entscheidung.

»Herr Markwardt, ich glaube Ihnen. Lassen Sie uns die Einzelheiten durchgehen. Ich bin sicher, wir werden Jakob schnell finden, und er kommt wohlbehalten zu Ihnen zurück. Haben Sie ein aktuelles Foto Ihres Sohnes dabei?«

»Ja, Moment, hier ist es«, sagte Herr Markwardt.

Verstohlen wischte er sich über die nassen Augen, zog dann seine Brieftasche hervor und legte ein kleines Passfoto in Paulas ausgestreckte Hand. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das Bild des Jungen mit den großen rehbraunen Augen rührte sie eigentümlich an. Lange braune Haare umrahmten ein zartes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Jakob strahlte eine Unschuld und Sanftmut aus, die anziehend wirkte. Besonders auf Pädophile, dachte Paula besorgt und verstand nun besser, warum der Vater sich so große Sorgen machte. Jakob wirkte auf dem Foto wesentlich jünger als seine sechzehn Jahre und zudem sehr angreifbar und verletzlich. Irgendwie nicht von dieser Welt, dachte Paula, als sie das Foto an ihre Kollegen weitergab.

Laut fragte sie: »Wie aktuell ist dieses Foto, Herr Markwardt? Jakob wirkt sehr jung, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Das Foto habe ich erst letzte Woche machen lassen, weil Jakob sich für ein Praktikum bewerben will. Ja, Sie haben recht, Frau Maschke, Jakob ist recht klein für sein Alter und wirkt eher schmächtig. Er wiegt gerade mal fünfzig Kilo. Er hat Probleme, müssen Sie wissen. Seit dem Tod seiner Mutter hat er sich sehr in sich zurückgezogen. Ich musste ihn deshalb in psychiatrische Behandlung geben. Es ging einfach nicht mehr anders. Ich habe große Angst um ihn. Jakob hat zudem starkes Asthma, er braucht ständig sein Asthmaspray. Bitte, Sie müssen ihn finden.«

Flehend sah Herr Markwardt in die Runde, dann fing er erneut an zu weinen und vergrub sein Gesicht verzweifelt in den Händen.

»Wir werden Ihren Sohn finden, Herr Markwardt, das verspreche ich Ihnen«, sagte Paula und begleitete den gebrochenen Vater hinaus. Mitleidig sah sie ihm hinterher, wie er mit schweren Schritten zu seinem Fahrzeug ging und davonfuhr.

Kapitel 3

Ratlos betrachtete Lisa den Zettel in ihrer Hand. Er hatte lose in ihrem Psychologiehandbuch gelegen, und sie hatte ihn erst entdeckt, als sie nach der Pause in den Klassenraum zurückgekommen war. Es musste sich um ein abgerissenes Kalenderblatt handeln, auf dessen Rückseite jemand etwas mit Tinte geschrieben hatte. Du bist die Nächste, las sie die ungelenke Handschrift. Nichts weiter, nur dieser eine Satz. Als Lisa das Kalenderblatt umdrehte, sah sie, dass es das Datum des nächsten Tages zeigte, dem 7. März. Lisa zog fröstelnd die Schultern hoch und sah sich verstohlen im Klassenraum um, der sich nach dem Klingelzeichen für den Beginn der nächsten Stunde langsam wieder füllte. Sie musterte die anderen Schüler, die lärmend nach und nach den Raum betraten, um festzustellen, ob vielleicht einer von ihnen sich besonders auffällig verhielt, aber alles schien ganz normal zu sein. Niemand, der sie beobachtete. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Es wurde in den Rucksäcken gekramt, um die Bücher und Hefte für die nächste Stunde hervorzuholen. Stühle scharrten lautstark über den tristen Linoleumboden, begleitet von dem obligatorischen Knall, wenn ein Buch mit Schwung auf den Tisch befördert wurde. Langsam kehrte Ruhe ein. Lisa saß nachdenklich mit dem Zettel in der Hand an ihrem Platz und las immer wieder die rätselhafte Nachricht, die sie erhalten hatte. Was