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Eine unerbittliche Jagd nach der Wahrheit …
Drei packende Kriminalfälle von David Seinsche in einem Band!
So tödlich der Wald
In einem kleinen Provinzort in Ostfinnland wird ein Mensch auf der Jagd erschossen. Was zuerst wie ein normaler Unfall wirkt, entpuppt sich als gezielter Mord. Johannes Burgmeister, ein in Finnland urlaubender Oberkommissar aus Deutschland, wird zu den Ermittlungen hinzugezogen. Bei seinem Einsatz merkt der Kommissar allerdings schnell, dass nicht nur die Sprachbarriere hinderlich ist. Die Einwohner von Nurmes haben etwas zu verbergen, was um keinen Preis an die Öffentlichkeit geraten darf …
Ihr seidschuldig
Als ein bekannter Vergewaltiger kurz nach seiner Freisprechung brutal ermordet wird, übernehmen die erfahrenen FBI-Agents Carl Maddox und Nici Fulton den Fall. Schnell ergibt sich eine Verbindung zu einem anderen Fall, bei dem ein Mehrfachmörder, der wegen eines Verfahrensfehler davongekommen ist, tot aufgefunden wird. Alles spricht dafür, dass jemand die Justiz auf brutale Weise selbst in die Hand nimmt. Doch der Täter ist vorsichtig und weiß, was er tut, sodass Maddox und Fulton trotz wachsender Opferzahl im Dunkeln tappen. Erst als sie aufs Ganze gehen, kommen sie dem Vigilanten langsam auf die Spur, doch geraten dabei selbst ins Visier des Mörders …
Der Beißer
In einem Vorort von Washington, D.C. wird der grausam zugerichtete Leichnam des 20-jährigen Sohnes von Senator William P. Fitzroy entdeckt. Mit Bisswunden übersät und verstümmelt, stellt dieser Mord die FBI Special Agents Frank Bernstein und Pete Hancock vor ein Rätsel. Kurz darauf folgt ein weiterer Mord nach dem gleichen Muster – eine junge Senatorin wird ebenfalls brutal zugerichtet. Während die Presse sich auf die Story stürzt und die Verschwörungstheorien wuchern, kämpfen Bernstein und Hancock gegen eine Mauer des Schweigens sowie politische Intrigen. Können sie den perfiden Täter aufspüren, bevor die Mordserie außer Kontrolle gerät?
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Romans Die Bestie.
Erste Leser:innenstimmen
„Finstere Atmosphäre, hochspannender Fall und sympathische Charaktere: Krimi-Fans werden nicht enttäuscht!“ (So tödlich der Wald)
„Wer gerne Krimis und Thriller über Serienmörder liest, sollte hier dringend zuschlagen.“ (Ihr seid schuldig)
„Rasanter Krimi-Thriller, bei dem man den Ausgang des Falls wahrlich nicht vorhersehen konnte.“ (Die Bestie)
„Das düstere Finnland eignet sich perfekt für einen spannenden Ermittlerkrimi!“ (So tödlich der Wald)
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Seitenzahl: 1330
So tödlich der Wald
In einem kleinen Provinzort in Ostfinnland wird ein Mensch auf der Jagd erschossen. Was zuerst wie ein normaler Unfall wirkt, entpuppt sich als gezielter Mord. Johannes Burgmeister, ein in Finnland urlaubender Oberkommissar aus Deutschland, wird zu den Ermittlungen hinzugezogen. Bei seinem Einsatz merkt der Kommissar allerdings schnell, dass nicht nur die Sprachbarriere hinderlich ist. Die Einwohner von Nurmes haben etwas zu verbergen, was um keinen Preis an die Öffentlichkeit geraten darf …
Ihr seidschuldig
Als ein bekannter Vergewaltiger kurz nach seiner Freisprechung brutal ermordet wird, übernehmen die erfahrenen FBI-Agents Carl Maddox und Nici Fulton den Fall. Schnell ergibt sich eine Verbindung zu einem anderen Fall, bei dem ein Mehrfachmörder, der wegen eines Verfahrensfehler davongekommen ist, tot aufgefunden wird. Alles spricht dafür, dass jemand die Justiz auf brutale Weise selbst in die Hand nimmt. Doch der Täter ist vorsichtig und weiß, was er tut, sodass Maddox und Fulton trotz wachsender Opferzahl im Dunkeln tappen. Erst als sie aufs Ganze gehen, kommen sie dem Vigilanten langsam auf die Spur, doch geraten dabei selbst ins Visier des Mörders …
Der Beißer
In einem Vorort von Washington, D.C. wird der grausam zugerichtete Leichnam des 20-jährigen Sohnes von Senator William P. Fitzroy entdeckt. Mit Bisswunden übersät und verstümmelt, stellt dieser Mord die FBI Special Agents Frank Bernstein und Pete Hancock vor ein Rätsel. Kurz darauf folgt ein weiterer Mord nach dem gleichen Muster – eine junge Senatorin wird ebenfalls brutal zugerichtet. Während die Presse sich auf die Story stürzt und die Verschwörungstheorien wuchern, kämpfen Bernstein und Hancock gegen eine Mauer des Schweigens sowie politische Intrigen. Können sie den perfiden Täter aufspüren, bevor die Mordserie außer Kontrolle gerät?
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Romans Die Bestie.
Erstausgabe August 2024
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-662-6
Dieses Bundle enthält die Romane Der Beißer (ISBN 978-3-98998-205-5), So tödlich der Wald (ISBN 978-3-98637-728-1) und Ihr seid schuldig (ISBN 978-3-98637-513-3), die 2022/2023 im dp Verlag, einem Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH, erschienen sind.
Covergestaltung: Nadine Most unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Husjak, © SvetaZi, © Madredus, © Vector Tradition Lektorat: Astrid Pfister
E-Book-Version 20.09.2024, 19:57:24.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Das kleine Zimmer, in dem sich Johannes Burgmeister befand, roch muffig. Nicht verwunderlich, war es doch Teil eines Kellers, der sich unterhalb eines abgehalfterten Hochhauses in einer der schlimmsten Gegenden Münchens befand.
Hier hat bestimmt seit Jahren niemand mehr ordentlich durchgelüftet, dachte er, und warf einen Blick auf das schmale Fenster, das sich zu seiner Rechten in einer Höhe von rund zweieinhalb Metern befand.
Das Glas war so verschmutzt, dass man nur mit einiger Fantasie den blauen Himmel sehen konnte, und die Schmutzränder waren so verkrustet, dass man das Fenster bestimmt nur noch mit dem Einsatz massiver Gewalt öffnen konnte. Falls der Mechanismus überhaupt noch funktionierte, denn der verrostete Griff flößte Burgmeister nicht gerade ein Gefühl von Zuversicht ein. Die nackte Glühbirne, die in der Mitte des Raumes matt in ihrer Fassung leuchtete und immer wieder flackerte, half auch nicht, diesen Eindruck zu ändern. Aber er war schließlich nicht hier, um sich als Innenausstatter zu betätigen, sondern um ein Geschäft zum Abschluss zu bringen. Ein Geschäft, an dem er viele Monate gearbeitet hatte.
»Hast du das Geld?«, fragte sein Gegenüber, ein stämmiger Mann, der noch nicht einmal sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr erreicht hatte, wie Burgmeister wusste, dafür aber schon unter massivem Haarausfall litt. Der Mann saß hinter einem wackeligen Plastiktisch, während hinter ihm zwei muskulöse über zwei Meter große Männer mit Sonnenbrillen standen.
Solche Trottel, sagte Burgmeister zu sich selbst. Wollen gefährlich aussehen, aber wenn etwas passiert, checken die gar nicht, was los ist, so dämmerig, wie es hier ist.
»Klar«, antwortete er selbstbewusst und hielt zur Unterstreichung seiner Aussage einen schwarzen, unscheinbaren Reisekoffer hoch. »Hast du den Stoff?«
Der Mann, der sich selbst Jochen nannte, sagte nichts, sondern drehte demonstrativ den Kopf zur Seite und nickte kurz. Direkt zu seinen Füßen, befand sich eine Sporttasche.
»Zeig ihn mir«, forderte Burgmeister ihn auf.
Jochen, der in manchen Kreisen auch aufgrund seiner großen Hände Der Rochen genannt wurde, rührte sich nicht von der Stelle. »Erst das Geld«, sagte er.
Burgmeister zuckte mit den Schultern, legte den Koffer auf den Tisch, öffnete ihn und drehte ihn dann so, dass sein Gegenüber einen Blick hineinwerfen konnte.
»Wie viel ist das?«, wollte Jochen wissen.
»Exakt das, was wir vereinbart haben«, antwortete Burgmeister. »Hundert Euro pro Gramm. Jetzt du.«
Der stämmige Mann beugte sich zur Seite und hob die Sporttasche hoch, dann zog er den Reißverschluss auf und offenbarte ihm den Inhalt.
»Wie abgesprochen«, verkündete er. »Drei Kilo reinstes Kokain.«
Burgmeister sah kurz in die Tasche und begutachtete die zahlreichen, mit weißem Pulver gefüllten Päckchen. »Wer garantiert mir, dass du mich nicht verarschst?«
»Ich bin ein Ehrenmann«, antwortete Jochen und legte eine der massigen Hände auf die Brust. »Du kannst gerne probieren. Solltest du später eine Beschwerde haben, kannst du dich ja an den Kundendienst wenden. Die helfen immer gern weiter.«
Die beiden Gorillas hinter ihm kicherten leise wegen dieser humoristischen Darbietung.
Burgmeister, der die Aussage nicht im Mindesten witzig fand, setzte trotzdem ein Lächeln auf. »Guter Scherz. Okay, dann nehme ich die Tasche jetzt und gehe.«
»Willst du nicht noch auf einen Kaffee bleiben und ein wenig Small Talk machen?«
»Eigentlich nicht«, gab Burgmeister zurück. »Ich habe keine Lust, länger in diesem Loch zu verweilen als nötig.«
»Schade. Ich wollte dir nämlich einen Vorschlag machen«, sagte Jochen jetzt und lehnte sich zurück.
»Und der wäre?«, fragte Burgmeister, alle Sinne in Alarmbereitschaft.
»Es wäre eine kleine Abweichung von unserer Vereinbarung. Was hältst du davon, wenn ich das Geld und das Koks nehme, und du verbringst noch etwas Zeit mit meinen Freunden? Sie würden dich nämlich gern näher kennenlernen.«
»Vielen Dank, aber ich bin nicht schwul«, gab Burgmeister trocken zurück und griff nach der Tasche.
»Das war kein Angebot«, erklärte der stämmige Mann und legte eine Hand schwer auf die Reisetasche.
Das leichte Lächeln, das er bisher zur Schau getragen hatte, war nun einem grimmigen Gesichtsausdruck gewichen.
»Wenn ich es mir recht überlege, klingt dein Vorschlag ziemlich interessant«, erwiderte Burgmeister. »Aber nur, wenn meine Freunde auch dazukommen dürfen.«
Zwei Sekunden später wurde die rostige Metalltür am Eingang des Zimmers nach innen aufgestoßen, und vier weitere Sekunden später war es gefüllt mit fünf weiteren Männern, alle gekleidet in die Uniform der polizeilichen Eingreiftruppe.
»Darf ich mich vielleicht vorstellen?«, fragte Burgmeister und fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Du kennst mich zwar unter dem Namen Max Gärner, aber mein richtiger Name ist Polizeioberkommissar Johannes Burgmeister. Mein Beruf ist es Leute wie dich und deine Kumpanen hinter Gitter zu bringen.«
Jochen verzog keine Miene und ließ seine Hand auf der Tasche liegen. Dann zog er die Mundwinkel nach oben und entblößte dabei eine Reihe blitzweißer Zähne, die so gerade standen, dass sie einer Truppe von Soldaten ähnelten. »Denkst du wirklich, dass ich nicht weiß, wer du bist?«, fragte er. Dann rief er laut: »JUNGS!«
Kurz darauf brach die Hölle los. Aus einem Nebenraum, dessen Tür von einem hohen Karton verdeckt gewesen war, stürmten plötzlich drei bewaffnete Männer herein und eröffneten umgehend das Feuer. Die fünf Polizisten sowie Burgmeister reagierten nur eine halbe Sekunde verzögert und begannen ebenfalls, ihre Waffen abzufeuern. Die Kugeln pfiffen durch die Luft und bohrten sich teilweise in den unverputzten Zement an den Wänden, teilweise aber auch in Fleisch. Die Luft war erfüllt von gebrüllten Befehlen, dem Widerhallen zahlreicher Schüsse und dem Geräusch, von sterbenden Menschen.
Das Feuergefecht dauerte nur zwanzig Sekunden, aber für Burgmeister fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Als alles vorbei war, war der Raum gefüllt mit Leichen.
Der Oberkommissar, der wie durch ein Wunder nicht getroffen worden war, betrachtete fassungslos das Blutbad.
»Scheiße«, entfuhr es ihm.
Es war kurz vor fünf Uhr morgens, und das Land lag friedlich da. Von den frisch abgeernteten Feldern stiegen dichte Nebelschwaden auf und vermischten sich mit den zarten Sonnenstrahlen der frühen Herbstsonne. Vor wenigen Tagen hatte offiziell die jährliche Elchjagd-Saison begonnen, und allerorten rückten die lokalen Vereine aus, um ihren Anteil an der staatlich festgelegten Beute zu erhalten. Die Elchjagd war seit vielen Jahren per Gesetz reguliert, da es in Finnland nicht viele Raubtiere gab, die diesen majestätischen Tieren gefährlich werden konnten und die Population auf diese Weise unter Kontrolle gehalten werden musste, um Verkehrsunfälle und von Elchen verursachte Forstwirtschaftsschäden so gut wie möglich zu begrenzen.
Rund zehn Kilometer außerhalb der in der nordkarelischen Provinz gelegenen Kleinstadt Nurmes befand sich eines der freigegebenen Jagdgebiete. Am Straßenrand der Kuhmontie, die sich von Süd nach Nord zog, standen zwanzig Pick-up-Trucks aufgereiht da. Die zugehörigen Eigentümer, allesamt Männer und Mitglieder des lokalen Jagdvereins, trafen gerade die letzten Vorbereitungen für die heutige Jagd und überprüften ihre Waffen und Ausrüstung auf vollständige Funktionstüchtigkeit. Natürlich hatten sie dies bereits zu Hause getan, aber es gehörte einfach dazu, direkt vor einer Pirsch noch einmal alles zu überprüfen.
Angeführt wurden sie von einem Mittsechziger namens Pekka Nevalainen, der schon so lange Vorsitzender des Vereins war, dass sich die jüngeren Mitglieder nicht mehr an seinen Vorgänger erinnern konnten. Nevalainen war ein Bär von einem Mann. Er war groß, breitschultrig, trug sein Haupthaar zu kurzen Borsten geschnitten und seinen Vollbart hingegen so lang, dass er ihm bis über die Brust reichte. Für die Jagd hatte er seine wallenden Barthaare zusammengebunden, damit sie ihn nicht bei der Pirsch behinderten.
Um die großen und durchaus scheuen Tiere im unwegsamen und von Menschen kaum berührten Nadel- und Laubwald zu finden, hatten die Jäger einige abgerichtete Hunde mitgebracht, denen man anmerkte, wie sehr sie sich danach sehnten, endlich loslegen zu dürfen. Die Männer – Frauen waren in diesem Verein nicht zur Jagd zugelassen – waren guter Dinge und freuten sich auf die Pirsch. Nicht etwa, weil sie besonders blutrünstig waren, sondern weil es sich um ein traditionelles Handwerk handelte, das einen nicht unwichtigen Teil der finnischen Kultur bildete.
Nevalainen blickte sich aus gelassenen, beinahe wasserblauen Augen um und zählte die Anwesenden, die er selbstverständlich alle mit Namen kannte. Nachdem er registriert hatte, dass alle Teilnehmer bereit waren, stieß er einen hohen Pfiff aus, um die Aufmerksamkeit der Jäger auf sich zu lenken.
»Huomenta«, sagte er auf Finnisch, was mit einem einfachen »Guten Morgen« übersetzt werden konnte.
Als sich alle Männer um ihn versammelt hatten, erklärte er, wie die heutige Jagd vor sich gehen würde. Die Teilnehmer würden in vier Gruppen zu je fünf Mann aufgeteilt werden. Drei der Trupps sollten von altgedienten Mitgliedern des Vereins angeführt werden, während Nevalainen ebenfalls eine Gruppe anführen und gleichzeitig die Hauptverantwortung tragen würde. Um sich nicht aus den Augen zu verlieren, aber dennoch ein weites Gebiet abdecken zu können, würden sich die einzelnen Trupp-Mitglieder in einem Abstand von zehn Metern zueinander positionieren, und jeder Zweite würde einen Hund bei sich haben. Zwischen den Gruppen würde wiederum ein Abstand von vierzig Metern bestehen. Als sich alle an ihre Position begeben hatten, pfiff der Vereinsvorsitzende erneut und gab damit das Signal zum Aufbruch.
Wie ein Mann gingen die Gruppen gleichzeitig los und traten in den dichten Wald hinein. Obwohl die Hunde ungeduldig waren, waren sie trainiert genug, dass sie weder an ihren Leinen zerrten noch laut bellten. Oftmals dauerte eine Jagd mehrere Stunden, denn die Elche in der Gegend schienen zu spüren, was ihnen bevorstand, und begaben sich oft tief in die Wälder hinein.
Nach einiger Zeit stand die Sonne hoch am Himmel und hatte die letzten Nebelschwaden schon lange vertrieben, als Nevalainen seiner eigenen Gruppe eine Rast befahl und die anderen Trupps über Funk ebenfalls davon in Kenntnis setzte. Die Männer setzten sich auf Steine, die man oft in den finnischen Wäldern als Überbleibsel der letzten Eiszeit fand, sowie auf umgestürzte und mit Moos bewachsene Bäume und packten ihre Brotboxen und Trinkflaschen aus. Bisher hatten die Hunde noch keine Witterung aufgenommen, was aber niemanden sonderlich zu beunruhigen schien. Obwohl die Jagdteilnehmer guter Dinge waren, sprachen sie nur das Nötigste miteinander und führten ihre Tätigkeiten präzise und leise aus, schließlich wollten sie die Elche nicht aufschrecken.
Der Wald lag still da, und nicht einmal die Vögel schienen Lust zu haben, ihr Lied zu singen.
Plötzlich krachte es, als ob ein Blitz eingeschlagen hätte.
Die Männer sahen sich verwirrt um und blickten dann zum Himmel, aber da war nicht einmal ein Wölkchen zu sehen. Schließlich dämmerte ihnen, dass es sich um einen Schuss gehandelt haben musste. Da die einzelnen Jagdgruppen inzwischen über ein Gebiet von mehreren Kilometern verteilt waren, waren die Truppführer über Funk miteinander verbunden und nahmen umgehend Kontakt zueinander auf. Einer nach dem anderen bestätigte, dass niemand von ihren Leuten geschossen hatte.
Schnell kam daher die Frage auf, ob es noch weitere Jagdgruppen geben könnte, von denen sie nichts wussten. Das war aber unwahrscheinlich, schließlich meldete sich jeder, der auf die Elchjagd gehen wollte, bei dem örtlichen Verein an, so verlangte es eine ungeschriebene Vereinbarung. Der Verdacht machte sich breit, dass es sich um Wilderer handeln könne. Davon gab es leider viel zu viele, und trotz eines Teams aus Sonderermittlern hatte es die Polizei bisher nicht geschafft, nennenswerte Erfolge vorzuweisen. Nach kurzer Beratung mit den anderen Truppführern fasste Nevalainen einen Entschluss und gebot den Hundeführern, die Tiere von der Leine zu lassen. Die Jagdhunde, endlich befreit, sprinteten sofort los und preschten in den unwegsamen Wald hinein. Ihre Herren folgten ihnen, so gut es ging, verloren die Tiere im dichten Gehölz aber bald aus den Augen. Nach einigen Minuten gaben es die Männer auf, über den unebenen Waldboden zu rennen, und gingen stattdessen im schnellen Schritt weiter, die Gewehre locker in der Armbeuge haltend. Es dauerte mehr als zwanzig Minuten, bis die Hunde endlich zu bellen anfingen, als Signal, dass sie etwas gefunden hatten. Die Männer traten auf eine kleine Lichtung und sahen, dass sich die Tiere im Halbkreis um ein am Boden liegendes Etwas versammelt hatten. Erst, als ihnen die Hundeführer per Handzeichen signalisierten, still zu sein, hörten sie mit dem Bellen auf, blieben aber immer noch in angespannter Haltung um ihren Fund herum stehen.
Der Vereinsvorsitzende trat ebenfalls hinzu und rechnete damit, ein totes Wild zu finden. Umso erstaunter war er, als er erkannte, um was es sich tatsächlich handelte. Vor ihm, rücklings auf dem Boden ausgestreckt, lag eine menschliche Leiche.
»Perkele!«, fluchte einer der Jäger, der gerade hinter dem Vereinsvorsitzenden aus dem Dickicht kam.
Als schließlich auch die anderen Gruppen angekommen waren, war Nevalainen bereits damit beschäftigt, sich den Toten genauer anzusehen. Er war männlich und schätzungsweise dreißig Jahre alt. Sein Gesicht war glattrasiert und zu einer merkwürdigen Fratze verzogen, so als sei er überraschend gestorben. Dem großen Einschussloch in seiner Brust nach zu urteilen, war er nicht auf natürlichem Wege umgekommen. Der Vereinsvorsitzende erkannte sofort, dass das Kaliber, mit dem der Mann erschossen worden war, von einem Jagdgewehr stammen musste, wie es sie in Finnland zuhauf gab. Er wollte gerade in die Knie gehen und die Leiche anfassen, hielt dann aber inne und besann sich eines Besseren. Über Funk kontaktierte er eines der jüngsten Mitglieder, das am Waldrand zurückgeblieben war, um auf die Autos und die mitgebrachte Ausrüstung aufzupassen. Er teilte ihm nur das Nötigste mit und wies ihn an, die Polizei zu rufen. Am Ende gab er noch seine Standortkoordinaten durch, die er von seinem am Gürtel befestigten GPS ablas.
»Na super«, murmelte Johannes Burgmeister, als er träge blinzelnd den Vorhang ein Stück zur Seite schob und aus dem Fenster sah. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, war es schon Mittag. Allerdings konnte man das in Finnland um diese Jahreszeit nie so genau wissen, vor allem nicht, wenn man wie er bisher nur kurze Zeit in dem nordischen Land verbracht hatte. Um sich zu vergewissern, warf er einen Blick auf die neben seinem Bett stehende Uhr. Tatsächlich war es bereits kurz nach vierzehn Uhr. Er hatte also über zehn Stunden geschlafen. Das war allerdings nicht weiter verwunderlich, da er gestern erst mitten in der Nacht zurückgekommen und direkt ins Bett gefallen war, kaum dass er es geschafft hatte, seine Kleidung auszuziehen. Langsam setzte er sich auf, rieb sich die müden Augen, wühlte durch seine Haare und stieg dann benommen aus dem Bett. Beinahe wäre er hingefallen, doch er konnte sich gerade noch am Bettpfosten festhalten.
»Alter«, sagte er leise, gähnte ausgiebig und beugte mehrfach langsam seine Beine, um die Durchblutung anzuregen.
Als das Kribbeln in seinen Unterschenkeln aufgehört hatte, stieg er vorsichtig über die auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke und tappte über den kühlen Holzboden ins Bad. Dort tastete er an der Wand neben der Tür herum, um den Lichtschalter zu finden, denn in diesem Raum gab es kein Fenster, das Tageslicht hätte hereinlassen können.
»Wo ist denn das verdammte Ding?«, murmelte er.
Schließlich fand er den Schalter, drückte ihn tief in die Fassung und das Oberlicht flammte auf. Es war so grell, dass er unwillkürlich die Augen zusammenkniff und gleichzeitig den Elektriker sowie den Besitzer des Hauses verfluchte. Als sich seine Augen weitgehend an die brutale Helligkeit gewöhnt hatten, beugte er sich über das Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und ließ das eiskalte Wasser in seine zu einem Trichter geformten Hände laufen. Einer Schaufel gleich hob er die Hände hoch und schüttete sich das kühle Nass ins Gesicht. Diese Prozedur wiederholte er noch einige Male, bis er das Gefühl hatte, einigermaßen erfrischt zu sein. Dann drehte er den Hahn wieder zu und richtete sich auf. Der Mann, der ihn aus dem Spiegel heraus anblickte, sah aus, als hätte er seine besten Jahre bereits lange hinter sich. Unter den Augen befanden sich so dunkle Ringe, dass man denken konnte, Burgmeister hätte sich für ein Goth-Treffen geschminkt. Die dunklen Haare, die normalerweise kurz geschnitten waren, waren in den vergangenen Wochen gewachsen und sahen aus, als würden sie einem unter Strom gesetzten Eichhörnchen gehören. Auf seiner Stirn hatten sich tiefe Falten eingegraben, die den Oberkommissar unwillkürlich an die Schützengräben des Ersten Weltkriegs erinnerten, die er einmal bei einem Urlaub in Ost-Frankreich besucht hatte.
Seine Nase stand leicht schief, was einer Schlägerei vor mehreren Jahren geschuldet war. Die Lippen waren schmal und leicht nach unten gezogen, was ihm den Ausdruck eines missmutigen Menschen verlieh, der im Leben nicht viel zu lachen hatte.
Hast du ja auch nicht, dachte er.
Das seiner Meinung nach Interessanteste und noch immer Schönste an ihm waren seine Augen. Diese glichen farblich reifen Kastanien, lagen vergleichsweise tief in ihren Höhlen und bescherten ihm einen nicht unerheblichen Erfolg bei Frauen. Zumindest vermutete er das, denn er war seit einigen Jahren verheiratet, und bei seiner Arbeit hatte er vor allem mit Männern zu tun. Burgmeister wandte sich ab und stieg in die kleine Duschkabine, wobei der Begriff Kabine in diesem Zusammenhang übertrieben erschien, denn viel eher handelte es sich dabei um eine mit einem Vorhang abgetrennte Ecke, in deren Boden sich ein vergitterter Abfluss befand. Während er das warme Wasser genoss und dem gleichmäßigen Brummen der Wasserpumpe lauschte, dachte er an den vergangenen Abend zurück.
Ursprünglich hatte er nur vorgehabt, zur örtlichen ABC-Tankstelle zu fahren und sich zwei Dosen Bier und eine Tiefkühlpizza zu holen. Doch dann war er irgendwie dort hängengeblieben, als der Kassierer, der, wie er im Laufe des Abends erfahren hatte, Mika hieß und einige Jahre in Deutschland studiert hatte, ihn auf einen Drink eingeladen hatte. Aus einem Glas waren schließlich mehrere geworden, und immer mehr von Mikas Freunden hatten sich dort eingefunden. Letzten Endes war Burgmeister so betrunken gewesen, dass er es nicht mehr allein geschafft hatte, in seine Unterkunft zu gelangen.
»Geile Nacht«, sagte er laut und grinste schief. Als das Duschwasser langsam kühler wurde und sich die Pumpe dem Geräusch nach zu urteilen immer mehr abmühte, drehte er die Dusche ab, band sich ein Handtuch um die Hüften und ging zurück in das Hauptzimmer, einem Raum mit dem Ausmaß von stattlichen zehn Quadratmetern. Vor etwa zwei Wochen war er nach Nurmes gekommen und hatte ein wenig außerhalb des knapp achttausend Einwohner zählenden Ortes eine kleine Hütte gemietet. In unmittelbarer Nähe befand sich das Break Sokos Hotel Bomba, ein Ressort am Nordufer des Pielinen-Sees, der unter den rund einhundertsiebenundsiebzigtausend Gewässern Finnlands komfortabel den vierten Platz einnimmt und zum Nationalerbe gehört. Er wusste von diversen Reiseseiten im Internet, dass man hier gut Hechte und Zander, aber auch Binnenlachse und Bachforellen angeln konnte. Nicht, dass ihn das sonderlich interessierte, denn das Einzige, was er von Fischen wusste, war, dass man sie essen konnte. Als Oberkommissar der Münchner Polizei hätte er sich auch im Bomba-Hotel ein Zimmer leisten können, aber er war kein großer Freund davon, viel Geld auszugeben, und außerdem benötigte er keinen Luxus. Das war neben einer Vielzahl an anderen Dingen etwas, was ihm seine Frau nahezu täglich vorwarf. Burgmeister öffnete das breite Fenster und atmete die frische Luft, die vom See herübergeweht kam, tief ein. So eine saubere Luft gab es in München einfach nicht, und so eine Ruhe erst recht nicht, dachte er, während er seine Kleidung vom Fußboden aufklaubte und sich anzog. Als er sich seine Hose, sein Shirt, seine Windjacke und seine Schuhe übergezogen hatte, überprüfte er, ob er seinen Zimmerschlüssel und seine Geldbörse bei sich hatte, und verließ dann die Hütte. Da es bereits Herbst war, war es draußen schon relativ kühl. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch, atmete nochmals tief ein und wandte sich dann in Richtung des Bomba-Restaurants, welches nur wenige Hundert Meter entfernt erbaut worden war. Der Beamte hatte einen Bärenhunger und stapfte daher zielstrebig den Pfad entlang an der Hotelanlage vorbei. Zu dieser Jahreszeit war der Sommer praktisch schon vorbei, und die Nächte konnten bereits empfindlich kühl werden. Dennoch waren überall Touristen unterwegs. Der Sprache nach zu urteilen, in der sie sich unterhielten, stammten sie irgendwo aus Osteuropa. Er tippte auf Russland, war sich aber nicht sicher, und eigentlich war es ihm auch egal. Eine Gruppe Kleinkinder tollte auf dem am Weg befindlichen Spielplatz herum, und er hielt kurz inne, um ihnen bei ihrem Treiben zuzusehen. Beim Anblick der spielenden Kinder dachte er unwillkürlich an seine Tochter, die jetzt gerade sicher in der Schule war und sich auf das Leben vorbereiten ließ. Oder, wie er es nannte, den Drill über sich ergehen ließ. Burgmeister schüttelte kurz den Kopf, um die aufkommende Wehmut zu vertreiben, und ging dann weiter, bis er an seinem Ziel angekommen war. Das zweistöckige und aus Holz gefertigte Gebäude stammte aus den späten neunzehnhundertsiebziger Jahren und war ein exakter Nachbau des Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Russland von Jegor Bombin errichteten Bomba-Hauses. Die Kopie, die in Nurmes stand, diente sowohl als Restaurant für Laufkundschaft, als auch als Standort für unterschiedlichste Veranstaltungen. Im Sommer gab es hier oft Theatervorstellungen und traditionelle Folklore zu bestaunen, während man im Winter von hier aus Schnee-Langlaufen oder die Umgebung auf einem Schneemobil erkunden konnte. Auch Wanderwege fanden sich hier zuhauf, und ein Golfplatz, auf dem man seine Fähigkeiten ausbauen konnte und der zu den besten Plätzen in ganz Finnland zählte.
Doch nichts davon interessierte Burgmeister, als er durch den Haupteingang des Bomba-Hauses trat. Den kleinen Souvenirladen zu seiner Linken ließ er unbeachtet und wandte sich direkt zum Restaurantbereich, der sich in einem großen, über zwei Stockwerke gehenden Raum befand. Er suchte sich einen Tisch in der Ecke aus und wartete darauf, dass die Bedienung vorbeikam, während er bereits die Speisekarte studierte. Er hatte sich gerade etwas aussuchen wollen, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Er zog es hervor und warf einen Blick auf den kleinen Bildschirm. Es war die Nummer seiner Frau. Genervt legte er das Handy neben sich auf den Tisch, betrachtete weiter die Speisekarte und wartete darauf, bis sein Telefon aufhörte, langsam über den Tisch zu wandern. Als die Anruferin auch nach zwei Minuten noch nicht aufgegeben hatte, begann Burgmeister langsam, sich Gedanken zu machen. Was wollte seine Frau so früh von ihm? War vielleicht etwas mit seiner Tochter? Schlagartig regte sich sein Gewissen. Schließlich nahm er das Handy wieder in die Hand und drückte auf den Annehmen-Knopf.
»Na endlich«, ertönte die Stimme seiner Frau aus dem Lautsprecher.
»Freut mich auch, dich zu hören«, antwortete der Polizist. »Wie geht es dir an diesem wunderschönen Tag, mein Schatz?«
»Hör gefälligst auf damit.«
»Okay«, lenkte er ein. »Was willst du? Ist irgendwas mit Janine?«
»Deiner Tochter geht es gut. Ich will nur wissen, wo du gerade steckst.«
»Was geht es dich an?«, fragte er unwirsch.
»Ganz einfach. Wenn dir was passiert, dann bin ich für die Beerdigung verantwortlich, und ich habe keine Lust, einen Haufen Schotter ausgeben zu müssen, nur weil du dich irgendwo am anderen Ende der Welt aufhältst und ich deine Leiche nach Hause überführen muss.«
»Schade. Dabei gibst du doch so gern sinnlos Geld aus.«
Seine Frau schnaufte abfällig. »Also, wo bist du?«
»In Finnland.«
»Warum gerade da?«
»Weil ich einen Ort gesucht habe, an dem ich weit weg von dir bin, und mehr konnte ich mir nicht leisten.«
»Wolltest du dir nicht leisten«, korrigierte sie ihn.
»Wie auch immer«, sagte er und winkte ab. »Jetzt weißt du, wo ich bin, und kannst wieder beruhigt tun, was du am besten kannst.«
»Und das wäre?«
»Keine Ahnung, ich hatte gehofft, du würdest es mir sagen.«
»Schon gut. Schönen Aufenthalt noch.«
»Ohne dich? Garantiert.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, beendete sie das Gespräch. Burgmeister hielt sein Handy noch einige Sekunden an sein Ohr, bevor er es wieder auf den Tisch legte. Schlagartig war ihm sein Appetit vergangen. Gerade, als der Kellner an seinen Tisch treten und seine Bestellung aufnehmen wollte, packte der Oberkommissar seine Sachen wieder ein und verließ das Lokal.
In der Polizeistation von Nurmes herrschte Hochbetrieb. Natürlich kam es hin und wieder vor, dass Jagdunfälle geschahen, aber normalerweise waren die Betroffenen nur verletzt. Als die Meldung eingetroffen war, dass es einen Toten gegeben hatte, hatten die Polizisten alles stehen und liegen gelassen und waren mit angeschalteten Sirenen zum Unfallort gefahren. Sogar der Leiter der Dienststelle, ein altgedienter Recke namens Keijo Keke Niemi, hatte sich persönlich aufgemacht, um den Ort des Geschehens in Augenschein zu nehmen und gleichzeitig klarzustellen, dass der Fall oberste Priorität besaß. Der Dienststellenleiter war lange in der Hauptstadt Helsinki stationiert gewesen und hatte dort in seinen über fünfundzwanzig Dienstjahren einiges erlebt, von Autounfällen über Grabschändung bis hin zu teils blutigen Schlägereien, und auch die eine oder andere Leiche hatte er bereits zu Gesicht bekommen.
Während die Einsatzfahrzeuge am Straßenrand abgestellt wurden und eine Schar Polizisten damit beauftragt worden war, die umliegende Gegend abzusichern, ging Niemi mit einer Handvoll Beamter durch den Wald zum Fundort der Leiche, was eine Zeit lang dauerte, da sich die Fundstelle einige Kilometer im unwegsamen Gelände befand. Da Nurmes über keine eigene Spurensicherung verfügte, hatte er in der etwa einhundertdreißig Kilometer entfernten Stadt Kuopio angerufen und bereits ein Team angefordert. Die Männer und Frauen waren natürlich noch unterwegs, also überprüfte er zuerst selbst die Leiche und wies seine Männer an, die nähere Umgebung zu untersuchen und etwaige Spuren zu markieren. Niemi beugte sich über den Toten und betrachtete für einige Minuten die offensichtliche Todesursache, bevor er sich abwandte, und einige Worte mit dem noch immer vor Ort befindlichen Pekka Nevalainen wechselte. Er ließ sich die Geschehnisse im Detail erklären, bevor er sämtliche Anwesenden anwies, sich für weitere Befragungen unverzüglich zur Polizeistation in Nurmes zu begeben. Als die Spurensicherung aus Kuopio schließlich eintraf und sich um alles Weitere kümmerte, fuhr er zurück zur Station. Vor dem Haupteingang hatte sich bereits die gesamte Jagdgruppe mit Ausnahme von Nevalainen versammelt, der angeboten hatte, noch am Tatort zu bleiben und den Leuten von der Spurensicherung zu helfen.
Niemi baute sich vor den Männern auf und befahl ihnen, sich ins Innere des Gebäudes zu begeben und dort darauf zu warten, aufgerufen zu werden. Die Fragen, die auf ihn einprasselten, ignorierte er geflissentlich und bahnte sich einen Weg durch die Masse an Leibern. Drinnen rief er seine Abteilungsleiter zusammen und richtete einen Krisenstab ein, wo alle Informationen zusammenlaufen und einzeln bewertet werden sollten.
Es war bereits Abend, als der letzte der Jäger befragt und dann nach Hause geschickt worden war. Jeder Einzelne hatte die Anweisung erhalten, mit niemandem über die Geschehnisse zu reden, auch wenn Niemi nicht annahm, dass sich die Männer daran halten würden. Schon sehr bald würde die örtliche Tageszeitung auf den Fall aufmerksam werden, und dann würde es unbequem werden, sollte er bis dahin noch keine handfesten Informationen vorweisen können.
»Mitä tietoja meillä on? – Welche Informationen haben wir?«, fragte er den Leiter des Krisenstabs, einen Polizisten mittleren Alters namens Paavo Bergfors. Der Beamte war Finnland-Schwede, und sein Vater stammte ursprünglich aus Stockholm, wie Niemi wusste.
»Ei mitään konkreettista – Nichts konkretes«, antwortete Bergfors.
Niemand hatte etwas gesehen. Niemand kannte den Toten. Niemand hatte aus Unachtsamkeit seine Waffe abgefeuert.
Natürlich wunderte das den Dienststellenleiter überhaupt nicht. Schließlich hatten alle Jäger einen Ruf zu verlieren, und würde jemand zugeben, dass seine Waffe aus Versehen losgegangen war oder derjenige sogar aufgrund einer Verwechslung geschossen hatte, wäre er nicht nur bei den anderen Mitgliedern des Vereins untendurch gewesen, sondern würde auch mit einer Anklage wegen Totschlags rechnen müssen. Auch von irgendwelchen Fremden hatte keiner etwas gewusst. Niemi hatte mehr Fragen als Antworten, und das gefiel ihm überhaupt nicht. Da das Opfer niemandem bekannt war, musste es sich zwangsläufig um jemanden handeln, der weder in Nurmes noch in der näheren Umgebung wohnte.
Vielleicht stammte er aus einer der Nachbarstädte, überlegte er, während er aus dem Fenster blickte.
Gewissheit über die Identität des Toten würde wohl erst die Obduktion bringen, denn weder hatte das Opfer irgendwelche amtlichen Dokumente mit sich getragen, noch sonst irgendetwas, durch das man es hätte identifizieren können. Bis die Obduktion abgeschlossen war, konnten allerdings noch Tage vergehen. Bisher war nur eines gewiss: Der Mann war durch einen Schuss direkt in die Brust getötet worden, und zwar aus nächster Nähe. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass auch ein gezielter Mord nicht auszuschließen war.
Niemi hoffte, dass er bald Ergebnisse würde vorweisen können, bevor die Provinzverwaltung auf den Fall aufmerksam wurde und die Ermittlungen an sich riss. Er war ein guter Polizist, und würde seine Kompetenz angezweifelt werden, wäre das weder für ihn noch für die Moral seiner Leute förderlich.
Als Burgmeister das Restaurant verlassen hatte, hatte er überlegt, ob er wieder zurück in seine Unterkunft gehen sollte, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Er wollte jetzt nicht in seiner Bude sitzen und vor sich hin brüten. Darum hatte er einen Pfad eingeschlagen, den er schon kannte und der ihn ein Stück weit an der Westseite des Sees entlangführen würde, und dann in einer Schleife durch den Wald bis zum städtischen Strand. Während er immer wieder innehielt, um auf den ruhig daliegenden See zu blicken, versuchte er, seine Gedanken von seiner Frau abzulenken. Auch über seine Tochter Janine wollte er nicht zu viel nachdenken. Er vermisste sie sehr, auch wenn sie mit ihren vierzehn Jahren gerade massiv in der Pubertät steckte und ihm das Leben zur Hölle machte, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bot. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass sich diese Gelegenheit nicht allzu oft ergab, denn Burgmeister ermittelte sehr oft verdeckt und war deshalb manchmal wochenlang nicht zu Hause. Während der laufenden Ermittlungen war es ihm strikt untersagt, Kontakt zu seiner Familie oder zu irgendwelchen Freunden zu haben, um sie, seine Kollegen und sich selbst nicht zu gefährden. Entsprechend hatte er nie wirklich Zeit mit seiner Tochter verbracht, und als Janines Hormone angefangen hatten, verrückt zu spielen, hatte sie aufgehört, ihn Papa zu nennen und ihn stattdessen nur noch bei seinem Vornamen gerufen. Obwohl das für ihn zuerst gewöhnungsbedürftig und zugegebenermaßen etwas schmerzhaft gewesen war, hatte er sich irgendwann dann doch damit abgefunden. Er musste zugeben, dass ihm mittlerweile sogar gefiel, von ihr mit seinem richtigen Namen angesprochen zu werden, denn er hatte sich nie wirklich als gesetzter, fest im Leben stehender Vater gesehen, sondern eher als der gute Freund, der immer für jeden Blödsinn zu haben war.
Als seine jüngste Ermittlung in einem Fiasko mit mehreren Toten geendet hatte, war ein wahrer Sturm über ihn hereingebrochen. Sein Abteilungsleiter hatte ihn mit sofortiger Wirkung suspendiert und ihm die Interne Ermittlung auf den Hals gehetzt. Seine Frau, mit der er seit Jahren schon in einer Art Dauerstreit lag, hatte die Gelegenheit genutzt und ihn aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen. Um dem Dauerstress zumindest ein wenig zu entgehen und etwas Ruhe zu finden, hatte er sich schließlich dazu entschlossen, in die tiefste finnische Provinz zu reisen. Auf der Suche nach einem abgelegenen Fleckchen war er auf Nurmes gestoßen. Der Ort lag zwar an einem durchaus wichtigen Knotenpunkt im finnischen Nordkarelien, war aber trotzdem so weit ab vom Schuss, dass man hier getrost untertauchen konnte. Burgmeister sprach zwar Englisch, hatte aber einen schweren Akzent und aufgrund der wenigen Nutzung oft Wortfindungsschwierigkeiten. Dass er so gut wie kein Finnisch konnte, war für ihn in diesem Moment kein Hindernis, sondern eher ein Grund gewesen, hierher zu kommen, denn so konnte er so gut wie allen Gesprächen aus dem Weg gehen. Er atmete die frische Luft ein und stieß sie langsam wieder aus. Normalerweise hätte er, wenn seine Gedanken so am Rotieren waren, eine Zigarette geraucht, aber er hatte vor fast vier Jahren aufgehört, als sein Arzt ihm offenbart hatte, dass das Risiko für Lungenkrebs in der letzten Zeit bei ihm deutlich gestiegen war. Kein Wunder, denn zuletzt hatte er fast eine Schachtel pro Tag geraucht. Obwohl es ihm fehlte, eine Zigarette zwischen den Lippen zu haben, den Rauch zu inhalieren und dabei seine Gedankengänge zu ordnen, war es ihm seine Gesundheit doch wert gewesen, mit diesem offensichtlichen Laster aufzuhören.
Er überlegte gerade, in den örtlichen Kiosk zu gehen und sich eine Kleinigkeit zu trinken zu besorgen, als sein Blick, auf die andere Straßenseite fiel. Dort befand sich ein weiter Platz, an dem eine Bühne sowie einige Stände errichtet worden waren. Er hatte in der ersten Woche seines Aufenthalts einen Abstecher dorthin gemacht, um zu sehen, wie sich die Menschen hier verhielten. Ihm gefiel es, wie scheinbar sorglos die Leute umher flanierten und sich angeregt mit anderen unterhielten. Burgmeister hatte im Vorbeigehen versucht, das eine oder andere finnische Wort aufzuschnappen, hatte es aber schnell wieder aufgegeben, denn die Sprache war vom Deutschen so weit entfernt wie die Erde von der Sonne. Er wusste, dass sich Finnisch auch von den anderen nordischen Sprachen drastisch unterschied, wodurch es ungleich schwieriger war, wenigstens den Zusammenhang eines Gesprächs nachzuvollziehen. Die geringe Mimik, die die Finnen außerdem im Allgemeinen zur Schau trugen, war dabei keine große Hilfe.
Obwohl es schon später Nachmittag war, hatten sich zahlreiche Menschen auf dem Platz eingefunden und schienen in eine lebhafte Diskussion vertieft zu sein. Die Ansammlung von Pick-ups ließ ihn unwillkürlich an das Jahrestreffen der Hillbillys in Kentucky zurückdenken, an dem er vor vielen Jahren mal teilgenommen hatte, als Janine noch nicht auf der Welt gewesen war. Auf den Ladeflächen stapelten sich diverse Ausrüstungsgegenstände, und der Kleidung der herumstehenden Männer nach zu urteilen, handelte es sich hierbei entweder um Soldaten oder um Jäger, denn ausnahmslos alle trugen zumindest eine Jacke in Tarnfleck, manche auch dazu passende Hosen. Der eine oder andere hatte zusätzlich eine orangene Warnweste übergezogen. Nach einem prüfenden Blick auf die Gesichter der Männer verwarf Burgmeister die Theorie der Soldaten schnell wieder, denn alle trugen ihre Haare oder zumindest ihre Bärte lang. In der Armee lief man so nicht herum, das wusste er aus seiner eigenen Wehrdienstzeit. Aber wenn es sich bei dieser Versammlung tatsächlich um Jäger handelte, warum waren sie dann nicht im Wald? Aus purer Neugier, und weil er nichts Dringendes vorhatte, überquerte der Beamte die Straße und stellte sich neben einen der Männer in Tarnkleidung. Dieser bemerkte den Neuankömmling zunächst nicht, sondern unterhielt sich weiter mit seinem Kumpan. Erst, als Burgmeister ihn in gebrochenem Englisch ansprach, wandte sich ihm der Mann zu.
»What happened?«, fragte der Deutsche mit starkem Akzent, bei dem sich das englische Wort für Was eher wie das norddeutsche Watt anhörte.
Der Angesprochene sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an, antwortete aber nicht. Auch der andere, der gerade noch in die Unterhaltung involviert gewesen war, musterte den Fremden jetzt aus tief liegenden braunen Augen. Burgmeister wiederholte seine Frage, aber auch das war nicht von Erfolg gekrönt. Einen dritten Versuch wollte er nicht wagen, denn die beiden Männer sahen jetzt schon so aus, als wären sie gelinde gesagt nicht gerade erfreut über die Störung und würden jeden Augenblick über ihn herfallen. Als er sich umschaute, bemerkte er, dass auch die übrigen Teilnehmer der Versammlung ihre Gespräche eingestellt hatten und ihn mit einer Mischung aus Abweisung und offener Feindseligkeit anstarrten. Plötzlich wurde Burgmeister ziemlich warm unter seiner Windjacke. Er hoffte, dass er sein Englisch nicht falsch eingeschätzt und gerade unwissentlich die hier versammelten Finnen mitsamt ihren Ahnen beleidigt hatte. Während er fieberhaft darüber nachdachte, wie er glimpflich aus dieser Situation herauskommen könnte, erregte etwas oder vielmehr jemand auf der anderen Seite des Platzes die Aufmerksamkeit der Gruppe. Ein Mann, der aus einer Seitenstraße getreten war, ging geradewegs auf die Männer zu. Burgmeisters geschultes Auge erkannte an der Autorität ausstrahlenden Gangart des Mannes, dass es sich hierbei um einen Polizisten handeln musste. Dass er eine Uniform trug, war natürlich ebenfalls hilfreich. Nachdem der Beamte wenige Meter vor Gruppe stehen geblieben war, erhob er die Stimme und sagte einige Worte zu den Versammelten, die den Deutschen nun vollkommen vergessen zu haben schienen und sich stattdessen komplett auf den Mann konzentrierten. Wenn die Stimmung bisher angespannt gewesen war, so schien sie jetzt in geballte Wut umzuschwenken, denn hier und da wurde es laut, und einige Jäger meldeten sich aufgeregt zu Wort. Obwohl Burgmeister nichts verstand, konnte er dem Tonfall dennoch entnehmen, dass es nicht gerade freundlich war, was er da hörte. Der Uniformierte schien sich von der zunehmenden Lautstärke nicht beeindrucken zu lassen, sondern antwortete weiterhin in kurzen, aber klaren Sätzen auf die auf ihn einprasselnden Kommentare. Irgendwann schien der Jagdgruppe entweder die Lust, oder die Energie auszugehen, denn einer nach dem anderen wandte sich grummelnd den geparkten Autos zu. Einige der Wagen fuhren mit quietschenden Reifen los, zweifelsohne in der Absicht, damit den Unmut der Fahrer zu verdeutlichen. Es dauerte einige Minuten, bis alle Jäger vom Platz gefahren waren, und schließlich waren nur noch Burgmeister und der finnische Polizist übrig. Ihre Blicke trafen sich kurz. Der Oberkommissar überlegte kurz, ob er es riskieren sollte, seinen Amtskollegen anzusprechen, als sich dieser bereits abwandte und zurück in die Seitenstraße ging.
Komische Sache, dachte Burgmeister, während er dem sich entfernenden Mann hinterher sah. Schließlich stand er allein auf dem Marktplatz und fühlte sich mit einem Mal unglaublich allein.
Vielleicht hättest du doch in ein Land reisen sollen, in dem du die Sprache beherrschst, dachte er. Und wo es wärmer ist, fügte er in Gedanken hinzu, als ihn ein Schauder überlief. Doch jetzt war es zu spät dafür. Er hatte den gesamten Aufenthalt im Voraus bezahlt, und bei seiner Ankunft war ihm in gebrochenem Deutsch klargemacht worden, dass er keine Rückzahlung zu erwarten hatte, wenn er vorzeitig abreisen würde. Seine Laune war am Tiefpunkt angelangt, und er beschloss, zurück in seine Unterkunft zu gehen. Vorher wandte er sich aber noch nach links zum K-Market genannten Supermarkt um, in der Hoffnung, wenigstens einige Biere ergattern zu können. Für etwas Härteres hätte er ans andere Ende des Ortes gehen und in das Alko genannte Geschäft gehen müssen. Von außen betrachtet, schien der Supermarkt recht groß zu sein, aber als Burgmeister durch die Eingangstür trat, stellte er fest, dass der Laden deutlich weniger Platz bot, als er angenommen hatte, und verschachtelt aufgebaut war er obendrein.
Und ich war der Meinung, nur bei Ikea würde man durch ein Labyrinth gehen müssen, dachte der Beamte und verdrehte die Augen.
Etwas versteckt zwischen den Wurst- und Käseregalen fand er schließlich, was er gesucht hatte. Er nahm sich drei Dosen des bekanntesten finnischen Bieres, griff sich noch zwei abgepackte und mit Wurst und Käse belegte Brötchen und ging dann zur Kasse.
»Terve«, begrüßte ihn die Verkäuferin fröhlich, zog die Sachen über den Warenscanner und nannte ihm den Betrag.
Das Glück des Polizisten war es, dass der Preis seines Einkaufs zusätzlich auf einem Display angezeigt wurde, denn er hatte die von der Kassiererin genannte Zahl natürlich nicht verstanden. Er zog einen Geldschein hervor und überreichte ihn der jungen Frau. Diese musterte ihn ein wenig merkwürdig, bevor sie die Banknote schließlich entgegennahm und ihm das Wechselgeld überreichte. Er nahm seine Bierdosen und Brötchen, steckte sie in die Jackentaschen und verließ den Laden wieder, um sich zielstrebig auf den Weg zurück zu seiner Behausung zu machen.
Zwei Tage später wusste jeder Einwohner von Nurmes, dass es bei der Jagd zu einem Todesfall gekommen war. Die lokale Tageszeitung hatte sich sofort, nachdem sie von dem Vorfall gehört hatte, auf die Geschichte gestürzt und einen Artikel auf Seite Eins veröffentlicht. Es waren zwar noch lange nicht alle Details bekannt, aber das hinderte weder den Reporter noch die Einwohner daran, teils wilde Spekulationen sowohl über den Tathergang, als auch über die Identität des Toten anzustellen. Burgmeister befand sich gerade in der ABC-Tankstelle und bezahlte seine Tiefkühlpizza.
»Schon gehört?«, fragte Mika, während er das Geld entgegennahm und in die Kasse legte.
Er war gerade einmal neunzehn Jahre alt, wie Burgmeister erfahren hatte, und trug seine Haare zu Dreadlocks geflochten.
»Was?«, entgegnete der Polizist.
»Vorgestern gab es einen Jagdunfall mit einem Toten.«
»Passiert das öfter?«
»Hin und wieder«, erklärte der Tankstellenmitarbeiter freimütig. »Aber so weit ich gehört habe, wurde der Typ direkt in die Brust getroffen.«
»Autsch.«
»Die Polizei ist an der Sache dran, aber die rücken nicht mit der Sprache raus.«
»Das ist normal«, erwiderte Burgmeister. »Kein Polizist will schließlich, dass ihm irgendjemand in die Ermittlungen reingrätscht. Vor allem, wenn man noch nicht viel weiß.«
»Reingrätscht?«, fragte Mika, der das Wort offensichtlich nicht kannte.
»Ihn stört«, erklärte Burgmeister.
»Ah«, sagte der Mitarbeiter nickend.
»Ich bin dann mal wieder weg, sonst taut die Pizza noch auf.«
»Hei«, verabschiedete Mika ihn.
»Servus.«
Burgmeister steckte den Pizzakarton in eine Tüte und ging nach draußen, wo er bereits von einem Uniformierten erwartet wurde.
»Anteeksi«, sprach ihn der Polizist auf Finnisch an.
Der Deutsche erkannte den anderen als denjenigen Beamten, der kürzlich auf dem Marktplatz mit der aufgebrachten Jagdtruppe gesprochen hatte.
»I do not speak Finnish«, antwortete Burgmeister.
»Ich spreche etwas Deutsch«, sagte der Finne mit deutlichem, aber dennoch verständlichen Akzent, wobei er die Sch-Laute wie ein gezischtes Sssss aussprach, denn im Finnischen gab es den Sch-Laut nicht. Außerdem rollte er das R, wie es in der finnischen Sprache üblich war.
Der deutsche Beamte reagierte überrascht. »Das hätte ich nicht erwartet.«
»Ich habe während meines Studiums einen Kurs in Deutsch gemacht«, sagte der Polizist. »Ich heiße Keijo Niemi und leite die Polizei in Nurmes.«
»Mein Name ist Johannes Burgmeister. Freut mich. Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Inwiefern?«
»Das möchte ich mit Ihnen auf der Wache besprechen.«
»Tut mir leid, aber ich habe bereits eine Verabredung«, log Burgmeister.
»Mit Ihrer Pizza?«, entgegnete Niemi und warf einen kurzen Blick auf die Plastiktüte in Burgmeisters Hand.
Der Deutsche seufzte. »Wenn Sie es genau wissen wollen, ich bin im Urlaub und möchte meine Ruhe haben. Wenn es also nichts Dringendes ist …«
»Leider ist es aber etwas Dringendes«, antwortete der Dienstellenleiter. »Sie bekommen von mir auch eine neue Pizza. Versprochen.«
»Ich sehe, ich kann Sie nicht davon abhalten, meine Zeit in Anspruch zu nehmen. Dann gebe ich mich eben geschlagen«, lenkte Burgmeister ein.
»Sie wurden geschlagen?«
»Nein, das ist nur eine Redensart in Deutschland und bedeutet, dass ich klein beigebe.«
»Tut mir leid, aber ich verstehe immer noch nicht.«
Der Deutsche atmete tief durch. »Ich komme mit.«
Niemis Miene hellte sich sogleich auf. »Fahren wir doch mit meinem Auto«, sagte er und zeigte auf den Streifenwagen, der nur zehn Meter entfernt auf dem Parkplatz stand.
»Nach Ihnen«, antwortete Burgmeister.
»Wie bitte?«
Im Geiste zog der Deutsche eine Grimasse. »Fahren wir.«
Auf der örtlichen Polizeistation fühlte sich Burgmeister direkt wie zu Hause. Hier war zwar deutlich weniger los als in seiner Arbeitsstelle im Zentrum Münchens, aber die hiesigen Beamten schienen ebenso beschäftigt zu sein wie seine eigenen Kollegen. Niemi führte ihn durch die Eingangshalle und an einigen geschlossenen Türen vorbei in sein Büro und bot ihm einen Stuhl an. Als sich beide hingesetzt hatten, verschränkte der Dienststellenleiter die Hände vor sich auf dem Tisch.
»Alles, was ich Ihnen jetzt sage, ist vertraulich«, leitete er das Gespräch ein.
»Verstanden«, bestätigte der Deutsche nickend.
»Vor zwei Tagen gab es im nahen Wald einen Unfall. Ein Mann wurde erschossen.«
Der Oberkommissar nickte. »Davon habe ich gehört.«
»Bisher wissen wir nur, dass er in die Brust getroffen wurde«, fuhr Niemi fort. »Die Eintrittswunde deutet auf einen Schuss aus nächster Nähe hin.«
»Gibt es am Rücken eine Austrittswunde?«
»Ei.«
»Bitte?«
»Das bedeutet Nein.«
»Das deutet für mich eher darauf hin, dass der Schütze ein gutes Stück entfernt gewesen sein muss«, erklärte Burgmeister. »Welches Kaliber war es denn?«
»Das wissen wir noch nicht«, gab der Dienststellenleiter zu. »Wir warten noch auf die Analyse.«
»Sonst etwas? Wer ist der Tote? Welche Kleidung trug er? Gehörte er zum Jagdverein?«
Niemi schüttelte bei jeder Frage den Kopf.
»Entschuldigen Sie, wenn ich das so unverblümt sage, aber Sie tappen offenbar vollkommen im Dunkeln. Das ist natürlich bedauerlich, aber was wollen Sie von mir?«
»Ihre Hilfe.«
»Das sagten Sie bereits. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich Ihnen wirklich behilflich sein kann. Ich habe nämlich normalerweise mit Drogen zu tun.«
Als der Dienststellenleiter ihn fragend und skeptisch anblickte, kam Burgmeister der Gedanke, dass dies vielleicht die falsche Formulierung für das war, was er tat.
»In Deutschland ermittele ich bei Verbrechen, die mit Drogen zu tun haben«, erklärte er. »Kokain, Heroin, solche Sachen. Mit gewaltsamen Todesfällen durch Waffengewalt habe ich normalerweise nichts zu tun. München ist nicht so brutal, wie Sie vielleicht denken. Außerdem gibt es in Deutschland viele Gesetze, die den Waffenbesitz stark regulieren. Tut mir leid, aber Sie wenden sich hier an den Falschen.«
Der Finne schien, seiner Mimik nach zu urteilen, von dieser Abfuhr nicht gerade begeistert zu sein. Burgmeister entschied, sich nicht darum zu kümmern. Er stand auf, verabschiedete sich höflich und verließ das Büro.
Die Sonne ging gerade unter und zauberte ein unvergleichliches Wechselspiel aus Rot und Gelb an den Abendhimmel. Das Wasser lag ruhig da, nur hier und da kräuselte sich die Oberfläche, wenn ein Fisch heraufkam, um sich ein unvorsichtiges Insekt zum Abendessen zu schnappen. Burgmeister stand am Strand und betrachtete das Naturschauspiel. Obwohl er es am liebsten nicht zugegeben hätte, ließ ihn der geschilderte Fall einfach nicht los. Schon, als er die Polizeistation verlassen hatte, hatte sein Gehirn angefangen, sich eingehend mit den Ermittlungen zu beschäftigen. Er musste zugeben, dass der Fall interessant klang, und er hatte Lust, darin involviert zu sein. Was sollte er außerdem sonst mit seiner Zeit anfangen?, dachte er. Bier trinken und darauf warten, seinen Job und seine Tochter zu verlieren? Mit einem Ruck wandte er sich ab und ging mit weit ausholenden Schritten voran.
»Niemi«, rief er, als er den Beamten auf dem Parkplatz der Polizeistation entdeckte.
Der Finne war gerade dabei, seinen Wagen aufzuschließen und hatte offenbar Feierabend.
»Herr Burgmeister«, antwortete der Dienststellenleiter, als er den Deutschen erkannte.
»Sie haben mich überzeugt. Ich mache mit.«
Niemis Miene hellte sich auf. »Das freut mich sehr.«
»Wann legen wir los?«
»Nyt.«
Auf den fragenden Blick des Deutschen hin kramte der finnische Beamte in seinem Wortschatz und fand schließlich das deutsche Äquivalent. »Jetzt.«
Zurück in der Station rief Niemi den stellvertretenden Leiter der Station, Paavo Bergfors, zu sich. Nur zehn Minuten später waren alle drei im Büro des Dienststellenleiters versammelt, und Burgmeister ließ sich in den folgenden Minuten noch einmal ganz genau erklären, was die Beamten bisher wussten. Zum allgemeinen Bedauern war es nicht viel.
»Okay«, hob der Deutsche an. »Bevor wir irgendetwas machen, möchte ich, dass wir auf einer Wellenlinie sind. Warum möchten Sie, dass ich Ihnen helfe? Sie haben doch sicher mehr als genug Ermittler hier.«
»Die haben wir natürlich«, antwortete Niemi. »Ich bin ehrlich zu Ihnen: Wir sind hier eine kleine Stadt, und die Leute kennen sich untereinander. Ich möchte, dass der Fall von jemandem untersucht wird, der unvoreingenommen ist und einen objektiven Blick hat.«
»Sie denken, dass Ihre eigenen Ermittler kuschen könnten?«
»Was bedeutet das?«
»Den Schwanz einziehen, sich zurückziehen, jemanden decken«, erklärte Burgmeister.
»Ja«, antwortete Niemi.
»Und vermutlich brauchen Sie auch jemanden, dem Sie die Schuld in die Schuhe schieben können, wenn die Sache schief geht.«
Als der Dienststellenleiter darauf nicht antwortete, winkte der Oberkommissar ab. »Schon verstanden. Gut, ich übernehme. Als Erstes machen wir der Spurensicherung und der Pathologie Dampf. Die sollen alles andere hintanstellen und sich auf unseren Fall konzentrieren. Die sollen uns sagen, welches Kaliber benutzt wurde, aus welcher Art von Waffe der Schuss stammte, und wer der Tote überhaupt ist. Außerdem will ich, dass eine allgemeine Nachrichtensperre verhängt wird. Wer auch immer mit der Presse spricht, soll mindestens mit einer Geldstrafe rechnen müssen.«
Niemi übersetzte das Gesagte so gut wie möglich für Bergfors, fragte aber immer wieder bei Burgmeister nach, wenn er ein Wort nicht verstanden hatte.
Heiliger Kuhdarm, dachte der Deutsche und seufzte innerlich. »Niemi, nichts gegen Ihre Fähigkeiten, aber ich denke, dass es gut wäre, wenn wir einen Dolmetscher an Bord hätten.«
»Warum?«
»Weil ich denke, dass Sie viele andere Dinge zu erledigen haben, als zu übersetzen«, antwortete Burgmeister diplomatisch. »Ich werde mit vielen Leuten sprechen müssen, und wie Sie wissen, sind meine Finnisch-Kenntnisse so gut wie nicht vorhanden. Englisch ist auch nicht gerade meine Stärke.«
Der Dienststellenleiter schien zu verstehen, worauf der Oberkommissar hinauswollte.
»Ich werde bei der Zentrale nachfragen, ob es jemanden gibt, der dafür infrage kommt«, kündigte er an. »Ich kann aber nichts versprechen.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Das weiß ich nicht«, gab Niemi offen zu. »Aber ich werde mein Bestes geben.«
»Je schneller, desto besser«, erwiderte der Deutsche. »Denn ich glaube, je länger wir hier rumeiern, desto kälter wird die Spur.«
»Ich tue, was ich kann«, wiederholte der Dienststellenleiter.
»Gut. Für heute kann ich nichts mehr machen, außerdem ist es schon spät. Ich möchte gerne zurück in meine Unterkunft. Gibt es jemanden, der mich fahren kann?«
»Ich bringe Sie persönlich«, erklärte Niemi.
Burgmeister stand auf und schickte sich an, zu gehen, als ihn der Beamte zurückhielt.
»Herr Burgmeister, wären Sie bitte so freundlich, mir Ihre Handynummer zu geben? Ich möchte Sie erreichen können.«
»Klar«, antwortete der Oberkommissar und diktierte Niemi die Nummer.
Der Dienststellenleiter tippte sie in sein Handy und rief dann kurz an. Auf Burgmeisters Display leuchtete es, und er speicherte die Nummer ab.
»Jetzt können wir los.«
Als Burgmeister am nächsten Tag aufwachte, fühlte er sich erfrischt. Kurz, nachdem Niemi ihn nach Hause gebracht hatte, war er ins Bett gegangen und trotz seines hektisch arbeitenden Gehirns schnell eingeschlafen. Als er einen Blick auf sein Handy warf, sah er, dass der Dienststellenleiter bereits mehrfach versucht hatte, ihn zu erreichen. Er drückte die Taste für den Rückruf und wartete darauf, dass der andere abnahm.
»Niemi«, meldete sich der Dienststellenleiter. »Danke, dass Sie mich zurückrufen.«
»Guten Morgen«, begrüßte ihn der Deutsche. »Was gibt es?«
»Wir haben die Information aus Joensuu bekommen, dass es dort einen Polizisten gibt, der fließend Deutsch spricht«, erklärte Niemi.
»Und?«
»Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, dass er in zwei Stunden hier sein wird.«
»Alles klar, dann komme ich zu Ihnen. Geben Sie mir eine halbe Stunde.«
»Kiitos«, bedankte sich Niemi und legte auf.
Gemeinsam mit dem Dienststellenleiter und Bergfors wartete Burgmeister in dessen Büro auf die Ankunft des Beamten aus Joensuu. Der deutsche Polizist ging im Geiste bereits durch, welche Schritte wann in der Ermittlung stattfinden sollten und machte sich entsprechende Gedanken-Notizen. Die Fähigkeit, sich viele Dinge gleichzeitig zu merken, ohne sie aufschreiben zu müssen, war etwas, dessen er sich rühmen konnte und ihm in Deutschland schon oft geholfen hatte. Leider hatte sich diese Begabung nur auf seine Arbeit beschränkt, was dazu geführt hatte, dass er nicht nur einmal den Geburtstag seiner Frau vergessen hatte, von irgendwelchen Jahrestagen ganz zu schweigen.
An der hölzernen Bürotür klopfte es jetzt leise.
»Ovi on auki! – Die Tür ist offen!«, sagte der Dienststellenleiter mit lauter Stimme auf Finnisch.
Die Tür ging nach innen auf und ein junger Mann in Anzug und Krawatte trat ein.
»Matti Halonen«, sagte der Mann. »Päivää.«
»Päivää«, grüßten Niemi und Bergfors zurück.
Burgmeister sagte nichts, betrachtete den Neuankömmling aber aufmerksam von oben bis unten.
Steif wie ein Brett und gekleidet wie ein Hilfslehrer, urteilte er abschätzig.
»Sie sind Kriminaloberkommissar Johannes Burgmeister, nehme ich an?«, sprach ihn der junge Mann in absolut akzentfreiem Deutsch an.
»Der bin ich«, antwortete der Deutsche.
»Mein Name ist Matti Halonen. Nennen Sie mich einfach Matti.«
»Ich heiße Johannes.«
»Freut mich. Mir wurde gesagt, dass ich hier gebraucht werde, um zu dolmetschen. Ich nehme an, Sie sind es, der meine Dienste benötigt?«
»Korrekt«, bestätigte Burgmeister. »Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?«
»Mein Vater ist Deutscher«, erklärte Halonen. »Ich bin daher zweisprachig aufgewachsen, und auf der Universität in Helsinki habe ich meine Dissertation über die deutsche Sprache und die Auswirkungen auf Europa geschrieben.«
»Interessant«, sagte Burgmeister. »Dann haben Sie sich wahrscheinlich auch mit der jüngeren deutschen Geschichte auseinandergesetzt?«
»Unter anderem.«
»Wer war Joseph Goebbels?«
»Ich weiß zwar nicht, warum Sie das fragen, aber er war Reichspropagandaminister in den Jahren 1939 bis 1945. Er war einer der wichtigsten Vertrauten von Adolf Hitler und ein starker Antisemit. Außerdem war er Doktor der Philosophie und nur hundertfünfundsechzig Zentimeter groß.«
»Welche kriminalistische Erfahrung haben Sie?«
»Keine«, gab Halonen zu. »In Joensuu bearbeite ich Verkehrsdelikte.«
Ganz toll, dachte Burgmeister missmutig. Ein Schreibtischhengst, der keine Ahnung von Ermittlungen im Feld hat. Das kann ja heiter werden.
»Danke, mehr muss ich nicht wissen«, sagte er und winkte ab. »Sind Sie über den vorliegenden Fall informiert worden?«
»Nur bedingt«, erklärte der junge Finne.
»Okay, dann gebe ich Ihnen jetzt eine kurze Übersicht.«
»Darf ich mich vorher noch setzen?«
»Wenn Sie das möchten«, antwortete Burgmeister und fuhr ohne Pause fort. »Wir haben einen durch Schusswaffengebrauch zu Tode gekommenen Mann. Er wurde vor drei Tagen ungefähr zehn Kilometer von hier entfernt während einer Jagd im Wald entdeckt. Die Leute, die ihn gefunden haben, haben erklärt, dass sie kurz vorher einen Schuss gehört hätten. Sie denken, dass es sich um einen Jagdunfall handelt. Bisher ist nur bekannt, dass das Opfer männlich und schätzungsweise dreißig Jahre alt ist. Der Tod trat durch einen Schuss in die Brust ein.«
»Wer leitet die Ermittlungen?«, wollte der Finne wissen.
»Ich«, antwortete der Oberkommissar. »Herr Niemi hat mich dazu überredet.«
»Überredet?«
»Mit mir verhandelt.«
»Ich weiß, was überredet bedeutet«, erklärte Halonen. »Aber warum musste er Sie überreden?«
»Weil ich eigentlich gerade Urlaub habe.«
»Verstanden. Dann ist es umso schöner, dass Sie uns helfen. Ich denke, wir sollten …«
»Um ehrlich zu sein, möchte ich gar nicht wissen, was Sie denken«, unterbrach ihn Burgmeister. »Ich möchte ausschließlich, dass Sie für mich dolmetschen.«
Der Finne schien von dieser Information überrascht zu sein, jedenfalls deutete der Deutsche es aus dem kurzen Zucken der rechten Augenbraue des anderen.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, fügte Burgmeister hinzu. »Aber Ihre Aufgabe ist es normalerweise, über die Bestrafung von Rasern und Falschparkern zu entscheiden. Ich hingegen mache seit Jahren nichts anderes, als richtige Verbrecher hinter Gitter zu bringen.«
»Wenn Sie das so sehen.«
»Jetzt möchte ich, dass Sie die Pathologie anrufen und denen Feuer unterm Hintern machen. Ich werde sprechen, und Sie übersetzen. Kriegen Sie das hin?«
»Deswegen bin ich hier«, erklärte Halonen knapp.
Burgmeister und sein Dolmetscher gingen in ein auf der anderen Seite der Station befindliches Zimmer, welches normalerweise als Konferenzraum genutzt wurde. Der Deutsche hatte den Dienststellenleiter explizit darum gebeten, damit er in Ruhe ermitteln und seine Erkenntnisse festhalten konnte, ohne in seiner Konzentration gestört zu werden. In dem Zimmer gab es einen langen Tisch, mehrere Stühle und in der Ecke eine Pinnwand, die zur Freude des Oberkommissars komplett sauber war. Sämtliche Anstecknadeln waren in der linken oberen Ecke befestigt und sogar nach den Farben und Formen ihrer Plastikköpfe sortiert worden. In der Mitte des Tisches stand ein Telefon und wartete auf seinen Einsatz.
»Wählscheibe«, murmelte Burgmeister und schüttelte wegen dieser veralteten Technik innerlich den Kopf. In Deutschland gab es zwar auch noch Festnetztelefone, aber die meisten Ermittler verließen sich ausschließlich auf ihr Handy. »Matti, wir werden jetzt telefonieren. Kommen Sie mit diesem Apparat zurecht?«
»Natürlich«, bestätigte der Finne.
»Rufen Sie bitte die Pathologie an.«
Halonen nahm den Hörer zur Hand, wählte die Telefonnummer der Pathologie in Kuopio und lauschte dem Freizeichen.
»Nicht vergessen«, ermahnte Burgmeister seinen finnischen Dolmetscher. »Sie sagen genau das, was ich Ihnen vorgebe.«
Halonen nickte just in dem Moment, als sich am anderen Ende der Leitung eine weibliche Stimme meldete.
»Patologia Kuopio«, sagte die Frau.
»Täällä on Matti Halonen, päivää«, stellte sich der Finne in seiner Sprache vor und lauschte dann kurz, was sein deutscher Kollege sagte, bevor er es übersetzte. »Ich rufe wegen der Leiche an, die vor drei Tagen bei Ihnen eingeliefert wurde. Haben Sie schon Ergebnisse der Obduktion vorliegen? – Noch nicht?«
»Die sollen mal Gas geben«, ermahnte Burgmeister mürrisch.
»Sie sagen, dass sie vermutlich in vier Tagen Ergebnisse vorweisen können«, erklärte Halonen.
»Vermutlich in vier Tagen?«, fragte der Deutsche und fügte hinzu: »Wollen Sie mich verarschen? Die sollen sich sofort daran machen. Spätestens morgen Nachmittag will ich alles über den Toten wissen! Und damit meine ich alles, angefangen von der Konfektionsgröße bis zur Beschaffenheit seiner Nasenhaare. Verstanden?«
»Das ist nicht so einfach«, übersetzte Halonen die Antwort, die er von der Pathologie bekam.
»Warum nicht?«
»Weil gerade einige Kollegen im Urlaub sind.«
»Das ist mir scheißegal«, verkündete der Oberkommissar. »Entweder, die ziehen jetzt den Finger aus dem Arsch, oder sie kriegen eine Dienstaufsichtsbeschwerde, die sich gewaschen hat. Na los, übersetzen Sie das«, forderte er den Finnen auf.
»Sie sagen, dass sie es bis morgen Abend schaffen können, wenn sie Überstunden machen.«
»Dann sollen sie eben länger arbeiten! Kann ja nicht so schwer sein, verflucht noch mal.«
»Kiitos«, sagte der Dolmetscher dankend zu seinem Gegenüber am anderen Ende der Leitung und legte dann auf.
Burgmeister wirkte selbstzufrieden. »Sehen Sie, Matti, so wird das bei uns in Deutschland gemacht, wenn jemand meint, seinen Job nicht erledigen zu wollen.«
»Ich habe noch nie davon gehört, dass so viel geflucht wird«, erwiderte Halonen skeptisch.
»Glauben Sie mir, nur so kriegt man die Leute dazu, das zu tun, was man will. Als Nächstes rufen wir die Spurensicherung an. Mal sehen, ob die mehr zu bieten haben.«
Erneut wählte der Finne eine Nummer und stellte sich vor. »Sie haben also bereits Ergebnisse? Sehr gut«, sagte Halonen kurz darauf auf Finnisch ins Telefon. »Der Bericht ist bereits auf dem Weg?«
»Was heißt auf dem Weg?«, wollte der Deutsche wissen.
»Per Kurier. Sollte also bald hier sein«, antwortete sein Dolmetscher.
»Da bin ich ja mal schwer gespannt«, sagte Burgmeister ironisch.
»Kiitos paljon«, bedankte sich Halonen und legte auf. »Und jetzt?«
»Während wir auf diesen Kurier warten, holen Sie bitte die Zeugenaussagen sämtlicher Jäger, die bei der Entdeckung der Leiche anwesend waren.«
»Wird gemacht.«
»Und einen Kaffee, schwarz.«
Halonen fixierte den Deutschen für einen Moment, bevor er das Zimmer verließ, um seine Aufgaben zu erfüllen.
Burgmeister ging währenddessen ans Fenster und betrachtete den ruhig daliegenden See, der sich nur rund einhundertfünfzig Meter von der Polizeistation entfernt befand. Auf der Wasseroberfläche hatten sich einige Möwen niedergelassen und schaukelten träge im leichten Wind, während etwas weiter entfernt ein Ruderboot, auf das der Begriff Nachen am besten passte, von einer Person in Richtung des Ufers gerudert wurde.