Todeslohn - Gundel Limberg - E-Book

Todeslohn E-Book

Gundel Limberg

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Beschreibung

In einem treibenden Boot wird eine Frau gefunden, ein Stilett in der Brust. Die Tote hat eine goldene Münze im Mund – so wie bereits drei andere Mordopfer. Kommissar Lorenz Leuwen wird mit den Ermittlungen beauftragt, doch Gemeinsamkeiten zwischen den Toten scheint es nicht zu geben – abgesehen von der goldenen Münze. Dann erfährt Leuwen, dass seine Tochter Isabell eine identische Münze gekauft hat. Kurz darauf verschwindet Isabell. Kann er sie finden, ehe es zu spät ist?

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Gundel Limberg

Todeslohn

Limberg, Gundel. ­Todeslohn, edition krimi 2023

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-949961-01-4

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den ­Handel oder den Verlag bezogen werden.

ISBN: 978-3-949961-00-7

Lektorat: Sabrina Emrich, Mainz / Michael Haitel

Umschlaggestaltung: © Christl Glatz | Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von iStock / Getty Images Plus Umschlagabbildungen: © naropano/iStock/Getty Images Plus © Brostock/iStock/Getty Images Plus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© edition krimi, Hamburg 2023

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Contents

Sonnenaufgang über dem Edersee

Es beginnt

Noch ist die SPUSI da

Regentag

Erste Erkenntnisse

Natürlich

Das Treffen der Ex-Partner

Ein Obolus

Netter Versuch

Ein Ausweg aus jeder Lage

Der Anschnauzer

Die Pressekonferenz

Wut und Frustration

Zahra

Thomas

Adrenalin

Ringelringelreihen

Auffindung

Das Treffen

Hauptkommissar

Zusammengetragenes

Der Informant

Omi

Sind Sie Julia Feiner?

Inmitten von Rosen

Die Nummer

Eine erste operative Fallanalyse

Die Frauen

Nicht du!

Immer freundlich

Was für eine Hektik

Druck

Melanie besucht einen Münzladen

Es ist Isabell

Entscheidung

Der Name Leuwen

Besuch bei einem Numismatiker

Ein Glas Wasser

Lorenz, du musst etwas tun!

Die Jagd beginnt

Zäh

Dann gilt es nun

Das Haus

Funkloch

Überfahrt

Dunkelheit und Licht

Führungswechsel

Sechzehn Tage später

Es kommt Post

Landmarks

Cover

Wieviel bittere Tode starb ich schon!

Neugeburt war jedes Todes Lohn.

Hermann Hesse, »Erster Schnee«

Sonnenaufgang über dem Edersee

»Aber nicht ertränken«, sagte sie plötzlich. »Nicht ertränken! Das haben Sie mir versprochen.«

Die ganze Zeit hatte sie geschwiegen, während das Boot im dichten Nebel weiter und weiter auf den See hinausgeglitten war.

»Natürlich nicht«, erwiderte er. »Du musst dir keine Sorgen machen.«

Selbst in seinen Ohren klang dieser Satz sonderbar.

Aber sie schien beruhigt.

Nach weiteren fünfzig Metern zog er die Ruder ein.

»Der Zeitpunkt ist gekommen, sich zu entscheiden. Zahle den Obolus und tritt deine Reise an. Oder kehre um!«

Der Dunst lag so dicht über dem Wasser, dass sie bereits jetzt geisterhaft wirkte, so als würde sie sich im Nebel langsam auflösen. Ihre zartviolette Strickjacke und das mausblonde Haar verschmolzen farblich immer mehr mit dem Boot und dem See und einer kaum zu erahnenden Uferlinie.

Sie saß da. Sagte nichts. Ihr Blick ging irgendwo ins Leere. Dann tauchte sie die Fingerspitzen ins Wasser, zog sie wieder heraus und hielt die Hand dicht vor die Augen, als müsse sie sich vergewissern, dass sie noch da war.

Das kannte er schon.

Es war ein letzter Schrei nach Leben, der manchmal die Wende brachte.

Er wartete geduldig.

Diese Phase durfte man nicht abkürzen.

Sie war die vielleicht Süßeste von allen.

So intensiv!

Ihre Hand glitt nun über den Bootsrand, fühlte das Holz, den abblätternden Lack, das kühle Metall.

Sie wirkte plötzlich angespannt, ihre Blicke gingen hin und her. Wie im Traum. Innerer Dialog. Sie sprach bei sich letzte Worte, wiederholte im Stillen Sätze, die einmal gesagt worden waren, oder andere, die sie nie gesagt hatte, obwohl das besser gewesen wäre.

Auf einmal kam das Lächeln.

Das kannte er.

Deshalb war er auch nicht überrascht, als sie jäh in die Hosentasche griff und ihm dann auf der flachen Hand die Münze darbot.

Es war eine alte, vergoldete Medaille, ihre Taufmünze, wie sie ihm erzählt hatte. Sie stammte von ihrer Tante, die sie selbst ebenfalls zur Taufe bekommen und dann an sie weitergegeben hatte. Wie so vieles andere in der Familie.

Leid. Sorgen. Lebensstrategien, die nicht aufgingen.

Das lastete auf allen Frauen dieser Linie, wie sie ihm geschrieben hatte. Es stand auf dem Grabstein der Tante. Ein Aufschrei in Stein: Oh, Herr! Warum?

Eine sehr seltene Inschrift für ein Frauengrab.

Die Tante war früh gestorben, die Umstände ihres Todes blieben ungeklärt.

Und jetzt saß sie hier, die Nichte, die Erbin, und hielt ihm diese Münze hin.

Das Geldstück stammte aus dem Jahr 1916, zeigte das Konterfei des letzten deutschen Kaisers, und war so sorgsam in seiner Schatulle aufbewahrt worden, dass es aussah wie eben erst geprägt.

»Wenn ich die Münze entgegengenommen habe, gibt es keinen Weg zurück«, erinnerte er sie an die Abmachung. »Bist du sicher, dass du sie mir geben willst?«

Sie musste nicht antworten. Ihre Gesichtszüge hatten dieses Weiche bekommen, diesen einzigartigen Ausdruck der Verklärung.

»Aber nicht ertränken«, murmelte sie noch einmal.

»Nicht ertränken«, bestätigte er sanft.

Dann nahm er die Münze aus ihrer Hand.

Es beginnt

Als Helena anrief, saß Lorenz beim Frühstück.

Gerade hatte er Erdnussbutter auf seinen Toast gestrichen und kämpfte jetzt mit der selbstgekochten Marmelade, die zu dünnflüssig war und den Küchentisch vollkleckerte, statt sich gleichmäßig auf der Erdnussbutter verteilen zu lassen.

»Ja?«, fragte er, das Handy zwischen Schulter und Kinn geklemmt, während er sich süßes Erdbeerzeug von den Fingern leckte.

»Morgen, Lorenz. Du musst deinen Tagesplan über Bord werfen. Wir haben eine weitere Leiche mit einer Münze im Mund. Am Edersee.«

»Am Edersee? Okay. Der liegt ein gutes Stück vom letzten Tatort weg.«

»Ja. Aber ausnahmsweise mal günstig für uns – keine fünfzig Minuten zu fahren. Zwei Jungs haben das Boot mit der Leiche angelandet. Details erzähl ich dir im Auto. Ich hol dich in zehn Minuten ab, okay?«

»Gib mir zwölf!« Lorenz legte auf, stopfte sich den Rest Toast in den Mund, rannte die Treppe hinauf und ins Bad, wo er den Rasierapparat aus der Ladestation zog. Sich schnell fertigzumachen, gehörte zu den Grundfähigkeiten in seinem Beruf und er hatte dafür längst eine verlässliche Routine entwickelt, doch heute ging ihm das alles nicht recht von der Hand. Unter anderem fiel ihm die Zahnpastatube über den Rand des Waschbeckens und glitt unter den Unterschrank, wenige Sekunden später lag auch das Handtuch am Boden. Lorenz tastete unter dem Schränkchen herum, fluchte, fischte erst die Tube, dann das Handtuch auf und schaffte es schließlich trotzdem, pünktlich die Haustür hinter sich zuzuziehen.

Helena stand mit dem Wagen gegenüber im Halteverbot und telefonierte. Als Lorenz einstieg, legte sie auf und startete den Motor, ignorierte das Piepen, das losging, weil Lorenz noch nicht angeschnallt war, und sagte: »Wir wurden eingeschaltet, weil die Tote eine Münze unter der Zunge trug, offenbar aus Gold, etwa hundert Jahre alt und gut erhalten. Umgekommen ist sie durch eine Stichverletzung.«

»Am Edersee«, überlegte Lorenz. »Ein idyllisches Fleckchen für einen Mord. Und ein verdammt großes Gebiet für uns, um alles abzusuchen!«

»Ja, rund elf Quadratkilometer groß, von Wald umgeben«, sagte Helena. »Für einen Täter gibt es da tausend Möglichkeiten, wegzukommen. Die Gegend wird sehr intensiv für Freizeitaktivitäten genutzt …«

»Ja, ich weiß. Baden, Segeln, Sonnen. Das ganze Programm. Ich war da auch schon irgendwann einmal.«

»Und rund herum Reiterferien«, ergänzte Helena. »Pkw, die nicht aus der Gegend sind, finden wir dort zu Dutzenden, wenn nicht zu Hunderten.«

»Garantiert. Entsprechend muss unser erstes Anliegen sein, die Tote zu identifizieren. Sonst kommen wir von Anfang an nicht voran. Gibt es da erste Anhaltspunkte?«

»Mal gucken, was die inzwischen haben. Noch vor fünfzehn Minuten war die Aussage, dass sie keine Hinweise auf ihre Identität haben.« Auch nach einem schnellen Telefonat über die Freisprechanlage gab es keine neuen Informationen.

»Seien wir nicht zu ungeduldig«, sagte Lorenz. »So weit sind die vor Ort ja noch gar nicht, nehme ich an.«

»Natürlich nicht. Du weißt ja, wie lange das alles immer dauert. Aber ich dachte mir, dass du gerne ankommen möchtest, ehe die Leiche weggebracht wurde, und außerdem würde Frieling erwarten, dass wir auf die Tube drücken, was auch immer Eile nützen soll.«

Lorenz nickte.

Sein Vorgesetzter würde den dritten Mord zum Anlass nehmen, viele Fragen zu den bisherigen Ermittlungserfolgen zu stellen, und Lorenz hasste Fragen zu Ergebnissen, mit denen er selbst alles andere als zufrieden war. Doch der Fall war eben knifflig.

»Hoffentlich hat der Täter diesmal irgendeinen Flüchtigkeitsfehler gemacht«, murmelte er und wühlte im Handschuhfach.

»Suchst du Schoki?«, fragte Helena. »Da muss ich dich enttäuschen. Die habe ich statt Frühstück gegessen. Wir müssen uns irgendwo unterwegs ausstatten. Und was die Fehler angeht, so würde ich sagen nein.«

»Wieso?«, fragte Lorenz, tastete weiter herum und förderte ein kleines Milky Way zutage.

Helena grinste.

»Oh, da hab ich wohl eins übersehen.« Sie wechselte die Spur und beschleunigte. »Der Edersee. Ein treibendes Boot. Darin eine tote Frau. Das klingt für mich nach einer genau ausgeklügelten Inszenierung. Dabei wird er genau darauf geachtet haben, keine Fehler zu machen. Ringsum Wasser – was dort hineinfiel, wird frühestens das nächste Niedrigwasser ans Tageslicht bringen, wenn überhaupt.«

Lorenz sagte nichts, sah nach vorne und verfluchte dann einen Autofahrer, der kurzzeitig meinte, er müsse sich mit Helena ein Rennen liefern, dann aber zurückfiel.

»Auf dem Rückweg lass mich fahren«, sagte er. »Du kannst dann ungestört deine Telefonate führen.«

»Möchtest du damit etwas über meine Fahrkünste andeuten?«, fragte sie. »Tust du es schon wieder?«

Er deutete ein Schulterzucken an.

»Was? Ich tue gar nichts. Ich bin nur viel weniger effektiv im Zusammentragen der Infos als du und würde es daher gerne dir überlassen. Autofahren ist dagegen ja keine Kunst.«

Sie lachte.

»Du könntest sehr wohl Infos sammeln, wenn du wolltest, aber da macht sich der Herr Hauptkommissar ja nicht selbst die Finger schmutzig«, neckte sie ihn.

Er zog es vor, eine unschuldige Miene aufzusetzen. Über die acht Monate ihrer Zusammenarbeit hinweg hatte er gelernt, solche Kämpfe mit ihr nicht zu führen, weil sie ohnehin immer irgendwie gewann. Und das schätzte er an ihr. Sie war nicht verbissen, sondern schlagfertig. Dazu fleißig, effizient und machte kein großes Gewese um ihre Kompetenz. So etwas schätzte er.

»Was schaust du denn so?«, fragte sie, obwohl ihr Blick nach vorne gerichtet blieb.

»Der Fall«, behauptete er. »Jetzt haben wir es eindeutig und unmissverständlich mit einem Serientäter zu tun. Bisher hätte alles ein zufälliges Zusammentreffen sein können. Nichts verbindet beide Orte, Fälle, die Opfer, die Art, wie die Taten begangen wurden. Die Opfer kannten einander nicht. Die beiden Münzen sind sehr unterschiedlich. Doch ganz egal, was wir jetzt finden: Der Mörder möchte uns klipp und klar dazu bringen, einen Zusammenhang zu sehen. Er gibt seine Visitenkarte ab. Und du kannst dir denken, dass mir das nicht gefällt.«

Noch ist die SPUSI da

Das weiße Zelt der Spurensicherung war schon von Weitem zu sehen. Männer in ähnlich reinem Weiß bewegten sich darum herum.

Die Tote lag am Ufer auf einer Plane, direkt neben dem Boot, in dem sie gefunden worden war und das gerade minutiös fotografiert wurde.

Routiniert wand sich Lorenz ebenfalls in solch einen weißen Kokon und zog die dünne Kapuze über sein Haar.

Die Kleider der Toten fühlten sich klamm an, was vermutlich dem morgendlichen Tau zuzuschreiben war.

Blut gab es keines.

Lorenz ging neben der Leiche in die Hocke: eine Frau, die vermutlich Mitte dreißig geworden war und von deren Brust der verzierte Griff einer Stichwaffe aufragte.

Eine fahlviolette Strickjacke mit kleinem Häkelsaum, dunkelblaue Jeans. Dunkelviolette Schnürschuhe aus Leder. Alles sauber, unbeschädigt.

»Irgendwelche Abwehrverletzungen?«, fragte er den Kollegen, der noch dabei war, die Tote zu untersuchen.

»Feiner Schnitt an der Außenseite des Zeigefingers. Der könnte von einer sehr scharfen Klinge stammen. Mehr sehe ich da nicht. Aber vielleicht finden wir noch irgendwas, wenn wir die Kleider erst runter haben. Möglicherweise die Einstichstelle einer Nadel, mit der irgendwas injiziert wurde. Natürlich kann sie auch etwas getrunken haben. K.-o.-Tropfen beispielsweise. Das wird sich später zeigen.«

Lorenz nickte.

» Verstehe.«

Es war plausibel, den Einsatz eines Betäubungsmittels anzunehmen, wenn Abwehrverletzungen fehlten.

Der Kollege der örtlichen Polizeiwache stand am Rand des abgesperrten Bereichs und Lorenz lief zu ihm, um sich erklären zu lassen, weshalb die Tote nicht mehr im Boot lag.

»Tja. Das war so«, sagte der Beamte. »Zwei junge Leute waren zum Schwimmen am See. Die haben das Boot gesehen, wollten es ans Ufer holen und haben so die Leiche entdeckt. Und sie haben dann das Boot angelandet und die Tote herausgehoben … umirgendwas zu tun, wie der eine es gesagt hat. Das ist der Sohn eines Pferdezüchters hier in der Gegend. Ben Schermer heißt er, und der andere ist ein Freund von ihm.« Der Beamte sah auf seine Notizen. »Gregor Papadopoulous. Beide sechzehn. Die wussten es halt nicht besser. Dann kamen sie auf die Idee, den Notruf zu wählen und danach, sagen sie, haben sie nichts mehr angefasst oder verändert. Sie sind aber auch nicht weggegangen. Ihre Aussagen konnten daher sofort aufgenommen werden.«

»Wann war das?«, fragte Lorenz, der es vorgezogen hätte, eine klare, zusammenhängende Schilderung zu bekommen. Der Mann hatte doch jetzt Zeit genug gehabt, das alles in Gedanken zu ordnen.

»So gegen halb neun Uhr. Der Anruf kam jedenfalls um 8:48 Uhr.«

»Haben die beiden die Tote gekannt?«

»Sie sagen, sie haben sie nie zuvor gesehen. Ich würde auch meinen, sie war nicht von hier. Wir haben hier ja eine Menge Fremde … also Touristen: Wassersportler, Wanderer, Reiter, lauter solche Leute …«

»Wassersportler?«, sagte Lorenz mit einem Blick auf das Boot und die eher städtisch-gepflegt anmutende Kleidung der Toten. »Wohl eher nicht. Letztlich ist sie für keine der hier üblichen Freizeitbeschäftigungen passend ausgestattet.«

Er sah sich an, was die Kollegen schon aufgesammelt hatten. Müll, vor allem: Bier- und Coladosen, Kekspackungen, Zigarettenstummel. An Seen wurde immer viel weggeworfen und das meiste davon hatte mit dem Mord vermutlich nicht das Geringste zu tun.

Interessant war, was bisher nicht auf dem großen Klapptisch des Erkennungsdienstes gelandet war: eine Handtasche beispielsweise. Oder ein Ausweis. Es war auch noch keine Geldbörse gefunden worden, kein Schlüssel.

Das bedeutete, der Täter hatte Handtasche oder Rucksack vermutlich mitgenommen und man würde das Suchareal ausweiten müssen, um sie aufzutreiben.

Oder sie aus dem See fischen, was aufwendig und teuer war, wenn nicht sogar unmöglich.

Wie tief war dieses verdammte Gewässer?

»Das hier ist das Interessanteste!« Der Kollege langte an ihm vorbei und hielt Lorenz ein Tütchen mit einer golden glänzenden Münze hin.

Lorenz nickte.

»Ich weiß. Das hat man mir am Telefon gesagt. Deswegen wurden wir ja eingeschaltet.« Er nahm das Tütchen entgegen, spannte das transparente Material, um die Prägung besser erkennen zu können, winkte Helena und rief: »Hier, da ist das verdammte Ding!«

Sie kam sofort zu ihm.

»Wow! Sieht wertvoll aus. Aber vielleicht ist sie nicht echt. Sie wirkt unglaublich sauber und glänzend. Alte Münzen sind nicht so gut erhalten, oder was meinst du?«

»Wird man uns sagen. Aber vielleicht wurde das Ding sorgfältig aufbewahrt. Münzsammler haben dafür ja eigene Kassetten und da drin noch mal Plastikschuber. Es könnte entsprechend sorgsam gepflegt worden sein.«

»Möglich.« Helena versuchte, die umlaufende Schrift zu entziffern. »Hier steht was von patria. Vaterland. Hoffentlich haben wir keinen politisch motivierten Täter! Dann wird das alles noch viel komplizierter.«

»Und die Presse schlachtet uns früher oder später«, ergänzte Lorenz. »Die werden sich jetzt ohnehin auf uns einschießen, nachdem wir es eindeutig mit einem Serientäter zu tun haben. Wenn wir wieder im Büro sind, schauen wir uns also die Sache mit dem politischen Hintergrund genauer an. Aber die beiden Münzen, die vorliegen, habe ich bisher nicht so interpretiert. Du?«

»Weiß nicht.« Sie sah auf den Glanz unter der Folie. »Eine davon stammt ebenfalls aus dem Kaiserreich. Besser wir prüfen diese Idee.«

Regentag

Isabell Leuwen saß auf dem Teppich. Sie liebte das. Im Schneidersitz fühlte sie sich besser als auf einem Stuhl und in der Nähe des Bodens sicherer als im Stehen. Seit Wochen schon machte ihr der Kreislauf Probleme.

Halswirbelsäulensyndrom, sagte ihr Osteopath.

Alexa hatte auf Isabells Wunsch hin melancholische Musik ausgewählt und nun war es, als würde alles versinken. Als würde sie selbst versinken. Wie in süßem, zähflüssigem Sirup.

Sie lehnte den Hinterkopf gegen das Tischbein.

Die Welt war ein öder Ort voller Ungerechtigkeit und Gewalt. Krieg. Umweltzerstörung. Zerfall.

Und sie musste sich eingestehen, dass sie nicht die Kraft besaß, das zu ändern. Andere gründeten irgendwelche Gruppen, demonstrierten, klebten sich auf der Fahrbahn fest … sie machten irgendwas. Es mochte noch so bescheuert sein, noch so sinnlos. Aber die bewegten sich.

Isabell hingegen kam nicht hoch. Das war die Sache mit dem Sirup. Sie kam sich vor wie eine Fliege, die darin vergebens strampelte. Sie schaffte es nicht mal, sich an der Uni zurückzumelden, obwohl dafür nur das Antippen eines Buttons nötig war. Sie hatte nicht eingekauft. Dabei war der nächste Laden gleich um die Ecke.

In der Obstschale gammelten zwei Bananen vor sich hin. Bananen waren gesund. Aber es kostete überraschend viel Kraft, sie zu essen. Sie waren so mehlig, leisteten förmlich Widerstand.

Komisch. Früher war sie nicht so lethargisch gewesen. Jeder hatte sie als aufgeweckt beschrieben, als abenteuerlustig, sie hatte sich als Kind die Knie aufgeschlagen, die Ellenbogen, die Stirn, ja ihre Mutter hatte ständig irgendwelche Verletzungen verpflastern müssen. Und das alles war wunderbar gewesen, die Welt kunterbunt und ein Ort voller Abenteuer …

Isabell schlang die Arme um die Knie und lächelte ins Leere.

Früher. Das hörte sich an, als sei sie schon mindestens achtzig. Dabei war sie zwanzig.

Aber sie fühlte in sich die Schwere vieler zusätzlicher Jahre, so als sei sie das eine Mal zu oft wiedergeboren worden. Das eine Mal, das sie nicht mehr ertragen konnte.

Eine Freundin hatte ihr geraten, mal die Schilddrüse untersuchen zu lassen. Eine andere, sich Vitamine zuzulegen. Sie hatte mehrere Links dazu geschickt.

Ihre Mutter war ehrlicher gewesen.

»Isa«, hatte sie gesagt, »du solltest dich nach einer Therapeutin umsehen. Alleine ist das schwer zu schaffen und das dauert jetzt ein bisschen zu lange, um nur eine Phase zu sein.«

»Ja, Mama.«

Aber es war zu anstrengend. Außerdem konnte man es als Eingeständnis auffassen. Wer einen Therapeuten brauchte, war … krank. Psychisch krank.

Dabei war sie doch einfach nur müde. Müde, traurig, antriebslos. Weil die Welt voller Blut und Krieg war. Weil sogar die Giraffen ausstarben. Weil kleine Kinder mit großen Augen von Plakatwänden auf Isabell herunterstarrten.

Anklagend und hungrig. Aber auch irgendwie ohne Hoffnung, genau wie sie.

»Das Geld, das man da spendet, erreicht die Menschen vor Ort doch ohnehin nicht«, pflegte ihr Vater zu sagen. »Aber schick ruhig ein paar Euro an eine Wohlfahrtsorganisation, die damit ihre Verwaltung noch weiter aufbläht als ohnehin schon und sich womöglich noch ein schickes neues Gebäude hinstellt.«

Vermutlich hatte er recht. Ihr Vater hatte oft recht. Klar. Er war ja der Ermittler. Klug, erfolgreich, er besaß eine Nase für Verbrechen, hieß es. Und weil er so gut war, war er auch nie zu Hause gewesen. Oder so gut wie nie.

Er hatte ja auch jetzt nie Zeit für sie. Am Telefon blieb es meist bei ein paar Sätzen, dann sagte er: »Ich muss jetzt los, Isa! Bis ein andermal!«

Sie wischte sich das Haar aus dem Gesicht und sagte mit gequetschter Stimme: »Alexa, mach die Musik aus!«

Dann saß sie im Halbdunkel, ließ den Kopf auf die Knie sinken und fragte sich, wie sie aus diesem Zustand je wieder herauskommen sollte. Sie hatte den Eindruck, dass er sich selbst verstärkte, dass sie raus musste, etwas unternehmen. Ein paar ganz einfache kleine Handlungen konnten genügen, um sie wieder in Fahrt zu bringen.

Sie tastete mit einer Hand nach dem Handy, das hier irgendwo liegen musste. Schließlich bekam sie es zu fassen. Tippte letzte Anrufe an.

Dreimal klingelte es, dann war ihre Mutter auch schon am Apparat.

»Mama?«, fragte Isabell. »Hast du gerade Zeit?«, und schon kamen ihr die Tränen.

Erste Erkenntnisse

Die Sonderkommission hatte schon mehrmals hier getagt, heimeliger war es deshalb noch lange nicht geworden. Der ovale Tisch stand voll mit blauen Ablagen, in denen sich Papiere stapelten, daneben ein paar eilig zusammengesammelte Kaffeebecher neben einer Thermoskanne und einer Schale mit Milchdöschen.

Die Wände waren kahl, das einzige Plakat zeigte Hinweise zur Hygiene in Zeiten von Infektionsgefahr und war direkt neben der Tür platziert.

Lorenz nahm einen Platz nah am Fenster ein, holte zwei Tassen heran, füllte sie mit Kaffee und schob eine zu Helena hinüber, die wie immer telefonierte. Sie bedankte sich mit einem Nicken und ihre Lippen formten den Namen Frieling.

Also stellte der Polizeirat schon Nachfragen, ehe sie hier überhaupt zum neuen Fall getagt hatten. Lorenz hob die Hand ans Ohr und wies mit der anderen darauf.

»Nachher«, formten seine Lippen.

Helena nickte. Sie konnte Frieling aber erst loswerden, als die meisten Mitglieder der Sonderkommission eingetroffen waren.

»Und?«, fragte Lorenz.

»Wir sollen unsere Arbeit machen.«

»Würden wir ja, wenn er uns ließe«, murmelte Lorenz, schlug seine Mappe mit den Notizen auf und bat Ahmed, das Protokoll zu schreiben.

»So, danke, dass alle hier sind. Wir wollen gleich in die Zusammenfassung der aktuellen Ergebnisse einsteigen und Aufgaben verteilen, die sich dadurch neu ergeben. Wie Sie alle wissen, haben wir einen Leichenfund am Edersee, eine Frau zwischen dreißig und vierzig und eine Münze: golden und mit Inschrift. Ihretwegen ist der Fall an uns übergegangen. Schauen wir uns an, was wir bereits wissen. Hannes, kannst du uns schon etwas berichten?«

Hannes Bender, der Rechtsmediziner im Team, nickte sofort. Er war ein kleiner, drahtiger Mann mit stets ungebrochen guter Laune, ein Wesenszug, den Lorenz bei einem Mann mit diesem Beruf einerseits irritierend, andererseits entlastend fand.

»Nachdem die Staatsanwaltschaft die Obduktion angeordnet hatte«, sagte Hannes, »habe ich zusammen mit Dr. Lazlo die Leichenschau vorgenommen. Der Todeszeitpunkt konnte ziemlich eng eingegrenzt werden, da sie relativ kurz nach ihrem Ableben gefunden wurde. Wir gehen von sechs Uhr aus, eventuell etwas früher, die Auswirkungen der noch starken morgendlichen Kühle berücksichtigt. Die Untersuchung der inneren Organe ergab insgesamt einen guten Gesundheitszustand, keine nennenswerten Erkrankungen, Zustand nach Appendektomie, leichte Verkalkung der Arterien in altersgerechter Ausprägung.« Er lächelte Lorenz zu, als habe er ein besonderes Geschenk für ihn. »Um es mal etwas zu beschleunigen: Der wichtigste Punkt ist, dass wir kein Betäubungsmittel finden konnten. Natürlich gibt es im Bereich der K.-o.-Tropfen immer mal was Neues, aber ich bin sicher, sie hat nichts genommen und ihr ist definitiv nichts injiziert worden.«

»Und das bedeutet?«, fragte Helena.

»Dass es einen anderen Grund geben muss, weshalb es keine Abwehrverletzungen gibt. Es sei denn, wir wollen den winzigen Schnitt distal am kleinen Finger als solche ansehen. Aber diese 1,5 Millimeter lange und 0,4 Millimeter tiefe Wunde spricht auch nicht gerade für einen Kampf. Da ist es schlimmer, wenn man sich an einem Blatt Papier schneidet.«

»Irgendein Szenario dazu?«, erkundigte sich Lorenz.

»Sie könnte die Hände in mittlerer Brusthöhe gehalten haben, als der Dolch zwischen der dritten und vierten Rippe hindurch ins Herz ging. Wie beim Beten, einer Meditation oder ganz entspannt. Die Klinge traf ihr Ziel und schnitt dabei ganz leicht in die äußere Seite des kleinen Fingers, der nicht weggezogen wurde. Eben keine Abwehr.«

»Und doch war sie nicht betäubt. Könnte sie geschlafen haben?«

»In einem Boot? Möglich. Es soll ja Leute geben, die das Geschaukel einschläfert.«

Irgendwer in der Runde lachte verhalten.

»Sind wir denn sicher, dass sie im Boot getötet wurde?«, hakte Helena nach.

Hannes nickte.

»Die Leiche wurde nicht bewegt, ehe sie von den jungen Leuten aus dem Boot gehoben wurde.«

»Noch etwas zum tödlichen Stich?«, erkundigte sich Lorenz.

»Der Stichkanal verläuft, wie erwähnt, leicht aufwärts zwischen der dritten und vierten Rippe hindurch. Nach Herztamponade erfolgte der Tod unmittelbar. Die Waffe wurde in situ vorgefunden.« Hannes schob die Lesebrille aufs Haar und sah von seinen Aufzeichnungen auf. »Der Täter muss sich mit Stichwaffen auskennen. Oder er verfügt über eine medizinische Ausbildung. Wir sehen hier keinen zweiten Versuch, kein Abgleiten, sondern einen gezielt gesetzten Stich, wie ihn kein Gelegenheitsmörder ausführen könnte.«

Hannes untermauerte das mit einer Folge von Bildern, die er mit dem Beamer an die kahle Wand projizierte, doch für Lorenz waren keine neuen Informationen dabei. Er dankte Hannes und bat Elke Baraktar, die Erkenntnisse der forensischen Abteilung zusammenzufassen.

»Das Gröbste, Elke«, bat er. »Wir müssen so schnell wie möglich erste Ansätze verfolgen. Wir haben schon von oben einen leichten … Schubs erhalten.«

Sie schien nicht beeindruckt.

»Gut. Dann in aller Kürze: Es gibt keine verwertbaren Fingerabdrücke, keine Genspuren. Der Dolch wurde mir vorhin erst gebracht, nachdem ihn die Kollegen von der Daktyloskopie auf Fingerabdrücke untersucht hatten. Daher kommen Informationen dazu später. Was die Münze angeht, so stammt sie aus dem Jahr 1916 und war nie im Umlauf. Man kann sie deswegen auch nicht als Münze bezeichnen, es handelt sich streng genommen um eine Medaille.«

»Wissen wir etwas über die Bedeutung dieser Medaille? Wie ist die Inschrift zu deuten?«, fragte Helena. »Wir haben uns Gedanken wegen einer möglichen politisch motivierten Botschaft gemacht, die damit verbunden sein könnte.«

Elke nickte, als habe sie auf diese Frage gewartet.

»Möglich. So was habe ich länger nicht gesehen. Eine solche Medaille bekam man, wenn man sein Gold gegen Eisen eintauschte, um damit dem Kaiser die Fortführung des Ersten Weltkriegs zu ermöglichen.« Sie lächelte. »Ja, so dünn war damals die finanzielle Decke des Kaiserreichs, dass groß und breit dazu aufgerufen wurde. Die Leute brachten ihren Goldschmuck zum Einschmelzen und bekamen im Gegenzug Aluminium- oder Eisenmünzen als Bestätigung für ihren Patriotismus. In diesem Fall wurde die Ersatzmedaille sogar goldplattiert abgegeben, vielleicht, weil die Gabe an Kaiser und Reich entsprechend hoch ausgefallen war. Die Inschrift lautet daher: Gold gab ich für Eisen. Später stand das sprichwörtlich dafür, dass sich die Leute für nichts und wieder nichts aufgeopfert hatten.«

Lorenz seufzte.

»Mist«, sagte er leise zu Helena. »Politik!« Dann fragte er: »Und auf der Rückseite? Was ist mit dieser Inschrift?«

»Sie lautet erga deum et patriam – für Gott und Vaterland. Und was die politischen Implikationen angeht, so möchte ich keineswegs voreilig Entwarnung geben. Allerdings ist die Münze, die beim ersten Opfer gefunden wurde, ja eine australische: ein Känguru auf der 1 Unze Gold Nugget. Das wäre jetzt politisch gesehen doch ein gewisser … weiter Sprung …«, sie grinste, »… vom Beuteltier zum Kaiserreich. Daher meine ich, Herkunft und Prägung der Münzen haben eher keine Bedeutung. Sie sind auch im Wert frappierend unterschiedlich.«

»Was ist denn die Gold-zu-Eisen-Medaille heute wert?«, erkundigte sich Lorenz.

»Um die hundert Euro. Bei dem exzellenten Erhaltungszustand eventuell etwas mehr. Die Unze aus Australien kommt hingegen auf rund 1900 Euro. Die dritte, ein Fünf-Mark-Stück aus dem Jahr 1901, geprägt zu Ehren von 200 Jahren Preußen, hat einen Katalogwert von etwa 140 Euro. Persönlich sieht das für mich nach Münzen aus, die Leute zu Hause herumliegen haben. Geerbt, zur Taufe oder Firmung bekommen, als Geldanlage gekauft …«

»Die Leute herumliegen haben«, wiederholte Lorenz. »Sie meinen also, die Münzen könnten auch aus dem Besitz der Opfer stammen?«

Natürlich

»Gewiss«, sagte Elke heiter. »Ich dachte, das sei klar.«

»Bisher nicht«, erwiderte Lorenz und tauschte einen Blick mit Helena. »Wieso ist das klar?«

»Weil sie zu verschieden sind. Nur ein Münzsammler hätte alle drei gleichzeitig zur Hand und selbst der würde unwillkürlich eine Logik oder Systematik in die Sache bringen: Epoche, Material, Wert, irgendetwas. Aber für drei Münzen haben wir hier schon zu wenig Gleichartigkeit.« Sie sah zu ihrem Kollegen, der zustimmend nickte. »Wir meinen, der Mörder benutzt die Münze, um das Fährmann-Motiv zu bedienen. Den Toten wird ein Fährgeld in die Unterwelt mitgegeben. Aber der Mörder weist sie ihnen nicht zu, sondern sie bringen sie mit.«

»Moment«, bremste Lorenz. »Soll das heißen, wir haben es womöglich mit etwas anderem als Mord zu tun?«

»Ja«, bestätigte Elkes Kollege Bernd. »Genau das. Das würde auch das Fehlen der Abwehrverletzung erklären, nicht wahr?«

Lorenz nickte skeptisch.

»Ja, würde es. Nur haben wir bisher keine Hinweise darauf, dass eins der Opfer sterben wollte. Keine Abschiedsbriefe. Keine auffälligen Vorkehrungen …«

»Es gibt Menschen, die still leiden«, sagte Elke. »Und die nicht auf Facebook posten, wie schlecht es ihnen geht und dass sie genug haben. Das sind die, bei denen Suizide gefährlich sind, weil sie es gut vorbereiten, weil sie niemanden warnen und dann tatsächlich auch umsetzen, was sie vorhaben. Keine aufgeritzten Handgelenke. Aber was wäre, wenn es jemanden gäbe, der sagt: Du musst es nicht selbst tun? Was, wenn es jemanden gäbe, der Kontakt mit möglichen Opfern aufnimmt und ihnen garantiert, dass es klappt?«

Lorenz drehte seinen Bleistift zwischen Daumen und Mittelfinger und dachte nach. Es war nicht so, dass er bisher keine solche Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. Nur war es ihm zu … abwegig erschienen.

»Möglich ist es. Aber wie finden sie sich?«, fragte er. »Täter und Opfer? Hat jemand eine Idee dazu?«

Einer der Kollegen von der Technik hob kurz die Hand.

»Foren. Darknet. Anzeigen. Da gäbe es doch viele Wege. Und Selbstmordpakte kennt man auch schon lange. Leute suchen nach so was und könnten dabei auf jemanden stoßen, der bereit ist, den unangenehmen Teil für sie zu erledigen.«

»Na schön«, sagte Lorenz. »Die Überlegung ist plausibel und würde zu unseren bisherigen Erkenntnissen passen. Allerdings wäre das dann plötzlich eine Ermittlung ohne Morde. Entweder hätten wir Totschlag, viel eher aber sogar Tötung auf Verlangen, wenn ich Elkes Ansatz richtig verstehe. Das müssten wir der Staatsanwaltschaft mitteilen.«

»Ja«, bestätigte Elke. »Es entfallen dann die Mordmerkmale und wir gelangen zu einem minder schweren Verbrechen.«

Lorenz nickte.

»Gut, prüfen wir das anhand unserer bisherigen Erkenntnisse und Daten. Ich informiere unseren Vorgesetzten über diese mögliche Entwicklung. Der wird es dem Staatsanwalt weitergeben. Bis wir eindeutige Hinweise haben, dass diese These zutrifft, bleibt es jedoch für uns bei Mordermittlungen und wir ziehen weiterhin alles in Betracht. Gibt es noch wichtige Erkenntnisse zu unserem aktuellen Leichenfund?«

»Ja«, meldete sich Bernd. »Die Kleider waren neu. Die Kollegen von der Untergruppe Stoffe und Gewebe haben sich das angesehen. Schuhe neu, Oberteil und Strickjacke neu. Auch die Unterwäsche wohl einmal gewaschen, aber nie vorher getragen.«

»Was für die aktuelle These spricht«, sagte Helena. »Denn das machen Selbstmörder häufiger. Sie kleiden sich eigens für den Anlass neu ein.«

»Könnte aber auch sein«, gab Lorenz zu bedenken, »dass sie einen guten Eindruck machen wollte, dass es ein Date war, das dann anders endete als erhofft …«

»Ja, das wäre auch möglich. Dafür war die Kleidung nur etwas … fade. Wie sah es mit Schminke aus, Elke?«

»Keine«, erwiderte Elke prompt. »Gar keine. Das ist uns auch aufgefallen. Heutzutage gehen die meisten Frauen ja mindestens mit Kajal aus dem Haus, andererseits gibt es die neue Natürlichkeit, da weiß man nicht so genau, ob Kosmetik vielleicht aus Gründen von Natur und Umwelt weggelassen worden ist … aber aufgebrezelt war sie in keinem Fall. Alles eher …«

»Brav, bescheiden, unauffällig«, ergänzte Lorenz. »Ja. Sie wirkte, als hätte sie gelernt, nie im Mittelpunkt zu stehen, und würde ungern jemandem zur Last fallen. Und dazu trug sie nun eine goldene Münze aus dem Jahr 1916 im Mund. Ich schätze, wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis wir diese Fälle wirklich verstanden haben. Hätten wir nur …« Er pausierte. »Im ersten Fall, dem jungen Mann aus Bonbaden, haben wir kein Handy gefunden. Bei der Frau aus Bischofsheim lag es jedoch in ihrem Auto …«