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Ein Serienmörder auf freiem Fuß Eine Stadt in Angst. Und nur eine Frau kann ihn stoppen. Vielleicht. Elsa Mattsson ist eine brillante Kinderpsychologin, die die Polizei gelegentlich bei besonders schweren Fällen berät. Als eine verstümmelte Kinderleiche in einem noblen schwedischen Vorort gefunden wird, ist sie zunächst genauso ratlos wie die Ermittler der Soko. Die Lage eskaliert, als die Ermittlungen in das nahe Problemviertel Rosengard deuten und dort in einem regelrechten Straßenkampf ausarten, während der Serientäter ungehindert weitermordet. Als ein weiteres Mädchen entführt wird, beginnt für Elsa und die Ermittler ein mörderischer Wettlauf gegen die Zeit, und die Psychologin muss erkennen, dass ein schreckliches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit sie mit dem sadistischen Killer verbindet. Erleben Sie dramatischen Nervenkitzel auf schwedische Art - in diesem rasanten Psychothriller von Bestsellerautor L.C. Frey!
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Spannende Thriller von L.C. Frey
TODESZONE: Tatort Malmö
SO KALT DEIN HERZ
TOTGESPIELT
DIE SCHULD DER ENGEL : Sauers erster Fall
ICH BRECHE DICH: Sauers zweiter Fall
Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Autors www.LCFrey.de
Über dieses Buch
Widmung
Zur Beachtung
Früher
I. MARLIS OLSSON
II. ANA NYMAN
III. LILLY LJUNGBERG
IV. FREJA KARLSSON
V. AUGE IN AUGE
Epilog
Nachwort
Bücher von L.C. Frey
Über den Autor
Leseprobe
Prolog: Im Dunkel
1. Ein Mann geht durch die Wand
Über dieses Buch
Elsa Mattsson ist eine brillante Kinderpsychologin, welche die Polizei gelegentlich bei besonders schweren Fällen berät. Als eine verstümmelte Kinderleiche in einem noblen Malmöer Vorort gefunden wird, ist sie zunächst genauso ratlos wie die Ermittler der Soko. Die Lage eskaliert, als die Ermittlungen in das Problemviertel Rosengard deuten und dort in einem regelrechten Straßenkampf münden, während der Täter ungehindert weitermordet.
Als ein weiteres Mädchen entführt wird, beginnt für Elsa und die Ermittler ein mörderischer Wettlauf gegen die Zeit, während die Psychologin erkennen muss, dass ein schreckliches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit sie mit dem Killer verbindet.
Lektorat: Claudia Heinen
Covergestaltung, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig, www.ideekarree.de, unter Verwendung von ©LPK Bakker (Fotolia.com) - 1806091030
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
L.C. Frey, C/o Ideekarree, Alexander Pohl, Breitenfelder Str. 66, 04157 Leipzig, E-Mail: [email protected]
Für Krissy.
Und für alle meine Leserinnen und Leser, jedes Mal und immer wieder.
Danke!
Zur Beachtung
Die Handlung dieses Romans ist fiktiv. Einige der im Buch erwähnten Orte existieren in der Realität, aber die lokalen Gegebenheiten wurden mehr oder weniger frei verändert. Beispielsweise hat das Sankt-Lars-Krankenhaus sowie angeschlossene Gebäude als Klinik für psychisch Kranke existiert, diese sind aber seit 2013 geschlossen.
Ebenso existieren die meisten der genannten Nachrichtenmagazine, aber natürlich sind dort nie Artikel über die fiktiven Ereignisse dieses Buches erschienen, ebenso wenig versucht dieses Buch, Zusammenhänge zu erschienenen Artikeln oder tatsächlichen Ereignissen herzustellen.
Alle erwähnten Personen und Zusammenhänge in diesem Buch sind frei erfunden, Ähnlichkeiten zu tatsächlichen Ereignissen oder lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Bereits im Jahr 2008 kam es im Malmöer Bezirk Rosengård zu gewalttätigen Ausschreitungen nach der Räumung eines muslimischen Gebetsraumes, in deren Anschluss es zu einer Kündigungswelle innerhalb der Malmöer Polizei kam. Seitdem gilt das Stadtviertel mit einer Arbeitslosenrate von über 60% als No-Go-Area, in die sich auch die örtliche Polizei nur selten wagt.
Ein Ende der Eskalation ist bislang nicht in Sicht.
Der große Mann hat ihr das Klebeband abgemacht. Dafür hat er ziemlich lange gebraucht und es hat an ihrer Haut und ihren Lippen gezogen, aber sie hat nicht geschrien. Er ist nicht sehr geschickt mit seinen Händen, beinahe so, als wären sie zu groß für ihn geraten und er wüsste nicht so recht, was er damit anfangen soll.
Als er das Klebeband von ihrem Hinterkopf reißt, brüllt sie in ihren Knebel. Er hatte es einfach über ihr Haar geklebt und es beim Abmachen büschelweise herausgerissen.
Da kann sie die Tränen nicht länger aufhalten.
Er hockt sich vor sie auf den Boden, blickt stumm auf einen Punkt in der Leere des Kellers irgendwo seitlich von ihr. Sie kann nicht erkennen, was genau er betrachtet, und ob es da überhaupt etwas zu betrachten gibt, und sie glaubt auch nicht, dass das jetzt noch wichtig ist. Auf eine beinahe instinktive Weise versteht sie, dass sie und er jetzt in unterschiedlichen Welten leben. Die ganze Zeit hält er das Messer in seiner großen, ungeschickten Hand.
Wie auf einen Befehl hin, den nur er hören kann, greift er nach einer Einkaufstüte, die etwas abseits auf dem Kellerboden liegt, und hält sie ihr geöffnet hin.
Es sind Süßigkeiten drin, hauptsächlich Schokolade und Kekse. Er hält ihr die Tüte auffordernd hin, dann greift er mit der rechten Hand hinein. Das Rascheln zerreißt die gespenstische Stille des kleinen Raumes. Er zieht eine der bunt verpackten Tafeln heraus, reißt die Verpackung auf und hält ihr dann die Schokolade hin, offenbar soll sie davon essen. Jetzt sieht sie auch, dass die Süßigkeit an den Rändern schon weiß angelaufen ist.
Er gibt einen auffordernden Grunzlaut von sich und sie beugt sich vor und beißt vorsichtig ein Stück ab.
Es ist widerlich.
Die Schokolade ist weich und ekelhaft süß und ihre Kehle schmerzt, als sie einen Bissen davon herunterwürgt, weil sie seit Stunden nichts getrunken hat. Und vom Weinen, natürlich.
Das Mädchen schließt die Augen und er stopft ihr noch mehr von der Schokolade in den Mund, und dabei bemerkt sie, dass neue Tränen ihre Wangen herunterlaufen.
Sie wagt nicht, sie fortzuwischen, obwohl er ihr die Hände losgebunden hat. Er reißt noch mehr Papier von der Schokoladentafel und hält es ihr hin. Gehorsam beißt sie noch ein Stück davon ab, obwohl sie jetzt ernsthaft Mühe hat, das klebrige Zeug herunterzuschlucken. Der Geschmack, vermischt mit dem Gestank in dem düsteren Kellerraum, lässt sie würgen, doch sie versucht tapfer, ihre Übelkeit in den Griff zu bekommen, während sie sich alle Mühe gibt, den ekelhaft süßen Ball aus Schokolade und Speichel zu schlucken.
Er sitzt die ganze Zeit vor ihr, sieht ihr aus nächster Nähe zu und stopft die Schokolade weiter in ihren Mund, kaum, dass sie ihn zum Atmen öffnet. Eine stumme, gnadenlose Tortur.
Als sie das nächste Mal die tränenverschleierten Augen öffnet, hat er offenbar genug. Achtlos wirft er die Schokolade zurück in den Beutel.
Da bemerkt sie, dass er dabei ist, mit der freien Hand seinen Hosenschlitz zu öffnen. Dann kehrt das Leben in seine abwesenden Augen zurück und er ist wieder ganz bei der Sache.
Ganz bei ihr, während er das Messer hebt.
7. November
Der Himmel über Malmö hatte seit Tagen die Farbe von schmutzigem Schnee. Ein nebelschwerer Morgen dämmerte herauf und versprach, zu einem weiteren grauen und feuchtkalten Tag zu werden. Es ging auf den Winter zu, der Herbst hatte längst aufgegeben, der Sommer war zu einem Mythos aus ferner Zeit geworden. Zwischenwetter, das meteorologische Äquivalent zu einer verlassenen Bahnstation am Rande der großen Strecke zwischen dem Damals und dem Morgen, zwischen hier und dort. Seit sieben Tagen regnete es nahezu durchgängig.
Dennoch gab es welche, die sich auch davon nicht von ihren sportlichen Aktivitäten abhalten ließen. Zwei Männer in modernen Thermo-Jogginganzügen liefen eine frühmorgendliche Runde auf dem Spazierweg um den Beijers Park. Beide hatten die wasserabweisenden Kapuzen ihrer kostspieligen Wetterjacken tief ins Gesicht gezogen. Besonders motiviert sahen sie trotzdem nicht aus.
»Ich sage dir, der Alte macht es nicht mehr lange«, sagte der erste Läufer und stieß geräuschvoll die Luft aus seinen Lungen. »In ein, höchstens zwei Jahren bist du der Filialleiter, Blomqvist. Mindestens.«
Blomqvist nickte und presste eine Handfläche in seine schmerzende Seite. Vermutlich würde Martinsson ja recht behalten mit seiner schmeichlerischen Prophezeiung, aber nur, wenn er, Blomqvist, nicht vorher während einer ihrer morgendlichen Laufeskapaden umkippte und an einem verdammten Herzanfall starb.
Martinsson hatte ein wahrhaft mörderisches Lauftempo drauf, fand Blomqvist, aber er würde einen Teufel tun, sich anmerken zu lassen, was es ihm abverlangte, mit dem jüngeren Kollegen Schritt zu halten. Nur wer fit war, kam weiter. Und er musste weiterkommen, schließlich gab es ein Haus abzubezahlen. Abgesehen von gewissen anderen Verpflichtungen der deutlich angenehmeren Art, die aber alle zweierlei gemeinsam hatten: Seine Frau durfte nichts davon erfahren und sie kosteten eine ganze Menge Geld.
Aber das würde schon werden. Der Branche ging es schließlich gut. Wenn man jedoch ein Stück vom großen Versicherungskuchen abhaben wollte, musste man schnell und clever sein und im richtigen Moment zuschlagen, so einfach war das. Blomqvist sog die Luft tief in seine Lungen und zwang seine schmerzenden Beine zu einem schnelleren Schritt, um zu Martinsson aufzuschließen. Ob Martinsson auch so einen Muskelkater hatte oder ob der einfach genetisch gesegnet war? Schließlich gingen sie beide auf die vierzig zu, aber manchmal, insbesondere morgens vor dem Laufen, kam sich Blomqvist beinahe doppelt so alt vor.
»Na jedenfalls wird dieser Posten bald frei, und dann geht’s bestimmt auch für dich weiter«, bekräftigte Martinsson das eben Gesagte. Und ließ es beinahe so klingen, als ob er in dieser Angelegenheit selbst ein Wörtchen mitzureden hätte, was natürlich nicht der Fall war. Überhebliches Arschloch.
»Dein Wort in Gottes Ohr«, schnaufte Blomqvist. »Aber manchmal glaube ich, dass Wallin vielleicht wirklich das ewige Leben hat. Wie alt ist der denn eigentlich mittlerweile? Siebzig?«
»Zweiundsiebzig«, korrigierte Martinsson, der es natürlich wieder ganz genau wusste. Der schickte dem Alten vermutlich an jedem Geburtstag einen Strauß Blumen oder so was. Kein Wunder, dass sie den Schleimer bisher so schnell befördert hatten. Trotz der geringeren Berufserfahrung. Deutlich geringer, wohlgemerkt. Diese Arschlöcher, und Wallin allen voran. Der war sozusagen ihr Arschloch-Anführer.
»Hm«, machte Blomqvist und sagte dann: »Wobei ich glaube, dass es den Leuten allmählich auch auffällt.«
Martinsson blieb stehen, so abrupt, dass Blomqvist beinahe in ihn hineingerannt wäre.
»Was denn?«, fragte er und schaute Blomqvist mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Konnte es sein, dass er das als Einziger noch nicht mitbekommen hatte? Oder war das ein Test? Blomqvist schimpfte sich selbst einen Trottel, weil er mit dem Thema angefangen hatte, aber andererseits war er froh über diese Pause von der dämlichen Rennerei.
»Na ja«, sagte Blomqvist, »als er damit angefangen hat, war das ja praktisch noch die Norm im Büro. Alte Schule und all das.«
»Ich versteh nicht«, sagte Martinsson, stützte die Hände in die Hüften und machte ein paar seitliche Dehnübungen.
»Du weißt schon«, sagte Blomqvist. »Sich erst mal einen genehmigen, bevor es morgens richtig losgeht im Büro. Na, und dann während der Arbeit. Gehörte eben zum guten Ton, damals in den …«
»Damals in den wilden Zwanzigern, meinst du?«, fragte Martinsson grinsend und begann, auf der Stelle zu hüpfen. Beide lachten ein bisschen. Vielleicht ist Martinsson ja doch kein so übler Kollege, dachte Blomqvist. Zumindest war er ganz bestimmt kein solches Arschloch wie Wallin. Aber das war ja auch nicht schwer.
»Na«, sagte Blomqvist, »und nun zeigt sich das wohl ein bisschen. Also das mit der Sauferei.«
»Oh je«, seufzte Martinsson und schaute zerknirscht drein. »Er macht sich doch nicht etwa vor dem versammelten Aufsichtsrat in die Hose oder so was? Sollen wir ihm vielleicht schon mal ein paar Windeln besorgen?«
Blomqvist antwortete mit schallendem Gelächter, das seltsam deplatziert klang in der morgendlichen Stille. Ein paar wenige Vögel beschwerten sich, dann war es wieder ruhig im Beijers Park.
»Ich meinte eher, dass er manchmal in den Meetings ein bisschen wegnickt«, sagte Blomqvist grinsend. »Aber wer weiß, wo das noch hinführt?«
»Verstehe«, sagte Martinsson. »Wollen wir wieder?«
»Gleich«, sagte Blomqvist. »Erst muss ich mal kurz ums Eck.«
»Was denn, hier?«, fragte Martinsson mit hochgezogenen Augenbrauen. »Mitten im Park?«
»Ist doch keiner hier«, erwiderte Blomqvist und machte sich daran, hinter einer kleinen Baumgruppe am Wegesrand zu verschwinden, die von einem niedrigen Gebüsch umstanden war.
»Mach aber schnell«, rief ihm der hüpfende Martinsson hinterher. »Mir ist nämlich schweinekalt!«
Blomqvist setzte über das Gebüsch und lief um einen Baum, hinter dem der Regen einen Teil des Bodens weggeschwemmt hatte, sodass ein kleiner Tümpel entstanden war. Dort zog er seine Jogginghose ein Stück herunter. Nicht mal einen Reißverschluss bauen sie in diese Dinger, vermutlich wegen der Aerodynamik. Lächerlich. Und dann diese verdammten Detox-Smoothies, die Hilda ihn zwang, jeden Morgen zu trinken. Die mochten ja vielleicht dafür sorgen, dass man ein ähnlich astronomisches Alter wie Sören Wallin erreichte, aber Gott, man musste davon Wasser lassen wie das sprichwörtliche Pferd. Noch dazu fiel ihm Hilda dieser Tage sowieso gehörig auf die Nerven, weil sie ständig in Weltuntergangsszenarien schwelgte, seit die kleine Marlis Olsson angeblich verschwunden war. Dabei war das Gör mit Sicherheit freiwillig von zu Hause abgehauen, das wusste jeder, und wer konnte ihr das auch verdenken, bei der Halbverrückten, die sich ihre Mutter schimpfte? Man musste sich vielmehr fragen, wie eine wie die es sich überhaupt leisten konnte, in einer Gegend wie Rostorp zu wohnen. Beziehungsweise gab es da schon eine Antwort drauf, wenn auch nur gerüchteweise, aber diese Antwort machte Hilda und die anderen Ehefrauen alles andere als glücklich. Dabei waren diese Befürchtungen vollkommen lachhaft, zumindest was Blomqvist betraf. Als ob er zu so einer gehen würde, um sich sexuell abzureagieren, bestimmt nicht! Widerlich war das, da konnte man sich ja mit allem Möglichen anstecken.
Der Punkt war einfach der, Leute wie die Olssons passten viel besser nach Rosengård oder Seved. Da musste man sich nicht wundern, dass die Leute, die sich das leisten konnten, mittlerweile ganz aus Malmö wegzogen, raus nach Lund oder so. Was er übrigens auch tun würde, spätestens, wenn der alte Wallin endlich den Löffel abgegeben hatte und er zum Filialleiter …
Blomqvists Gedanken brachen abrupt ab, als er etwas in dem Tümpel entdeckte, in den er gerade uriniert hatte. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf die Wasseroberfläche.
Dort schwamm etwas.
Blomqvist sah noch einmal hin.
Was da auf der Wasseroberfläche trieb, mochte ein alter Stoffbeutel sein. Das Ding war wohl mal rot gewesen, aber das war nur schwer zu erkennen, weil es sich komplett mit schlammigem Wasser vollgesogen hatte und jetzt beinahe schwarz war.
Er kniff die Augen zusammen.
Vorn an dem Ding war etwas Weißes dran, das träge hin und her wogte wie eine Seeanemone auf dem Meeresgrund. Demnach konnte es kein Beutel sein, denn das Weiße sah beinahe aus wie eine …
Oh Gott.
Blomqvists Herz setzte für einen schmerzhaften Moment aus. Es sah beinahe aus wie eine Hand! Eine kleine, eindeutig menschliche Hand.
Blomqvist vergaß, seine Hose vollends hochzuziehen und stieg über das Gebüsch, die Augen weiter auf diesen seltsam länglichen Gegenstand gerichtet, der da auf der Oberfläche des Tümpels trieb. Der ein Arm sein konnte mit einer Hand dran, oder auch nicht. Wahrscheinlich nicht, natürlich nicht, aber …
Blomqvist war so in die Betrachtung des seltsamen Objekts vertieft, dass er vergaß, darauf zu achten, wohin er seine Füße setzte. Der Boden am Ufer des Tümpels war trügerisch. Der Regen hatte den Boden tagelang aufgeweicht und ihn in der Nähe des Tümpels in eine schlammige Rutschbahn verwandelt. Blomqvist tat noch einen Schritt, dann kam sein rechter Fuß ins Rutschen. Er schlitterte, riss die Arme nach oben in dem verzweifelten Versuch, sein Gleichgewicht zu halten, doch es war zu spät.
Blomqvist kam gerade noch dazu, einen kleinen Schrei auszustoßen, dann fiel er.
Und landete geradewegs in dem Tümpel, in dessen schlammigen Tiefen er kurz darauf bis zur Brust versank. Panisch schnappte er nach Atem, die Kälte presste die Luft aus seinen Lungen, während er mit aberwitzigen Schwimmbewegungen versuchte, zurück ans Ufer zu gelangen.
Doch etwas kam ihm in die Quere, versuchte, seine Rückkehr zum sicheren Ufer zu verhindern, als hätte es einen eigenen Willen. Blomqvist blinzelte sich das Wasser aus den Augen, während ihm das Herz in der schmerzenden Brust raste, als wäre es fest entschlossen, sich aus seinem Brustkorb zu befreien.
Dann erkannte er, was da auf ihn zugeschwommen war, und endlich auch das blasse Etwas an seinem vorderen Ende.
Es war tatsächlich eine Hand.
Die zu einem Arm gehörte, der in einem ehemals roten, jetzt schmutzigbraunen Anorak steckte.
Blomqvists verzweifeltes Paddeln hatten den Körper auf ihn zugetrieben, und jetzt begann er, sich träge um die eigene Achse zu drehen. Mit einer glucksenden Bewegung tauchte ein weiteres, vollgesogenes Stück Stoff auf, während sich der Körper langsam auf Blomqvist zubewegte.
Blomqvists Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er das sah. Dann begriff er, dass das Stück Stoff die Kapuze des Anoraks war und dass er in das Gesicht einer Leiche starrte. Der Leiche eines Kindes.
Da begann Blomqvist zu schreien.
8. November
»Okay, Elsa«, sagte Kommissar Björklund. »Ich danke dir für deine Bemühungen und all das, aber ich sehe wirklich nicht, wie uns das jetzt noch voranbringen soll.«
Elsa Mattsson wandte ihren Blick von der Scheibe ab, hinter welcher der Junge saß, und musterte den Kommissar. Seit sie in diesem kleinen beschaulichen Örtchen mitten im Urwald Smålands angekommen war, hatten sich die örtlichen Behörden kaum bemüht, die Skepsis an Elsa und ihren Methoden zu verbergen.
Andererseits waren die örtlichen Behörden, auch das hatte sie schnell herausgefunden, völlig überfordert mit einem solchen Fall.
Das kannte sie bereits, die Skepsis und die Ablehnung. Und sie verstand die tiefe Unsicherheit, die der Grund für diese Skepsis war. Elsa Mattsson war jemand, der in Seelen hineinblickte, das war gewissermaßen ihr Beruf oder doch ein wichtiger Teil davon. Was sie dort sah, war selten schön oder besonders beruhigend, besonders nicht, wenn es um ihre kleinen Patienten ging. Kinder, deren ungehörte Stimmen oft so wenig Gehör fanden in dieser Welt des Schnellen und des Lauten. In dieser Welt der Fakten, die den Polizisten so vertraut erschien. Weil die Welt der Fakten zumindest den Eindruck erweckte, auf solidem Grund gebaut zu sein.
»Lasst mich noch eine Sache probieren«, sagte Elsa und versuchte zu ignorieren, dass einer der Polizisten ein herzhaftes Gähnen unterdrückte.
»Bitte, Rasmus.«
»Hör mal, Elsa«, sagte der Kommissar. »Ich weiß, dass du zu den besten deines Faches gehörst und die Kollegen in Malmö dir ganz außergewöhnliche Fähigkeiten beurkunden. Ich will das auch gar nicht in Abrede stellen, versteh mich nicht falsch. Aber vielleicht ist es diesmal wirklich einfach nur das, wonach es aussieht.«
»Und wonach sieht es deiner Meinung nach aus?«, fragte Elsa.
Ihr Blick bohrte sich in die Augen des Kommissars und wie üblich verfehlte das seine Wirkung auch diesmal nicht. Nach Elsas Erfahrung gab es genau zwei mögliche Arten, wie Männer auf diesen Blick reagierten. Die einen starrten zurück, in der Hoffnung, dass das selbstsicher wirken würde, was es jedoch bei den wenigsten tat. Die anderen senkten beinahe augenblicklich die Augen. Kommissar Björklund gehörte zur letzteren Sorte.
»Na, du weißt doch, wie die Eltern heutzutage sind«, murmelte er. »Und die Schüler. Vielleicht gab es Probleme im Unterricht oder er wollte sich an irgendwem rächen …«
Björklund starrte jetzt intensiv in den Raum jenseits der Scheibe, wo der Junge an einem kleinen Tisch saß und ins Leere starrte. Wie er das seit seiner Ankunft getan hatte.
»Filip ist sieben, Rasmus.«
»Ich weiß. Aber …«
Der Kopf des Kommissars ruckte herum, so als hätte er sich spontan dazu entschlossen, Elsa doch noch die Stirn zu bieten. »In dem Alter haben sie doch alle möglichen Fantasien. Die denken sich imaginäre Freunde aus und was weiß ich. Und wenn ihnen in der Schule mal was nicht passt, dann laufen sie zu Mama und Papa, weil sie genau wissen, was dann passiert.«
»Und was passiert dann?«, fragte Elsa.
»Na die Eltern, die klären das. Rennen in die Schule und knöpfen sich den Lehrer vor. Jammern herum, dass man ihren kleinen Schatz zu hart angefasst hat. Drohen damit, die Schule zu wechseln und ein Riesentamtam draus zu machen. Bloß, weil sie selbst nicht in der Lage sind, mal für ein bisschen Anstand und Erziehung zu sorgen. Das ist zumindest meine Meinung dazu.«
Elsas Mundwinkel begann zu zucken, doch Björklund, der erst richtig in Fahrt zu kommen schien, war nicht zu bremsen.
»Und rate mal, wer sich dann in 10 Jahren mit der Bande rumschlagen darf. Da sitzen die dann hinter der Sporthalle, ziehen sich Joints rein und werden noch frech, wenn man sie dabei erwischt, wie sie auf nicht registrierten Mopeds durch die Gegend knattern. Weil die keine wirkliche Erziehung mehr genießen heutzutage und …«
»Oder vielleicht, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen?«, fragte Elsa.
Björklund schnaubte verächtlich. Sein Kopf hatte eine tiefrote Färbung angenommen und er sah aus, als stünde er kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Auch das wäre nicht das erste Mal, dachte Elsa niedergeschlagen.
»Okay«, sagte sie. »Ich mach dir einen Vorschlag. Jetzt ist doch sowieso Mittagspause, nicht wahr?«
Björklund nickte kaum merklich.
»Warum nehmt ihr euch nicht für eine halbe Stunde eine Auszeit, geht was essen oder so? Und wenn ihr zurück seid, machen wir es so, wie du gesagt hast. Wir fahren zu den Lehrern, einem nach dem anderen, und befragen die als Zeugen. Und wenn keinem von denen was aufgefallen ist, dann hat sich der Junge wohl wirklich alles nur ausgedacht und wir können die Sache getrost vergessen.«
Dieses Einlenken war so plötzlich geschehen, dass es Björklund kalt erwischte. Völlig verdattert starrte er Elsa an, dann drehte er sich zu seinen Kollegen um und sagte: »Okay. Also, ihr habt’s gehört. Gehen wir was essen. Und in einer halben Stunde geht’s dann los.«
»Danke«, sagte Elsa.
Eine halbe Stunde war nicht viel, aber es würde genügen müssen.
Während sie den Polizisten nachsah, die kopfschüttelnd in Richtung der Kantine verschwanden, ließ sie sich das, was Björklund gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen.
Allein – es ergab keinen Sinn, beim besten Willen nicht.
Kein Siebenjähriger würde sich so eine Geschichte ausdenken. Und schon gar nicht würde er so was ohne guten Grund seinen Eltern auftischen. Die hatten ausgesagt, dass sie ihrem Sohn die Geschichte förmlich aus der Nase hatten ziehen müssen, nachdem ihnen aufgefallen war, wie ungewöhnlich still und in sich gekehrt ihr Jüngster urplötzlich gewesen war, von einem Tag auf den anderen.
Elsa rechnete ihnen hoch an, dass sie überhaupt auf solche Signale geachtet hatten. Wie viele Eltern mochte es geben, denen so etwas schon gar nicht mehr auffiel?
Sie hatten sich also mit ihrem Sohn hingesetzt, seine Mutter hatte ihn in den Arm genommen und ihn gefragt, was denn los sei. Als sie es ihm endlich entlocken konnten, trauten sie ihren Ohren kaum. Er sei, sagte der Junge, auf dem Nachhauseweg von einem Mann angesprochen und in ein Versteck gelockt worden, wo der Mann mit ihm schlimme Dinge angestellt habe, über die er keinesfalls reden wolle.
Das war alles, danach und seitdem hatte der Junge vehement geschwiegen und daran hatte sich bis zu Elsas Ankunft nichts geändert. Die Psychologin warf einen langen Blick durch die Scheibe zu dem Jungen, der drinnen an einem kleinen Kindertisch saß, umgeben von abgenutztem Spielzeug, das er nicht einmal angerührt hatte, und mit leerem Gesichtsausdruck auf ein weißes Blatt Papier starrte, neben dem ein paar Wachsmalstifte lagen, ebenfalls unberührt.
Elsa atmete einmal tief durch, dann öffnete sie die Tür zu dem kleinen Zimmer.
Sie trat in die Mitte des Zimmers und ging vor dem kleinen Tisch in die Knie, während sie versuchte, den Blick des Jungen zu erhaschen. Als er sie schließlich aus trüben Augen anschaute, lächelte sie ihn an und fragte: »Darf ich?«
Die Brauen des Jungen runzelten sich, er schaute sie verständnislos an.
»Mich setzen?«, vervollständigte Elsa den Satz und deutete auf einen kleinen roten Plastikstuhl, der verloren neben dem Tisch herumstand.
Der Junge nickte schwach und Elsa zog den Stuhl zu sich heran. Dann setzte sie sich neben ihn an den Tisch, wobei sie darauf achtete, ihm nicht zu nahe zu kommen. Noch nicht.
»Langweilig, oder?«, fragte Elsa.
Der Junge reagierte nicht.
»Wollen wir nicht etwas malen?«, versuchte sie es erneut.
Der Junge schwieg beharrlich.
»Ist es okay, wenn ich etwas male?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. Elsa lächelte und schnappte sich einen der Wachsmalstifte. Dann begann sie zu zeichnen. Ein Haus, eigentlich nur ein Quadrat mit einem Dreieck obendrauf, aber dann malte sie oben ein Fenster rein, dann noch eins. Ein Seitenblick zu dem Jungen verriet ihr, dass er ihren Zeichenkünsten mit aufmerksamen Augen folgte.
»Noch eins hier oben?«, fragte sie und der Junge nickte kaum merklich. Sie malte ein drittes Fenster ein.
»Die Tür … hm, die muss in die Mitte, ja? Oder ist sie eher an der Seite?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Also mehr nach links?«
Er nickte.
Elsa malte die Tür links ein.
»Ein Gartenzaun, nicht wahr? Ein schöner hoher Zaun aus Holz und weiß gestrichen …«
»Rot«, flüsterte der Junge kaum hörbar.
»Rot, verstehe«, sagte Elsa, nahm den roten Stift vom Tisch und malte einen Gartenzaun neben das Haus. Sie spürte, wie der Junge sie sanft am Arm berührte. Dann tippte er leicht auf eine Stelle etwas oberhalb des Zauns, rechts neben dem Haus, dorthin, wo Elsa die Straße gemalt hatte. Zuerst verstand sie nicht, was der Junge meinte, und er sagte auch nichts mehr.
Dann begriff sie es.
»Da stehen Blumen in dem Garten, nicht wahr?«
Der Junge nickte.
Elsa malte zwei grüne Stängel und ein paar Blätter daran. Von unten herauf ließ sie die gemalten Blumen wachsen, bis sie die Höhe des Zauns erreicht hatten.
»Höher«, flüsterte der Junge.
Elsa malte die Stängel so hoch, dass sie beinahe das Dach des Hauses erreichten.
»Eine mehr.«
Nun malte Elsa einen dritten Blumenstängel zu den beiden anderen. Dann wählte sie die Farben gelb und braun, um die Blumen fertig zu zeichnen. So große Blumen konnten nur Sonnenblumen sein. Nicht gerade deren Hochsaison, aber Elsa glaubte sich zu erinnern, irgendwo gelesen zu haben, dass einige der Exemplare auch noch tapfer in den Winter hinein blühten. Einen Versuch war es allemal wert. Als sie fertig war, nickte der Junge wieder.
Nun senkte Elsa ihre eigene Stimme zu einem Flüstern. »Ist das, wo du Verstecken gespielt hast? Mit dem Mann?«
Der Junge antwortete nicht, er war wieder in seine übliche Starre verfallen, er blickte stumpf auf das leere Blatt Papier, das vor ihm lag.
Schließlich nickte er kaum merklich.
»Danke, Filip«, sagte Elsa und stand auf, dann verließ sie das Verhörzimmer.
»Es ist furchtbar«, sagte Lasse Ekberg, »einfach nur schrecklich. Dass so etwas an unserer Schule passiert sein soll. Hier, in Eksjö.« Er schüttelte den Kopf. »Einfach unvorstellbar ist so was.«
Kommissar Björklund nickte zustimmend und griff dann nach dem Kaffee, den ihnen die Frau des Lehrers auf den Tisch gestellt hatte. In schicken, handgetöpferten Tassen, die offenbar zu einem Set der eher kostspieligen Sorte gehörten.
»Wie meinen Sie das, Lasse?«, wollte Elsa wissen und fing sich einen warnenden Seitenblick von Björklund ein, den sie geflissentlich ignorierte. »Ich darf doch Lasse sagen?«
»Ja, klar«, sagte der Sportlehrer und schenkte Elsa ein einnehmendes Lächeln. »Ich meine, man liest so was ja manchmal in der Zeitung, klar. In Großstädten passiert so was. Aber hier, ich meine, da kennt man sich doch. Ich bin selbst hier zur Schule gegangen, und die Eltern der meisten Kinder ebenfalls. Ich meine …«
»Ich verstehe.«
Ekberg nickte.
»Also, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand aus Eksjö so was tun würde. Vielleicht einer von den Sommertouristen, also, ich will da niemanden schlechtreden, es ist nur einfach … man kennt die eben nicht. Aber wir im Dorf hier …«
»Ihr seid alle eine große Gemeinschaft.«
Elsa lächelte ihn an.
»Ja«, sagte Lasse Ekberg und nickte zustimmend. »Genau.«
Seine Frau legte ihm die Hand aufs Knie, tätschelte es einmal und zog sie dann wieder weg. Interessant, dachte Elsa.
»Es ist ja auch noch gar nicht raus, ob der Junge wirklich …«, begann Björklund zu beschwichtigen. »Ich meine, es besteht die Möglichkeit, dass er sich das alles nur ausgedacht hat. Um irgendwem eins auszuwischen oder so, du weißt doch, wie sie sind in dem Alter.«
»Verstehe.«
»Wir waren ja selbst nicht immer die reinsten Engel, oder?«, sagte Björklund in jovialem Ton. Ekberg lächelte und legte nun seinerseits die Hand auf den Oberschenkel seiner Frau, wo sie liegen blieb.
Na prima, dachte Elsa, Kommissar Björklund ist also ebenfalls an diese Schule gegangen. Hätte mich nicht überraschen sollen. Schließlich kennt man sich hier.
Vom oberen Ende der Treppe war ein Geräusch zu hören und als Elsa hochsah, bemerkte sie das Gesicht eines kleinen Mädchens, das mit großen Augen zwischen den Stäben des Geländers zu ihnen hinunterblickte. Offenbar die Tochter der Ekbergs.
»Das ist Marie«, sagte Ekberg. »Sie ist fünf.«
Alle lächelten ein bisschen und schließlich verschwand das Gesicht der Kleinen wieder. Seine Frau, fiel Elsa auf, hatte zu der gesamten Konversation noch kein Wort beigetragen. Er hatte sie ihnen noch nicht einmal vorgestellt, was ja zumindest bei Björklund auch gar nicht nötig war.
»Gut, Lasse …«, sagte Elsa und stellte ihre Kaffeetasse ab. Machte dann Anstalten, aufzustehen. Genauso hatten sie es schon bei den vier Besuchen gemacht, die sie an diesem Nachmittag bereits hinter sich hatten, und allmählich war ihr jede Lust auf hausgemachten Kaffee vergangen. Björklund hatte sie dabei jedes Mal als Unterstützung aus Malmö vorgestellt. Da hätte er auch gleich sagen können: Eine aus der Großstadt, die sich einmischen will. Haltet bloß die Klappe!
Dementsprechend groß war der Enthusiasmus der Leute gewesen, ihre Fragen zu beantworten. Aber höflich waren sie alle, da war auch Ekberg keine Ausnahme, den ihr Björklund als den Sportlehrer des Jungen vorgestellt hatte. Allerdings, einen Unterschied hatte es schon gegeben.
Elsa stand auf.
Ekberg nahm die Hand vom Oberschenkel seiner Frau, blieb aber sitzen. Die Frau zog ihren Rock glatt und entfernte eine unsichtbare Fussel.
Auch Björklund wuchtete seinen mächtigen Leib aus dem Sessel. Seinem Gesicht war deutlich anzusehen, was er von der ganzen Sache hielt. Vermutlich hatte er gänzlich andere Pläne fürs Wochenende gehabt, bis Filip sie ihm vermasselt hatte. So ein Pech aber auch für ihn.
»Äh, Lasse«, sagte Elsa, während sie sich zur Tür umwandte. »Eins noch, bitte.«
»Klar«, sagte Lasse, »was denn?«
»Sie hatten Filip in der fünften Stunde, das war seine letzte an der Schule, richtig?«
»Wenn Sie das sagen«, sagte Lasse und deutete ein entschuldigendes Lächeln an. »Ich hab ja nicht die Stundenpläne aller meiner Schüler im Kopf.«
»Natürlich nicht.«
Elsa lächelte verständnisvoll, dann kramte sie umständlich ein kleines Notizbuch aus der Tasche, öffnete es und blätterte in den Seiten, die allesamt unbeschrieben waren. Dann tat sie so, als hätte sie eine bestimmte Notiz gefunden.
»Er hat mit mir Verstecken gespielt«, murmelte sie nachdenklich, während sie den Blick nicht von Lasse Ekbergs Hand ließ. Exakt, als sie das Wort Verstecken erwähnte, hatte sich diese unwillkürlich den Oberschenkel seiner Frau gepackt. Eine winzige Bewegung nur, die außer Elsa niemandem auffiel, aber eine verräterische.
»Wie bitte?«, fragte Ekberg, so als hätte er Elsas Gemurmel nicht verstanden. Aber er hatte.
»Verstecken«, wiederholte Elsa und blickte dem Lehrer jetzt direkt in die Augen. »Hab es gerade noch mal nachgesehen. Er hat gesagt, dass er mit mir Verstecken spielen will. In dem Haus. Das waren Filips exakte Worte.«
»Ja, und …?«, schnappte Lasse und auch Björklund musterte Elsa jetzt mit gerunzelter Stirn. Natürlich hatte Filip nichts dergleichen gesagt, aber das konnte der Kommissar ja nicht wissen und Ekberg schon gar nicht.
»Ja«, sagte sie in einem beiläufigen Ton. »Und dann hat Filip uns verraten, wo sich das Versteck befindet. Er sagte …«
Lasse Ekbergs Blick zuckte nur für den Bruchteil eines Augenblicks zur Seite, aber das genügt Elsa.
»Der Keller«, sagte sie, und Ekberg wurde blass. Seine Frau verzog schmerzerfüllt ihr Gesicht, als er seine Finger in ihren Oberschenkel krallte.
»Lasse!«, stöhnte sie leise, doch der Mann schien sie gar nicht zu hören. Er starrte Elsa aus weit aufgerissenen Augen an. Augen, in denen Begreifen zu dämmern begann. Begreifen, dass er soeben in eine Falle getappt war.
Elsa drehte sich zu Björklund um. Dessen Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. Offenbar begriff er überhaupt nichts.
»Was für ein Keller, Elsa?«
»Den Keller der Ekbergs. Da hinten im Flur ist der Zugang, nicht? Den sollten wir uns mal ansehen, finde ich.«
Ein weiterer Blick auf den Sportlehrer zeigte ihr, dass dieser noch ein bisschen blasser geworden war. Seine Pupillen waren deutlich geweitet und zuckten zwischen ihrem Gesicht und dem Björklunds hin und her. Und ich wette, dachte Elsa, deine Handflächen sind jetzt schwitzig wie die einer Jungfrau beim ersten Mal. Dann fiel ihr auf, dass das ein reichlich pietätloser Vergleich war angesichts dessen, was der Sportlehrer vermutlich getan hatte.
Nein, dachte sie, nicht vermutlich. Jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich mir sicher.
»Lasse, du tust mir weh!«, zischte die Frau des Sportlehrers und wie abwesend wandte der Mann den Blick langsam hinab zu seiner Hand. Die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor. Er ließ ihren Schenkel los, was ihn einige Anstrengung zu kosten schien.
Und ungefähr da begann es auch seine Frau zu begreifen.
»Lasse, du …?«, hauchte sie mit versagender Stimme.
Lasse sagte gar nichts mehr.
Er fragte nicht mal nach einem Durchsuchungsbefehl, was sein gutes Recht gewesen wäre. Wenigstens, dachte Elsa, ist er kein Profi.Auch wenn das freilich ein schwacher Trost ist. Typen wie der, wenn man sie nicht stoppt, machen nämlich immer weiter. Und sie werden jedes Mal besser bei dem, was sie tun.
Ekberg schwieg auch noch, als sie gemeinsam in den Flur traten. Da war eine Holztür, gleich neben den Kleiderhaken, an denen ihre Mäntel hingen. Dorthin war sein Blick gezuckt, als Elsa gesagt hatte, dass der Junge ihr erzählt hatte, wo im Haus sich das Versteck befinden würde.
Die Tür öffnete sich ohne das geringste Geräusch, offenbar wurden die Scharniere regelmäßig geschmiert.
»Wo … äh, wo ist das Licht?«, fragte Björklund.
Er klang ungefähr so schockiert, wie Lasse Ekberg gerade ausgesehen hatte. Auch Björklund ist also offenbar kein Profi, dachte Elsa, aber das würde schon bald nicht mehr ihr Problem sein.
Der Sportlehrer deutete auf eine Kordel, an deren unterem Ende eine Glasperle hing, und Björklund zog daran.
Als das Licht anging, offenbarte der Keller eine Ansammlung höchst unauffälliger Alltagsgegenstände. Eine Waschmaschine stand hier unten, nebst einem kleinen Schrank, der vermutlich die dazugehörigen Utensilien wie Waschmittel und dergleichen enthielt. Ein ausgedienter PC unter einer Staubabdeckung. Einer von diesen Hometrainern, im guten Vorsatz gekauft, dann rasch zum Staubfänger geworden.
»Keine Werkbank, wie?«, fragte Elsa, und Björklund fuhr zu ihr herum.
In seinem Gesicht zeichnete sich seine Verwirrung allzu deutlich ab. Offenbar hatte er erwartet, dass sie hier unten von einer Ansammlung belastender Beweise begrüßt werden würden, und nun, da das offenbar nicht der Fall war, befürchtete er vermutlich erneut, bei der hiesigen Bevölkerung in Ungnade zu fallen, weil er auf die Psychotante aus der Stadt gehört und den Keller eines gänzlich Unschuldigen durchsucht hatte.
»Keine Männersachen, meine ich«, sagte Elsa und deutete auf den Keller. »Wir sollten schauen, ob es nicht vielleicht einen weiteren Raum gibt.«
Es gab einen, und sie mussten sogar eine Weile danach suchen. Was Elsa mit einer stummen Befriedigung erfüllte. Selbst sie hatte bisher wenig mehr als Indizien zutage gefördert, aber die Tatsache, dass der Mann sie bei ihrer Suche nicht unterstützte, war praktisch einem Schuldeingeständnis gleichzusetzen. Offenbar hielt sich in ihm nach wie vor die trügerische Hoffnung, sein alter Schulfreund würde die Sache einfach auf sich beruhen und ihn vielleicht mit einem blauen Auge davonkommen lassen, wenn er nur lang genug stur blieb.
Aber nicht, wenn ich mit dabei bin, dachte Elsa voll stummer Befriedigung, nicht mit der Psychotante aus der Stadt an seiner Seite.
Letztlich fanden sie den Durchgang hinter einem Gestell, das als eine Art Garderobe diente. Ein paar ausgediente Wintermäntel hingen unter einer Plane und verbargen so die dahinterliegende Tür, während sie gleichzeitig den Anschein erwecken sollten, diese wäre ohnehin seit Jahren nicht benutzt worden. Kein besonders ausgefuchstes Versteck, dachte Elsa, aber um ein Haar hätte es dennoch genügt, damit Björklund die Sache abgeblasen hätte. Sie schüttelte den Kopf und damit den spekulativen Gedanken ab, was unter Björklunds Aufsicht noch so alles unbemerkt geblieben war im idyllischen Eksjö.
Besser, nicht darüber nachzudenken.
»Wollen Sie oder sollen wir, Lasse?«, fragte Elsa und verkniff sich dabei jeden Spott. Nicht schwer, wenn man bedachte, weswegen sie hier unten waren. Schließlich hatte der Mann ein bisschen mehr getan als heimlich Schnaps zu brennen oder den Staat um ein paar Steuergelder zu prellen.
Ekberg versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu fummeln, doch seine Hände zitterten so stark, dass der Schlüssel zu Boden fiel, wo er klirrend aufschlug.
Elsa hob ihn auf und steckte ihn ins Schloss, wobei sie darauf achtete, nichts außer dem Schlüssel selbst zu berühren. Björklund war da weniger behutsam. Kaum hörte er das Klicken, mit dem das Schloss aufsprang, packte er die Klinke und zog die Tür vollends auf.
»Scheiße …«, entfuhr es ihm.
Als Elsa an seinen breiten Schultern vorbei ins Innere der kleinen Kammer lugte, konnte sie ihm nur beipflichten.
Der Raum war offenbar mal als kleine Werkstatt angelegt gewesen. Die Werkbank stand noch hier, ebenso ein an die Wand geschraubtes Gitter, an dem man Werkzeuge befestigen konnte. Doch nun hatte das Gitter eine andere Verwendung gefunden. Statt Hämmer, Zangen und Sägen hingen körnige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die allesamt Kinder zeigten, die meisten davon Jungen, keiner älter als zehn Jahre.
Nichts allzu Verfängliches auf den ersten Blick, denn die Kinder trugen allesamt Kleidung, zumeist Sportsachen. Was die Aufnahmen so furchterregend machte, war die Tatsache, dass die Kinder offenbar nicht mitbekommen hatten, dass sie fotografiert worden waren. Das zusammen mit der Grobkörnigkeit der Bilder ließ darauf schließen, dass Lasse Ekberg die Fotos heimlich gemacht hatte, während sie sich nach dem Sportunterricht umgezogen hatten.
Elsas Blick schweifte weiter durch den Raum.
Die Werkbank war mit einem breiten Streifen weißen Papiers abgedeckt worden und darauf lagen Schlüpfer, aber auch Sportbekleidung – auch diese offensichtlich in Kindergrößen, säuberlich nebeneinander aufgereiht wie Stücke einer Ausstellung. Zu jedem Exponat gehörte ein kleines Papierschild. Als Elsa näher trat, konnte sie darauf die Namen von Kindern lesen, offenbar allesamt Ekbergs Schüler. Der Mann musste diese aus den Schränken in der Umkleide gestohlen haben.
In diesem Moment brach Ekberg ächzend im Türrahmen zusammen. Niemand kümmerte sich um ihn.
»Da haben Sie das Versteck«, sagte Elsa. »Und falls das nicht genügt …«
Sie deutete auf eine Videokamera, die auf einem Stativ in der Ecke stand, ein kleines silbernes Ding mit einem ausklappbaren Display. Nicht eben das neueste Modell. Vielleicht vor Jahren gekauft, um Familienausflüge festzuhalten, und dann vergessen worden wie der Hometrainer im Raum nebenan. Vielleicht, dachte Elsa düster, hat er damit die Geburt seiner Tochter aufgezeichnet, oder das erste Mal, dass sie ihn Papa genannt hat.
Sie ging zu der Kamera und klappte das Display aus, dann drückte sie die mit Play beschriftete Taste. Das Display blieb schwarz. Sie betätigte die Rückspulen-Taste, und ein Junge, der über eine Waldlichtung flitzte, kam ins Bild. Das hätte lustig aussehen können, denn seine Bewegungen waren abgehackt und viel zu schnell und außerdem schien er rückwärts zu laufen.
Es war kein bisschen lustig.
»Es ist Filip«, sagte Elsa.
Der Mann, der hinter ihnen auf dem Boden lag, begann zu schluchzen.
»Ich … also wir haben doch nur … ich wollte ihm doch gar nichts tun.«
Wortlos zerrte Björklund ihn auf die Füße. Seine große Hand packte den Lehrer einfach am Genick, schleifte ihn durch den Raum zurück zur Treppe. Ohne ein weiteres Wort stieß der Kommissar den Sportlehrer die Stufen hoch.
Nach einem letzten Blick auf die widerliche Sammlung folgte Elsa ihnen nach oben.
Der Rest lag jetzt an Filip, beziehungsweise hing vieles davon ab, was er noch aussagen würde, falls und wenn er wieder zu reden begann. Elsa hoffte, dass der Junge seine Sprache wiederfinden würde, wenn er begriff, dass Lasse Ekberg ihm nichts mehr würde tun können. Wenn er das denn jemals wirklich begreifen würde.
Oben verpasste der Kommissar Lasse Ekberg ein Paar Handschellen, aber das bekam dieser vermutlich gar nicht mehr richtig mit. Sein trüber Blick traf die panisch aufgerissenen Augen seiner Frau, die ihre kleine Tochter an sich presste. Als er an ihnen vorbei zur Haustür geführt wurde, kam Ekberg aber noch einmal zurück ins Hier und Jetzt.
Als er an Elsa vorüberging, drehte er den Kopf und spuckte ihr mitten ins Gesicht. Dann ließ er sich widerstandslos abführen, beobachtet von den stummen Augen der Familie und der anwesenden Polizisten. Ekberg starrte seine Haustür an, die er vermutlich zum letzten Mal für eine ganze Weile sehen würde, dann öffnete Björklund diese und schob ihn nach draußen. Die Tür fiel schwer hinter den beiden Männern ins Schloss.
»Darf ich mal Ihr Badezimmer benutzen?«, fragte Elsa und die Ehefrau des Lehrers deutete wortlos in den Flur.
Elsa fand das Badezimmer, öffnete die Tür, schloss sie hinter sich und schob den kleinen Riegel vor. Sie stakste zum Waschbecken, legte die zitternden Finger auf den Rand und blickte in den Spiegel.
Was ihr entgegenschaute, war ein blasses Gesicht mit zitternden Lippen und Augen, die aus einer Spur zu viel Pupille zu bestehen schienen. Und einem feuchtglänzenden Fleck auf der Wange.
Ruhig, sagte sie sich, es ist überhaupt nichts. Nur ein weiterer Fall. Nichts weiter. Nur ein weiteres Schwein hinter Gittern.
Sie atmete ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Besser.
Ihre Finger hatten aufgehört zu zittern oder sie zitterten jetzt zumindest nicht mehr so stark. Als sie wieder in den Spiegel schaute, entdeckte sie, dass sie beim Abwischen ihres Gesichts eine Stelle über der linken Braue übersehen hatte. Sie drehte den Wasserhahn auf, um es fortzuspülen, als sie spürte, dass etwas ihre Speiseröhre nach oben schoss, ohne jede Vorwarnung. Sie schaffte es gerade noch, den Klodeckel nach oben zu reißen, der gegen die Wandfliesen knallte, dann brach es geräuschvoll aus ihr heraus.
Als es vorbei war, kniete sie entkräftet vor der Kloschüssel und warf einen angewiderten Blick auf die Reste des Frühstücks, das sie vor ein paar Stunden im Hotel zu sich genommen hatte.
Schade, dachte sie bitter, das ist ein gutes Frühstück gewesen. Das beste vermutlich, das in Eksjö für Touristen zu bekommen war. Denn das war sie, oder? Eine Touristin. Nur auf der Durchreise. Praktisch schon wieder auf dem Weg nach Hause, nachdem sie ihr Werk verrichtet und diese Gemeinde der Ruhe und Eintracht beraubt hatte. Wie ein böser Geist. Wie ein Fluch.
Sie tastete nach dem Knopf und betätigte die Spülung, während sie noch vor der Schüssel kniete. Als ihr Handy klingelte, zog sie es aus der Tasche und lehnte sich sitzend gegen die Wand neben dem Klo.
Es war Henrik.
»Ja?«, sagte sie, nachdem sie das Gespräch angenommen hatte.
»Ich hab dir ein paar SMS geschickt«, sagte Henrik.
»Hab ich gesehen.«
»Oh. Und ich Dummerle dachte, du würdest vielleicht auch zurückrufen.«
»Konnte nicht, war beschäftigt.«
»Verstehe. Geht’s dir gut? Du klingst ein bisschen seltsam, Elsa.«
»Alles gut, muss die Verbindung sein. Ich bin in Eksjö. Die haben hier einen Kinderschänder.«
»Oh.«
»Ja.«
»Und? Ich meine, kommst du gut voran?«
»Bin hier fertig, so gut wie. Sie führen den Kerl gerade ab.«
»Na dann, Glückwunsch!«
»Danke.«
»Und was ist nun mit mir?«
»Mit deinen SMS meinst du?«
»Richtig. Ich weiß nicht, wie Agnes das sieht, aber ich glaube, wir könnten deine Hilfe gebrauchen. Und zwar schon gestern, am besten. Es pressiert ein bisschen, weißt du?«
»Ach nee.«
»Wir stecken hier ziemlich fest. Du würdest mir, also uns einen Gefallen tun, wirklich. Soll ich auf die Knie fallen, damit du kommst?«
»Die Vorstellung hat was«, sagte Elsa und ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre blassen Lippen.
»Also? Heißt das, du kommst?«
»Ja, ja. Aber morgen muss ich erst mal an die Uni. Ich habe auch noch einen Brotjob, bei dem ich ab und zu mal auftauchen muss, wie du vielleicht weißt.«
»Klar, weiß ich. Das ist echt spitze, Elsa. Du wärest uns eine große Hilfe. Wenn du es dir nur mal anschauen würdest. Deine Einschätzung abgeben oder so.«
»Okay. Ich bring die Kristallkugel mit.«
»Danke, Elsa. Und …«
»Ja?«
»Fahr vorsichtig, okay?«
»Immer«, sagte sie und legte auf.
Lasse Ekberg saß bereits auf der Rückbank des Streifenwagens, als Elsa aus dem Haus trat. Nur, falls es irgendwer in Eksjö noch nicht mitbekommen hatte, ließ Björklund jetzt die Rundumleuchte auf dem Dach des Wagens laufen. Elsa bemerkte, dass die Gardine hinter dem Fenster am Nachbarhaus beiseitegeschoben wurde und dann in dieser Position verharrte. Bis spätestens heute Abend würde jeder in Eksjö Bescheid wissen. Und dann würden für den Lehrer, seine Frau und ihre Tochter ihre ganz persönlichen Varianten eines Spießrutenlaufs beginnen.
Als er sie erblickte, kam Björklund auf sie zugelaufen und streckte ihr in einer theatralisch anmutenden Geste die Hände hin. So ganz anders als noch vor einer halben Stunde, dachte Elsa. Aber auch das erlebte sie nicht zum ersten Mal.
»Ich muss dir danken, Elsa. Das hast du wirklich toll gemacht.«
Klingt, als wäre ich ein Kind und hätte einen erstklassigen Purzelbaum hingelegt oder versucht, mein erstes Pferd zu malen, dachte Elsa.
»Danke«, sagte sie knapp.
»Sag mal einer, Psychologen wären zu nichts nütze.«
»Ja. Sag mal einer.«
Elsa hätte schwören mögen, dass exakt das vor ein paar Minuten noch die vorherrschende Meinung in Björklunds Kopf gewesen war.
»Ihr hängt das ja ganz schön an die große Glocke«, sagte Elsa und deutete auf den Streifenwagen, der blinkte wie ein Weihnachtsbaum. »Ich möchte jetzt nicht unbedingt in seiner Haut stecken. Oder der seiner Frau.«
Sie deutete auf das Haus, aus dem sie gerade gekommen war. Björklund zuckte nur mit den Schultern.
»Also, danke nochmals«, sagte er. »Und bestell bitte Agnes schöne Grüße von mir.«
Dann stapfte er zum Streifenwagen und stieg ein.
»Mach ich«, sagte Elsa leise.
Ein paar Minuten später stieg sie in ihren eigenen Wagen, einen knallroten Porsche 911 Targa, und brauste in Richtung Malmö davon, Henriks sorgenvolle Bitte um einen vorsichtigen Fahrstil geflissentlich ignorierend.
Nachdem sich die letzten Streifenwagen verzogen hatten, die auch Frau und Tochter des Sportlehrers aufs Revier gebracht hatten, wurde es still vor dem Haus im Vetlandavägen. Die drei einzelnen Sonnenblumen hinter dem rot gestrichenen Zaun ließen traurig ihre zerzausten Köpfe hängen.
9. November
»… also ist die Schizophrenie eine geradezu typische Psychose mit Realitätsverlust, der sich insbesondere durch akustische Halluzinationen auszeichnet, mit anderen Worten, dem Hören von Stimmen. Zu beachten dabei ist, dass diese Stimmen entgegen der landläufigen Meinung nur selten befehlenden Charakter haben. Vielmehr beleidigen sie häufig den Hörenden oder verwickeln ihn in Gespräche. Auffällig hierbei ist der häufig irrationale Charakter dieser Themen. So ist für Außenstehende oft nicht wahrnehmbar, wieso der Betroffene beispielsweise fest davon überzeugt ist, dass seine Gedanken von anderen gelesen werden oder er davon überzeugt ist, von Außerirdischen entführt worden zu sein …«
Jemand aus den hinteren Rängen begann, die Titelmelodie von Akte X zu pfeifen.
»Ja, so ähnlich«, sagte Elsa lächelnd und versuchte, gegen das Licht des Projektors anzublinzeln.
Jacob Söderlund grinste sie breit an. Jacob, natürlich. Der hatte sich schon früh in diesem Semester als Klassenkasper erster Güte etabliert. Na ja, dachte Elsa mit einem innerlichen Seufzen, was will man machen? In jeder Jahrgangsstufe gab es so einen. Das Besondere an Jacob war jedoch, dass er nicht nur ein verfehlter Comedian war, sondern gelegentlich ziemlich intelligente Bemerkungen von sich gab und außerdem, um der Wahrheit die Ehre zu geben, verdammt gut aussah. Und das war ihm durchaus bewusst.
»Jacob«, setzte Elsa lächelnd zu einer Retourkutsche an. »Da Sie nun schon mal ein Fan von etwas angestaubten TV-Serien aus den Neunzigern sind, versuchen Sie doch beim nächsten Mal, sich das Ganze aus der Perspektive anzuschauen, dass Mr. Mulder unter einer ausgewachsenen Psychose leidet und seine bezaubernde Mitstreiterin Scully damit nach und nach ansteckt. Sie werden dann sicher feststellen, dass … oh, verdammt. Entschuldigung.«
Elsas Handy hatte in ihrer Hosentasche zu vibrieren begonnen. Normalerweise unterband sie das während der Vorlesungen dadurch, dass sie es in den Flugzeugmodus versetzte, doch heute Morgen musste sie das wohl irgendwie vergessen haben. Sie holte es aus der Tasche, um das jetzt nachzuholen, doch dann verharrte sie mitten in der Bewegung. Das Gesicht von Henrik Andersson erschien auf dem Display.
Mist, sie hatte ihm gestern versprochen, sich auf dem Revier zu melden. Als sie das Gespräch wegdrückte, sah sie, dass er ihr unmittelbar vor diesem Anruf schon gutes Dutzend SMS geschickt hatte. Sie öffnete eine.
Hilfe, Elsa! Ich muss dich sprechen, es ist WIRKLICH dringend! Sitze in der Cafeteria. Kannst du da hinkommen?
Wie der sich das denkt, dachte Elsa, mitten in der Vorlesung. Aber solche Aktionen gehörten normalerweise nicht zu Henriks Repertoire, was vermutlich bedeutete, dass die Sache diesmal wirklich brannte. Im Sinne von: lichterloh in Flammen stand. Mist.
»Okay, Entschuldigung«, sagte sie und wandte sich wieder den Drittsemestern zu.
Jacob Söderlund grinste. Diese Retourkutsche hatte sie dank Henrik gründlich vermasselt. Aber wenigstens enthielt er sich eines anzüglichen Kommentars, zumindest für dieses Mal.
»Ich fürchte, es ist ein Notfall eingetreten«, sagte sie zur Klasse und wandte sich dann an ihre Assistentin. »Freja, könnten Sie für mich einspringen?«
Ein rothaarige, junge Frau Ende zwanzig, die in der ersten Reihe saß, nickte, erhob sich und trat lächelnd zum Pult.
»Einfach die Folien durchspulen und dann sollen sie sich das noch mal im Zimbardo anschauen«, flüsterte Elsa ihrer Assistentin zu.
»Ist gut«, flüsterte Freja zurück und übernahm das Pult, während Elsa durch den Mittelgang zwischen den Sitzreihen nach draußen hastete. Im Vorübergehen bemerkte sie, dass Jacob Söderlunds Grinsen noch etwas breiter geworden war, seit Freja übernommen hatte.
Sie musste nicht lange nach ihm suchen. Henrik Andersson saß am einzigen besetzten Tisch in der ansonsten komplett verlassenen Cafeteria.
»Dir ist schon klar, dass meine Professur auch ein paar weltliche Pflichten mit sich bringt, oder? Zum Beispiel muss ich, man mag es kaum glauben, hin und wieder Vorlesungen halten vor diesen, wie heißen sie noch? Ach ja, genau! Studenten!«
»Ich weiß, Elsa«, sagte Henrik und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. »Es tut mir auch leid, wirklich. Aber diese Sache konnte einfach nicht warten. Uns fliegt gerade alles um die Ohren, und heute Morgen kam die Meldung rein, dass … Also, dass sie das Mädchen gefunden haben und …«
»Lieber Kommissar Andersson«, sagte Elsa und setzte ein unschuldiges Mädchenlächeln auf, »ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie da reden, das ist Ihnen schon klar, oder?«
»Natürlich, ja«, sagte Henrik und schüttelte den Kopf. »Entschuldige. Also von vorn und schön der Reihe nach, nicht wahr?«
»Das würde es erleichtern, ja.«
»Also, Elsa. Heute Morgen wurde die Leiche eines zehnjährigen Mädchens gefunden«, begann Henrik. »Man hat sie inzwischen als die von Marlis Olsson identifiziert, welche vor einer Woche von ihrer Mutter als vermisst gemeldet worden ist.«
»Okay«, sagte Elsa gedehnt.
»Leider, aber das hast du nicht von mir, haben ein paar Kollegen die Sache offenbar auf eine zu leichte Schulter genommen, zumindest am Anfang. Die Mutter des Mädchens ist in dem Viertel bekannt und da dachten sie wohl, die Kleine sei ihr ausgebüxt.«
»Bekannt?«, fragte Elsa. »Wie meinst du das?«
»Na ja, sie hat keinen allzu guten Ruf, genau genommen. Soll wohl hin und wieder gewisse Dienste gegen Entgelt angeboten haben, die von dem einen oder anderen Herrn aus der Nachbarschaft gern in Anspruch genommen wurden. Und angeblich soll sie sich auch öfter lautstark mit ihrer Tochter gestritten haben, besonders, wenn sie betrunken war. Solche Sachen eben.«
»Ah«, machte Elsa. »Solche Sachen also.«
»Ja«, seufzte Henrik. »Da wird man schnell zum schwarzen Schaf in einer Gegend wie Rostorp.«
»Verstehe. Und natürlich würde keiner der ehrbaren Mannsbilder aus der Nachbarschaft diese gewissen Dienste je offiziell in Anspruch nehmen, aber trotzdem wussten alle irgendwie davon. Und an der Schule, an die die Kleine ging, vermutlich auch.«
Henrik nickte bekümmert.
»So in etwa. Wir haben die Vermisstenanzeige natürlich aufgenommen. Aber als wir uns in der Nachbarschaft umgehört haben, sagten praktisch alle dasselbe aus. Zerrissen sich das Maul über die Frau, erzählten uns von den Streitigkeiten, und dem anderen, und die Beamten …«
Henrik machte eine vage Geste.
»Na ja, du weißt ja selbst, wie das ist, wenn die Kids in dem Alter von zu Hause wegrennen. Die müssen schon gefunden werden wollen …«
»Aber jetzt ist sie gefunden worden, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Henrik. »Von zwei Joggern aus dem Viertel, drüben in Rostorp. Die haben sie im Beijers Park aus einem Tümpel gefischt, so ein Schlammloch, das sich mit Regen gefüllt hatte, und das hat sie wohl irgendwie …« Henrik senkte die Stimme. »Und das hat die Leiche dann irgendwie nach oben gedrückt.«
Elsa nickte. Starker Tobak, das. Vermutlich auch für die beiden Freizeitsportler.
»Habt ihr schon irgendwas zum Täter? Einen Verdächtigen vielleicht?«
Henrik schüttelte den Kopf. »Keinerlei Hinweise bis jetzt. Mann fand allerdings an der Kleinen jede Menge Spuren.«
»Spuren von …?«
»Missbrauch, Elsa. Wobei ich es eher Folter nennen würde. Da waren Schnitte und …«
»Sperma?«
»Hm?«
»Habt ihr schon Spermaspuren gefunden? DNA?«
Wieder schüttelte Henrik langsam den Kopf.
»Und jetzt fliegt euch die Sache um die Ohren, weil …?«
»Weil das Erste, das diese Idioten in Jogginganzügen gemacht haben, war, es überall in Rostorp herumzuerzählen. Bevor wir uns versahen, war die Presse da, und ich meine nicht nur ein paar Fotojournalisten von irgendeinem Käseblatt. Sogar das Expressbladet war dort, das Fernsehen auch, richtig mit Ü-Wagen, das volle Programm.«
»Wow.«
»Ja, oder? Müssen es wohl bei Twitter oder so aufgeschnappt haben. Sogar die Mutter von der Kleinen haben sie vor die Kamera gezerrt, und was die über unsere Ermittlungen zu sagen hatte, war wenig schmeichelhaft, weder für uns noch für ihre Nachbarn. Die das natürlich mitbekamen, standen schließlich alle drum herum. Da gab es beinahe Ausschreitungen und die Presse hält natürlich immer schön drauf.«
»Gefundenes Fressen, wie?«
Henrik nickte.
»Das Ganze kochte derart hoch, dass wir eingreifen und die Frau erst mal in Gewahrsam nehmen mussten.«
Elsa pfiff leise durch die Zähne.
»Okay. Und wie soll ich euch da weiterhelfen?«, fragte sie dann.
»Du könntest einfach mal einen Blick drauf werfen. Dir den Bericht aus der Forensik anschauen, solche Sachen. Vielleicht lässt das irgendwelche Schlüsse auf den Täter zu. Sieh mal, wir haben ein echtes Problem. Wir müssen diesen Kerl schnappen, je eher desto besser. Und wir haben nichts bisher, überhaupt nichts.«
»Du meinst, ich soll mich in ihn hineinversetzen, ja? Und dann ein Profil von ihm erstellen oder so was.«
»So was in der Art, ja. Wenn das geht.«
»Ui«, machte Elsa und grinste. »Wie einer von diesen tollen Profilern aus dem Fernsehen?«
»Blödmann«, sagte Henrik.
»Tut mir leid«, sagte Elsa. »Ist ja auch nicht wirklich witzig, das Ganze. Ich kann’s mir ja mal ansehen, ob mir irgendetwas dazu einfällt. Bloß mach dir keine allzu großen Hoffnungen, ja?«
»Klar«, sagt Henrik, »danke.«
»Weiß Agnes denn Bescheid?«
»Ach«, sagte Henrik und hob die Arme in einer abwehrenden Geste, während er die Augen gen Himmel verdrehte. »Die hat nun wirklich genügend eigene Probleme im Moment. Die Sache mit dem Zeugen aus Rosengård ist drauf und dran, zum Politikum zu werden. Ich meine, bei allem, was da gerade sowieso schon abgeht, hat das gerade noch gefehlt, da hat sie sich echt was geleistet.«
»So schlimm?«
»Schlimmer.«
»Okay, aber ich muss mich trotzdem jetzt erst mal wieder um meine Studenten kümmern.«
»Verstehe ich.«
»Und du schuldest mir was, klar?«
Elsa musterte Henrik mit einem langen Blick, dann lächelte sie.
Er lächelte zurück, ein spitzbübisches Grinsen diesmal. »Wie wär’s mit Abendessen, heute?«
»Geht nicht«, sagte sie. »Da habe ich leider schon eine wichtige Verabredung.«
»Ach so«, sagte Henrik und gab sich keine allzu große Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.
»Aber Hunger habe ich auch jetzt schon«, sagte Elsa. Dann stand sie auf, packte den völlig verdutzten Henrik an der Hand und zog ihn hinter sich her aus der Cafeteria.
Sie stieß ihm ihren heißen Atem in den Nacken.
»Bist ein schlimmer Junge, was?«, hauchte sie in sein Ohr, während sie ihren Körper an ihn presste.
»Wie bitte?«, stöhnte er flüsternd zurück. »Du hast mich doch hier reingezerrt … und, oh fuck, Elsa! Was machst du …?«
Er stöhnte auf, als sie ihn mit ihren Beckenmuskeln bearbeitete.
»Wage es bloß nicht!«, flüsterte sie und stieß dann ihre Zungenspitze in sein Ohr, wohl wissend, was das bei ihm anrichten würde. Aber irgendwann musste er schließlich mal lernen, sich ein bisschen zu beherrschen. Oder auch nicht.
»Du bist verrückt«, stöhnte er, »das ist völlig verrückt! Auf dem Uniklo, ausgerechnet! Wenn nun jemand kommt …«
Nichtsdestotrotz hielt er ihren Hintern fest umklammert, während er sie gegen die Toilettenwand presste und sich mit kräftigen Stößen das holte, was er brauchte. Und sie, ganz ehrlich, brauchte es mindestens genauso dringend.
»Verhafte mich doch, Herr Polizist«, kicherte Elsa leise.
Henrik antwortete mit einem undefinierbaren Grunzlaut.
»Jeden … Moment … könnte hier … jemand reinkommen«, stöhnte Henrik zwischen schweren Atemstößen.
»Ich weiß«, flüsterte Elsa. »Hast du so etwas etwa nie gemacht auf dem Schulklo damals?«
»Was? Nein, natürlich nicht.«
»Ich auch nicht. Daher wollte ich es eben jetzt mal ausprobieren. Jetzt, wo du ein großer Junge bist und ich ein erwachsenes … oh, Gott, ja. Mach damit weiter«, wimmerte sie, während sie ihre Arme um seinen Hals schlang und die kräftigen Muskeln spürte, welche sich unter seiner erhitzten Haut bewegten. Wenn er das nur halb so erregend fand wie sie, hielt er heute wirklich außergewöhnlich lange durch, dachte Elsa und schloss genießerisch die Augen.
Er hatte ihren Rock weiter nach oben geschoben und war ein Stück zurückgetreten. Der Winkel, in dem er sie jetzt nahm, war einfach der Wahnsinn. Einmal ganz von den durch und durch verruchten Umständen abgesehen.
»Gleich …«, stöhnte sie mit geschlossenen Augen. »Bin … gleich … so weit, oh.«
Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Im Ernst?«, fragte er ungläubig.
»Blödmann!«, zischte sie. »Halt einfach die Klappe und mach weiter.«
Und das tat er.
Als seine Stöße kräftiger und zunehmend unkontrollierter wurden, war sie tatsächlich kurz davor. Er packte sie an ihren Oberarmen, drückte das vernarbte Gewebe dort zusammen und sie krallte ihre Nägel in seinen Hals. Das würde ebenfalls Spuren hinterlassen, und wenn schon.
Sie spürte noch, dass auch er die Kontrolle verlor, hörte, wie sich ein kräftiges Stöhnen seiner Brust entrang – das man vermutlich auch auf dem Gang draußen hatte hören können, aber wen interessierte das jetzt – und dann ging alles in ihrem Höhepunkt unter.
Als sie die Augen wieder aufschlug, presste er sich zitternd an sie. Sie küsste seinen Hals, knabberte daran herum, schmeckte den Schweiß auf seiner Haut. Nicht schlecht dieses Mal, wirklich.
»Hab ich geschrien?«, fragte sie lächelnd, als sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen waren.
»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Aber beinahe. Ich musste dir den Mund zuhalten.«
»Braver Junge. Und jetzt lass mich runter.«
Er tat es, seine Bewegungen sanft und beinahe vorsichtig jetzt, ganz anders als noch vor ein paar Minuten, als er sie einfach in die Ecke der Kabine gedrückt hatte, als wollte er sie zerquetschen.
Sie zog ihren Rock nach unten, er seine Hose hoch.
»Fuck, Elsa, das war der Wahnsinn«, flüsterte Henrik. »Scheiße, ich komme mir vor wie ein Student, der gerade …«
Sie lachte ihn an.
»Na, dann stopf dir mal in Ruhe das Hemd in die Hose, Herr Student«, sagte Elsa. »Ich muss mich jetzt nämlich ein bisschen frisch machen und dann zurück in die Vorlesung, weißt du?«
»Wahnsinn war das«, murmelte Henrik noch einmal.
Sie sperrte die Kabine auf und lugte durch den Türspalt nach draußen. Die Luft war rein. Noch war Vorlesungszeit, keiner außer ihnen war hier. Glück gehabt.
»Das mit dem Essen ist aber nur aufgeschoben, nicht aufgehoben«, ermahnte sie Henrik lächelnd.
»Klar, Elsa«, sagte der, »wie seh ich aus?«
Sie maß ihm einen raschen Blick zu.
»Gut«, sagte sie und gab ihm einen schnellen Kuss auf den Mund, während sie sein Haar zerzauste. »Wie frisch gefickt.«
Dann schlüpfte sie lachend aus der Kabine.
10. November
»Gott sei Dank, dass du da bist«, sagte Henrik, als er sie an der Anmeldung abholte, wo man Elsa ihren Besucherausweis ausgehändigt hatte.
»Ganz schön was los hier«, sagte Elsa und nickte in Richtung des Flurs. Die Hektik, die heute herrschte, war nicht zu übersehen, und dabei war das Revier im Sallerupsvägen nun wirklich kein Ort, an dem es irgendwann einmal besonders ruhig zuging. Aber jetzt herrschte die rege Aufruhr. Uniformierte Polizisten und welche in Zivil hasteten mit gehetzten Blicken durch den Flur, die meisten hatten noch nicht einmal ihren obligatorischen Morgenkaffee in der Hand. Telefone schrillten nahezu durchgängig, dazwischen ereiferten sich allerlei Verhaftete, wie lange man sie eigentlich noch sitzen lassen wolle.
Dazu die drückende, stickige Hitze von zu vielen Menschen in einem nicht gelüfteten und schon gar nicht klimatisierten Raum. Das gnadenlose Licht der Neonröhren an der Decke verpasste allen Anwesenden gleichermaßen ein zombiehaftes Aussehen: kalkweiße Gesichter mit viel zu tief liegenden Augen. Es roch nach Schweiß und den Ausdünstungen zu vieler durchgemachter Nächte.
Und davon abgesehen: Irgendetwas anderes lag ganz gewaltig in der Luft, das war beinahe körperlich zu spüren.