Todeszeitpunkt: Harry Kent – Niemand kommt Tätern und Opfern so nahe - Rob McCarthy - E-Book

Todeszeitpunkt: Harry Kent – Niemand kommt Tätern und Opfern so nahe E-Book

Rob McCarthy

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Beschreibung

Einige Menschen retten Leben. Andere zerstören sie. Tagsüber arbeitet Harry Kent als Arzt in einem Londoner Krankenhaus, nachts ist er im Dienst der Polizei unterwegs – als Force Medical Examiner. Nicht nur, um die Polizei zu unterstützen, sondern auch, um an Informationen heranzukommen. Über Patienten, um die sich keiner kümmert, die niemand vermisst. Wie das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren, das alle nur Zara nennen und das im Koma liegt. Bei einem neuen Einsatz soll Harry den siebzehnjährigen Solomon Idris medizinisch versorgen. Der schwerkranke Teenager hat in einem Take-away acht Geiseln genommen und verlangt, einen Anwalt und einen BBC-Reporter zu sprechen. Doch bevor Harry ihm helfen kann, wird Solomon von der Polizei angeschossen. Harry lässt das Schicksal des Jungen nicht los, er will wissen, was ihn zu dieser Verzweiflungstat trieb. Als Solomons Leben auch im Krankenhaus bedroht wird, begreift Harry, dass der Junge etwas wissen muss, das niemals an die Öffentlichkeit dringen soll. Etwas, für das jemand bereit ist zu töten.

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Rob McCarthy

Todeszeitpunkt

Harry Kent – Niemand kommt Tätern und Opfern so nahe

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Inka Marter

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Einige Menschen retten Leben. Andere zerstören sie.

 

Tagsüber arbeitet Harry Kent als Arzt in einem Londoner Krankenhaus, nachts ist er im Dienst der Polizei unterwegs – als Force Medical Examiner. Nicht nur, um die Polizei zu unterstützen, sondern auch, um an Informationen heranzukommen. Über Patienten, um die sich keiner kümmert, die niemand vermisst. Wie das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren, das alle nur Zara nennen und das im Koma liegt.

 

Bei einem neuen Einsatz soll Harry den siebzehnjährigen Solomon Idris medizinisch versorgen. Der schwerkranke Teenager hat in einem Take-away acht Geiseln genommen und verlangt, einen Anwalt und einen BBC-Reporter zu sprechen. Doch bevor Harry ihm helfen kann, wird Solomon von der Polizei angeschossen. Harry lässt das Schicksal des Jungen nicht los, er will wissen, was ihn zu dieser Verzweiflungstat trieb. Als Solomons Leben auch im Krankenhaus bedroht wird, begreift Harry, dass der Junge etwas wissen muss, das niemals an die Öffentlichkeit dringen soll. Etwas, für das jemand bereit ist zu töten.

Über Rob McCarthy

Rob McCarthy wurde in London geboren und studiert im vierten Jahr Medizin. Er begann Kriminalromane zu schreiben, als ihm die Neuroanatomie den Verstand zu rauben drohte. «Todeszeitpunkt» ist sein Debütroman.

 

Dein Protagonist Harry Kent ist «Force Medical Examiner» – was sind deren Aufgaben?

 

Die meisten sind Notfallmediziner oder niedergelassene Ärzte, die nebenberuflich für die Polizei arbeiten. Meistens begutachten sie Menschen in Gewahrsam, ob sie medizinische Versorgung benötigen oder körperlich oder psychisch in der Lage sind, befragt oder verhaftet zu werden. Sie sind auch dafür zuständig, forensische Proben von Verdächtigen zu nehmen oder Ermittler in medizinischen Fragen zu beraten – sie untersuchen zum Beispiel die Wunden eines Patienten und stellen fest, welche Waffen vielleicht benutzt wurden. In der Regel sind sie bei verdächtigen Todesfällen die ersten Mediziner am Tatort.

 

Rob McCarthy ist nicht dein richtiger Name, und du möchtest nicht, dass ein Foto von dir veröffentlicht wird. Warum?

 

Da gibt es mehrere Gründe – zunächst stehe ich wirklich ganz am Anfang meiner medizinischen Karriere und möchte sichergehen, dass niemand aus meinen Büchern Rückschlüsse auf meine ärztlichen Fähigkeiten zieht, da sich die beiden Seiten meines Lebens sehr unterscheiden. Meine Bücher enthalten einige wenig schmeichelhafte Ansichten über den Arztberuf und die Polizei, und das könnte durchaus Missfallen erregen. Ich fände es auch schrecklich, wenn ein Patient sich Sorgen machen würde, ob das, was er sagt, in meinem nächsten Roman auftaucht – das könnte ziemlich kompliziert werden. Und zuletzt: Wer hätte nicht gern ein zweites Ich …

Inhaltsübersicht

Anmerkung des AutorsSonntag, 20. JanuarMontag, 21. JanuarDienstag, 22. JanuarMittwoch, 23. JanuarSamstag, 26. JanuarSonntag, 27. JanuarFreitag, 1. FebruarDanksagung

Personen, Institutionen, Ereignisse und Orte dieser Geschichte entstammen der Vorstellungskraft des Autors, real existierende Orte werden fiktiv gebraucht.

Sonntag, 20. Januar

Das Hören versagt von allen Sinnen zuletzt und kehrt als Erstes wieder zurück. Deshalb sprechen Ärzte und Schwestern noch mit Komapatienten, obwohl die Hirnscans keine Aktivität mehr anzeigen. Und deshalb wurde Harry Kent vom Klingeln des Telefons aus seinem Traum gerissen, und nicht von der tiefstehenden Wintersonne, die schon vor einiger Zeit ins Wohnzimmer gefallen war. Der Traum war vage gewesen und glücklicherweise friedlich, eine Reihe von Einzelbildern, dazwischen Schwarz. Ein violetter Himmel über mit Lavendel bewachsenen Berghängen; eine junge, blasse Frau mit pink gefärbtem Haar, die ihm etwas zu sagen versuchte, während er einen Tubus in ihre Kehle einführte.

Harry schlug die Augen auf und sah sein Telefon auf dem gläsernen Wohnzimmertisch vibrieren. Er tastete danach, kam aber nicht rechtzeitig dran. Das Display zeigte eine unbekannte Mobilnummer. Es war zehn vor sieben abends. Draußen war es seit Stunden dunkel. Er rief zurück, und eine weibliche Stimme meldete sich.

«Dr. Kent? Sie sind doch Dr. Kent? Der Polizeiarzt?»

Im Hintergrund hörte er Leute durcheinanderrufen und Motoren. Die Stimme war souverän und angenehm.

«Am Apparat», sagte Harry.

«Hier spricht DI Noble vom CID Southwark. Frances Noble. Nennen Sie mich Frankie.»

«Harry.»

«Gut, Harry. Hier entwickelt sich gerade ein kleines Problem, und wir würden Sie gern hinzuziehen.»

Harry hörte hinter Noble ein Fahrzeug vorfahren. Er erhob sich aus dem Sessel, in dem er eingeschlafen war, und rieb sich die Stirn. Die Membranen in seinem Gehirn pulsierten rhythmisch, mit jedem Herzschlag kam neuer Schmerz. «Was für ein Problem?»

«Wir informieren Sie, sobald Sie hier eintreffen. Aber wir brauchen sofort einen Arzt.»

«Welches Revier?»

«Der Einsatz ist in der Wyndham Road. Wir haben einen Teil der Camberwell Road etwas südlich der Kreuzung Albany Road abgesperrt. Da sind ein paar Läden und ein Take-away. Wissen Sie, wo?»

Es war zu Fuß eine halbe Stunde von Harrys Wohnung entfernt, hinter dem Elephant & Castle-Kreisverkehr. Mit dem Auto fünf Minuten.

«Kenn ich», sagte er. «Aber wenn jemand verletzt ist, sollten Sie einen Rettungswagen rufen.»

«Es steht schon einer bereit», sagte Noble. «Noch wurde niemand verletzt.»

Noch. Harry spürte einen Knoten im Magen. Er wankte in die Küche. Die Wohnung gehörte ihm erst seit vier Wochen, und ein großer Teil seiner Existenz war noch in Kartons im Flur gestapelt.

«Ich kann in fünfzehn Minuten dort sein», sagte er und fing mittendrin an zu husten.

«Super», sagte Noble. «Geht’s Ihnen gut?»

«Alles in Ordnung. Ich hatte letzte Nacht Bereitschaft. Bis neun heute Morgen. Sie haben mich geweckt.»

«Das hier könnte sich eine Weile hinziehen. Wenn Sie wollen, kann ich jemand anderen anrufen, aber der Polizeiarzt in Bereitschaft ist draußen in Woolwich. Ich hab gesehen, dass Sie in der Nähe wohnen, und dachte, ich versuche mein Glück.»

Die offizielle Berufsbezeichnung war eigentlich Force Medical Examiner, aber das klang den meisten Leuten zu förmlich und zu amerikanisch, sodass alle ihn einfach Polizeiarzt nannten.

«Geht schon, ich komme», sagte er. «Aber nehmen Sie bitte die Sanitäter in Anspruch, wenn es in der Zwischenzeit erforderlich wird.»

«Klar», sagte Noble und legte auf.

Zum Duschen war keine Zeit, also zog er ein frisches Hemd, Pulli und Hose an und dicke Socken für die Stiefel mit den Stahlkappen. Er gurgelte mit Mundwasser und wusch sich das Gesicht. Er sah nicht allzu müde aus, gut, und seit er das Haar kürzer trug, war es leichter zu bändigen.

Harry öffnete den Schrank über dem Waschbecken und wühlte, bis er hinten das Medikamentenfläschchen fand. Das orange-weiße Etikett wies den Inhalt als Aspirin aus, 300 mg, Einnahme nach Bedarf. Am Rand löste es sich etwas, Harry hatte es selbst aufgeklebt – denn auf dem ursprünglichen, türkisen Etikett darunter stand in einer anderen Schriftart Dexamphetamin, 10 mg. Angegebene Dosis nicht überschreiten.

Er schüttete sich zwei Tabletten in die Hand und spülte sie runter. Speedabhängige Assistenzärzte gab es in jedem Krankenhaus, und Harry war vorsichtig – nie mehr als zwei am Tag und nie mehr als zwei Tage in Folge, selbst wenn er im Aufzug im Stehen einschlief. Diese Woche hatte er drei Nächte hintereinander Bereitschaft auf der Intensivstation gehabt.

Seine medizinische Notfalltasche stand im Flur. Er prüfte, ob alles an seinem Platz war, und holte das Päckchen mit den Medikamenten, das er in einem Safe im Schlafzimmer aufbewahrte. Dann zog er eine dicke Fleecejacke über und betrat das Treppenhaus.

Vom sechsten Stock hatte man einen beeindruckenden Blick nach Norden: Docklands, London Eye, die City, St. Paul’s Cathedral. Von der Dachterrasse darüber war es noch besser. Deshalb hatte er gekauft. Das Gebäude in der Borough Road gab es erst seit ein paar Jahren, früher hatte hier eine Siedlung mit Sozialwohnungen für mehr als tausend Menschen gestanden. Die Familien waren nach Croydon umgesiedelt, und ihr Zuhause war abgerissen worden, um Platz für den schicken Neubau mit winzigen Wohnungen für Besserverdienende zu schaffen, von denen jede einzelne mehr kostete, als die meisten der früheren Anwohner im ganzen Leben verdienten.

Der Aufzug war unten angekommen, und Harry ging zu seinem Wagen, die rot-orangene Notfalltasche über der Schulter. Er dachte an DI Noble und das «Problem», das sich entwickelte. Ernstlich verletzt konnte niemand sein: Nicht alle Polizeiärzte waren in Notfallmedizin geschult; viele waren Allgemeinmediziner oder Psychiater. Als Anästhesist war Harry ein eher seltenes Exemplar. Seine Arbeit für die Polizei bestand hauptsächlich darin, forensische Proben zu sichern oder zu entscheiden, ob Süchtige oder Geisteskranke vernehmungs- oder haftfähig waren. Als er beim Wagen war, warf er innerlich eine Münze. Für Junkies war es noch etwas früh, um aus ihren Löchern zu kriechen, also machte er sich auf eine von Londons gequälten Seelen gefasst.

Als er vom Parkplatz fuhr, hatte er den Traum vergessen.

 

Die Polizei hatte die Camberwell Road komplett abgesperrt, und auf der Umleitung tobte der abendliche Berufsverkehr, der nördlich über die Albany Road geleitet wurde, um in die Old Kent Road nach Peckham zu münden. Die Straße wurde von quer parkenden Polizeiwagen und blau-weißem Absperrband blockiert. Ein zweiter Absperrungsring umgab Wyndham Court, ein gesichtsloses Wohnsilo mit einem Betonplatz davor. Die Ladenzeile, die Noble erwähnt hatte, wurde zusätzlich von größeren Polizeitransportern abgeriegelt. An der äußeren Absperrung standen vier Uniformierte, zwei von ihnen bewaffnet.

Harrys Magen zog sich wieder zusammen, als er das Fenster herunterließ. Bewaffnete Polizei an der Absperrung bedeutete selbst in diesem Teil der Stadt, dass Schusswaffen im Spiel waren. Albtraumhafte Visionen von einem Schizophrenen, der mit einer Schrotflinte herumfuchtelte, drängten in sein Bewusstsein. Was auch immer das Problem war, allein der Anzahl der Polizeifahrzeuge nach würde es offenbar nicht ganz so einfach werden, wie Harry gehofft hatte.

«Die Straße ist dicht, Kollege», murmelte der Beamte an der Absperrung. Sein weißer Atem kräuselte sich in der Luft und traf Harrys Windschutzscheibe.

Harry reichte ihm seinen Dienstausweis durch das Fenster.

«Dr. Kent? Sind Sie der Polizeiarzt?»

«Nein», sagte Harry. «Ich bin der polizeiliche Zahnarzt. DI Nobles jährliche Routine-Untersuchung ist fällig.»

Der Beamte schüttelte den Kopf und zeigte nach links.

«Parken Sie da. Ich bringe Sie rein», sagte er und drehte sich zu einer Kollegin um. «Sandy, trag Dr. Kent ein. 19:16.»

Harry parkte im absoluten Halteverbot, nahm die Notfalltasche vom Beifahrersitz und schloss den Wagen ab. Auch wenn die halbe Metropolitan Police vor Ort war, das hier war immer noch Walworth. Er bückte sich unter dem Band durch. Als er auf die innere Absperrung zuging, schlug die Tasche rhythmisch gegen seinen Rücken. Mehrere Streifenwagen und Transporter standen im Halbkreis vor den Ladenfronten, ein Hühnchen-Take-away zwischen einem Internetcafé und einem islamischen Kulturzentrum. In der Mitte parkte ein großer mobiler Einsatzwagen mit der Aufschrift TERRITORIAL SUPPORT GROUP. Daneben standen drei Personen.

Die Frau trug keine Uniform, ihre schwarze Lederjacke glänzte im Licht der Scheinwerfer, die überall aufgestellt waren.

«Chefin, das ist Dr. Kent», sagte der Beamte, der ihn hergebracht hatte.

Noble hielt ihm die Hand hin. «Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Das, ähm, wird hier gerade ziemlich brenzlig. Ich habe das taktische Kommando.»

Sie trat zur Seite, um die beiden Männer zu ihrer Rechten vorzustellen. Der Beamte in Zivil war schwarz, mindestens eins neunzig groß und trug die typische Mode der Wohnghettos in der Gegend: Trainingshose, Hoodie in blauen Tarnfarben und hochglänzende Daunenweste. Der andere steckte in einem Kampfanzug, ein blauer, wärmeisolierter Overall unter Ganzkörperschutzmontur einschließlich kugelsicherem Helm, Visier und Handfeuerwaffe. «Das ist DS Wilson, er ist wie ich beim CID. Und das ist Inspector Quinn von Trojan. Er befehligt das Zugriffsteam.»

Die Kommandostruktur der Polizei war bei schwerwiegenderen Vorfällen ähnlich wie beim NHS, dem National Health Service, und Harry war grob damit vertraut. Quinn stand als Teamleiter von Trojan, der bewaffneten Einheit der Metropolitan Police, an vorderster Front und war verantwortlich für alles, was im abgesperrten Bereich vor den Polizeifahrzeugen passierte, während Noble den Gesamteinsatz leitete und taktische Entscheidungen traf. Das übergeordnete strategische Kommando hatte der Chief Superintendent im Bezirkshauptquartier, der wahrscheinlich nervös in seinem Büro auf und ab lief und Videoeinspielungen betrachtete. Harry nickte den Männern zu und schüttelte ihre behandschuhten Hände.

«Okay», sagte er. «Also, was ist los?»

Die Seitenjalousien des Einsatzwagens wurden hochgefahren, und auf einem Monitor erschien ein Bild; Wilson trat zur Seite, damit Harry etwas sehen konnte. Man sah die blaue Fassade des Take-away und hinter den Fensterscheiben vier Tische und eine Theke. Am hinteren Tisch saß ein schwarzer Jugendlicher in einem übergroßen Hoodie, auf dem Tisch befanden sich eine leere Chicken Box, drei Coladosen und ein kleiner, schwarzer Revolver. Alle anderen Personen drängten sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, alle standen: zwei Bauarbeiter in oranger Signalkleidung, zwei Männer in Chicken-Hut-Poloshirts, eine Familie mit einer kleinen Tochter und ein Hipster in Röhrenjeans und Strickjacke.

«Das ist Solomon Idris», sagte Noble. «Wir sind uns noch nicht ganz sicher, DS Wilson und sein Team arbeiten noch an der Identifizierung. Vor einer Stunde hat er diese Leute als Geiseln genommen.»

Nobles Erklärung war klar und präzise, Harry tappte trotzdem weiter im Dunkeln. «Ich weiß nicht, was Sie von mir erwarten», sagte er. «Ich bin kein Psychologe. Falls ich ein Profil erstellen oder verhandeln soll, das kann ich nicht.»

Sie lachte. «Ob Sie’s glauben oder nicht, Dr. Kent, die Polizei hat eigens dafür ausgebildete Experten.»

«Und wo sind die?», fragte Harry.

Noble schüttelte den Kopf. «Die Leute für South East London sind auf einer Polizeikonferenz in Antwerpen. Ich glaube, jemand von Scotland Yard ist auf dem Weg, aber das hier hat kaum oberste Priorität.»

Harry konnte das beinahe verstehen. Ein Junge mit einer Knarre in einem Hühnchen-Imbiss, dachte er. Nicht gerade die Belagerung der Botschaft eines Nahoststaates.

«Also, was ist passiert?», fragte er. «Will er den Laden ausrauben?»

«Nicht soweit wir wissen», erwiderte sie. «Wir haben die Bilder der Überwachungskamera. Er hat bestellt und bezahlt, sich hingesetzt und gegessen. Dann hat er einfach die Waffe gezogen, in die Luft gefeuert und allen befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Es waren noch drei Schulkinder drin, die hat er losgeschickt, um die Polizei zu holen. Und hier sind wir.»

Ein Ton kam aus DS Wilsons Daunenweste. Er holte ein Blackberry hervor und öffnete eine E-Mail. Seinem Gesichtsausdruck nach war es etwas Brauchbares, dachte Harry.

«Mo, was haben wir?»

«Seine Strafakte», sagte Wilson und hielt das Display hoch.

«Was Interessantes?», fragte Noble.

«Solomon Idris, siebzehn, wohnhaft in der Albany-Siedlung», fasste Wilson zusammen. «Verhaftungen wegen Besitz eines Messers, einfacher Körperverletzung, Raub. War in einer Gang, Wooly OC, aber hat sich 2010 eine Stichverletzung eingehandelt und danach nichts mehr. Sieht aus, als wäre er seitdem sauber.»

Alle hörten Wilson aufmerksam zu, der schnell redete, aber fast traurig klang, wie ein enttäuschter Vater. Noble kaute grimmig auf einem Kaugummi herum. Harry hätte wetten können, dass es die nikotinhaltige Sorte war.

«Irgendeine Fehde?», schlug Quinn vor.

«Nach so langer Zeit?», sagte Noble. «Unwahrscheinlich.»

Sie drehte sich wieder zu Harry um.

«Wie auch immer», fuhr sie fort. «Er hat ein paar Forderungen gestellt. Er will mit einem Anwalt sprechen und möchte eine Aussage machen, die auf BBC News gesendet werden soll.»

«Gehen Sie darauf ein?», fragte Harry.

«Da kommt so ein Rechtshilfefuzzi vom Yard. An seinem Fernsehauftritt arbeiten wir noch.»

Quinn legte die Hand an seinen Ohrhörer und rannte zur anderen Seite des Einsatzwagens. Harry bemerkte zwei gelangweilt aussehende Sanitäter mit Pappbechern in einem Rettungswagen, die darauf warteten, dass jemand angeschossen wurde. Er trat vor, sein Atem tanzte in der kalten Luft.

«Bei allem Respekt», sagte er und sah erst Noble, dann Wilson an, «ich weiß noch immer nicht, was ich hier soll.»

«Er ist krank», sagte Noble. «Solomon.»

«Was? Meinen Sie psychisch krank? Sie wollen eine psychologische Einschätzung?»

«Nein. Na, jedenfalls nicht, dass wir wüssten. Der Junge ist körperlich krank. Er hustet sich die Lunge aus dem Leib, vielleicht alle paar Minuten seit einer halben Stunde. Deshalb sind Sie hier. Sieht aus, als bekäme er nicht richtig Luft. Wir haben einen Deal ausgehandelt. Im Austausch für ärztliche Hilfe werden drei Geiseln freigelassen.»

Harry beugte sich etwas vor, als klänge sie vielleicht vernünftiger, wenn er sie besser hören könnte. Fragend streckte er die Hände vor und bereute es sofort. Sobald die Hände aus den Taschen waren, spürte er die beißende Kälte. «Bitte? Ich soll zu diesem Idris in den Laden gehen und ihn behandeln? Habe ich das richtig verstanden?»

Noble nickte und fing an zu erklären. «Hören Sie, wir glauben wirklich …»

«Und natürlich ist er dabei die ganze Zeit bewaffnet?»

Inspector Quinn kam wieder hinter dem Transporter hervor und legte Harry eine Hand auf den Arm, einen Tick zu fest, um beruhigend zu wirken. «Hören Sie, ich weiß, dass das beängstigend klingt, aber vertrauen Sie mir. Ich habe sechzehn Beamte im Einsatz, vier hinter dem Gebäude, um den Notausgang abzudecken, sechs davor, alle das Ziel im Blick.» Er zeigte hoch auf den Wohnblock, von dem aus man freie Sicht auf den Take-away hatte. «Und da oben sitzen zwei Scharfschützen. Zu jeder Zeit hat wenigstens einer von ihnen die Zielperson im Visier. Die vier übrigen sind ein Zugriffsteam. Sie bringen Sie bis zur Tür. Glauben Sie mir, dieser Typ muss nur daran denken, zur Waffe zu greifen, und meine Jungs haben ihn erledigt, bevor Sie überhaupt anfangen können, sich in die Hosen zu scheißen.»

Quinn lachte, Harry nicht. «Find ich toll, dass Sie nicht verhandeln wollen», sagte er.

«Ich auch, Mann.»

«Sie machen es also?» DI Nobles Stimme. Direkt. Auf den Punkt.

Harry nickte noch, als ihn jemand auf die Schulter tippte. Er drehte sich um. DS Wilson hielt eine kugelsichere Weste hoch. «Dann sollten Sie die unter dem Fleece tragen», sagte er. «Wir wollen ja nicht, dass Ihnen kalt wird.»

 

Harry saß in der offenen Tür eines Transporters und versuchte, nicht zu zittern. Inspector Quinn stand neben ihm und instruierte die vier bewaffneten Beamten vor ihnen. Sie waren kampfbereit, zwei mit MP5-Karabinern quer über der Brust, die anderen beiden mit schweren Metallschilden und Handfeuerwaffen und der draufgängerischen Miene harter Männer. Harry musste sie nur ansehen und wusste, dass jeder von ihnen so nervös war wie er selbst.

«Okay», sagte Quinn. Er hielt ein Tablet, auf dem er die Ladenreihe skizzierte. «Charlie Eins und Charlie Zwei gehen die Straße hoch und warten hinter dieser Betonbank. Sobald sie in Position sind, begleiten Charlie Drei und Charlie Vier Dr. Kent bis zur selben Position. Wir warten die Funkbestätigung ab, dass das Zielobjekt erfasst ist, bevor Dr. Kent zum Eingang geht. Sobald jemand das Ziel aus den Augen verliert, Nachricht über Funk.»

Die vier Beamten brummten, dass sie verstanden hatten. Harrys Herz raste. Ein vertrautes Gefühl meldete sich zurück, das er nicht vermisst hatte. Aber etwas war anders gewesen im Kampfeinsatz – damals war er nur ein Rädchen in einer Maschine gewesen, sei es im Krankenhaus in Camp Bastion hinter Dutzenden von Sicherheitsbarrieren, sei es, wenn er mit einem Trupp Royal Marines, die ihn abschirmten, von der Rampe eines Helikopters sprang. Er hatte einen Auftrag gehabt, eine Aufgabe, auf die er sich konzentrieren konnte, um die fliegenden Kugeln zu ignorieren. Der Junge vor ihm, dem drei Glieder weggesprengt worden waren und dessen halbes Blutvolumen im Dreck versickerte.

Hier gab es nur ihn und einen siebzehnjährigen Jungen mit einem Revolver. Und der Junge hatte die Kontrolle über die Situation, was auch immer die Polizei behauptete.

«Funkcheck», befahl Quinn. Harry hatte einen Ohrhörer und ein Ansteckmikrophon bekommen. Er hörte nacheinander die Funkrufnamen der bewaffneten Officer, als sie die Verbindung testeten. Er versuchte, sich einzureden, dass sie ihm Rückendeckung geben würden, aber es funktionierte nicht. Er spürte ein Jucken unter seinem rechten Arm und nahm einen tiefen Atemzug eiskalte Luft.

«Jetzt Sie, Doc.»

«Test.»

«Okay», sagte Quinn. «Auf Position!»

Zwei der bewaffneten Officer stellten sich zwischen zwei Polizeitransportern auf, in einer der schmalen Lücken in dem gepanzerten Hufeisen, das die Barriere zwischen ihnen und der Geiselnahme im Take-away bildete. An der äußeren Absperrung trafen nach und nach die Medien ein, und irgendwo in der Dunkelheit konnte Harry einen Helikopter hören. Quinn nickte Noble und Wilson zu, die am Einsatzwagen standen. Harry folgte seinem Blick und sah eine Sekunde lang Noble an. Sie nickte und lächelte. Plötzlich hatte er das Gefühl, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben, und spürte ein unangenehmes Stechen in der Magengrube. Er schob die vage Erinnerung beiseite und sah, wie sie ein schwarzes Satellitentelefon ans Ohr hielt.

«Hi, Solomon. Ich bin’s wieder, Frankie. Wie geht es Ihnen?»

Wie soll’s einem schon gehen, dachte Harry, wenn man sich gerade mit der Aussicht abfand, sein Leben in einem Take-away für frittiertes Hühnchen zu beenden.

«Gilt unser Deal noch? Gut, das ist toll. Okay, wir machen jetzt Folgendes. Sie werden ein paar unserer Beamten vor dem Laden sehen. Keine Sorge, sie geleiten Dr. Kent nur sicher hinein und sammeln die anderen Leute ein, wenn sie rauskommen.»

Die anderen Leute. Harry ahnte, dass die Vorschrift nicht erlaubte «Geiseln» zu sagen.

«Okay, Solomon, ich verstehe. Er wird gleich bei Ihnen sein. Danke, dass Sie kooperieren.»

Noble drehte sich um und nickte Quinn zu, der die Hand an den Ohrhörer legte.

«Charlie Eins und Zwei auf Position», sagte er.

«Verstanden.»

Harry sah die beiden Beamten um die Polizeiwagen herumgehen, der mit dem Schild voran, die Waffe neben dem Schild ausgestreckt und auf das Ziel hinter dem Schaufenster gerichtet.

«In Position.»

«Charlie Drei und Vier bereithalten.»

Quinn sah zu Harry und deutete auf die beiden Trojan-Officer, die noch vor ihm standen und ihre Waffen checkten.

«Viel Glück, Mann.»

Harry füllte seine Lungen mit frischer, leerer Luft, stand auf und nahm seine Position zwischen den beiden Beamten ein.

«Ihr Tempo, Charlie Drei.»

Sie tauchten hinter dem Transporter auf, und Harry spürte, wie jeder Muskel seines Körpers sich unwillkürlich anspannte. Die ersten beiden Typen hockten jetzt hinter der Betonbank und zielten auf die Gestalt am hinteren Tisch. Harry sah hoch zu dem Logo neben dem flackernden Chicken-Hut-Schriftzug, einem lächelnden Hahn, und fragte sich, wie dick das Glas darunter war und ob die Kugeln vielleicht abprallen könnten.

Als sie zur Bank kamen, postierten die anderen beiden Beamten sich seitlich von ihm.

«Weiter gehen wir nicht», sagte einer von ihnen.

«Großartig.»

Harry hielt sich am Trageriemen seiner Notfalltasche fest, der orange Streifen darauf leuchtete im Licht des Take-away. Das Internetcafé und das Kulturzentrum waren geschlossen, die Rollläden heruntergelassen. Zweifellos waren ihre Besitzer und Mitarbeiter schon vorher evakuiert worden. Seine rechte Achselhöhle juckte wieder. Er richtete sich auf, fixierte das Blaulicht, das sich im Schaufenster des Take-away spiegelte, und setzte sich in Bewegung. Als er auf das Licht zuging, dachte er daran, was für ein gutes Ziel er mit dem fluoreszierenden Streifen quer über der Brust abgab.

«Romeo Eins, Zielobjekt nicht im Sichtfeld.»

Die Stimme war neu, einer der Scharfschützen irgendwo in dem Block hinter ihm. Ihre Kugeln waren doppelt so lang und doppelt so schnell wie die in den Karabinern der Beamten oder in Solomon Idris’ Revolver. Wenn die Scharfschützen ihr Ziel verfehlten, konnte eine Kugel leicht durch Harry hindurchschlagen und danach noch eine Geisel treffen.

Quinns Stimme: «Romeo Zwei, melden.»

«Romeo Zwei, Zielobjekt erfasst.»

Harry legte die Hand auf die metallene Klinke und stieß die Tür auf. Eine Glocke ertönte, um seine Ankunft zu verkünden. Er machte vier Schritte und stand mitten im Laden.

Solomon Idris saß weit von der Tür entfernt, Rücken zur Wand, ein Arm auf dem Tisch, eine Hand in der breiten Vordertasche des Hoodies. Er hatte sich Muster ins kurzgeschorene Haar rasiert, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und das Weiße der Augen war von einem Netz roter Äderchen durchzogen. Das körnige Kamerabild und der weite Kapuzenpullover hatten kaschiert, wie mager er war. DS Wilson hatte gesagt, dass Idris siebzehn sei, aber Harry kam er viel älter vor – sein Gesicht war eingefallen, die Wangen hohl bis fast auf die Knochen, ein starrer Blick, den Harry kannte: der Blick eines alten Mannes bei einem Jungen, der für sein Alter zu viel gesehen hatte. Die beleuchteten Menüangebote, Chicken Buckets und Beilagen, umgaben seine Gestalt mit einem Heiligenschein.

Harry sah sich um und unterdrückte den beinahe unkontrollierbaren Wunsch, in Lachen auszubrechen. Hier war er also, nicht mal eine Stunde, nachdem er in seiner leeren Wohnung aufgewacht war, hielt das Gerüst seines Verstandes allein durch Speed aufrecht und stand mit einem bewaffneten Teenager in einem Laden für frittierte Hähnchenteile. Trotz der vielen Schichten, die er anhatte, überlief ihn ein Schauder, dann sah er, dass auch die Geiseln froren.

Das Handy auf dem Tisch neben der Pistole klingelte, und Harry versuchte zu überspielen, dass er sich erschreckt hatte. Idris nahm es mit einer leichten, gemessenen Bewegung auf.

Harry stellte sich Nobles Stimme am anderen Ende vor, bestimmt, aber einfühlsam, wie eine Lehrerin. Idris’ Gesicht blieb unverändert, und er sagte nichts. Er legte auf und sah Harry an.

«Ziehen Sie die Weste aus.»

Kaum war der Befehl ausgesprochen, wurde Idris am ganzen Körper von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt.

Harrys Blick wanderte zum Revolver auf dem Tisch. Eine Waffe im Taschenformat, eine von Tausenden, die auf den Straßen dieser Stadt in Umlauf waren. Sah nach kleinem Kaliber aus, keine der Magnum-Varianten, die Kevlar durchschlugen wie Butter. Aus dieser Entfernung würde die Weste eine Kugel aufhalten.

Idris deutete auf eine der Geiseln, das Mädchen mit ihren Eltern. «Zieh sie aus, Mann, oder ich mach das Mädchen kalt.»

Ihr Vater ließ ein Wimmern hören, und Harry öffnete den Klettverschluss der Weste, zog sie zusammen mit der Fleecejacke aus und legte beides auf den Boden. Er beschloss, Idris unter keinen Umständen die Weste zu geben. Ohne die beiden Kleidungsschichten spürte Harry die beißende Kälte auf der Haut.

Stille und kalte Luft erfüllten das Restaurant, und irgendwo draußen verstummte eine entfernte Sirene. Harry wusste nicht, was er sagen sollte. Der Junge brach das Schweigen.

«Hunger?»

Allein bei der Erwähnung des Wortes meldete sich Harrys Magen. Nachtschicht hieß, von halb neun abends bis halb neun morgens zu arbeiten, und die Übergabe dauerte meist bis halb zehn. Seine letzte Mahlzeit war ein getoastetes Sandwich in der rund um die Uhr geöffneten Cafeteria des Krankenhauses gewesen, etwa um eins, also vor neunzehn Stunden.

«Ja, hab ich tatsächlich», sagte Harry. «Riesenhunger.»

Idris winkte den beiden Chicken-Hut-Mitarbeitern, deren Polohemden die gleiche Farbe hatten wie die blauen Pflaster an ihren Fingern, und sie zuckten zusammen.

«He, Meister, mach dem Mann mal Hühnchen», befahl er und wandte sich dann an Harry: «Was woll’n Sie?»

«Ich möchte nichts», sagte Harry.

«Nee, Mann!», sagte Idris und hustete wieder. «Sie haben Hunger. Dafür sind die da. Kriegen die bezahlt. Sie sind Arzt, machen Leute gesund, oder sollten Sie jedenfalls. Und die machen Hühnchen.»

«Ehrlich, ich möchte nichts», sagte Harry. «Aber danke für das Angebot, Mann.»

Idris zuckte mit den Achseln und lehnte sich im Stuhl zurück. Der Geruch nach Fett und Gewürzen hing im Restaurant, und Harrys Hunger wurde stärker. Das paradoxe Gefühl, gleichzeitig Hunger und null Appetit zu haben war ihm allzu vertraut.

Nobles Stimme erklang in seinem Ohr. «Sagen Sie ihm, dass wir einen Deal hatten, Harry.»

Harry atmete tief ein.

«Sie haben mit Frankie abgemacht, dass Sie die anderen Leute gehen lassen», sagte er.

Idris sah ihn aus den rot geäderten Augen, die zu viel gesehen hatten, an, wiegte den Kopf von einer Seite auf die andere und wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt. Harry konnte sehen, wie sich jedes Mal, wenn die Lungen krampften, der Sternocleidomastoideus oberhalb des Schlüsselbeins anspannte.

«Korrekt», sagte Idris, sobald der Husten abgeklungen war. Er zeigte auf die Familie in einer Ecke des Ladens und fuchtelte mit der Hand Richtung Ausgang. «Haut ab», sagte er. Dann riss er eine Serviette hoch und hustete hinein. Als er sie fallen ließ, bemerkte Harry rote Punkte auf dem weißen Hintergrund um den lächelnden Hahn. Die Familie rannte raus, den Trojan-Beamten in die Arme, die vor der Tür warteten und sie in Sicherheit brachten. Man hörte das Geräusch von Stiefeln auf Beton.

Als die Beamten wieder mit der Dunkelheit verschmolzen waren, fühlte Harry sich so allein wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Er versuchte, an die Scharfschützen in dem Wohnblock hinter ihm zu denken, die den Mann oder besser den Jungen im Visier hatten. Dann sah er Solomon Idris an und dachte, dass der sich auch ziemlich allein fühlen musste. Wahrscheinlich so allein wie nie zuvor.

Mehr als die Hälfte der Patienten in Camp Bastion waren feindliche Kämpfer gewesen, Aufständische, die für den Tod und die Verletzungen seiner Kameraden verantwortlich waren, Männer, die für eine Ideologie töteten, die beinhaltete, junge Mädchen in den Kopf zu schießen, weil sie zur Schule gehen wollten. Dein Patient hat ein unveräußerliches Recht zu leben, sagte er sich jetzt wie damals. Der Junge vor ihm hatte nicht einmal annähernd so schlimme Dinge getan wie die meisten Menschen, die er in Afghanistan behandelt hatte. Das Pech der Geburt: Wenn man in einem Gottesstaat aufwuchs und Leute aus dem Westen deine Lebensgrundlage und deine Kultur zerstört hatten, wurdest du zum Rebellen; wenn man in Armut in einer Betonwüste in North Peckham aufwuchs, bot eine Gang die einzige Sicherheit, auf die man hoffen konnte.

«Darf ich dich Solomon nennen?», fragte Harry.

Idris grunzte und nickte. Wieder Husten.

«Ich bin Harry. Darf ich meine Tasche auf den Tisch stellen?» Die Antwort war ein unmerkliches Nicken. «Was ist das Problem?»

«Kann nicht atmen. Derbe Schmerzen in der Brust.»

«Seit wann hast du diesen Husten?», fragte Harry.

«Wochen, Mann.»

Harry griff in die Notfalltasche und sah, wie Idris die Hand um den Revolver schloss und erst wieder losließ, als Harry ein Stethoskop herauszog. Wie viele Schussverletzungen hatte er in seiner Laufbahn gesehen? Sechs oder sieben in zwei Jahren in London. Vielleicht hundert in den neun Monaten in Camp Bastion. Nichts war so zerstörerisch wie eine Kugel, die rücksichtslos Organe, Knochen und Gewebe mit derselben Bösartigkeit zerriss.

«Bist du sonst fit?»

«Jo.»

«Irgendwelche gesundheitlichen Probleme? Asthma? Diabetes?»

«Nein.»

Harry tippte auf die Membran seines Stethoskops, um zu prüfen, ob das Abhörstück richtig herum saß.

«Kürzlich irgendwelche Reisen?»

Idris blickte Harry aus rot geränderten Augen an.

«Solomon, ich arbeite nicht für die Polizei. Ich bin Arzt. Alles, was du mir sagst, fällt unter die ärztliche Schweigepflicht, und ich gebe es nur an die Polizei weiter, wenn du oder jemand anders sonst gefährdet wird.»

Idris schüttelte den Kopf und lachte, was aber schnell in Husten ausartete. Speicheltropfen spritzten auf die Tischplatte und Harrys Ärmel. Harry griff in die Tasche und zog Handschuhe und Mundschutz an. Nachdem Idris ausgehustet hatte, zeigte er auf die beiden Angestellten, die Bauarbeiter und den Typ in der Strickjacke.

«Mann, ich sitz hier mit ’ner Knarre und den fünf Opfern da. Wär wohl nicht verkehrt, wenn Sie sagen, ich bin gefährlich.»

Harry lächelte. Idris reagierte nicht.

«Stimmt wohl», sagte Harry. «Und mir zu sagen, ob du im Ausland warst, würde nichts daran ändern. Aber es könnte mir helfen, dir zu helfen.»

Idris nickte. Harry sah, dass er die Halsmuskulatur beim Atmen anspannte.

«Okay. Ich war kurz in Nottingham. Aus England bin ich nie raus.»

Harry schwieg und spürte das Gewicht der Angst auf seiner Brust. Oder vielleicht waren es Schuldgefühle. In Solomon Idris’ Alter hatte auch Harry das Land noch nie verlassen. Das war mit am auffälligsten und ihm am peinlichsten gewesen, als er mit dem Medizinstudium angefangen hatte und seine Kommilitonen alle nach einem Jahr Phuket oder Paraguay oder Paris zurückgekehrt waren oder von der Familiensafari in Kenia. Wenn irgendetwas anders gelaufen wäre, hätte er hier an Idris’ Stelle sitzen können? Kanone in der Hand, von Bullen umzingelt und mit der Aussicht auf eine letzte Mahlzeit, bestehend aus einer Box mit frittierten Hähnchenteilen?

Er ignorierte das Gefühl und legte die Membran des Stethoskops unter Idris’ linkes Schlüsselbein.

«Tief einatmen.»

Das tat Idris. Harry hörte knisternd und gedämpft ein Flüstern des Lebens. Er senkte den Blick, sah wieder den Revolver und stellte sich die Kugel in seiner eigenen Brust vor. Er fragte sich, was ihn wohl töten würde, wenn Idris sich entschloss, die Waffe zu benutzen. Manchmal starben Opfer von Schussverletzungen, bevor sie Zeit hatten zu verbluten: Ihre Lungen kollabierten, und der Druck in der Brust stieg an, bis er ihre Herzen zerquetschte, oder die großen Gefäße leckten in die Atemwege, und sie ertranken im eigenen Blut.

«Hast du in letzter Zeit an Gewicht verloren?»

«Ja.»

«Seit wann?»

«Paar Monate. Hab aber auch nix gegessen, jedenfalls nicht viel.»

Idris wurde vom bis jetzt schlimmsten Hustenanfall geschüttelt, und Harry wich zurück und riss sich das Stethoskop aus den Ohren. Idris krümmte sich und würgte. Rasch zog Harry einen Beutel für klinische Abfälle aus der Tasche und hielt ihn unter Idris’ Kinn, damit er hineinhusten konnte. Als der Anfall vorüber war, beugte er sich vor, um das Sputum zu untersuchen, aber obwohl die Lungen des Teenagers hörbar verstopft waren, war der Beutel leer. Vielleicht hatte er Zysten oder war zu schwach, um abzuhusten. Mein Gott, dachte Harry.

«Wie lange ist es schon so schlimm?»

«So ’ne Woche. Hab gedacht, ich bin erkältet.»

Den gedämpften Atemgeräuschen und den offensichtlichen Schmerzen nach zu urteilen, war es schlimmer als eine einfache Bronchitis. Harry befürchtete eine schwere Lungenentzündung, vielleicht sogar Tuberkulose, und als er bemerkte, dass Idris’ Nagelbetten grau aussahen, suchte er in der Tasche nach einem Pulsoximeter. Fast vergaß er, dass er sich mitten in einer Geiselnahme befand, denn all das war Routine. Ein kranker Patient, der eine Differenzialdiagnose brauchte und stabilisiert werden musste. Wenn er über den Geruch nach frittiertem Hähnchen und das Funkrauschen im Ohr hinwegsah, war das sterile, gelbe Licht dasselbe wie nachts in der Notaufnahme.

Harry hielt das Oximeter hoch und öffnete es.

«Darf ich das auf einen deiner Finger schieben?»

«Wofür?»

«Es misst den Sauerstoff in deinem Blut.»

«Keine Nadel?»

Idris’ andere Hand umfasste den Griff der Waffe, und Harry versteifte sich. Es war ein natürlicher Reflex, aber das Schlimmste, was er tun konnte. Eine eindringende Kugel würde weniger Schaden anrichten, wenn seine Muskeln entspannt waren. Zwar sah der Junge genauso ängstlich aus, wie Harry sich fühlte, aber das war ein schwacher Trost.

«Keine Nadel.»

Idris ließ die Waffe los. Welche Ironie, dachte Harry. Ein Teenager, der eine Messerstecherei überlebt hatte, fürchtete sich vor einer Nadel. Die Anzeige leuchtete auf. 87. Ab 95 war normal. Idris’ Werte waren lebensbedrohlich.

«Solomon, hör mir zu …»

Idris griff nach dem Beutel und hustete hinein.

«Ich muss dir eine Sauerstoffflasche zum Atmen holen. Deine Sauerstoffwerte sind so niedrig, dass dein Gehirn geschädigt werden kann.»

«Hol sie.»

Idris nahm die Waffe und fuchtelte damit herum. Harry stellte sich vor, wie die Scharfschützen hinter ihm rasch ein- und ausatmeten, damit ihre Körper absolut ruhig waren, wenn sie den letzten minimalen Druck auf den Abzug ausübten, der bereits am Anschlag war. Sein Ohrhörer erwachte zum Leben. Es war Noble. Ihre Stimme holte die Realität wie einen kalten Wind in sein Bewusstsein zurück.

«Harry, bleiben Sie, wo Sie sind», sagte sie. «Wir können das als Druckmittel benutzen, um Geiseln rauszuholen.»

Idris wurde von einem weiteren Hustenanfall heimgesucht. Blutdurchzogener Speichel landete im Beutel. Harry sah, wie Idris’ Muskeln in Hals und Schultern kontrahierten, jedes Mal, wenn er nach Luft rang, verzog er vor Schmerz das Gesicht.

Er drehte sich um und ging zur Tür.

 

Als Harry den Laden verließ, schlug ihm Schneeregen ins Gesicht. Er beschleunigte seine Schritte und rannte zur Bank, wo die beiden Trojan-Beamten aus der Dunkelheit auftauchten, ihn bei den Armen packten und praktisch in die Deckung hinunterrissen.

«Ist ja gut», sagte er durch die zusammengebissenen Zähne. «Er wird mir wohl kaum in den Rücken schießen.»

«Sind Sie da sicher?»

Noble, Quinn und Wilson warteten hinter dem Einsatzwagen. Harry ging an ihnen vorbei zum Rettungswagen und wies einen der Sanitäter an, ihn zu öffnen. Noble kam ihm nach.

«Dr. Kent!»

Harry drehte sich zu ihr um. Ihre gelassene Fassade war dahin, und die Röte ihres Gesichts deutete auf eine Mischung aus Kälte und unterdrückter Wut. Mit dem freundlichen Duzen war es wohl erst mal vorbei.

«Funktioniert Ihr Ohrhörer?», fragte sie. «Ich habe gesagt, Sie sollen bleiben, wo Sie sind! Haben Sie das nicht gehört?»

Harry zog die Handschuhe aus, nahm die Schutzmaske ab und warf alles in den Abfallbeutel, den der Sanitäter ihm aufhielt.

«Doch, habe ich», sagte er. «Aber der Junge dadrin ist schwer krank, Inspector. Er muss in ein Krankenhaus, sonst ist er in ernsthafter Gefahr.»

«Schon kapiert», sagte Noble. «Aber wenn er anfängt zu schießen, sind die unschuldigen Menschen dadrin in Gefahr, genau wie meine Beamten und Sie. Sie können nicht einfach gegen uns arbeiten, klar?»

«Okay», sagte Harry und hob beschwichtigend die Hände. «Es tut mir leid. Ich hätte Ihren Befehl nicht missachten sollen. Aber vergessen Sie nicht, dass ich Arzt bin, kein Polizist. Zuallererst bin ich für meinen Patienten verantwortlich, und ich werde nicht zulassen, dass seine Gesundheit als Druckmittel missbraucht wird.»

«Und ich bin zuallererst dafür verantwortlich, alle fünf Geiseln lebend da rauszukriegen, ich fürchte, die Gesundheit Ihres Patienten steht nicht gerade weit oben auf meiner Liste.»

Harry schwieg. Einer der Sanitäter reichte ihm eine Sauerstoffflasche, und er packte sie am Griff.

«Wie ernst ist es?», fragte Quinn.

«Ohne angemessene medizinische Versorgung hat er noch ein paar Stunden. Möglicherweise nicht einmal das. Er steuert auf ein Atemversagen zu.»

«Mal rein hypothetisch», sagte Quinn. «Ist er noch fähig abzudrücken, wenn wir reingehen?»

«Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es nicht. Er ist unglaublich schwach. Ich bezweifle, dass er mehr als ein paar Schritte gehen kann, bevor er zusammenbricht. In diesem Zustand ist er kaum eine Bedrohung.»

Noch während er die Worte aussprach, wusste Harry, dass sie nicht stimmten. Man brauchte nicht viel Kraft, um einen Revolver abzufeuern: Deshalb benutzten Menschen sie. Schusswaffen machten alle gleich.

Noble warf Quinn einen eindeutigen Blick zu. «Das bleibt rein hypothetisch, Inspector», sagte sie. «Wir gehen nicht rein, bevor er uns dazu zwingt. Ich werde nicht zulassen, dass die Met während meiner Schicht einen Jugendlichen erschießt. Das ist mein verdammtes Revier, und ich will nicht, dass es hier losgeht wie bei den Riots in Tottenham 2011, verstanden?»

«Absolut.»

«Gut. Sind Sie bereit, Dr. Kent?»

Harry nickte. So bereit wie irgend geht, dachte er. Bereit, wieder in einen Laden zu gehen, den nicht einmal die bewaffnete Polizei betreten durfte, obwohl sein einziger Schutz auf dem gefliesten Fußboden lag. Er hörte in der Luft einen Helikopter, und eine Sekunde lang war er wieder in den Bergen und spürte die gleiche Angst, den gleichen Geschmack von Adrenalin wie im Einsatz. Er tat es ab und schob es auf das Amphetamin, das er genommen hatte.

Nobles Stimme störte seine Erinnerung.

«Inspector Quinn, Ihre Männer können Dr. Kent wieder reinbringen.»

 

Harry betrat das Restaurant, und wieder läutete die Glocke. Die Angestellten blickten Richtung Tür. Gewohnheitstiere.

Idris klammerte sich an den Abfallbeutel und sah noch schlechter aus. Seine Lungen mussten wirklich kaputt sein, wenn sich der Zustand des Teenagers in der kurzen Zeit, in der Harry draußen gewesen war, dermaßen verschlimmert hatte. Für Krebs war er mit siebzehn zu jung, auch wenn er Gewicht verloren hatte. Falls es wirklich eine Lungenentzündung war, dann war sie weit fortgeschritten. Eine Blutsättigung von 87 hieß, dass die Lungenfunktion erheblich beeinträchtigt war. Ein Lungenabszess kam in Frage oder TB, auch wenn Idris behauptete, nicht an exotischen Orten gewesen zu sein. Heutzutage war London exotisch genug.

«Wann kommt der Anwalt?», fragte Idris.

Harry nahm die Sauerstoffmaske, steckte den Schlauch ans Ventil der Flasche und drehte auf.

«Das weiß ich nicht», sagte er und gab dem Teenager die Maske. Idris warf sie zu ihm zurück.

«Du zuerst, Bitch.»

Harry lachte. Kids in Idris’ Alter trauten der Polizei nicht über den Weg, klar, aber so extreme Paranoia war selbst ihm neu. Er fragte sich, ob die Angst in Idris’ Augen auf etwas anderes hindeutete, ob er eine Psychose hatte. Ein junger, schwarzer Mann vereinte die meisten Risikofaktoren für Schizophrenie auf sich. Aber solche Diagnosen konnten warten, bis er körperlich stabil war. Harry hielt sich die Maske vors Gesicht und nahm ein paar tiefe Züge Sauerstoff. Dann steckte er eine neue, sterile Maske an die Flasche und gab sie Idris, der sie vor seinem Gesicht befestigte und angestrengt atmete. Bei jedem Atemzug schien er zu fürchten, es könnte sein letzter sein.

«Wenn du wieder husten musst, nimm die Maske ab und huste in den Beutel.»

Idris nickte ruhig. Sie schwiegen wieder, während Harry die Anzeige auf dem Oximeter beobachtete. 89. Kaum Veränderung. Der Puls war auch beschleunigt, 118. Harry stellte den Sauerstoff auf vier Liter.

«Verdammte Scheiße!»

Das kam von einer der Geiseln, einem fetten, schmierigen Mann mit dem lächelnden Hahn auf dem Poloshirt. Harry schloss die Augen und spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Eines hatte er schon in seiner Jugend in Lewisham gelernt, und die Zeit beim Militär hatte es bestätigt: Halt den Ball flach.

Langsam sah Idris auf, als bräuchte er dafür seine gesamte Körperkraft.

«Was?»

«Kann ich die Heizung wieder anstellen? Oder sollen wir hier alle erfrieren?»

Als Harry den Laden betreten hatte, war ihm die Kälte aufgefallen, dann hatte er sie wieder vergessen. Wahrscheinlich hielt ihn der Stress warm, das Adrenalin. Aber jetzt spürte auch er die beißende Kälte auf der Haut, es war locker so eisig wie draußen.

«Zu heiß», sagte Idris nur.

Harry nahm Idris’ Handgelenk – die Hand, die nicht auf der Waffe lag – und fühlte ihm gleichzeitig die Stirn. Er schwitzte stark, die Haut fühlte sich warm an. Systemisches Fieber. Die Infektion in seiner Lunge breitete sich aus. Er konnte schon eine Sepsis haben.

«Solomon», sagte er. «Hör mir zu.»

Idris hustete und sah auf. Seine Stimme war durch die Maske gedämpft, aber Harry hatte die Worte schon so oft gehört, dass er sie ohne Probleme von den Lippen ablesen konnte.

«Schon okay, Mann. Werd ich sterben?»

Er sagte es mit der Unbekümmertheit eines Menschen, der einen auf der Straße fragte, ob es heute noch regnen würde. Harry gab seine Standardantwort. «Nicht, wenn ich es verhindern kann.»

Idris zog die Maske runter und hustete heftig, der Plastikbeutel erzitterte jedes Mal, wenn er von blutigem Nebel getroffen wurde.

«Solomon, wir können dir helfen, ja? Aber du musst diese Leute gehen lassen.»

Harry zuckte innerlich zusammen, als könnte Idris auf den Gedanken kommen, ihn zu erschießen, weil er bevormundend klang.

«Ich glaube, du hast eine schwere Lungeninfektion. Ich kann dir über einen Tropf Flüssigkeit verabreichen, Medikamente, um das Fieber zu senken, und der Sauerstoff wird dir helfen, leichter zu atmen. Aber nur für eine Weile. Es verschafft dir eine, höchstens zwei Stunden. Du musst sofort in ein Krankenhaus, oder du kriegst ein Riesenproblem. Also lass diese Leute gehen und setz dich mit mir in einen Rettungswagen. Gib ihnen nicht die Genugtuung.»

Idris sah zu ihm hoch. Harry konnte praktisch zusehen, wie er seine Worte abwog. War es das? Suizid durch Polizei? Falls das sein Plan war, dachte Idris vielleicht darüber nach, dass er sie nicht einmal mehr dazu bringen musste, auf ihn zu schießen. Es könnte leichter sein, einfach aufzugeben und an der Krankheit zu sterben.

«Den Tropf», sagte Idris. «Kein Krankenhaus.»

«Okay. Bist du auf irgendwas allergisch?»

«Penicillin.»

Na großartig, dachte Harry. Das schloss die meisten Medikamente aus, die er gern eingesetzt hätte, und mit einer einzigen Ausnahme alle Antibiotika, die er dabeihatte. Er holte Kanüle, Stauschlauch, einen Abfallbehälter für Spritzen und einen Beutel Kochsalzlösung aus der Tasche. Dann band er den Stauschlauch um Idris’ Arm und suchte nach einer Vene in der Armbeuge. Der Schweiß auf der Haut und der körperliche Schockzustand durch die Infektion machten es schwierig, eine zu finden, also suchte Harry weiter am Handgelenk und nahm schließlich eine, die auf dem Handrücken hervortrat. Der Teenager behielt ihn misstrauisch im Blick und zuckte zusammen, als Harry die Kanüle in die Vene stach und mit Klebeband fixierte. Dann legte Harry den Beutel oben auf die Tasche, öffnete das Ventil und ließ die Flüssigkeit in Idris’ Blutbahn laufen.

Kein Krankenhaus. Und was er hier tun konnte, war begrenzt. Den Patienten untersuchen, Erstversorgung gewährleisten. Er hatte keine ausreichend starken Antibiotika dabei, die er Idris gefahrlos verabreichen konnte. Nur Sauerstoff und Volumen. Und er brauchte dringend ein Röntgenbild. Wenn er Idris zum Reden brachte, sein Vertrauen gewann, vielleicht würde der Junge dann einwilligen, mit ihm zu kommen. Er suchte nach Worten, versuchte, freundlich, zugänglich zu klingen.

«Worum geht es hier überhaupt, Solomon?»

Die Worte waren heraus, bevor er Zeit hatte, sie zu bereuen. Den Jungen hier rauszuholen war nicht sein Job, sondern DI Nobles – wo auch immer sie jetzt war und was auch immer sie gerade tat. Im Moment sah es eher nach nichts aus.

Die Antwort kam unter erneutem Husten.

«Keisha.»

«Wer ist Keisha?»

Idris’ Kopf zuckte beim Husten, als würde er dem Plastikbeutel Kopfstöße verpassen. Als er fertig war, rieb er sich die Augen und sah Harry an. Wieder dieser Blick. Der sagte, dass er Dinge gesehen hatte, die er nicht hätte sehen sollen. Wie viele siebzehnjährige Jungen können von sich behaupten, sie seien dem Tod nah gekommen?

«Ist dir doch scheißegal, Mann.»

«Aber dir ist es nicht scheißegal», sagte Harry. «Sonst würdest du das hier nicht tun.»

«Fick dich.»

Waren das Tränen in seinen Augen? Vom Fieber, der Atemnot oder wegen seiner aussichtslosen Lage? Zwar hatte er einen Revolver, ganz abgesehen von einer kriminellen Vorgeschichte, die die meisten Leute beeindrucken würde, aber trotzdem sah er verletzlich aus.

«Was ist mit Keisha?»

«Sie ist tot. Die haben sie verdammt noch mal umgebracht. Die haben sie umgebracht, und euch Bullen war’s scheißegal.»

Durch die Infektion in der Lunge sprach Idris abgehackt, jedes Wort ein schallgedämpfter Schuss.

«Wer hat sie umgebracht, Solomon?»

«Ich sag nix. In der Gegend hier redet man nich mit Bullen. Ich red mit Bullen, und ’n Arsch macht mich kalt.»

«Ich bin nicht bei der Polizei, Solomon», sagte Harry, und ihm war bewusst, dass er so verzweifelt klang, wie er war. «Ich bin Arzt. Ich arbeite nicht für die. Ich tue nicht, was sie sagen. Lass mich dich ins Krankenhaus bringen, dann kannst du von Keisha erzählen, während wir dafür sorgen, dass es dir bessergeht.»

«Ich red über Keisha, wenn ’n Anwalt kommt. Ich red mit Anwalt und BBC.»

Idris fing wieder an zu husten, bisher der längste und heftigste Anfall. Inzwischen war er so kurzatmig, dass er kaum sprechen konnte. Er hob den Kopf, ließ den Abfallbeutel sinken und setzte die Maske wieder auf. Es wirkte, als würde er all seine Kraft dafür brauchen.

«Wenn wir dich nicht behandeln, wirst du vielleicht nicht lange genug leben», sagte Harry. Das war dramatisch ausgedrückt, aber er war sich nicht einmal sicher, ob Noble und die anderen Polizisten überhaupt die Absicht hatten, den Forderungen nachzukommen. Harry spielte die Möglichkeiten durch: Er könnte Blut abnehmen und es die Polizei für Tests ins Krankenhaus bringen lassen. Auf dem Rückweg könnte der Bote ein Breitspektrumantibiotikum mitbringen, das Harry trotz der Penicillinallergie verabreichen konnte. Er könnte intravenös Paracetamol geben, um das Fieber zu senken. Aber selbst das würde Idris nicht mehr als ein paar Stunden verschaffen.

Es reichte einfach nicht. Beschleunigter Puls, Fieber, erhöhte Atemfrequenz. Der Blutdruck war halbwegs stabil, aber Harry hatte dieses Bauchgefühl, dass er jede Minute in den Keller gehen könnte. Auf Station rief man ihn zu solchen Patienten, weil die Schwestern und unerfahrenere Ärzte sich Sorgen machten.

«Wenn wir ins Krankenhaus kommen, müssen wir dich vielleicht sedieren, um dich an ein Beatmungsgerät anzuschließen und dir mehr Sauerstoff zu geben», fuhr Harry fort. «Wir haben wirklich nicht viel Zeit.»

Er überlegte. Er hatte Sedativa dabei. Midazolam, Ketamin, Morphin. Ob Idris es ihm abkaufte, wenn er behauptete, ihm ein Antibiotikum gegen die Infektion zu verabreichen, stattdessen aber Midazolam gab? Nur so viel, um ihn umzuhauen, damit die Polizei gefahrlos reinkommen konnte? Anfangs vielleicht nicht, dachte Harry, aber inzwischen vertraute ihm der Junge, es war möglich.

Möglich, aber moralisch das Hinterletzte. Er ist dein Patient, und du tust, was das Beste für ihn ist. Das ist das erste Gebot, das unumstößliche Gesetz. Noble passte auf die Geiseln auf, die «anderen Leute». Aber um den Jungen mit dem Revolver und dem starren Blick kümmerte sich niemand außer Harry.

«Erzähl mir von Keisha. Ich sag es dem Anwalt. Ich sag es, wem du willst.»

«Den Bullen war’s damals scheißegal. Wird heute nicht anders sein.»

Harry beugte sich vor.

«Ich glaube nicht, dass …»

Ein lauter Schuss zerriss irgendwo links von Harry die kalte Luft. Sein Ohrhörer erwachte schlagartig zum Leben.

«Ein Schuss ist gefallen!»

Harry sah blitzartig zum Revolver auf dem Tisch, zu Idris, der danach griff, während der Abfallbeutel in seinen Schoß fiel.

«Los! Los! Los!»

Schritte auf Beton, schreiende Geiseln, die Türglocke des Take-away. Harry stürzte sich auf Idris, aber der duckte sich zur Seite weg, ergriff schwerfällig den Revolver und tastete nach dem Abzug. Harry ließ sich zu Boden fallen, drehte sich auf den Rücken und sah die Männer in Schwarz in der Tür.

«NICHT SCHIE-»

Scheiben klirrten, laut hallte der Knall von den Wänden wider.

«-SSEN!»

In Harrys Ohren klingelte es.

«Zielperson am Boden!»

Plötzlich war das Restaurant von Polizei überschwemmt, manche Beamte hoben die Waffen, andere packten die Geiseln und zerrten sie hinaus in die Nacht. Idris lag verdreht zwischen Theke und Tisch am Boden, Harrys Notfalltasche war heruntergefallen und versperrte ihm die Sicht. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter.

«Doc, sind Sie getroffen? Geht’s Ihnen gut?»

Harry tastete sich ab und wartete, dass das Adrenalin verebbte und er den Schmerz der Verletzung spürte, aber nichts kam. Ein heftiges Ziehen strahlte von seiner Brust in seine rechte Seite, und er fühlte sich lebendig, sein Blick war klar, und es klang hell in seinen Ohren. Er kannte das Gefühl. Die Angst und die Wut des Krieges in einer Chicken-Hut-Filiale auf der Camberwell Road.

Mühsam richtete Harry sich auf.

«Mir geht’s gut. Holen Sie sofort die Sanitäter!», sagte er.

Ein leises Stöhnen kam von hinter dem Tisch. Zwei Trojan-Officer, die durch die Hintertür reingekommen waren, tasteten Idris nach Waffen ab. Harry packte den Tisch, der zwischen ihm und dem Jungen stand, und schleuderte ihn zur Seite. Ein Bein brach ab, als er gegen die Wand knallte.

«Lassen Sie mich durch!», schrie er und drückte sich an den Beamten vorbei.

Plötzlich war Quinn da, seine Stimme war ruhig, das Auge des Sturms.

«Dr. Kent, wir müssen Sie hier rausbringen.»

Harry ignorierte ihn, kniete sich hin und zog die Notfalltasche heran. Idris war noch bei Bewusstsein und stöhnte laut, sein Blick sprang zwischen den Leuten über ihm hin und her. Harry schnitt den Kapuzenpullover mit einer Schere auf. Die Eintrittswunde auf Idris’ linker Körperseite war deutlich zu sehen, direkt unter dem Rippenbogen. Wahrscheinlich zu tief, um das Herz getroffen zu haben. Hoffentlich. Blut tropfte rot auf die weißen Fliesen.

«Die Kleider müssen runter!», rief Harry. «Schneiden Sie sie runter!» Er tastete Idris ab und suchte nach weiteren Verletzungen. An der linken Hand war Blut, aber dort war beim Sturz die Kanüle rausgerutscht. Er fasste unter den Jungen und suchte nach einer Austrittswunde, aber es gab keine.

«Keine Bewegung, verdammt! Keine Bewegung!», schrie einer der Leute von Trojan und richtete immer noch seine Waffe auf Idris’ Brust.

«Die Waffe ist gesichert!», rief Quinn.

Idris schlug wild um sich, eine Mischung aus Schock und Angst. So konnte Harry überhaupt nichts tun – keinen neuen Zugang legen, keinen Sauerstoff geben, die Wunde nicht versorgen.

«Pressen Sie irgendwas auf die Wunde und halten Sie ihn fest!», schrie er.

Er wühlte in seiner Tasche, holte ein Narkosekit heraus und riss die Plastikverpackung der Kanüle mit den Zähnen auf. Um Zeit zu sparen, hatte er immer fertige Spritzen mit der Standarddosis eines Beruhigungsmittels dabei.

«Der Einsatzort ist gesichert, holen Sie die Sanitäter rein!», sagte Quinn in sein Ansteckmikrophon. In der Hand hielt er einen durchsichtigen Plastikbeutel mit dem Revolver. Inzwischen versuchten vier Trojan-Beamte, Idris festzuhalten, der sich hin und her warf und um sich schlug. Die Waffen trugen sie quer über den Rücken. Einer mit einem grünen Kreuz auf dem Helm, der nur mit einer Pistole bewaffnet war, hatte sich Handschuhe angezogen und presste weißen Verbandmull auf die Wunde.

«Schießwütige Idioten», murmelte Harry, während er die Kanüle an der Spritze befestigte. Im Kopf rechnete er die Dosis aus. 60 kg Teenager, 600 mg Ketamin.

«Er hat zuerst geschossen», sagte Quinn.

«Sparen Sie sich das für die gerichtliche Untersuchung auf», sagte Harry.

Er beugte sich über den zuckenden Teenager und setzte die Spritze in den großen Deltamuskel. Idris stöhnte noch einmal auf, dann wurden seine Bewegungen langsam ruhiger. Von draußen kam Lärm, als der Rettungswagen vorfuhr. Die Trojan-Beamten zogen sich zurück, um die Sanitäter durchzulassen.

«O Gott, ist er tot?» Der Beamte, der den Schuss abgegeben hatte, war jung, vielleicht höchstens zwanzig. So wie er zitterte, konnte Harry sich denken, was in ihm vorging.

«Der Arzt hat ihn sediert, Greg. Komm.»

Quinn packte seinen Kollegen am Arm und führte ihn weg von der Menge Richtung Hinterausgang.

Harry hob die Gaze von der Wunde, um den Einschuss näher zu untersuchen – es blutete noch, aber nicht katastrophal. Das Blut sah venös aus, nicht arteriell. Es bestand natürlich die Gefahr, dass ein größeres, inneres Gefäß verletzt war, aber dagegen konnte er jetzt nichts machen. Idris war in einem Bereich getroffen worden, wo viele große Blutgefäße und lebenswichtige Organe saßen. Milz. Nieren. Darm. Alle konnten ausbluten, wenn sie getroffen waren. Falls sie das Leben des Jungen retten konnten, dann nur auf dem Operationstisch.

Harry erwog, was er vor Ort noch tun konnte, einen neuen Zugang legen, ihn am Boden des Schnellrestaurants intubieren und ins Krankenhaus transportieren, sobald er stabil war, aber da das Ruskin-Klinikum mit Blaulicht nur fünf Minuten entfernt war, war es die Verzögerung nicht wert – jede Sekunde hier war eine weitere Sekunde, in der Idris unersetzbares Blut verlor. Genau wie in Helmand, dachte er. Hol die Verwundeten aus der Gefahrenzone und renn um ihr Leben.

«Sind Sie der Polizeiarzt?», fragte die Sanitäterin.

«Ich bin auch Assistenzarzt auf der Intensivstation im Ruskin», sagte Harry. «Können wir ihn mit einer Schaufeltrage hochheben?»

Er wartete darauf, dass die Sanitäter übernahmen, aber die Frau nickte nur und rannte zum Rettungswagen zurück, während ihr Partner bei Harry wartete. Na gut, dachte Harry.

«Wir müssen so schnell wie möglich einen Zugang legen.»

Der Sanitäter kniete sich neben Idris’ entblößten Arm und suchte nach einer Vene. Harry schob das Pulsoximeter wieder auf den Finger des Teenagers. Er legte das Stethoskop an und war erleichtert, als er auf der linken Seite noch schwache Atemgeräusche hörte, auch weiter unten in der Nähe der Wunde. Man konnte nicht sagen, ob der gedämpfte Ton von der Infektion oder einer inneren Blutung herrührte.

«Blutsättigung bei 81.»

Es ging weiter bergab. Harry legte Idris die Sauerstoffmaske wieder an und drehte das Ventil maximal auf, fünfzehn Liter pro Minute, als die Sanitäterin mit der Schaufeltrage zurückkam, sie in ihre zwei Hälften auseinandernahm und Harry und ihrem Kollegen reichte. Eine Hälfte schob Harry auf seiner Seite unter den Patienten, der Sanitäter tat das Gleiche auf seiner Seite, dann steckten sie die Hälften oben und unten wieder zusammen.

«Achtung, fertig, und hoch.»

Sie trugen Idris aus dem Take-away wie auf einer Beerdigung. Legten ihn draußen auf die Krankentrage und schoben ihn in den Rettungswagen. Die Sanitäterin rannte nach vorne und startete Wagen und Blaulicht. Harry und der Sanitäter sprangen hinten neben Idris in den Wagen und zogen die Tür zu.

Die Sirenen heulten, während Laternen, Schnee und Straßen hinter den getönten Scheiben vorbeiflogen.

«Ich habe den Zugang gelegt», rief der Sanitäter. «Braucht er Volumen?»

Harry sah auf zum Vitalzeichenmonitor. Der Blutdruck war noch nicht gemessen worden, also umfasste er Idris’ Handgelenk. Schwach und schnell ging der Puls unter seinen blutigen, behandschuhten Fingern.

«Er hat einen Puls im Handgelenk, warten wir ab», sagte Harry. «Können Sie das Krankenhaus benachrichtigen, damit die Notaufnahme weiß, dass wir kommen?»

Die Stimme der Sanitäterin, die den Rettungswagen fuhr, kam krächzend über das Funkgerät ihres Kollegen. «Hier Papa 2-4-2, wir haben ein extrem kritisches Trauma. Siebzehnjähriger Mann mit Schusswunde im Bauchraum, noch kein Blutdruck. Voraussichtliche Ankunft in drei Minuten.»

Die ganze Tragödie, die Harry in der letzten halben Stunde miterlebt hatte, in wenige per Funk übermittelte Worte zusammengefasst. Er presste noch immer auf Idris’ Handgelenk und spürte, wie der Puls schwächer wurde.

«Solomon! Kannst du mich hören, Solomon? Drück meine Hand!»

Nur ein Beben, der Hauch einer Bewegung, trotz des Ketamins in seinem System. Was konnten sie noch tun? Über die Maske bekam der Junge reinen Sauerstoff, um die Atmung zu erleichtern; es war ein peripherer Zugang für eine große Transfusion gelegt. Nur Blut und eine OP konnten ihm jetzt noch helfen; und Antibiotika und Beatmung für seine Lungen. Harry fielen nicht viele Chirurgen ein, die gut genug waren, um Solomon Idris zu retten, aber die Leute am Ruskin gehörten dazu.

«Solomon! Rede mit mir!»

Der Puls war noch fühlbar, und der Vitalzeichenmonitor zeigte eine EKG-Kurve an. Aber der Blutdruck war im Keller, genau wie Harry vorausgesehen hatte. 80 zu 65.

Als Harry seine Finger fester auf Solomon Idris’ Handgelenk presste, fühlte er, wie der Puls verschwand.

 

In einer normalen Schicht kann ein Mitarbeiter der Notaufnahme des John Ruskin Universitätsklinikums damit rechnen, einen Menschen sterben zu sehen. In Nächten, in denen Camberwells junge Männer sich besonders männlich fühlten, ist es nicht ungewöhnlich, wenn gleich sechs oder sieben Teenager verwundet eingeliefert werden. Oft wird in Sekundenschnelle ein Team zusammengestellt, so wie das, das sich in den drei Minuten zwischen Funkankündigung und Ankunft des Rettungswagens in der Notaufnahme bereit gemacht hatte und jetzt wartete. Am Fußende des Bettes stand die Teamleiterin, Fachärztin für Unfallmedizin, vor sich auf einem Klemmbrett Checklisten und Algorithmen; neben ihr Chirurgen, Anästhesisten, Schwestern, Radiologen. Der Transportpfleger war schon zur Blutbank losgerannt und holte das Notfallblut 0-negativ, die universell verwendbare Blutgruppe. Das Ärzteteam konnte vielleicht zusammengerechnet hundert Jahre medizinischer Ausbildung vorweisen, aber der Mann, der das Blut holte, stach sie alle aus. Heute hatte Wallace Dienst, ein semiprofessioneller Fußballer, der seit sechs Jahren im Ruskin arbeitete. Seine persönliche Bestzeit von Bett zur Blutbank und mit vier Einheiten 0-negativ wieder zurück lag bei zwei Minuten und sechsunddreißig Sekunden.

«In die Sechs!», rief die Stationsschwester, als die Sanitäter Idris durch die Tür rollten.

Harry betrat nach ihnen den Schockraum und erkannte sofort drei der Gesichter. Da war die Teamleiterin Bernadette Kinirons, die durch eine dünn gerahmte Brille über ihr Team wachte. Ein dunkelgrauer Kittel akzentuierte ihre helle Haut. Der nächste war George Traubert, Anästhesist, Oberarzt und Harrys Betreuer. Traubert trug einen blauen Kittel, unter dem man beigefarbene Chinos und italienische Schuhe sah, er hatte wohl gerade nach Hause gehen wollen, als der Notfall reinkam. Der dritte stand hinten in einer Ecke des Schockraums in grüner Plastikschürze und Handschuhen und mit einer kantigen Armani-Brille. James Lahiri war im Studium Harrys bester Freund gewesen; sie waren zusammen nach Afghanistan gegangen und wieder zurückgekehrt, aber sie sprachen nicht mehr miteinander. Eigentlich arbeitete er in einer niedergelassenen Praxis in Camberwell, aber drei- oder viermal im Monat machte er Vertretungsschichten in der Notaufnahme. Das taten viele praktische Ärzte, vor allem die jüngeren, um sich ein bisschen zu fordern und nicht aus der Übung zu kommen.

War ja klar, dass er ausgerechnet heute arbeiten musste.

«Harry!», rief Traubert. Lahiri sah auf, seine Miene verriet, dass er unangenehm überrascht war.

«Haben wir Blut?», rief Harry.

«Auf dem Weg», erwiderte Kinirons in einem Ton, als wollte sie Harry dafür schelten, dass er an ihrem Team zweifelte. «Bekommen wir eine Übergabe?»

Harry nickte und stellte sich neben sie ans Fußende, während Schwestern und Sanitäter den bewusstlosen Siebzehnjährigen von der Trage aufs Bett umlagerten. Innerlich beurteilte er das Team: Kinirons war absolut verlässlich, den chirurgischen Assistenzarzt kannte er nicht. Dass Lahiri Dienst hatte, war zwar Pech, aber es gab niemanden, mit dem er lieber arbeitete. Dafür war Dr. Traubert im Herzen ein Schreibtischtäter und wagte sich nur in die Notaufnahme, wenn die Dienstpläne es erforderlich machten; die Anästhesisten, die Bereitschaft hatten, mussten mit anderen Notfällen beschäftigt sein, sonst wäre er nicht hier.

«Okay», sagte Harry. «Das ist Solomon, er ist siebzehn. Vor etwa fünfzehn Minuten wurde er von einem Projektil aus einer Niedriggeschwindigkeitswaffe getroffen. Es gibt eine Eintrittswunde im linken, oberen Quadranten, direkt unterhalb des Rippenbogens, keine erkennbare Austrittswunde, keine anderen sichtbaren Verletzungen. Es gibt einen Verdacht auf atypische Pneumonie, die Blutsättigung lag bei etwa 87, bevor er verwundet wurde. Momentan hat er keinen Radialispuls, einen Karotispuls von 130, Atemfrequenz liegt bei 28 und Blutsättigung bei 82 bei 15 Liter Sauerstoff über die Maske. Vor dem Schuss hat er 200 ml Kochsalzlösung bekommen, seitdem nichts, 600 mg Ketamin intramuskulär zur Beruhigung, und er hat einen Zugang. Er ist allergisch auf Penicillin, und seine medizinische Vorgeschichte ist unbekannt.»