Autopsie - Rob McCarthy - E-Book

Autopsie E-Book

Rob McCarthy

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Beschreibung

Harry Kent, ein Arzt im Dienst der Polizei. Niemand kommt Tätern und Opfern so nahe. Als man Susan Bayliss mit aufgeschlitzten Pulsadern findet, deutet alles auf Selbstmord hin. Die junge Ärztin hatte ihren Chef wegen fachlicher Fehler angezeigt. Angeblich handelte der renommierte Herzchirurg einer Londoner Kinderklinik fahrlässig – mit Todesfolge. Für viele Eltern deckte Susan einen Skandal auf – für die Klinik war sie dessen Ursache: schlechte Presse, abgesagte Operationen. Und eine eingesetzte Ermittlungskommission, durch die Susan alles verlor: ihren Job, ihren Ruf, ihre Lebensfreude. Als Force Medical Examiner Harry Kent den Totenschein ausstellen soll, kommen ihm Zweifel, zu viel deutet auf Fremdeinwirkung hin. Dass ausgerechnet Harrys Exfreundin, DCI Francis Noble, in der Sache ermittelt und ihn um Hilfe bittet, macht die Lage nicht leichter. Denn Harry soll herausfinden, ob es unter seinen Kollegen und Freunden tatsächlich jemanden gab, der von der Sache wusste und für den Tod der Kinder mitverantwortlich war.

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Ähnliche


Rob McCarthy

Autopsie

Harry Kent

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Inka Marter

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Harry Kent, ein Arzt im Dienst der Polizei.

Niemand kommt Tätern und Opfern so nahe.

 

Als man Susan Bayliss mit aufgeschlitzten Pulsadern findet, deutet alles auf Selbstmord hin. Die junge Ärztin hatte ihren Chef wegen fachlicher Fehler angezeigt. Angeblich handelte der renommierte Herzchirurg einer Londoner Kinderklinik fahrlässig – mit Todesfolge. Für viele Eltern deckte Susan einen Skandal auf – für die Klinik war sie dessen Ursache: schlechte Presse, abgesagte Operationen. Und eine eingesetzte Ermittlungskommission, durch die Susan alles verlor: ihren Job, ihren Ruf, ihre Lebensfreude.

Als Force Medical Examiner Harry Kent den Totenschein ausstellen soll, kommen ihm Zweifel, zu viel deutet auf Fremdeinwirkung hin. Dass ausgerechnet Harrys Exfreundin, DCI Francis Noble, in der Sache ermittelt und ihn um Hilfe bittet, macht die Lage nicht leichter. Denn Harry soll herausfinden, ob es unter seinen Kollegen und Freunden tatsächlich jemanden gab, der von der Sache wusste und für den Tod der Kinder mitverantwortlich war.

Über Rob McCarthy

«Rob McCarthy ist ein Pseudonym. Nur so viel ist bekannt: Der Autor ist selbst angehender Mediziner im vierten Studienjahr und dürfte daher so Mitte 20 sein. Der Grund für das Versteckspiel: McCarthy befürchtet, dass man seine eigenen medizinischen Fähigkeiten in Frage stellen, dass er seine Arztkollegen vergrätzen oder Patienten verunsichern könnte. Denn Medizin spielt in seinem Krimi eine große Rolle, und Ärzte kommen nicht immer gut weg. Dabei legt er mit ‹Todeszeitpunkt› doch ein glänzendes Krimidebüt vor. Aber wenn er möchte, soll er ruhig inkognito bleiben … Hauptsache, er schreibt schon bald den nächsten großartigen Krimi!» (WDR 2)

«Dem Narrn in seinem Wahn mag dünken,

er dreh das Rad, das ihn selber dreht.»

T.S. Eliot

EinsSonntag, 24. August

Früher Morgen

Die Frau, die versucht hatte, ihren Mann umzubringen, stank nach Anis und Alkohol. Der Geruch hing an den Wänden, in der Matratze, in ihrem Haar. Sie trug den üblichen weißen Overall – ihre Kleider hatte man längst als Beweismittel sichergestellt – und lag auf der Pritsche in ihrer Zelle. Auf Armen, Händen und im Gesicht hatte sie Kratzer, die noch frisch aussahen.

Diese Beobachtungen sagten Harry Kent zwei Dinge über die Patientin: Wahrscheinlich heilten die Wunden nicht, weil ihre Leber die dafür notwendigen Gerinnungsfaktoren nicht produzierte; und eine Störung der Leberfunktion bei einer sonst gesund wirkenden 34-jährigen Frau war mehr als wahrscheinlich mit dem Gestank nach Sambuca verknüpft, der ihm entgegenschlug, seit er die Zellentür geöffnet hatte.

«Wer sind Sie, verdammte Scheiße?»

Sie klang total nach Nachmittagstalk, fast wie er früher, bevor das Medizinstudium seinen Akzent abgeschliffen hatte. Als sie jetzt aufstand, bemerkte Harry das FC Millwall-Tattoo auf ihrem Handgelenk. Erst als Sergeant Keziah Barnes, die für den Zellentrakt verantwortliche Beamtin, ihre gesamten 120 Kilo hinter ihm durch die Tür schob, setzte die Patientin sich wieder hin.

«Morgen, Mrs. Wright», sagte Harry. «Ich bin Arzt.»

Gegen 17 Uhr gestern Nachmittag hatte Pauline Wright eine Flasche billigen Sambuca auf dem Kopf des Mannes zerschmettert, der seit zwölf Jahren mit ihr verheiratet war. Der Mann war zur Beobachtung im John Ruskin Universitätsklinikum, wo Harry normalerweise arbeitete, weil er nach dem Angriff einen Krampfanfall erlitten hatte. 38-jährige Männer hatten in der Regel keine Krampfanfälle, 38-jährige Alkoholiker, die bereits einen beachtlichen Anteil ihrer Gehirnzellen abgetötet hatten, allerdings schon. Er würde durchkommen. Im Augenblick des Schlags, hatte man Harry gesagt, war die 0,7-Liter-Flasche beinahe leer gewesen. Mrs. Wrights Gatte hatte sie ausgetrunken. Und das war anscheinend auch der Grund für den Streit gewesen. Ein Säufer klaut dem anderen den Sprit.

Pauline Wright hatte seit fast zwölf Stunden keinen Tropfen Alkohol zu sich genommen. Und das sah man ihr an.

«Hör’n Sie, ich brauch unbedingt was zu trinken. Diese Arschlöcher haben mich echt mies behandelt.»

Barnes hatte etwas ganz anderes erzählt, so in der Richtung, dass vier Beamte nötig gewesen waren, um Mrs. Wright aus dem Polizeitransporter für eine Untersuchung in die Notaufnahme, zurück in den Transporter und schließlich in den Zellentrakt zu verfrachten. Sie hatte sich erst beruhigt, nachdem man im Krankenhaus damit gedroht hatte, sie zu sedieren.

«Das tut mir leid», sagte Harry, hockte sich hin und stellte seine Tasche auf den Boden. «Ich würde Sie gern untersuchen, ist das in Ordnung?»

«Tun Sie sich keinen Zwang an», sagte Wright. «Muss das Miststück dabei sein?»

Barnes stand hinter ihm, und Harry spürte förmlich, wie das sarkastische Lächeln der Polizistin sich in seinen Hinterkopf brannte.

«Ich fürchte, ja», sagte Harry. «Sie ist ebenso hier, um Sie zu schützen, wie um mich zu schützen.»

«Scheißbullen.»

Wright kratzte sich am Hals, und Harry betrachtete ihre Hand, als sie sie wieder in den Schoß legte. Der Tremor war deutlich wahrnehmbar, er hatte so etwas Tausende Male gesehen. Es bestätigte, was er gleich beim Betreten der Zelle vermutet hatte.

«Wie geht es Ihnen im Augenblick?», fragte Harry.

«Total scheiße. Ich hab die ganze Nacht gekotzt. Dank dieser Arschlöcher hab ich kein Auge zugetan und bin in meiner eigenen Scheiße aufgewacht.»

Harry nickte.

«Haben Sie Schmerzen?»

«Hab den miesesten Kopfschmerz, den’s gibt, und die blöde Kuh da gibt mir nicht mal ’ne Scheißtablette.»

«Ich will sehen, was ich für Sie tun kann», sagte Harry. «Aber ich muss Sie zuerst untersuchen und mich vergewissern, dass Sie sonst gesund sind.»

«Nur zu.»

Harry hängte sich das Stethoskop um den Hals und legte die Blutdruckmanschette um den Arm der Patientin.

«Haben Sie irgendwelche Erkrankungen?»

«Nein.»

«Nehmen Sie verschreibungspflichtige Medikamente?»

Sie hatte einen guten, kräftigen Puls in der Armbeuge. Ein bisschen schnell, aber das war nicht ungewöhnlich bei einem Alkoholentzug.

«Citalopram. Wegen Depressionen. Aber die hab ich ewig nich genommen.»

«Nehmen Sie andere Drogen?»

«Bitte was?»

Harry seufzte. «Alles, was Sie mir sagen, fällt unter die ärztliche Schweigepflicht. Es kann vor Gericht nicht gegen Sie verwendet werden.»

Das hatte er in den fast zwei Jahren als Force Medical Examiner oder schlichter als Polizeiarzt vielleicht zweitausend Mal gesagt. Aber es war notwendig. Patienten hielten wichtige, aber vielleicht belastende Informationen oft zurück, sobald jemand in Uniform anwesend war, selbst wenn ihr Leben davon abhing.

«Quatsch», sagte Pauline Wright.

«Verklagen Sie mich, wenn ich lüge», sagte Harry. «Sie würden gewinnen und mindestens fünfzig Riesen kassieren. Ich schwör’s.»

Die meisten lachten, wenn er das sagte, aber Wright starrte ihn nur an. Ihre Augen und Zähne waren gelb, das Haar vorzeitig ergraut. Trotzdem fragte er noch einmal, während er die Blutdruckmanschette aufpumpte.

«Nehmen Sie irgendwelche Drogen?»

«Nein.»

«Und früher?»

«Als ich jung war, hab ich alles Mögliche ausprobiert. Hat’s alles nicht wirklich gebracht.»

Harry maß den Blutdruck, der normal war. Die Ärztin in der Notaufnahme hatte sich die Verletzungen bereits angesehen. Da sie zahlreich, aber nur oberflächlich waren, hatte sie es nicht für nötig befunden, Mrs. Wright stationär aufzunehmen. Allerdings hatte sie bemerkt, dass die Patientin aufgewühlt und in einem Rauschzustand war, und hatte auf Bitten der Polizei Blut für ein Tox-Screen abgenommen. Inzwischen war Wright nüchtern, der Entzug hatte schon eingesetzt, und Harry musste entscheiden, ob sie ohne Risiko in der Zelle bleiben konnte, bis man sie morgen früh, wenn die Kriminalpolizisten ihren Dienst antraten, verhören würde. Ein so schwerer Angriff wie der auf ihren Mann konnte als Mordversuch durchgehen, wenn der diensthabende Staatsanwalt sich besonders zuversichtlich fühlte.

«Wie viel haben Sie gestern getrunken?»

«Ein paar vor dem Spiel im Pub, ein paar danach im Park», sagte Wright. «Als ich nach Haus kam, hatte der beschissene Arsch meinen Sambuca gesoffen.»

Beim zweiten Heimspiel der Saison war der FC Millwall von Rotherham besiegt worden, und die eingefleischten Fans hatten ihre berüchtigte Gewaltbereitschaft ausgelebt – mit den erwartbaren Folgen für die Rettungsdienste. In der Notaufnahme des Ruskin musste es ziemlich hektisch zugegangen sein, und Harry war froh, heute Nacht Bereitschaftsdienst bei der Polizei zu haben.

«Wie viel sind ein paar, Mrs. Wright?», fragte Harry. «Das muss ich wissen.»

«Vielleicht fünf. Vielleicht zwölf. Lass mich in Frieden.»

«Und wie haben Sie sich während der Nacht gefühlt?»

«Hab ich doch gesagt, Mann. Scheiße. Hab mich eingeschissen und mir die Seele aus’m Leib gekotzt.»

«Wann war das genau?»

«Was weiß ich», sagte Wright. «Ich hab keine Ahnung, wie spät es ist.»

Sie kratzte sich an den Armen, als Barnes den Kopf schüttelte und etwas murmelte. Die Frau auf der Pritsche riss den Kopf hoch und explodierte.

«Ist irgendwas, blöde Schlampe?», brüllte Wright. «Der Laden hier ist ein Saustall. Alles voller Scheiße und die beschissenen Maden überall, das ist ’ne Gefahr für die Gesundheit!»

«Pfft!», sagte Barnes und drehte sich zu Harry. «Hören Sie nicht auf sie, Doc. Maden? Ist ja ganz was Neues, Schätzchen.»

Harry wusste, dass es in der Zelle keine Maden gab, aber er war sich ziemlich sicher, dass Wright sich das nicht ausgedacht hatte. Sie sah sie. Und wahrscheinlich fühlte sie auch, wie sie über ihre Haut krochen. Hinter solchen Halluzinationen konnte durchaus etwas Ernsteres stecken. Aber Wright hatte neben dem Alkoholismus keine Vorgeschichte von psychischen Erkrankungen.

«Erzählen Sie mir von den Maden, Pauline», sagte Harry.

«Die sind überall», sagte Wright und kratzte sich wieder. «Ich krieg die nicht ab. Ich kann nich mal schlafen.»

«Verstehe», sagte Harry. «Mrs. Wright, ich werde Ihnen etwas Blut abnehmen und im Krankenhaus ein paar Tests machen lassen, wenn das in Ordnung ist. Dann gebe ich Ihnen ein paar Tabletten und eine Injektion zur Beruhigung.»

«Machen Sie, was Sie wollen, Mann. Ist mir scheißegal.»

In den ersten Wochen seiner Arbeit für die Polizei hatte Harry streng darauf geachtet, eine korrekte Einwilligung von seinen Patienten zu bekommen, bevor er Blut abnahm oder eine Injektion verabreichte. Aber die Frau vor ihm litt unter so extremen Entzugserscheinungen, dass sie nach nur zwölf Stunden ohne Alkohol halluzinierte. Sie war kaum dazu in der Lage, in einen Haarschnitt einzuwilligen, geschweige denn in eine medizinische Behandlung.

Glücklicherweise hielt Wright still, als Harry eine Vene suchte, ihr drei Röhrchen Blut abnahm und eine Spritze mit Haloperidol aus dem Medikamentenvorrat in seiner Tasche aufzog. Er hätte ihr Tabletten geben können, aber die hätte sie wahrscheinlich nicht bei sich behalten.

«Das war’s schon», sagte er.

«Danke, Doc.»

Harry hob seine Tasche auf und ging rückwärts zur Tür. Er drehte ihnen nie den Rücken zu, auch nicht fertig aussehenden Frauen mit Halluzinationen von Krabbeltieren. Barnes machte die Tür zu, und Pauline Wright brüllte ihr hinterher.

«Schließ bloß ordentlich zu, du fotzenleckende Schlampe!»

Barnes, das allgegenwärtige Lächeln auf den Lippen, schloss ab und schüttelte den Kopf.

«Nette Kundin», sagte sie.

Harry wollte gerade etwas erwidern, als er den Mann erkannte, der den Gang hinunterkam. Detective Sergeant Moses Wilsons weites, zerknittertes Hemd, die kaffeefleckigen Jeans und ein Dreitagebart in Kombination mit tiefen Ringen unter den Augen sagten Harry, dass er der verantwortliche Detective für die Nachtschicht war, und zwar wahrscheinlich das ganze Wochenende lang. Er hatte den Fall aufgenommen und würde nichts lieber tun, als ihn mit einem schnellen Geständnis abzuschließen. Dann konnte wer auch immer später am Morgen kam, sie am Montag anklagen lassen.

«Schön, dich zu sehen, Harry», sagte Wilson und schüttelte ihm die Hand. «Die Leute von Mord und Schwerverbrechen sollten um acht Uhr hier sein, also sag mir bitte, dass wir kein Problem haben.»

«Sorry, Mo», sagte Harry. «Sie hat starke Entzugserscheinungen. Ich musste ihr was zur Beruhigung geben.»

«Komm schon, ernsthaft?» Wilson stampfte mit dem Fuß auf. «Können wir nicht mit der Bereitschaftsanwältin reden? Wenn sie es genehmigt …»

Harry schüttelte den Kopf. Er hatte dieses Gespräch schon oft genug geführt. Übermüdete Detectives wollten die Vorarbeit an einem Fall vor Dienstschluss eintüten. Aber wenn eine verdächtige Person psychische Probleme hatte oder unter Alkoholeinfluss stand, musste ein Arzt sie für vernehmungsfähig erklären, bevor die CID sie befragte.

«Komm schon, Mo, selbst wenn du die Anwältin überzeugen könntest … Wenn die Sache vor Gericht geht, bist du am Arsch. Ich hatte keine Wahl. Ich musste erklären, dass ich sie für nicht vernehmungsfähig halte.»

«Sorry, aber ich bin heute Abend um halb sieben wieder hier und nicht gerade scharf drauf, dass diese Scheiße dann immer noch auf meinem Schreibtisch liegt.»

«Versteh ich ja», sagte Harry. «Aber …»

Er wurde von einem schrillen Klingelton in absteigender Modaltonleiter unterbrochen, sein Diensthandy. Er nickte dem genervten Wilson entschuldigend zu und ging ans Telefon.

«Harry Kent.»

«Sind Sie der Bereitschaftsarzt?»

«Am Apparat», sagte Harry.

Die Stimme, weiblich und mit hörbarem Newcastle-Akzent, klang viel zu gut gelaunt für diese Uhrzeit. «Wir bräuchten Sie in der Calais Street, Myatt’s Fields, falls das ginge. Sie sollen einen Totenschein ausstellen.»

Von der Straße hatte er noch nie gehört, aber er kannte die Gegend um den Myatt’s Fields Park, eingeklemmt zwischen Camberwell im Osten, Stockwell im Westen und Brixton im Süden, eine Mischung aus edwardianischen Reihenhäusern, begrünten Straßen und zwei brutalistischen Sozialbausiedlungen. Myatt’s Fields lag nicht weit von dem Krankenhaus, wo er arbeitete. Ein paar seiner Kollegen wohnten dort.

«Okay», sagte Harry. «Wonach sieht es aus?»

Er versuchte in der Regel, etwas mehr zu erfahren, wenn man ihn rief, um an einem möglichen Tatort einen Totenschein auszustellen. Wenn das Verbrechen innerhalb der letzten halben Stunde verübt worden war, lohnte es vielleicht, eine Ambulanz hinzuschicken und mit der Reanimation zu beginnen. Bisher hatte Harry noch nie eine potenziell lebendige Leiche vorgefunden, aber in Schottland war ein solcher Fall vor kurzem publik geworden. Ein Mann, der unterkühlt und halb ertrunken aus dem River Ness gezogen und für tot gehalten worden war, hatte in der Leichenhalle Lebenszeichen gezeigt.

«Ich bin DS McGovern, Bereitschaft des CID. Wir haben eine Frau in den Vierzigern, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Sieht nach Selbstmord aus, aber wir wollen nichts ausschließen.»

«Keine Lebenszeichen?», fragte Harry. Bei der Frage stieß Wilson sich von der Wand ab, an die er sich gelehnt hatte. Er war neugierig geworden.

«Sie ist kalt», sagte die Frau. «Mausetot. Die Rettungssanitäter haben einen Blick drauf geworfen und sind gleich wieder abgehauen. Ihre Freundin ist aus ’nem Club nach Hause gekommen und hat sie gefunden, die Arme. Da ist literweise Blut.»

«Okay», sagte Harry.

«Wann, glauben Sie, können Sie hier sein?»

«Ich bin auf der Polizeistation Walworth», sagte Harry. «Ich habe hier eine Patientin untersucht und muss noch kurz was besprechen.» Er sah auf die Uhr. «Bis fünf sollte ich es schaffen.»

«Kein Stress», sagte McGovern. «Mein DCI wollte es nur wissen, das ist alles.»

Harry legte auf und schüttelte den Kopf. Wilson lachte müde, das Lachen eines Mannes, der seine Fähigkeit, ohne Schlaf auszukommen, bis aufs Äußerste ausgereizt hatte.

«Was Interessantes?»

«Totenschein in Myatt’s Fields. Anscheinend Selbstmord.»

«Gutes Timing», sagte er. «Wetten, das war die Nachtschicht?»

So wie Harry selbst und wahrscheinlich auch Detective Sergeant McGovern, die gerade angerufen hatte, schob Wilson eine zwölfstündige Nachtschicht, und zwar übers ganze Wochenende. Falls es kein Notfall war, dann war ein Job zwei Stunden vor Schichtende die perfekte Gelegenheit, ihn ein bisschen in die Länge zu ziehen und erst um 6 Uhr 29 wieder zur Verfügung zu stehen. In der Minute bevor man stempelte, konnte man in der Regel einen neuen Fall vermeiden.

Harry schob die Röhrchen mit Pauline Wrights Blut in einen wiederverschließbaren Beutel und übergab ihn Wilson.

«Kannst du das der Schwester geben?», bat er. «Welche Tests gemacht werden sollen, steht drauf.»

«Und das Verhör?»

«Ich habe ihr eine ziemlich hohe Dosis Haloperidol gegeben und schreibe noch ein Rezept für Chlordiazepoxid, falls sie es braucht. Ich denke, sie wird bis Mittag schlafen. Der Arzt, der morgen Dienst hat, soll sie sich noch mal ansehen. Sorry, ich weiß, das ist keine Hilfe.»

Wilson war genervt, und Harry konnte es verstehen. Nach der Verhaftung hatte die Polizei genau 24 Stunden, dann musste die Verdächtige angeklagt oder entlassen werden. Bis Pauline Wright endlich vernehmungsfähig war, war diese Frist fast verstrichen. Die CID konnte eine Haftverlängerung beantragen, allerdings nahm Harry an, dass sie sich die Mühe nicht machen würden. Der Fall war eigentlich klar – man würde Wright ohnehin anklagen, und sie würde den Rest ihres Entzugs auf der Krankenstation des Holloway Frauengefängnisses machen, während sie auf ihren Prozess wartete.

«Du kannst ja nichts dafür», sagte Wilson und gähnte. «Trotzdem schön, dich zu sehen. Wann bist du noch gleich im Fernsehen?»

«Montagabend.»

Vor einem Monat hatte Harry mit den Detectives eines Cold-Case-Teams einen Beitrag für Crimewatch aufgenommen. Darin ging es um eine Patientin, die er im August 2011 behandelt hatte, eine junge Frau, die während der schlimmsten Riots, die London in diesem Jahrtausend erlebt hatte, brutal angegriffen worden war. Sie war immer noch im Krankenhaus, in einem minimalen Bewusstseinszustand, und trotz der Bemühungen der Polizei hatte sie noch keinen Namen und keine Identität, und die Chancen herauszufinden, wer sie in das jetzt drei Jahre andauernde Koma geprügelt hatte, waren im besten Falle mager. Da sie keinen Hinweis auf ihren richtigen Namen hatten, nannten sie sie Zara, nach der Marke der Shorts, die sie trug. Am Montag war es etwas über drei Jahre her, seit sie fast tot in einem Durchgang hinter der Eccles Road zurückgelassen worden war, und Harry hatte dieses Spezialteam der Metropolitan Police überredet, einen Appell an die Öffentlichkeit zu richten. Er war es gewesen, der Zara damals in der Notaufnahme zuerst untersucht hatte, also hatten er und der Neurologe, der sich jetzt um ihre Behandlung kümmerte, ein paar Worte in die Kamera gesagt.

«Ich hoffe, es bringt was», sagte Wilson. «Ich werd’s mir ansehen.»

Harry dankte ihm und wandte sich zum Gehen. Dabei kristallisierte sich aus dem Nebel in seinem Gehirn ein Gedanke heraus: Die letzten Worte von DS McGovern klangen ihm noch in den Ohren.

«Mo?», fragte er und drehte sich um.

«Ja?», erwiderte Wilson.

«Ist es normal, dass ein DCI des Bereitschaftsteams am Tatort ist?»

«Bei einem offensichtlichen Mord ist es üblich», sagte Wilson. «Sonst sind die in der Regel zu beschäftigt. Schicken die Handlanger, du weißt schon.»

«Hmm», sagte Harry. Wenn er zu plötzlichen Todesfällen gerufen wurde, traf er häufig auf die Bereitschaft des CID – Kripo-Beamte der jeweiligen Abteilung für Mord und Schwerverbrechen, die in dieser Woche auf dem Dienstplan stand. Meistens hielten sie den Todesfall für nicht verdächtig und verschwanden wieder. Harry sah auf die Uhr. 4 Uhr 35. Er arbeitete jetzt seit zwei Jahren für die Polizei und hatte noch nie einen DCI bei einem Selbstmord gesehen. Vor allem nicht mitten in der Nacht.

«Wer hat dich angerufen?», fragte Wilson.

«McGovern», sagte Harry. «Newcastle-Akzent.»

«Ah. Die ist neu. Southwark. Ups, das wird wohl eine peinliche Nacht werden.»

Wilson blickte ihn betreten an, eine symbolische Geste des Mitgefühls, während das Grinsen in seinen Mundwinkeln zuckte. Harry lachte nicht. Wilsons ehemalige Chefin, Frankie Noble, war neun Monate mit Harry zusammen gewesen und kurz nach der Trennung zu Mord und Schwerverbrechen gewechselt. Wenn das Team aus Southwark diese Woche Bereitschaft hatte, dann würde Frankie dort sein.

«Tja», sagte Harry. «Ich sollte mich besser auf den Weg machen.»

Er gähnte und drehte sich um. Auf dem Weg zum Ausgang suchte er in seiner Jackentasche nach den Autoschlüsseln. Als er auf den Parkplatz kam, lief er ein Stück, um sich wach zu machen. Der Himmel hing voller schwarzer Wolken, die sich vor dem blauen, heller werdenden Himmel absetzten. Für den Vormittag war Gewitter angesagt, der Ausläufer irgendeines Hurrikans, der aus der Karibik rübergezogen war.

Er versuchte, die Gedanken an Frankie Noble zu verbannen und stattdessen an die Frau zu denken, deren Tod er feststellen sollte. Er entriegelte den Wagen und warf seine Tasche auf den Beifahrersitz. Dann stieg er ein, gab Calais Street in das Navi ein und fuhr Richtung Süden.

 

Während der Fahrt brütete er ein blödes Gefühl aus, das etwa auf der Höhe Kennington in seinem Magen ankam. Harry war nicht sicher, was es genau war, aber das Subway-Sandwich, das er um Mitternacht runtergeschlungen hatte, lag ihm irgendwie quer. Er parkte, nahm die Tasche vom Beifahrersitz und machte sich auf den Weg.

Auch in der Morgenluft wurde das Gefühl nicht besser. Auf dem Weg zu einem Todesfall kam er immer ins Grübeln und dachte an die Sterblichkeit – seine eigene und die der anderen. Und es ging ihm nicht einmal um den Zeitpunkt, sondern den Ort. Schon lange hatte er akzeptiert, dass das Leben zerbrechlich war und die Macht, die das Universum lenkte – wie auch immer die aussah –, keinen Respekt davor hatte. Er sah ständig den Tod, aber auf einer Krankenhausstation, wo Menschen ihm trotz der Kabel und Schläuche, die sie an ihre Betten fesselten, erlagen, war er hygienisch. Schrecklich, aber begreifbar. Der Tod gehörte ins Krankenhaus. Er war sozusagen Teil der Einrichtung. In einer Küche, einem Schlafzimmer oder einem Garten auf den Tod zu treffen hatte Harry immer irgendwie irritiert. Das Gefühl war mit der Erfahrung verblasst, aber nie ganz verschwunden.

Die Polizei hatte einen Abschnitt der Straße abgesperrt, vor einer Reihe von roten Backsteinhäusern mit Blick auf den Park. Der Park hätte auch gut in ein Dorf in Oxfordshire gepasst. Es gab einen Tennisplatz, einen alten Musikpavillon und einen Teich, über dem Nebel aufstieg – Fühler der Dämmerung, die sich in die Sommernacht reckten. Hier in London allerdings waren der Park und die schicken Wohnungen direkt zwischen Camberwell und den Sozialbausiedlungen der Akerman Road eingeklemmt. Das war Süd-London, dachte Harry, als er zu dem Absperrband kam, an dem ein einsamer Uniformierter unter einer Straßenlaterne stand. Es gab nette Ecken und heftige Ecken wie in jeder Stadt, aber an kaum einem anderen Ort lagen die so dicht beieinander.

Die Straße war ruhig, abgesehen von ein paar Polizeifahrzeugen. Zwei hatten Blaulicht an. In wenigen Stunden würden die Anwohner aufwachen und sich hinter einer Polizeiabsperrung wiederfinden. Harry zählte hinter dem Absperrband zwei Zivilfahrzeuge der Polizei, einen Transporter der Kriminaltechnik, eine Ambulanz und zwei Streifenwagen.

«Kann ich helfen, Sir?»

Harry zeigte seinen Ausweis. «Polizeiarzt.»

«Alles klar», sagte der Beamte, neigte den Kopf und sprach in sein Funkgerät. «Shona, der Arzt ist hier.»

Harry blickte sich um, während er wartete. Auf der Straße parkten ein paar Minis und Fiat 500, altmodische Gitter aus Schmiedeeisen schützten den unteren Teil der breiten Fenster in jedem Stockwerk, und manche Häuser trugen zusätzlich zur Hausnummer einen Namen. Er erlaubte sich abzuschweifen, um seine Nerven zu beruhigen, und überlegte, ob Prominenz der Grund für die Anwesenheit der DCI war. Vielleicht hatte sich ein Politiker oder ein Popstar die Pulsadern aufgeschnitten. Falls das so ein Fall war, bei dem die Medien jedem Detail hinterherjagten wie die Aasgeier, wollte er lieber nichts damit zu tun haben.

DS McGovern – krauses, schulterlanges Haar und Trenchcoat bis zum Knie – trat aus einem der Häuser und kam auf die Absperrung zu.

«Wir haben telefoniert», sagte sie. «Schön, dass Sie da sind.»

Sie hielt das Absperrband hoch und trug ihn ein. Zu dem Haus gehörte ein gemeinschaftlicher Hof, den man durch einen dunklen Bogengang betrat. Harry bemerkte flüchtig, dass dort Betrieb herrschte. Zwei uniformierte Beamte legten trotz der sommerlichen Hitze eine Thermoschutzfolie über eine Gestalt. Eine forensische Videographin packte ihre Ausrüstung aus. Bisher keine Spur von Noble. Harry steuerte auf den Bogengang zu, aber McGovern versperrte ihm den Weg.

«Bevor wir reingehen, muss ich Sie etwas fragen», sagte sie mit ruhiger Stimme. «Das Opfer ist eine 34 Jahre alte Frau. Unsere vorläufige Identifizierung hat ergeben, dass sie Ärztin ist. Ich wollte nur prüfen, dass es keine Bekannte von Ihnen ist, bevor Sie hineingehen.»

«Gott», sagte Harry. Sein Gehirn listete automatisch die Kollegen und Freunde auf, von denen er wusste, dass sie in der Gegend wohnten, und glich Alter und Geschlecht ab. Keine offensichtlichen Kandidaten. Er blickte in den dunklen Morgenhimmel, die makabre Aufgabe stand ihm jetzt noch mehr bevor.

«Wie heißt sie?»

«Susan Bayliss.»

Harry kannte den Namen, wusste aber nicht, woher. Sie war etwa in seinem Alter, also kannte er sie vielleicht aus dem Studium oder aus der Zeit der ersten klinischen Ausbildung. Jeder Arzt hatte Kollegen, die sich umgebracht hatten, die Trauer, die er fühlte, war nichts Neues.

«Ich kenne sie nicht», sagte Harry. «Danke, dass Sie gefragt haben.»

«Dann bringe ich Sie mal rein.»

Uniformierte der örtlichen Polizeidienststelle liefen über den Hof, und Harry nickte Leuten zu, die er kannte. McGovern brachte ihn in ein geräumiges Treppenhaus, wo ein Mann und eine Frau mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand standen. Der Mann, Asiate und der jüngere von beiden, trat vor, um ihn zu begrüßen. Die Frau blieb im Halbschatten stehen.

«Das ist Dr. Kent», sagte McGovern. «Dr. Kent, DC Bhalla und Stellvertretende DCI Noble. Sie ist der Boss.»

Als Harry vortrat, kam Noble ins Licht, und er konnte sie gut sehen. Er konnte sogar ihre Reaktion sehen, als sie ihn sah. Die Lederjacke, die dunklen Jeans und Doc Martens, die immer ihre Visitenkarte gewesen waren, waren verschwunden, genau wie die kurze Ponyfrisur – ersetzt durch eine weiße Hemdbluse, schicke lange Hose, flache Schuhe und einen spießigen Bob. Sogar das Gesicht sah anders aus, aber er konnte nicht sagen, was es war, und ihr Blick hatte sich nicht geändert. Ihre Miene war fast reglos.

Harry schüttelte Bhalla die Hand, sah Noble an und nickte. Das dumme Gefühl war von seinem Magen in die Brust gewandert, und er brauchte seine ganze Willenskraft, um die Treppe anzusehen, die Decke, irgendwas, nur nicht sie. Sie hatten sich vor anderthalb Jahren kennengelernt. Sie hatte die Vorfälle untersucht, die zu den Schüssen auf einen Teenager und dann zu dem grausamen Mord an Harrys bestem Freund geführt hatten. In jenen zwei Wochen hatte er unermesslich viel verloren, aber während der Ermittlung hatte er eine emotionale Verbindung zu ihr aufgebaut, die in eine intensive und komplizierte Beziehung gemündet war. Im September war sie bei ihm eingezogen, Neujahr hatte Harry sie dann betrunken und unter viel Geschrei endgültig rausgeworfen. Seitdem hatten sie es geschafft, einander aus dem Weg zu gehen, selbst bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich im selben Gebäude aufgehalten hatten. Harry hatte nicht damit gerechnet, dass das Wiedersehen mitten in der Nacht in der Wohnung einer toten Frau stattfinden würde – bei nüchterner Betrachtung hätte er das allerdings wohl tun sollen.

«Harry», sagte Noble. «Danke, dass du gekommen bist.»

Bhalla und McGovern blickten sich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als sie das Du hörten. Sie wussten wahrscheinlich nichts von der Geschichte, überlegte Harry. Gott, er an Nobles Stelle würde es geheim halten. Die Leute würden so viel Zeit am Kaffeeautomaten herumstehen, dass man in Süd-London wochenlang keinen Mordfall gelöst kriegte.

«Das Opfer ist 34 und weiblich, wohnt mit ihrer Freundin in 5b», fuhr Noble fort. «Die Freundin war ausgegangen, kam gegen vier Uhr zurück und fand das Opfer in einem Korbsessel vor, mit Schnittwunden an Handgelenken und Armbeugen. Auf dem Esstisch liegt eine leere Packung Tabletten.»

Sie stiegen die breite Treppe hoch bis in den vierten Stock. Die Tür zu 5b stand offen, es klebte nur ein X aus Absperrband davor. Er dachte an die Pesthäuser, die man mit demselben Zeichen markiert hatte.

«Wer war drin?», fragte Harry.

«Rettungssanitäter, die zwei Streifenpolizisten, die zuerst hier waren, ich, Gurpreet und die Freundin. Wir wollten warten, bis du den Totenschein ausstellst, bevor die Kriminaltechnik reingeht.»

Gott, dachte Harry. Es war ziemlich schwierig, Selbstmord zu verüben, indem man sich die Pulsadern aufschnitt, auch wenn viele es versuchten. Man musste schmerzhaft tief schneiden, um eine Arterie zu erwischen. In der Tat hatte er in der ganzen Zeit, die er für die Polizei arbeitete, noch keinen einzigen Totenschein für einen solchen Suizid ausgestellt. Manche hatten sich aufgehängt oder waren gesprungen – von Brücken, Hochhäusern und vor U-Bahnen. Vier oder fünf Überdosen. Einmal hatte er eine Kohlenmonoxidvergiftung gehabt, in einer stickigen Garage in Dulwich mit zugeklebten Türen, nachdem ein Gefahrstoffzug geräumt hatte. Aber zu verbluten hatte bisher noch niemand geschafft. Solche Fälle tauchten in der Regel in der Notaufnahme auf, begleitet von verwirrten Freunden oder erschrockenen Eltern.

«Ist ein Rechtsmediziner auf dem Weg?», fragte Harry.

Noble schüttelte den Kopf.

«Noch nicht. Ich wollte abwarten, was die Kriminaltechniker finden. Es sieht nach Selbstmord aus, aber irgendwas kommt mir komisch vor … Es ist ziemlich heftig. Ich weiß nicht, ist nur ein Bauchgefühl. Und ich brauche ein bisschen mehr, bevor ich um diese Uhrzeit eine Mordermittlung lostrete. Es soll einfach nicht übereifrig aussehen, das ist alles …»

«Klar …», sagte Harry.

«Du wirst sehen, was ich meine.»

«Okay.»

Der Kriminaltechniker gab jedem von ihnen einen weißen Papieroverall, Überschuhe und einen Mundschutz. Sie zogen sich schweigend an. Irgendwas klingelte bei dem Namen Susan Bayliss in Harrys Hinterkopf. Er konnte ihn immer noch nicht einordnen, und jetzt bekam er Angst. Angst, durch das Kreuz aus Absperrband in die Wohnung zu treten und das Gesicht einer Freundin oder Kollegin zu sehen, Angst, Noble würde seine Reaktion bemerken. Harry versuchte, nicht daran zu denken, als er in die Ärmel des Papieranzugs schlüpfte. Er hatte schon viele Leichen gesehen, und darum ging es hier. Ein weiteres Leben, das vorzeitig geendet war und Gegenstand der Untersuchung und des Berichts eines Polizeiarztes wurde, genau wie jedes andere.

Er zog den Reißverschluss des Schutzanzugs hoch und merkte, dass Noble, ihre beiden Detectives und die Kriminaltechniker schon auf ihn warteten, offensichtlich hatten sie mehr Übung. Einer der Techniker deutete auf die Tür.

«Nach Ihnen, Doc», sagte er. «Schließlich ist sie erst tot, wenn Sie das sagen.»

 

Es war so viel Blut auf dem Boden, dass Harry es riechen konnte. Der Geruch hing ihm bitter und metallisch im Rachen. Er stand in der Küche und hielt sich das Diktiergerät vor den Mund. Die Haut fühlte sich klamm an unter dem Schutzanzug.

«Sonntag, 24. August, 5 Uhr 12», sagte er, während er den Aufnahmeknopf gedrückt hielt. «Im Auftrag der Metropolitan Police untersuche ich die Leiche einer Frau, die wahrscheinlich Susan Bayliss ist.»

Sie waren zu siebt in der Wohnung: Harry, Noble, Bhalla und McGovern, der Leiter der KTU, ein zweiter Kriminaltechniker und die forensische Videographin, die noch im Flur stand. Susan Bayliss saß zusammengesunken auf einem Korbsessel ein paar Meter vor ihm. Ihr totes Gesicht gab Harry keinen Hinweis, warum er sich an ihren Namen erinnerte.

Die Wohnung war offen geschnitten, ähnlich wie Harrys eigene. Die Küchenzeile befand sich in einem geräumigen Wohnzimmer mit schwarzen Ledersofas, einem an der Wand montierten Plasmafernseher und mindestens zwanzig gerahmten Fotos – die meisten von Bayliss und Guzman an unterschiedlichen exotischen Orten. Ein Wohnzimmertisch, eine Schüssel mit Pistazien, eine kleinere mit den Schalen. Ein Bücherregal, fast alles Reiseführer, die CD-Sammlung mit Klassik, Country und Western. Viel auf Spanisch oder Portugiesisch. Es gab einen Balkon, und Harry vermutete, dass die Wohnungen auf dieser Seite teurer waren, denn der Blick war wirklich großartig. Von so weit südlich verschmolzen die großen Türme der City und dem südlichen Themseufer zu einem einzigen Signalfeuer aus Licht und Glas, der Rest der Stadt breitete sich darunter aus. Die Türen standen noch offen, und warme Luft wehte herein, schwer durch die Feuchtigkeit des nahenden Gewitters.

War das Susan Bayliss’ letzte Empfindung gewesen?, fragte sich Harry. Warme nächtliche Sommerluft, die durchs Fenster hereinweht? Ihr Leben hatte in einem Korbsessel geendet, der so ausgerichtet war, dass sie hinaussah. Harry folgte ihrem toten Blick und betrachtete noch einmal die Aussicht. Wahrscheinlich war es nachts besser als am Tag, aber den Sonnenaufgang hatte sie ohnehin nicht mehr gesehen. Der Beweis dafür war die dicke Blutlache, in der der Sessel stand, tiefes, fast schwarzes Rot auf dem glänzenden Holzfußboden.

Harry legte das Diktiergerät weg und begann mit der Untersuchung. Er rief Bayliss’ Namen nacheinander in beide Ohren, wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. Dann leuchtete er mit einer Stiftlampe in beide Augen. Beide Pupillen waren in einer geweiteten Position erstarrt, schwarz und spiegelnd wie das dunkle Blut unter dem Sessel. Er öffnete zwei Knöpfe von Bayliss’ Bluse, gerade genug, um das Stethoskop über dem Herz anzulegen. Korrekterweise müsste er drei Minuten lang abhören und gleichzeitig den Puls prüfen. Aber er wollte nichts anfassen, was nicht unbedingt nötig war, da es an ihrem Tod absolut keinen Zweifel gab.

Er fand diesen Augenblick beunruhigend. Das war immer so gewesen. Zu Beginn seiner Ausbildung hatte man ihn häufig um zwei Uhr morgens in eine der geriatrischen Stationen gerufen, um den Tod eines Patienten festzustellen. Er hatte dann drei Minuten dort gesessen, bei einem fremden Menschen, den er in der Regel nie zuvor gesehen hatte, und ihm waren existenzielle Gedanken durch den Kopf gegangen. Die Ohroliven seines Stethoskops blendeten die Hintergrundgeräusche aus, und er hörte nur seinen eigenen Atem. Das Herz und die Lungen dieser Frau waren still.

Danach betrachtete Harry ihr Gesicht und versuchte, sich vorzustellen, wie sie als Lebende ausgesehen hatte. Nun, Bayliss’ Leben war erloschen, und Harry sprach jetzt in sein Diktiergerät, um sie auch vor dem Gesetz sterben zu lassen.

«Keine Reaktion auf verbale Reize oder Schmerz, Pupillen lichtstarr und weit, keine Herz- oder Atemgeräusche in zwei Minuten. Tod festgestellt um 5 Uhr 16.»

Hinter ihm atmete Noble hörbar aus. Der Leiter der KTU hatte sich neben Bayliss auf den Boden gekniet und untersuchte etwas. Ein Messer mit kurzer Klinge lag fast völlig von Blut bedeckt unter Bayliss’ rechter Hand.

«Todesursache ist Verbluten?», fragte Noble.

«Sieht so aus», sagte Harry, trat einen Schritt zurück und versuchte, das Ganze zu sehen. Bayliss hatte sich auf beiden Seiten in die Arteria brachialis geschnitten, zwei zaghafte Schnitte in der rechten Armbeuge und dann die Wunde, die sie getötet hatte, ein tiefer Längsschnitt auf der linken Seite. Hier war der helle Stoff ihrer Bluse blutdurchtränkt, auf der anderen Seite waren nur Flecken. Dafür waren die Wände voller Blut, Spritzer auf dem Esstisch neben ihr, auf dem eine Flasche Wein von derselben dunklen Farbe stand, drei leere Blisterpackungen und eine Schachtel mit dem Etikett eines verschreibungspflichtigen Medikaments. Die rechte Balkontür hatte ebenfalls Spritzer abbekommen, sicher vom ersten Schnitt in die Arterie, als der Druck das Blut durch den Raum geschleudert hatte.

«Ich habe so etwas noch nie gesehen», sagte Noble und zeigte auf die Leiche. «Der Schnitt in den Armbeugen. Normalerweise macht man das an den Handgelenken, oder?»

«Die Arteria brachialis ist größer», sagte Harry. «Aber sie liegt auch tiefer. Man muss wissen, was man tut.»

«Und das wusste sie?»

«Das weiß jeder Arzt», sagte Harry. «Welche Fachrichtung?»

Nicht, dass es einen Unterschied machen würde. Anatomie wurde auf der ganzen Welt im Grundstudium gelehrt. Er fragte aus Neugier. DC Bhalla verschwand und kam mit einem wiederverschließbaren Beweisbeutel mit dem Dienstausweis einer NHS-Klinik zurück, der Harrys eigenem ziemlich ähnlich sah.

«Hier, Doc.»

Harry kam aus der Hocke hoch und beugte sich vor.

BELGRAVE KINDERKRANKENHAUS

SUSAN BAYLISS

ASSISTENZÄRZTIN

HERZ-THORAX-CHIRURGIE

Das Gesicht auf dem Ausweis sah jünger aus. Tot, mit dem schulterlangen Haar und dem Blut, das auf dem Boden geronn, wirkte Bayliss sehr viel älter als 34. Aber als Harry jetzt ihre Arbeitsstelle und die Fachrichtung sah, stellte sein Gehirn endlich die Verbindung her, und er wusste, wo er den Namen gesehen hatte. Und die Erinnerungen kehrten zurück. Ein kleiner toter Junge auf einer Behandlungsliege, eine Notfallschwester, die mit zwei Fingern eine Herzmassage machte. Er hatte einen strohhalmdünnen Tubus zwischen seine Stimmbänder eingeführt, während Kinderärzte und Kardiologen Vorschläge machten, wie man das Herz des Jungen wieder zum Schlagen bringen konnte.

«Herzchirurgin», sagte Noble. «Also wusste sie wahrscheinlich, wo man eine Arterie findet.»

Harry schwieg. Eine tiefe Trauer überkam ihn, und sosehr er sich auch bemühte, seine Gefühle zu verbergen, Noble musste ihm nur ein Mal ins Gesicht sehen, um zu wissen, dass er etwas verheimlichte. Ein Teil von ihm war wütend, dass sie ihn so leicht durchschaute, aber eigentlich wusste er, dass sie es auch gemerkt hätte, wenn sie sich heute Nacht erst kennengelernt hätten.

«Was ist?», fragte sie. «Hast du sie gekannt?»

«Ich habe von ihr gehört», sagte Harry. «Ihr habt den Namen noch nicht gegoogelt?»

Jede Spur von Besorgnis war aus Nobles Gesicht verschwunden. Sie warf Bhalla und McGovern einen giftigen Blick zu, und die beiden wurden blass und sahen sich an.

«Sag schon, Harry», sagte sie.

«Sie war vor kurzem in den Medien. Im Belgrave wurde ermittelt. Die Herzchirurgie wurde vorübergehend geschlossen, und alle Kinder wurden in die Great Ormond Street und ins Evelina verlegt. Bayliss war die Whistleblowerin. Ich kenne keine Einzelheiten, das müsst ihr selbst prüfen. Aber ich denke, sie hat ihren Job verloren.»

Und jetzt ist sie tot, dachte er.

«Ich habe davon gelesen!», warf der Leiter der KTU ein. «Die Kinder, die nach den Herz-OPs gestorben sind!»

«Herzlichen Dank, Oscar», sagte Noble wütend. Harry wandte sich um. DC Bhalla hatte schon sein Smartphone in der Hand und tippte hektisch darauf herum.

«Hier», sagte er und hielt Noble das Telefon hin. Harry ging einen Schritt vor, damit er das Display sehen konnte, aber bereute seine Neugier sofort. Er war viel zu nah. Er konnte sie sogar riechen, der unverwechselbare Geruch nach Mentholzigaretten, überdeckt von Parfüm. Oder war es Parfüm, überdeckt von Mentholzigaretten?

Auf der Seite, die Bhalla gefunden hatte, stand ein bisschen Text:

Herzchirurgin leakt Todesstatistik und wird suspendiert

Eine Chirurgin in der Facharztausbildung an einem der besten Londoner Krankenhäuser wurde infolge einer Ermittlung suspendiert. Susan Bayliss, 34, Assistenzärztin am Belgrave Kinderkrankenhaus, hatte im Mai einen Bericht an Mitarbeiter des NHS geleakt, dem zufolge vier Kinder starben, nachdem sie wegen angeborener Herzfehler im Belgrave operiert worden waren. Aufgrund dieses Berichts wurden die dort geplanten Herzoperationen zwei Wochen lang ausgesetzt, während Beamte des Gesundheitsministeriums eine Eilermittlung durchführten. Die Ermittlung ergab «keinerlei Bedenken» gegenüber dem international renommierten Krankenhaus. Die Herzchirurgie hat ihre Arbeit wiederaufgenommen.

«Unprofessionelles Verhalten»

Eine Sprecherin des Krankenhauses, das zu einem Süd-Londoner NHS-Klinikverbund gehört, sagte: «Nach einer Anhörung in einem internen Disziplinarverfahren, in dem sich ein bestehender Verdacht auf unprofessionelles Verhalten erhärtete, wurde ein Mitglied des Chirurgenteams für angeborene Herzfehler suspendiert. Wir möchten betonen, dass diese Entscheidung zwar mit der Untersuchung der herzchirurgischen Leistungen des Belgrave zusammenhängt, jedoch in keinster Weise mit klinischen Vorfällen in Verbindung steht. Das Krankenhaus kooperiert mit dem Gesundheitsministerium und freut sich, den Kindern von Süd-London weiterhin die allerbeste Versorgung zu bieten.»

Die Sprecherin bestätigte ebenfalls, dass Ms. Bayliss sich vor der Ärztekammer verantworten müsse.

Der Artikel war auf den 10. August datiert, vor zwei Wochen. Harry hatte sich während einer ruhigen Nachmittagsschicht mit Pflegern und Schwestern der Notaufnahme darüber unterhalten. Ein paar hatten sich an den Jungen erinnert, der gestorben und später Teil der Ermittlung gewesen war. Bhalla scrollte weiter runter, aber Noble schüttelte nur den Kopf. «Verdammt, warum erfahren wir das jetzt erst?»

«Sorry, Chefin, wir …»

Noble fiel ihm ins Wort. «Nicht gut genug. Shona, bewegen Sie Ihren Arsch zur Dienststelle. Wecken Sie jeden, den Sie wecken müssen. Herrgott noch mal.»

«Bin schon weg, Chefin.»

Damit war McGovern zur Tür hinaus, und Schweigen hing schwer in der Luft. Harry sah sich noch einmal im Raum um. Jetzt, wo die Geschichte ans Licht kam, wirkte die Szene fast noch brutaler. Bayliss hatte eine Todsünde begangen, als sie ihre Kollegen angeschwärzt hatte, und sie hatte dafür mit ihrem Job und vielleicht mit dem Leben bezahlt. Harry stellte sich vor, wie ihre Freundin hereingekommen war und sie gefunden hatte – in dem Korbsessel, den Blick nach draußen gerichtet, das Leben in einer Lache unter ihr. Der Boden, die Wände, der Tisch ruiniert. Die Weinflasche auf dem Tisch sah teuer aus, mit goldgeprägtem Etikett.

«Gut», sagte Noble. Harry blickte auf, und sie sah ihn direkt an. «Vergessen wir das erst mal. Die Medien werden sich für den Fall interessieren, also müssen wir sichergehen, dass wir nicht schon beim Tatort pfuschen, ist das klar?»

Als Motivationsansprache war es eher schwach, aber es funktionierte. Harry stellte sich schon die Schlagzeilen vor. NHS-Whistleblower in den Selbstmord getrieben. Suspendierte Herzchirurgin tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Munition für die ätzenden Salven, die die Boulevardpresse regelmäßig auf das Gesundheitssystem abfeuerte, aber auch Material für seriöse Blätter, die ihr Missfallen gepflegter bekundeten. Noble trat auf die Leiche zu, die gerade gefilmt wurde.

«Die Wunde im linken Arm sieht tiefer aus als die im rechten», bemerkte sie.

«Wahrscheinlich ist sie Rechtshänderin», sagte Harry. «Hat die Schnitte mit der linken Hand zuerst gemacht, die sind oberflächlicher, weniger tief. Dann hat sie zur dominanten Hand gewechselt, um es zu beenden.»

Als er die Worte aussprach, überlief ihn ein Schauer, trotz der warmen, drückenden Luft, die durch die Balkontüren hereinkam. Es war etwas Kaltes an der Art zu sterben, die Susan Bayliss offensichtlich gewählt hatte, etwas bewusst Unwürdiges, und das störte ihn. Noble ging um die Leiche herum und schüttelte den Kopf.

«Wie lange kann das gedauert haben?»

Harry beugte sich vor, und betrachtete noch einmal die Wunde in der linken Armbeuge. Er hatte durchaus schon so heftige arterielle Blutungen gesehen. In Afghanistan, dort waren es Schusswunden und Amputationen durch Sprengkörper gewesen, und auch in der Notaufnahme des Ruskin – junge Männer mit Stich- oder Schussverletzungen, Opfer von Ganggewalt. Diese Wunden waren hässlicher und gröber gewesen als der saubere Schnitt in Susan Bayliss’ linkem Arm.

«Schwer zu sagen. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht zehn», sagte Harry. «Der Rechtsmediziner wird mehr dazu sagen können.»

«Wie lange, bis sie das Bewusstsein verlor?»

«Der Schock muss fast sofort eingetreten sein», sagte Harry. «Um ohnmächtig zu werden, muss man etwa ein Drittel des Blutvolumens verlieren. Ich kann nicht genau sagen, wie lange es gedauert hat, aber höchstens ein paar Minuten.»

«Und bevor sie diese Menge an Blut verlor, hätte sie sich retten können?»

Harry sah sich um. Es gab keinen Hinweis, dass das hier nur ein Hilfeschrei gewesen war. Kein Brief, kein verschmiertes Blut an der Bluse, weil sie versucht hatte, die Blutung zu stillen. Der Position der Blutlache nach zu urteilen, war sie nicht aus dem Sessel aufgestanden, nachdem sie sich die Schnitte zugefügt hatte. Wenn das hier ihre Entscheidung gewesen war, dann hatte sie alles richtig gemacht. An der richtigen Stelle geschnitten, den Wein vielleicht getrunken, um den Schmerz zu lindern, und die Tabletten für den Fall, dass nicht alles nach Plan lief …

«Die Tabletten», sagte Harry. «Was sind das für Tabletten?»

Noble blickte zum Esstisch, wo die Videographin sich gerade zum Wein und der Tablettenpackung vorbeugte.

«Was steht auf dem Etikett?», fragte sie.

Die Frau mit der Kamera konnte nicht widerstehen.

«Casillero del Diablo, Cabernet Sauvignon 2015 …»

Sie verstummte, als niemand lachte. Noble fixierte sie mit dem Blick eines Armeeausbilders, und kleinlaut las sie die Aufschrift auf der Tablettenpackung vor.

«Sertralin, 50 Milligramm, zweimal täglich.»

Noble drehte sich zu Harry um.

«Ein Antidepressivum», sagte Harry. «Und eine ziemlich heftige Dosis.»

«Sie hat es verschrieben bekommen. Macht Sinn, gleichzeitig eine Überdosis zu nehmen, oder? Doppelt abgesichert.»

Harry verlagerte das Gewicht auf den Vorderfuß.

«Vielleicht», sagte er. Er versuchte, schnell zu denken, weil er wusste, dass er seine Gedanken gleich laut aussprechen musste. Irgendetwas ging nicht auf, und es lag ihm wie Blei im Magen. Wieder nahm er sein Unbehagen wahr, bevor er es aussprechen konnte.

«Was ist?», fragte Noble.

«Wenn es ein Suizid war, ist das eigentlich Quatsch», sagte er. «Es würde nichts bringen. Sertralin wirkt erst nach Stunden, und es würde wahrscheinlich Tage brauchen, um sie zu töten, selbst bei einer Überdosis. Das muss sie gewusst haben. Es wäre Zeitverschwendung.»

Eine gedämpfte Auseinandersetzung kam von draußen rein, ein Anwohner wollte zu seinem Auto. Er musste irgendwohin an diesem Sonntagmorgen. Inzwischen war es fast hell.

«Als Absicherung?», schlug Noble vor. «Falls es mit den Schnitten nicht klappt?»

Harry dachte darüber nach. Er hatte schon oft gehört, dass es unter Ärzten eine hohe Selbstmordrate gibt. Aber die Wahrheit war fast makabrer. Ärzte versuchten nicht häufiger, sich umzubringen, als der Rest der Bevölkerung, sie hatten nur häufiger Erfolg. Weil sie wussten, welche Medikamente funktionierten und welche einem eher ein paar Tage auf der Intensivstation einbrachten – plus einer Einweisung in die Psychiatrie. Sertralin, wie die meisten Antidepressiva, gehörte unbedingt zur zweiten Kategorie.

«Es kann nicht sein», sagte Harry. «Wenn das der Plan war, warum lässt sie die Packung hier liegen? Damit man sie findet? Wenn es eine Absicherung sein sollte, dann hätte sie das Medikament versteckt.»

«Sie war ja offensichtlich nicht ganz bei Verstand», sagte Bhalla.

Harry war nicht dieser Meinung, aber er schwieg. Alles sah aus, als wäre die Sache geplant worden, von den offenen Fenstern bis zu dem vertikalen Schnitt in der Armbeuge. Das war anders als die horizontalen Schnitte bei autoaggressivem Verhalten. Auch wenn es allgemein angenommen wurde, musste man nicht verrückt sein, um sich das Leben zu nehmen. Dieser Suizid war ebenso vernünftig wie andere, die er gesehen hatte, nur dass ein oder zwei Dinge nicht stimmten. Er wusste, was Noble gemeint hatte, als sie gesagt hatte, dass es ihr komisch vorkam, auch ohne die Tabletten. Es war irgendwie falsch, dass ein Mensch absichtlich auf diese Art starb, mitten im Raum, im Wissen, dass die Freundin auf dem Weg nach Hause war.

Einer der Kriminaltechniker stand gebückt vor Bayliss und betastete die hellen Chinos, in denen sie gestorben war.

«Ihr Telefon ist in der Hosentasche», sagte der Mann. «Anscheinend kein Blut auf der Innenseite.»

Harry begriff, was gemeint war. Sie hatte nicht versucht, Hilfe zu rufen, und keine letzte Nachricht verschickt. Er ging um die Leiche herum und betrachtete das Messer, das in der Blutlache am Boden lag, ein Messer mit Wellenschliff und einem schwarzen Kunststoffgriff. Im Küchenbereich gab es einen magnetischen Messerhalter über einer der Arbeitsflächen. Kochbücher standen auf den Regalen.

Schritte erklangen im Gang, und alle drehten sich um. Es war McGovern, den Schutzanzug schon halb ausgezogen.

«Chefin», sagte sie. «Das müssen Sie sehen.»

Sie hatte ihr Telefon in der Hand und hielt es ihnen entgegen. Wieder verdrehte Harry den Hals, um das Display zu sehen. McGovern hatte Susan Bayliss’ Twitteraccount geöffnet, das Profilbild zeigte sie an einem weißen Strand mit Palmen im Hintergrund. Der neueste Tweet war an @BelgraveHospital adressiert und lautete schlicht: «Ihr habt mich dazu gebracht.»

Noble fluchte leise, genau wie Harry. Sie tat ihm leid. Ein öffentlicher Vorwurf an das Krankenhaus würde einen wahnsinnigen Rummel nach sich ziehen, sobald die Medien es herausfanden. Harry war froh, dass das nicht mehr sein Fall war, sobald er aus der Wohnung und durch die äußere Absperrung getreten war. Es war eine Tretmine, die Karrieren zerstören konnte. Nicht, dass Harry eine zum Zerstören gehabt hätte.

«Wann wurde das gepostet?», fragte Noble.

«0 Uhr 45, Chefin.»

«Harry, ich brauche einen Todeszeitpunkt.»

Sechs Augenpaare starrten ihn an, und Harry versuchte, seine Wut zu unterdrücken.

«Ich bin kein Rechtsmediziner», sagte er.

«Und ich bin kein Geschworenengericht. Könntest du bitte einfach einen Tipp abgeben?»

Harry trat vor. Noble lächelte, ohne zu lächeln, ähnlich wie ein Pokerspieler, der wusste, dass er ein Gewinnerblatt hatte.

Harry blickte sich nach dem Leiter der Kriminaltechnik um, einem bärtigen Mann, den er vage irgendwoher kannte. «Darf ich die Augen noch einmal anfassen?»

Der Mann blickte kurz zu der Videographin, dann nickte er. Harry beugte sich vor und gab acht, dass er nicht gegen die Leiche stieß. Die Totenstarre setzte zuerst bei den okulomotorischen Muskeln um die Augen ein. Er berührte vorsichtig die Lider und schob sie über die blanke, leblose Hornhaut hinunter. Die Haut ließ sich ohne Widerstand bewegen. Keine Totenstarre. Dann hockte er sich hin und blickte auf die Stelle, wo Bayliss’ Bluse nach oben gerutscht war und auf Höhe der Taille weiße Haut entblößte.

«Auch keine Leichenflecken», sagte er. «Zumindest kann ich keine sehen. Was heißt, dass ich es nicht sagen kann. Vier oder fünf Stunden vielleicht. Ein Rechtsmediziner könnte dir mehr sagen.»

«Zwischen Mitternacht und ein Uhr», sagte Noble. «Passt zu dem Tweet. Die Freundin war mit Freunden von der Arbeit was trinken. Sie hatte Susan gesagt, dass sie die letzte U-Bahn nimmt, aber dann sind sie noch tanzen gegangen.»

Noble und McGovern tauschten einen besorgten Blick, und Harry wusste, warum. Wenn Bayliss wirklich hatte sterben wollen, dann hätte sie verhindern müssen, rechtzeitig entdeckt zu werden, und es nicht getan, wenn sie Guzman in Kürze zurückerwartete. Es sei denn, sie hatte geplant, dass ihre Freundin sie kurz nach ihrem Tod fand. Das wäre eine ziemlich heftige Ansage, ein letztes Verpiss dich. Die ganze Sache war eine Ansage, jedenfalls mehr als alle anderen Selbstmorde, die Harry bisher gesehen hatte. Mitten in der Wohnung bei offenem Fenster mit Blick auf die Stadt. Er versuchte, etwas von ihrem Rücken zu erkennen, ob sich dort Leichenflecken gebildet hatten, aber da war nichts. Dann entdeckte er etwas weiter oben, auf der Rückseite ihrer Schultern.

«Kann ich Licht haben, bitte?», sagte er. «Da ist etwas auf dem Rücken.»

Die beiden Kriminaltechniker standen sofort neben Harry und halfen ihm, Bayliss nach vorn zu beugen und die Bluse hochzuziehen – noch mehr Demütigungen im Tod, zusätzlich zu denen, die die Frau zu Lebzeiten hatte ertragen müssen. Als sie fertig waren, kam Noble dazu, und Harry zeigte ihr, was er gefunden hatte. Eine Reihe von gelblich roten Flecken auf den Schulterblättern, wo sie den Stuhl berührt hatte.

«Scheiße», sagte Noble. «Glaubst du, sie ist auf dem Boden gestorben und jemand hat sie in den Sessel gesetzt? Das sind doch Totenflecken?»

Sobald sie «jemand» sagte, wurden McGovern und Bhalla hellhörig und liefen nervös hin und her. Harry kam es so vor, als würde sich die blutbespritzte Decke absenken und den atmosphärischen Druck im Raum erhöhen.

«Ich glaube nicht», sagte er. «Totenflecken sind meist dunkler. Und hätte sie auf dem Rücken gelegen, würde man das auch am unteren Rücken sehen.»

Totenflecke, Livores, die Flecken, die durch das Absinken des Blutes im Körper entstanden, wurden mit der Zeit dunkler und bewegten sich mit der Schwerkraft. Harry trat wieder vor Bayliss, sah sich im Licht ihre Brust an und bemerkte etwas, das er schon gesehen hatte, aber dessen Bedeutung ihm nicht klar gewesen war. Es gab weitere Flecke auf den Schlüsselbeinen, auf der Oberseite blasser als die auf den Schulterblättern, auf der Unterseite etwas dunkler. Hämatome, dachte er. Dezent, nicht voll entwickelt, was wahrscheinlich daran lag, dass man sie ihr kurz vor oder nach dem Tod zugefügt hatte. Bei näherer Inspektion waren sie in zwei Reihen angeordnet, symmetrisch auf beiden Seiten, und er glaubte jetzt, zu beiden Seiten des Brustbeins ähnliche Verfärbungen zu erkennen. Als ihm die zwangsläufige Schlussfolgerung klarwurde, sprach er sie leise aus und brachte den Rest des Raums zum Schweigen.

«Ich glaube, jemand hat sie festgehalten.»

 

Die nächsten zehn Minuten fühlten sich an wie eine Stunde.

Der Leiter der KTU hatte Harry zugestimmt, was die wahrscheinliche Ursache der Flecken auf Bayliss’ Brust und Rücken anging, und auch wenn er nicht direkt sagte, dass es Mord war, wollte er die Möglichkeit auch nicht ausschließen. Fotos wurden gemacht und dem Rechtsmediziner in Bereitschaft gemailt, den man außerdem bat, so schnell wie möglich zum Tatort zu kommen. Mehr Leute wurden geweckt und angewiesen, eine Einsatzzentrale in der Polizeistation Peckham einzurichten, und letztlich wurden alle 22 Kriminalbeamten aus Nobles Abteilung entweder gerade geweckt oder waren schon auf dem Weg. Harry war in der Wohnung geblieben und wartete geduldig, dass man seine Dienste nicht länger benötigte.

Mit müden Augen blickte er über Susan Bayliss’ Schultern, sah zu, wie der Leiter der KTU mehr Fotos machte und mit der Spitze seines Überschuhs in die Blutlache kam. Bayliss starrte noch immer aus dem Fenster, und unwillkürlich stellte Harry sich die Tat vor. Die Angst, als der Mörder die Arterie öffnete und sie wusste, dass sie verbluten würde. Die Versuche, sich zu befreien, die Hände, die sie fester in den Sessel drückten, als sie zappelte und um sich trat.

Es gab keine Anzeichen für einen Kampf, vielleicht hatte der Mörder aber auch aufgeräumt. Dann hatte er die oberflächlichen Schnitte zugefügt und den Wein und die Tabletten bereitgestellt. Und dann das Telefon aus Bayliss’ Tasche geholt und den Tweet geschickt.

Wenn er recht hatte – und Harry wünschte sich absolut, dass es nicht so war –, war alles noch schlimmer, als wenn sie Selbstmord begangen hätte. Die Geschichte – junge, erfolgreiche Ärztin versucht, das Richtige zu tun, wird vom Establishment vor die Tür gesetzt und nimmt sich das Leben – war auch ohne das Schreckgespenst eines Mordes schon tragisch genug.

Noble kam zurück ins Zimmer und hatte sich von einer übermüdeten Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs in eine effiziente Anführerin verwandelt. Sie sprach so leise, dass nur Harry es hören konnte.

«War ja klar, dass du alles kompliziert machst», sagte sie.

«Ich geb mir Mühe», gab Harry zurück, aber bereute es sofort. Sie war schuld, dass ihre Beziehung nicht gehalten hatte, aber er hatte keinen Grund, gereizt zu sein.

«Du kannst hier nichts mehr für uns tun», sagte sie. «Aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten.»

Sie deutete mit einem Nicken Richtung Ausgang, und Harry folgte ihr. Sie stiegen durch das X aus Absperrband, und als sie im Treppenhaus waren und Harry den Schutzanzug auszog, klingelte Nobles Handy.

«Es ist der Superintendent. Ich geh schon mal vor.»

Er traf sie im Hauseingang, wo sie sich vor dem stärker werdenden Regen untergestellt hatte. Immer mehr Fahrzeuge kamen an, Zivilwagen und Streifen. Es hatte sich herumgesprochen, dass dies jetzt eine Mordermittlung war, bis man das Gegenteil bewiesen hatte. Dem ernsten Ton der Stimmen um ihn herum nach schien jedem klar zu sein, wie sehr man ihnen bei diesem Fall auf die Finger gucken würde.

«Sorry», sagte Noble, nachdem sie das Telefongespräch beendet hatte. «Könntest du noch eine Untersuchung für mich machen? Wir haben die Freundin nach Peckham gebracht, nur der Vollständigkeit halber. Sie steht nicht unter Arrest, aber ich brauche forensische Proben und eine Feststellung, ob sie vernehmungsfähig ist. Ich glaube, sie hat etwas genommen, bevor sie nach Hause kam, und ich habe keine Lust, dass mir ein Anwalt das um die Ohren haut, wenn die Sache vor Gericht geht.»

«Klar», sagte Harry und sah auf die Uhr. Wenn Teodora Guzman kooperierte, sollte eine Untersuchung nicht länger als eine halbe Stunde dauern. Er wäre immer noch vor sieben zu Hause.

«Danke», sagte Noble. «Und danke, dass du meinen Leuten gezeigt hast, wie sie ihren Job machen müssen.»

«Man kriegt halt Gerüchte mit», sagte Harry. «Wenn es um einen entlassenen Polizisten gegangen wäre, hättest du es auch gewusst.»

«Ich meinte eher die blauen Flecken», sagte Noble. «Egal, das ist noch nicht der Gefallen.»

Sie hatten mühelos zu berufsmäßiger Höflichkeit gefunden, aber jetzt war die Nervosität wieder da.

«Nein?», war alles, das er herausbrachte.

«Ich muss direkt nach Peckham, um mit Guzman zu sprechen», sagte sie. «Könntest du mich mitnehmen?»

Harry antwortete nicht. Er war sicher, dass das vorgeschoben war und Stellvertretende DCIs Leute hatten, die sie durch die Gegend kutschierten. Vielleicht wollte sie so ihre Autorität raushängen lassen, aber er war zu müde, darüber nachzudenken. Also verzichtete er auf Hobbypsychologie, nickte grummelnd und ging zum Auto.

 

Sie schwiegen, bis Harry den Motor anließ und losfuhr. «Wie geht es dir?», fragte Noble.

Im Durchschnitt schlief Harry fünfzehn bis zwanzig Stunden pro Woche. Um sich am Laufen zu halten, hatte er je ein Fläschchen mit Amphetamin in seiner Wohnung, seinem Auto und seinem Spind. Er machte vier oder fünf Zwölf-Stunden-Schichten pro Woche in der Notaufnahme im Krankenhaus, und trotzdem kam seine Karriere nicht voran. Eigentlich müsste er inzwischen Oberarzt sein, aber das war nicht passiert. Er hatte eine Prüfung nicht bestanden und war aus dem Ausbildungsprogramm geflogen. Verglichen mit Gleichaltrigen, war sein Lebenslauf ein Fiasko. Er wohnte allein und hatte eine Freundin, die er kaum sah. Rannte einen beachtlichen Teil seiner Freizeit in der Nähe des Bahnhofs Clapham Junction herum und zeigte Leuten das Foto einer jungen Frau, die er vor knapp über drei Jahren das erste Mal gesehen hatte – die Frau im Koma, die zusammen mit fast allen ihren höheren Hirnfunktionen auch ihre Identität verloren hatte. Natürlich wusste Noble das meiste davon. Und sicher wusste sie auch, dass Harry sich in den acht Monaten, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, wahrscheinlich nicht verändert hatte. Nicht ohne Druck von außen.

«Gut», sagte Harry. «Und dir?»

Noble zuckte mit den Achseln.

«Ganz okay.»

Harry fuhr durch die Nebenstraßen von Myatt’s Fields Richtung Peckham, die meiste Zeit war außer ihnen kein anderes Auto unterwegs. Sie hielten. Eine rote Ampel an einer leeren Kreuzung. Die Luft im Wagen war zum Schneiden dick, und Harry musste ein Fenster runterlassen, weil er fürchtete zu ersticken. Irgendwann gab Noble nach.

«Wie geht’s bei der Arbeit?»

«Wie immer», sagte Harry. «Kinirons will mich überreden, mich bei der Luftrettung zu bewerben, wenn da was frei wird. Neue Herausforderung.»

«Könnte dir guttun», sagte Noble.

«McGovern hat dich als Stellvertretende DCI vorgestellt», sagte Harry. «Glückwunsch.»

«Kein Glückwunsch nötig», sagte sie. «Ich fürchte, ich bin noch nicht bereit für den Job.»

Das war ehrlich, und Harry war sich sicher, dass sie das ihren Kollegen gegenüber nicht zugegeben hätte. Aber es machte das Bild vollständiger – da Noble relativ unerfahren war, war es halbwegs verständlich, dass der Detective Superintendent, der für die Mordermittlungen südlich der Themse zuständig war, hinter ihr hertelefonierte. Die Ampel wurde grün, und Harry fuhr an.

«Warum hast du den Job dann angenommen?»

Noble zog eine E-Zigarette aus der Innentasche ihres Blazers und zog daran, das orangefarbene Glühen erleuchtete ihr Gesicht. Das war auch neu.

«Ian hat Lungenkrebs», sagte sie. «Ihm bleiben Wochen, ein paar Monate, wenn er Glück hat.»

«Gott», sagte Harry. Er hatte DCI Bruce, ihren alten Boss, ein- oder zweimal getroffen und ihn blasiert und nervig gefunden, aber ein solches Ende hatte niemand verdient. Aber so war das Leben, und dank ein paar Millionen wuchernder Zellen in der Brust eines anderen Mannes war die Frau neben ihm nun für eines der meistbeschäftigten Mordermittlungsteams des Landes verantwortlich.

«Was kannst du mir über Susan Bayliss sagen?», fragte Noble nach einer Weile. Gutes Timing, dachte Harry. Die Polizeistation war nur noch ein Stück die Straße rauf, und sie hätten nicht viel Zeit, über den Fall zu sprechen.

«Ich kann dir sagen, dass sie tot ist. Das war’s dann eigentlich auch schon.»

«Du weißt, dass ich das nicht gemeint habe. Ich meinte diesen Artikel, die Kinder.»

Harry sah sie an. Es war, als betrachte er das von einem Schüler kopierte Gemälde eines alten Meisters – ihr verändertes Aussehen war wie eine neue Perspektive auf denselben Gegenstand. Viel sauberer, viel rechtschaffener bei der Arbeit, als er in Erinnerung hatte. Vielleicht kam das mit dem Mehr an Verantwortung.

«Ich weiß nicht viel», sagte Harry, «und nichts, was du nicht auch aus der Zeitung erfahren kannst. Sie war Assistenzärztin im Belgrave und hat gemeldet, dass vier Kinder kurz nach einer Herzoperation gestorben sind. Alle wurden vom selben Chirurgen operiert, ihrem ausbildenden Oberarzt. Anscheinend hat das Krankenhaus die Sache nicht ernst genommen, und sie ist damit zum Gesundheitsministerium gegangen.»

«Welcher Chirurg?»

«Das weiß ich nicht mehr», sagte Harry. «Ich denke nicht, dass er in der Zeitung namentlich genannt wurde. Es gibt bestimmt Gerüchte, aber es ist nicht mein Fachgebiet. In der Pädiatrie hab ich nie gearbeitet.»

«Aber es ist ein Mann?», fragte Noble und sah ihn vorwurfsvoll an.

«Reine Wahrscheinlichkeitsrechnung», sagte Harry. «Ein paar der Fachrichtungen stecken noch im Mittelalter fest. Ich glaube nicht, dass ich je einen weiblichen Herzchirurgen getroffen habe. Jedenfalls keine Oberärztin.»

«Okay», sagte Noble. «Also hat Bayliss diesen Typ angezeigt und wurde dann selbst suspendiert?»

«Bei der Untersuchung wurde nichts gefunden, keine Hinweise auf Fahrlässigkeit oder Behandlungsfehler.»

Er sah zu ihr rüber, als er die Peckham Road entlangfuhr. Sie hatte die News-Seite von vorhin auf ihrem Smartphone geöffnet und scrollte durch den Text.

«Unprofessionelles Verhalten», las Noble.

«Klar doch», sagte Harry. «Mal unter uns gesagt – und das ist nicht meine offizielle Meinung als Polizeiarzt –, das klingt wie ein Riesenhaufen Blödsinn.»

«Was meinst du damit?»

Harry sprach leise, auch wenn er dafür keinen Grund hatte. «Klingt einfach exakt nach der Methode, die einem Klinikverbund einfallen würde, um eine Querulantin loszuwerden. Zum Beispiel jemanden, der schon zur Presse gegangen ist.»

«Ach ja?»

«Ein paar dieser Krankenhäuser würden alles tun, um dir den Mund zu verbieten, wenn du ihnen Ärger machst. Ein Freund von mir hatte bei einem Job mal die Verantwortung für achtzig Patienten, obwohl er grade zwei Jahre aus der Uni war. Er hat es der Leitung gemeldet und sich beschwert, dass das Krankenhaus einen zweiten Arzt anstellen müsste, aber die haben ihn einfach gezwungen, einen Zeitmanagement-Kurs zu besuchen, und gedroht, ihm seine Leistungsbeurteilungen zu vermasseln, wenn er nicht die Klappe hält. Er ist dann nach Australien ausgewandert.»

Inzwischen waren sie vor dem Polizeigebäude angekommen und hatten die Fenster runtergekurbelt. Der Sonnenaufgang strahlte im Sommerregen, die Stadt war noch nicht wach, bis auf eine Steelband, die auf dem Kirchhof gegenüber ihre Instrumente in einen Transporter packte.

«Und du weißt bestimmt nicht den Namen des Oberarztes, den sie gemeldet hat?»

«Frankie, wenn ich es wüsste, würde ich es dir erzählen!», sagte Harry und hob resigniert die Hände. Ständen sie in einem Raum, würde er zurückweichen. Stattdessen öffnete er die Autotür einen Spalt. «Ich kannte sie nicht. Ich habe nur die Zeitung gelesen, genau wie du.»