Tödliche Injektion - Jim Nisbet - E-Book

Tödliche Injektion E-Book

Jim Nisbet

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Beschreibung

Als Gefängnisarzt von Huntsville, Texas, hat Dr. Royce die unangenehme Aufgabe, die Hinrichtung eines zum Tode verurteilten jungen Schwarzen medizinisch zu begleiten. Der Delinquent erscheint in Anbetracht seines Schicksals sonderbar unbeteiligt. Noch während das Gift in die Adern des jungen Mannes strömt, kommen Royce ernste Zweifel an dessen Schuld. Auf der Flucht vor seiner ruinierten Ehe zieht Royce gen Dallas los, um in den Elendsvierteln mehr über den Background des exekutierten Häftlings in Erfahrung zu bringen … Jim Nisbets Noir-Thriller wird von Kennern des Genres bereits als moderner Klassiker gepriesen. Mit eloquenter, die Atmosphäre kalten Neonlichtes erzeugender Prosa beleuchtet der US-Autor dunkelste Verwerfungen und Selbstzerstörung in einer gewalttätigen Zivilisation.

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Inhalte

Vorwort

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Impressum

Zum Autor

Zu den Übersetzern

Pulpmaster Backlist

Jim Nisbet

Tödliche Injektion

Vorwort

Sandro Veronesi: Wenn der Noir-Roman Literatur wird

Jim Nisbet — Schriftsteller und Tischler

»Lieber Jim, heute schließt sich ein Kreis, der sich vor neunzehn Jahren aufgetan hatte. Es war im Frühling 1990, und durch eine jener Schicksalsfügungen, denen ich die meisten wichtigen Begegnungen verdanke, war ich nach San Francisco aufgebrochen, mit dem Roman Tödliche Injektion im Koffer und Deiner Telefonnummer in der Tasche. Ich meine, wir hätten uns leicht verpassen können. Ich hätte es verpassen können, Heidi vor dem Abflug um Rat zu fragen, oder ich hätte sie überhaupt verpassen können, so abgelegen, wie sie in Umbrien wohnte. Dann hätte ich diesen bemerkenswerten Roman nie gelesen und Dich mit ziemlicher Sicherheit nie kennengelernt. Aber es kam, wie es kam, und als ich zum ersten Mal kalifornischen Boden betrat, war Jim Nisbet nicht mehr der Exfreund einer Freundin von mir, den ich während meines Aufenthaltes in San Francisco um Unterstützung bat, sondern ein spannender Schriftsteller des Hard boiled, des kalifornischsten aller Genres, das ich damals noch mit Begeisterung las (ich sage ›damals noch‹, weil meine Begeisterung inzwischen abgeflaut ist, denn das Genre wurde von seinen eigenen postmodernen Varianten, vom Anwaltskrimi bis zum Horror unterschiedlichster Prägung, vereinnahmt und aufgezehrt). Was für ein Erlebnis, lieber Jim, war dieser Roman für mich damals gewesen! Was für eine Kraft, was für ein Vertrauen in das geschriebene Wort, was für ein großartiges Beispiel einer verzweifelten, aber unbezwingbaren Weltanschauung wäre mir entgangen, hätte ich ihn nicht gelesen ... Es gab seinerzeit noch keine italienische Übersetzung Deiner Romane. Dein erster Roman The Damned don'’t die von 1981 kam in Italien erst 1993 heraus, und zwar direkt als Taschenbuch, bei Bompiani. In Frankreich aber warst Du bereits übersetzt und wurdest als Kultautor der Reihe Rivages Noir verehrt. Auch in den Staaten warst Du Kult, besonders an der Westküste, wo Du einer der Hauptautoren der legendären Black Lizard Books warst, einem Ableger der Noir Creative Arts Book Company aus Berkeley, die Deine und Barry Giffords Romane (Wild at Heart) veröffentlichten sowie die vergessenen Meister der Kriminalliteratur der dreißiger bis sechziger Jahre neu auflegten, vor allem aber das Genie Jim Thompson, den Guru der sogenannten Pulp Fiction, post mortem bekannt und zu einem der meistadaptierten Autoren des amerikanischen und nichtamerikanischen Kinos machten. Ja genau, die legendären Black Lizard Books, die am Ende ihrer glänzenden und kohärenten Entwicklung praktisch ausgelöscht wurden durch die Übernahme von Random House, einer jener teuflischen Fusionen, die, wie Du nur zu gut weißt, das unabhängige Verlagswesen Deines Landes zum Verschwinden gebracht und alles in einen Mainstream-Einheitsbrei verwandelt haben, sodass dort, wo vorher Jim Thompson, Charles Willeford, David Goodis, Harry Whittington, Charles Williams, Barry Gifford und Du waren, jetzt nur noch das Trio Hammett, Chandler und Cain (Vintage Crime/Black Lizard) herrscht ... Und abgesehen davon, na los, sprechen wir es aus, wo wir schon dabei sind, sagen wir’s wie einer Deiner Protagonisten: Kultautor ’n Scheiß. Denn damit ist, zumindest was Dich betrifft, ein unremunerative author gemeint, mit dem Kultstatus wird schöngeredet, dass Dir nie ein Bruchteil dessen bezahlt wurde, was du wert bist ... Aber gerade das hat mich, nachdem wir uns kennenlernten, so verblüfft, und zwar mehr noch als Deine Bravour: dass Du — überall gelobt und von anspruchsvollen Lesern bewundert, aber nie angemessen entlohnt — Deine Erfolglosigkeit, beziehungsweise Deinen ›Erfolg zum Nulltarif‹ als strukturellen und unverzichtbaren Bestandteil Deiner Freiheit betrachtest, dich klaglos damit abgefunden hast, Teilzeit-Schriftsteller und Teilzeit-Tischler zu sein, und sogar den Eindruck machtest, diese Arbeitsteilung als ein Privileg zu empfinden.

Der Kreis, der sich vor neunzehn Jahren auftat, schließt sich heute mit der italienischen Übersetzung des Romans Lethal Injection, den Heidi mir als Lektüre auf den Flug mitgab und durch den ich Dich kennengelernt habe. Er schließt sich mit diesem Text für die italienische Ausgabe, von dem ich noch nicht weiß, ob er ein Vor- oder Nachwort wird. Wer sonst hätte ihn schreiben sollen? Ich wäre verdammt beleidigt gewesen, wenn jemand anderer damit beauftragt worden wäre. Obwohl Ihr, lieber Jim und lieber Sergio Fanucci (der couragierte Verleger Nisbets), nur zu gut wisst, dass Schicksal eben Schicksal ist und dass mein Text nicht viel helfen wird. Durch ihn wird sich der Roman nicht besser verkaufen, und er wird nichts verändern, was sich bisher nicht geändert hat. Ihr wisst es, weil ich bereits einmal ein Buch von Jim in Italien (durch ein Nachwort) unterstützt habe: Prelude to a Scream von 2001, ebenfalls ein großartiger Roman — der aber sang- und klanglos untergegangen ist. Was ganz logisch war, damit wir uns richtig verstehen, und auch folgerichtig: Du bist und bleibst offenbar für immer ein Phantomgenie, mein Freund, nur wenigen bekannt und von wenigen bewundert — aber die sind über die ganze Welt verstreut und insgesamt gar nicht mal so wenige. Über das Buch Tödliche Injektion will ich nicht viel sagen. Es ist ein Buch, das einen kaum Luft holen lässt, um einen Kommentar abzugeben. Ich sage nur so viel, dass es auf seine Art perfekt ist. Kein Wort über die Story und die Protagonisten, denn wir wissen ja, dass es nicht nur um eine Story und Protagonisten geht, sondern um eine Weltanschauung, um Struktur, Schreiben und vor allem um Dich. Das ist es, was Dich letzten Endes so einzigartig macht, selbst im Vergleich mit Deinen Kollegen innerhalb des Genres: Du bist immer in Deinen Geschichten drin, Deine Schreibe ist nicht mimetisch, nicht essentiell, trocken und distanziert. Deine Schreibe trägt Dich durch die Story, auch wenn Du nie in der ersten Person erzählst. Und das ist so unnachahmlich an Dir, Jim: Du bist immer da, selbst dann, wenn Du nicht da bist. Mit anderen Worten: Du bist immer da, aber Du bist niemandem im Weg.

Zum Beispiel am Anfang des 8. Kapitels:

›Anfänglich hätte Royce nicht zu sagen vermocht, wie lange er geschlafen hatte. Er hatte sich einer dieser Kurzschlafphasen hingegeben, wie es Menschen tun, wenn sie zu lange mit ein und derselben Sache beschäftigt sind und wenig Hoffnung hegen, es jemals zu schaffen, etwas anderes zu tun. Also warum sich nicht ein bisschen ausruhen? Dem Leben ringsum bliebe nicht genügend Zeit, sich zu verändern, während man eingenickt war; allerdings bliebe dem Leben ohnehin nie genug Zeit, sich zu verändern, soweit es das Leben dieser Anhänger des Kurzschlafes betraf. Nun, vielleicht hatte er ungefähr eine Stunde geschlafen.‹

Wer spricht hier, Jim? Wer stellt sich hier die Frage? Es ist nicht der Protagonist Royce — Royce wacht auf und fertig. Es ist niemand, der zur Story gehört, Jim. Du bist es. Du, der Schreibende, bekennst Dich als Autor in einem Genreroman, einem Hard boiled voller Action und Perversion. Wow. Gewisse Kollegen von Dir würden nicht mal verschämt zugeben, Schriftsteller zu sein, sie verstecken sich ständig und theoretisieren sogar ihr Versteckspiel, von Lektoren und fanatischen Kritikern bestärkt, als Stilmittel und Wert ...

Du dagegen machst den Tischler und hättest folglich ein Alibi, könntest sagen: ›Ich? Ich habe damit nichts zu tun, ich habe nur gehobelt.‹ Aber nein, Du stehst nicht nur zu Deinen Geschichten, sondern Du nimmst an ihnen teil: Du lässt zu, dass der Held ein bisschen weniger heldenhaft, clever, witzig und intelligent ist, dass er normaler ist, und übernimmst Deinerseits die Verantwortung dafür, heldenhaft, clever, witzig und intelligent zu sein. Weil Du — wie oft haben wir darüber gesprochen, an der North Beach, an die Du mich geführt hast, wo Dich jeder kannte und Dir auf den Rücken klopfte und wo man in eine verdammte Zeitmaschine einzusteigen schien, so sehr schien die untergegangene Sonne noch überall — die große Literatur, Beckett, Kenzaburo Oe, Škvorecký und Dostojewski liebst. Und deshalb sage ich hier über dieses Buch nur eines: Dass es wie von einem dieser vier Großen geschrieben scheint — und stattdessen hast Du es geschrieben.«

16. Juli 2009, La Repubblica

1

Den Geistlichen plagten ein Schnupfen und Zweifel an seiner sexuellen Identität. Dann dieser Gottesdienst, den er so noch nie vollzogen hatte. In den Gebeten fand sich ein Satz zur fakultativen Verwendung, den es richtig hinzubekommen galt. Der Schriftsetzer hatte die Zeile im Text deutlich hervorgehoben, indem er sie in Klammern und kursiv gesetzt hatte:

(insbesondere jene, die zum Tode verurteilt sind)

Okay, dachte er, also los.

»O Gott, der Du uns Schonung gewährst, wenn wir Strafe verdienen, und in Deinem Zorn Gnade walten lässt … « Hier nickte er dem Gefangenen zu. Die Pietät erforderte eine Trennung zwischen der Belanglosigkeit der eigenen, dem Priesterdasein geschuldeten Leiden und der Abscheulichkeit der Straftat des Gefangenen, erlaubte jedoch, dass beidem die der Zorn-und-Gnade-Matrix innewohnende Großmut zuteil wurde. » … demütig flehen wir Dich an, in Deiner Güte alle Gefangenen zu trösten und ihnen beizustehen«, und jetzt kam es. Er räusperte sich dezent und sprach es aus, »insbesondere jene, die zum Tode verurteilt sind.«

Der Priester machte eine Pause und putzte sich die Nase. Er hatte sie korrekt gelesen, die kursive Einfügung im »Gebet für Gefangene«. Obwohl die Verwendung des Satzes ausdrücklich im eigenen Ermessen lag, hatte er ihn eines verträumten Sonntagmorgens versehentlich in ein Gebet für einen an einem Anfall von Malaria leidenden Betrüger einfließen lassen, der lediglich eine Strafe von ein bis fünf Jahren wegen Scheckbetrugs abzusitzen hatte. Dieser Lapsus hatte — gelinde gesagt — das Delirium des Mannes verschlimmert.

»Insbesondere jene«, wiederholte der Geistliche leise und nicht ohne einen Anflug von Befriedigung, »die zum Tode verurteilt sind.« Er fuhr sich über die Augenbraue und stopfte das feuchte, zerknüllte Papiertaschentuch zwischen die mit Werbeaufdrucken unterschiedlichster Beerdigungsinstitute versehenen Kugelschreiber und Drehbleistifte in der Innentasche seines schwarzen Leinengewandes und schniefte.

In Ketten, ohne Hemd und schweißgebadet hockte Bobby Mencken auf der Kante seiner Pritsche, darum bemüht, jede Einzelheit des Vorgangs mitzubekommen. Nicht dass diese Einzelheiten ihm nicht präsent gewesen wären — tatsächlich drängte sich ihm jedes noch so kleine Detail der Zelle in nie da gewesener Weise auf; er fühlte sich geradezu umzingelt von den vielen winzigen Ausschnitten. Doch das Problem bestand nicht in der Wahrnehmung der Einzelheiten, auch nicht in Bobby Menckens Fähigkeit, sich darauf zu konzentrieren. Das Problem bestand darin, dass jedes Detail mit den anderen in Wettstreit trat, was seine individuelle Wichtigkeit betraf, und unübersehbar Ebenbürtigkeit oder Überlegenheit für sich reklamierte, während sich ein Großteil von Bobby Menckens Verstand weigerte — zumindest der Teil, dem er ungeachtet der vielen verrückten Geschehnisse und Einzelheiten, ungeachtet der verflossenen Jahre die Verantwortung für derlei übertragen hatte —, auch nur ein Jota dessen, was ihm nun widerfuhr, als signifikant, bedeutungsvoll oder wichtig anzusehen. Zu viel war Bobby Mencken widerfahren, zu viel war schiefgelaufen.

Warum sich jetzt damit belasten?

»Gib ihnen das rechte Verständnis ihrer selbst und Deiner Verheißungen, sodass sie, Deiner Gnade ganz vertrauend, ihre Zuversicht nur in Dich setzen werden … «

»Werden« klang wie »merden«, was der verstopften Nase des Priesters zuzuschreiben war. Bobby, der etwas Französisch verstand, begehrte kurz auf, gratulierte dann aber seinem Verstand, seiner Neigung zum naheliegenden Wortspiel oder zur Transformation von »merden« in »merde« nachgegeben zu haben, und akzeptierte stillschweigend das Gleichnis von einem in einem Kokon aus Scheiße verbrachten Dasein, um seine Aufmerksamkeit umgehend auf die der Aussage innewohnenden Ironie zu richten: »... das rechte Verständnis ihrer selbst und Deiner Verheißungen.« Bobby sah hinunter auf seine gefesselten Handgelenke und drehte, begleitet von einem leisen Klimpern der sich neu ordnenden Glieder der Kette, die Handflächen nach oben. Sein ganzes Leben lang hatte er darauf vertraut, dass diese Hände ihn aus jeder misslichen Lage befreiten, in die sein Verstand ihn gebracht hatte. Gefängnisdirektor Johanson hatte Bobby zu verstehen gegeben, dass er ungern einen Mann in Ketten schmoren lasse, der sich darauf vorbereite, seinem Schöpfer gegenüberzutreten. Das war jedoch bevor Bobby einen Wächter namens Peters fast zu Tode gewürgt hatte — neun Monate zuvor und mit bloßen Händen. Deshalb waren kurz vor Eintreffen des Geistlichen Wärter hereingekommen und hatten Bobby gefesselt. Er ließ seinen Blick über die düsteren Gestalten gleiten, die am Rande des Ganges oder besser gesagt, am Rande des Knüppeldammes vor seiner Zelle auf der Lauer lagen. Momentan waren es mindestens vier, bekleidet mit Kampfstiefeln ohne Schnürsenkel und dunkelblauen Dienstoveralls ohne Taschen und Gürtel, beides eigens dafür entworfen, unbewaffnete Aufseher in einem Zustand der Anspannung und Gereiztheit zu halten, wenn sie sich unter die »Bewohner« mischten. Er kannte sie alle. Einer war ein ehemaliger Green Beret; ein anderer kämpfte an Wochenenden als Sumo-Ringer; ein Dritter betrachtete es als Ehrensache, nie über sein Diplom in Betriebswirtschaftslehre zu sprechen, und der Vierte hielt es so mit seinem Sadismus. Und — was haben wir da? Einen Fünften? Bobby legte den Kopf auf die Seite, nur so viel, um den fünften Aufseher mit einem Blick zu streifen, und der Ausdruck in seinen Augen verhärtete sich. Es war Peters, der mit seinen spitzen, fast gestutzten Ohren und seinem auf Erbsengröße verdichteten Hirn, mit seinen stämmigen Beinen und seinem Gebaren eines an Syphilis im Tertiärstadium Erkrankten, der mit nur einseitig entwickeltem Instinkt, mit seinem unterwürfigen Blick, seiner Hartnäckigkeit und seinem Stumpfsinn völlig seinem Spitznamen entsprach: Pit Bull. Obwohl Bobby niemals das Geräusch von Krallen vernommen hatte, wenn Pit Bull Peters den Gang entlanggetrottet war, teilte er die Vorstellung sämtlicher Insassen von einem Manne, der alle Charakteristika seines Namensvetters aufwies, mit Ausnahme vielleicht des Halsbandes, das garantiert auf dem Boden eines Drahtverschlages in der Nähe von Direktor Johansons Büro lag, über eine dicke, kurze Kette verbunden mit einem tief im Boden verankerten Betonpfosten. Dieser gewisse Bulle, dieser Aufseher Peters, war ein Killer, und jeder im Gefängnis wusste das. Innerhalb von neun Jahren hatte er fünfmal getötet, ohne dass man ihm auch nur einmal eine Suspendierung vom Dienst ohne Bezüge aufgedrückt hätte, mit dem Resultat, dass er aufgrund seiner Vertrautheit mit plötzlichen Todesfällen berühmt und gefürchtet war und verehrt wurde wie … wie …

Pit Bull Peters war als Killer ebenso berühmt wie Bobby Mencken.

Bobby Menckens Miene verdüsterte sich und er wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß vom Gesicht. Er sollte nicht länger über Pit Bull Peters nachdenken. Nicht heute Nacht. Heute Nacht würde es ihm noch viel abverlangen, gelassen zu bleiben.

Der Priester fing das Mienenspiel des Gefangenen über den Rand der kleinen, nur halb gefassten, quadratischen Brille ein, die auf seiner wunden Nase thronte, und runzelte leicht die Stirn.

»Erlöse die Leidenden von ihrer Qual … «, rezitierte er oder treffender gesagt: Er las es vor, denn er hatte noch nie eine Zelle im Todestrakt betreten, seitdem Texas die Todesstrafe wieder eingeführt hatte und auch nicht davor. Wie auch immer, jedenfalls war er offensichtlich zu sehr aus dem Takt geraten, um sich auf sein ansonsten gutes Gedächtnis zu verlassen, hatten seine Worte doch bewirkt, dass sich Bobby Menckens Augenbraue hob. Keine noch so große Menge Valium würde Bobby von seiner Qual erlösen, und er fragte sich, wie viel sie ihm gegeben hatten, als im Gefolge eines weiteren Gedankens ein klägliches Lächeln Linien in sein Gesicht zog. Er war schwarz, athletisch, triebgesteuert, halbirre, gut aussehend, loyal, unvernünftig, lebenslustig, schlau, ungeduldig, verängstigt und abgebrannt.

Würde der Tod ihn von seiner »Qual« erlösen?

» … schütze die Unschuldigen, rüttle die Schuldigen wach … «

Das Lächeln erstarb und Bobbys Atem ging schneller. Es traf zu, dass Valium einen Einfluss darauf hatte, welche Eigenschaften er den Umständen ringsum zuschrieb, dennoch ließ es ihn nicht teilnahmslos zurück. Wie seine Henkersmahlzeit, deren Reste auf einem Tablett neben ihm lagen, gehörte auch der Priester zum Ablauf und von diesem Ablauf wollte er nichts versäumen. Kein Gebet für die hoffnungslos vom Schicksal über den Tisch Gezogenen würde etwas an deren Schicksal ändern, Gott hin oder her, genauso wenig wie der Genuss von Kiwis, Cantaloupe- und Honigmelonen, Neunkornbrot, Sprossensalat und Hartweizenspaghetti mit rohen Tomaten, Knoblauch, Olivenöl und frischem Basilikum in den nächsten Tagen seiner Gesundheit förderlich war. Er starrte abwesend auf die Schuhe des Priesters und rülpste. Der Geruch frischen Knoblauchs stieg ihm in die Nase. Wahrscheinlich hatten sie direkt nach Austin fahren müssen, um die Kiwis zu besorgen. Er hoffte es.

Der Geistliche unterbrach seinen Vortrag, seufzte und fuhr fort.

Dem Schuhwerk des Mannes nach zu urteilen, fiel beim Predigen nicht viel mehr ab als bei Überfällen auf kleine Eckläden. Bobby nahm eine feine Bewegung hinter einem der abgetragenen schwarzen Schnürer des Geistlichen wahr, und Stück für Stück zeigten sich zwischen den Schuhen auf dem kalten Steinboden Kopf, Beine und der flache Leib einer großen, braunen Kakerlake.

» … und insofern als Du allein Licht aus der Dunkelheit hervorbringst und Gutes aus Bösem, gewähre diesen … «

Bobby erkannte die Kakerlake als regelmäßigen Gast seiner Zelle, er erkannte sie an dem grellen, magentafarbenen Nagellack, der Beine und Rücken zierte und farblich zu den abgekratzten Lackresten auf seinen Fingernägeln passte. Diese seine Nägel waren von grotesker Länge, insofern als Johanson die meisten Privilegien Menckens nach der Attacke auf Peters aufgehoben hatte, wozu auch die Bewilligung einer Nagelschere und selbst die Möglichkeit einer Maniküre gehört hatten. Da Mencken Nägelkauen kategorisch ablehnte — eine Angewohnheit, die er inzwischen als Zeichen der Schwäche betrachtete —, drängte sich beim Anblick seiner Hände nur der Vergleich mit den Klauen eines Vampirs aus irgendeinem billigen Horrorfilm auf: Ein Film, dessen Budget zu gering war, so Menckens Vorstellung, um Weiße als Vampirdarsteller anzuheuern. Eines drögen Tages hatte er nicht nur seine Nägel, sondern auch Beine und Rücken der Schabe lackiert und gleichzeitig die Acetondämpfe des Lackes eingeatmet, bis der Inhalt der Plastikflasche nur noch aus eingetrockneten Farbresten bestand. Das war vor mindestens acht Monaten gewesen. Die Kakerlake hockte dort in ihren sechs purpurnen Strümpfen und mit ihrem gestreiften Rumpf, bewegte die Fühler hin und her, als wolle sie den Takt markieren für das Gebet, das von oben herabrieselte, eine Künstlerin auf der Bühne, flankiert von den schwarzen Hosenbeinen des Geistlichen, die gleichsam den Bühnenrahmen bildeten. Die Schabe Matilda, eine kleine Herrin von Zeit und Raum, die diese Zelle nach Belieben betreten und verlassen konnte, ein Zeugnis für das Ideal des mühelosen, stilvollen Überlebens.

» … Deinen Dienern, dass sie durch die Kraft des Heiligen Geistes von den Ketten der Sünde befreit werden … «

Bobby wandte seinen Blick dem Gesicht des Geistlichen zu. Der Priester hatte das Wort »befreit« — von den Ketten der Sünde befreit — mit großem Nachdruck ausgesprochen, als predige er in einem Zelt voller Leute. Arschlöcher wie er haben sich das im Fernsehen von Martin Luther King abgeguckt, das mal so ganz nebenbei bemerkt. Glaubte dieser Narr eigentlich, was er da vorlas? Der Geistliche wirkte fragil, sein Gesicht war blass und verquollen, sein rotblondes Haar schütter. In seiner Kehle bewegte sich der Adamsapfel hektisch wie ein gestresster Broker an der Warenterminbörse, der mit Schleim und Trauerfeierlichkeiten handelte. Dicke, schwarze Haare kräuselten sich über den schwachen Knöcheln seiner zartgliedrigen Hände, Hände, die niemals schwere Arbeit verrichtet hatten, Hände, an denen sich so schnell Blasen entwickeln würden wie blaue Flecken auf der weichen Haut des Körpers. Bobby erging sich in Gedanken über den betenden Geistlichen, und in seine Augen trat der kalte, abschätzende Ausdruck, der so typisch ist für einen Jäger, der zum ersten Mal seiner Beute gewahr wird. Wie es wohl wäre, mit diesem keuschen Priester Sex zu haben?, fragte er sich. Ich könnte ihn zum Schreien bringen, dachte er träge. Aber könnte ich ihn auch dazu bringen, mitten im Orgasmus seinem Glauben abzuschwören, nur um ihn ohne Not zu zerstören? Er stand kurz davor, sich zwischen den zarten Schichten eines flüchtigen, zerbrechlichen erotischen Tagtraums zu verlieren …

Sie hörten beide das stählerne Scheppern der elektromechanischen Schlösser, die den Todestrakt vom Rest des Gefängnisses absperrten, gefolgt von dem Geräusch der Ersten in einer ganzen Reihe zu öffnender riesiger Eisentüren, weit unten am Gang, fast am anderen Ende des Gebäudes. Als sich die Tür schloss und die langen Stangen, die sie oben und unten verriegelten, zurück in ihre Ausgangsposition schossen, pflanzte sich ihr Krachen fort durch den gesamten Zellenblock und ließ alles vibrieren, jeden erzittern vor Angst, eine Angst, die ihren Ursprung in einem weit entfernten höllischen System hatte. Niemand konnte derartige Geräusche hören, ohne sich zu fragen, welch trauriges, hässliches Geschehen sie ankündigten. Der Priester hielt inne in seinem Gebet, blickte auf und bemerkte, dass der Gefangene ihn ansah. Priester und Gefangener wechselten Blicke, der Priester aus Erschütterung, Mitleid und Respekt für einen Mann, der mit einem Bauch voll gesundem Essen so ruhig seinem Tod entgegenging — obwohl, wie er vermutete, wir einem Manne wie diesem mit einigen Gebeten ganz wunderbar Trost spenden können, abgesehen von einer kräftigen Dosis Valium. Doch dieser Gedanke, der ihm da durch den Kopf schoss, wurde jäh von einem anderen abgelöst, nämlich dass Gefangener Mencken, dem er zuvor nie begegnet war, ihn lüstern anblickte. Das Gesicht des Gefangenen Mencken war eine Maske purer Lust und der Priester erschauerte der Hitze zum Trotz. Lust war etwas, was er vorzugsweise durch das Gitter eines Beichtstuhls hindurch erörterte. Mit einem Male war er nicht mehr in seinem Element, war sprachlos, hilflos, ein Frosch, der eine Schlange beobachtete, nichts tat, abwartete, auf dem Seerosenblatt seines Glaubens hockte, eine Fliege auf der Zunge, die sein Gebet war, während er die blanken Augen in dem abgeflachten, dreieckigen Kopf seines Schicksals fixierte.

Aber das Krachen einer zweiten, näher gelegenen Tür und die Geräusche von Schuhen, die langsam und zielstrebig über die alten, abgewetzten Steine von Huntsville schritten, katapultierten den Priester zurück zu seiner Pflicht und er beeilte sich, das Gebet für den zum Tode verurteilten Gefangenen zu beenden.

» … Ketten der, der Sünde befreit werden … und … und mögen sie durch Jesus Christus unseren Herrn zu neuem Leben erweckt werden. Amen. Der allmächtige und gnädige Gott gewähre dir Verzeihung und Vergebung aller Sünden, und die Gnade und der Trost des Heiligen Geistes segne und behüte dich, alle Tage deines Lebens.« Huch. Er war aus dem Konzept geraten. Brachte die Absolution mit dem Segen durcheinander. Alle Tage seines Lebens, fürwahr. Der Priester senkte den Kopf, um sich zu bekreuzigen, und entdeckte die Kakerlake zwischen seinen Füßen. Ein Beben durchlief seine zarte Gestalt. Wäre er Ire, hätte er das vielleicht ertragen können, dachte er.

»Scheiße, Hochwürden«, erwiderte der Gefangene lachend. Obwohl er seit zwanzig Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen hatte, erkannte er einen Schnitzer, wenn er ihn hörte. »Alle Tage meines Lebens, Scheiße. Na los, Matilda«, fuhr er an die Kakerlake gewandt fort, »gesell dich zur Gemeinde.« Er hob seine Stimme mindestens eine Oktave und wiederholte:

»Scheiße, Prediger.«

Mencken lachte befremdlich, sah den Geistlichen an und zuckte mit den Achseln. Seine Ketten rasselten. »Sie ist auch nur ein gotteslästerliches Wesen, Hochwürden, und weiß es nicht besser.«

Er hielt inne. Sein Lächeln verflüchtigte sich. »Genau wie ich.« Er blickte hinunter auf die Kakerlake und lächelte wieder. »Sie ist gekommen, um sich von mir zu verabschieden.« Sein Blick wanderte hoch zu dem Priester. »Genau wie Sie.«

Den Kopf gesenkt, blickte der Geistliche nach oben, durch den Kranz seiner Wimpern, sein Kreuzzeichen gefror mitten in der Geste, nachdem seine Finger die Mitte seiner feuchten Braue berührt hatten.

Gefangener Mencken öffnete leicht den Mund, hob das Kinn und fuhr mit der Zungenspitze über die Unterkante seiner oberen Schneidezähne.

Obwohl er noch nie eine derart obszöne Geste, einen derart offenkundigen Flirtversuch aus nächster Nähe miterlebt hatte, brachte der Geistliche sein Kreuzzeichen schüchtern zum Abschluss, schloss das Gebetbuch um seinen Zeigefinger, markierte so die Stelle in den Sterbesakramenten und trat einen Schritt zurück, den Blick die ganze Zeit zu Boden gerichtet. Das wütende Geschrei, die Verhöhnungen und Flüche, alles, was aus den Zellen im Block zu ihnen durchdrang, erlaubte es beiden Männern, das Vorrücken der kleinen Truppe zu verfolgen, die im Anmarsch war, um den Gefangenen Mencken zum Ausgangspunkt seiner letzten Reise zu begleiten.

Nach einem Moment des Schweigens trat der Priester nach vorn und zerquetschte die Kakerlake unter der Sohle seines Schuhs. Das Geräusch ähnelte dem, das entsteht, wenn man seine Hand um eine leere Streichholzschachtel schließt und fest zudrückt. Der Priester drehte seinen Fuß leicht nach links, anschließend ein wenig nach rechts und trat dann mit gesenktem Blick einen Schritt zurück.

Auf dem Boden, genau in der Mitte zwischen ihnen, lag nun braungelber Brei, darin das eine oder andere magentafarbene Stängelchen, das an eine Kakerlake mit lackierten Beinen erinnerte, lackiert vom Gefangenen 61-204 in seiner Zelle im Todestrakt.

Während er insgeheim noch immer seinen Gott um Seines Angedenkens und der Seele des Gefangenen willen inständig angefleht hatte, war der verunsicherte Priester in seiner Zerstreutheit der Idee aufgesessen, die letzten vergänglichen Momente des erbärmlichen irdischen Daseins des Gefangenen ein wenig erträglicher gestalten zu können. Womöglich hatte er sogar eine schroffe Form des Dankes seitens des Gefangenen erwartet, in etwa nach dem Motto: »Hey, gut, Hochwürden, schätze mal, die kommt auch in den Himmel, weil der Herr weiß, dass es hier unten viele von ihnen gibt.«

Mencken für seinen Teil starrte nur auf den Fleck am Boden, nahm den Geruch der Welt ringsum wahr, sah ihre ihm so vertraute intensive Farblosigkeit, und ihm wurde bewusst, dass in dieser Zelle nur noch ein Wesen übrig war, dessen Leben heute Nacht ausgelöscht würde. In Oklahoma City hatte er seinerzeit die Seetangsuppe eines schmuddeligen chinesischen Kellerrestaurants probiert, und was man ihm serviert hatte, war — in Geruch, Geschmack, Farbe und Konsistenz — die Vorbotin dieser zwei Jahre Einzelhaft gewesen. Die ungenießbare Suppe hatte nach alten Reifen, Kreosot, Diesel und Jauche geschmeckt, nach aufgehäuften Krebstieren, die in der Sonne verrotten. Insgesamt fünf Jahre hatte er sich dem Gestank anheimgegeben, der Monotonie, dem Scheppern und Scharren und Stöhnen, der dreimal geatmeten Luft, den Schreien im Fegefeuer, den übelriechenden Fäulnisprozessen sich zersetzenden Fleisches und kaputter Därme, der verdammten Seelen, die Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt vorbeizogen, verwurzelt in einem steinernen Boden, dem keinerlei Nährstoffe innewohnten, in einer Atmosphäre, die kein Licht bot, in einer Welt ohne Hoffnung. Und dennoch hatte er gewartet, während Kräfte, so viel stärker als er, in einer unverständlichen, obskuren Sprache darüber diskutierten, ob es ihm erlaubt sein sollte, sofort zu sterben, oder ob er in einem kleinen, gefliesten Raum wie diesem die nächsten vierzig bis sechzig Jahre verkümmern und dahinvegetieren und allmählich verwesen sollte. Er hatte gewartet — ohne zu wissen, worauf, auf wen, wie, wann, hatte sich gewappnet gegen Gebete, Wunder, Magie, Täuschung, Halluzination, Seelenwanderung — ermutigt nur durch Stolz, Gewalt, Wachsamkeit, regelmäßiges Fitnesstraining, einen beständigen Hass und … Hoffnung?

Mencken hörte fast auf zu atmen, als er auf die elenden Überreste einer elenden, domestizierten Kakerlake starrte, die er Matilda genannt hatte, und er verfluchte sein eigenes elendes Ich. Roger, zehn-vier, ja, Hoffnung, hoffnungslose Hoffnung. Er hatte es sich gestattet, einen kläglichen Keim der Hoffnung aufzuziehen, der sich, anfänglich tief verborgen, in seinem gesamten Innern ausgebreitet hatte, und nur diese Hoffnung hatte es ihm ermöglicht, in dieser Einzelzelle zwei Jahre zu überleben. Ohne diese Hoffnung hätte er niemals gelacht, geschlafen, geträumt, wäre in diesem infernalischen Bienenstock nicht mehr als ein- oder zweimal aufgewacht, geschweige denn, dass er auf die Dummheit verfallen wäre, eine Lanze für die Anständigkeit zu brechen, indem er Pit Bull Peters umzubringen versuchte. Aber selbst da war die Hoffnung ihm eine Stütze gewesen, hatte seine Duldsamkeit genährt, um die lange Halbwertszeit der Einzelhaft durchstehen zu können. Und nun?

Seit seiner Kindheit — und jetzt mehr denn je — war er fähig gewesen, vollkommen ruhig dazusitzen und den vibrierenden Rand des Chaos zu spüren, auf dem alles schwankt und jenseits dessen er sukzessive in eine wackelige Unschärfe geriete, verblüfft darüber, dass es mehr bedurfte als der schieren Kraft seines Hasses, um die Welt ringsum — oder zumindest ihre Mauern — zum Einsturz zu bringen.

Tod und Freiheit, jedes die Umkehrung des anderen, nicht nur mehr Gegensatz, sondern Äquivalent und Synonym, in bester logischer Manier jedes die Erfüllung der Hoffnung des anderen.

Dessen nicht genug — ihm verunglückte das Grinsen — hatte diese Suppe auch noch zwei Dollar gekostet.

Er saß auf der Kante seiner einfachen Schlafstatt, die Schuhe im Blick, die hinter den Gittern seiner Zellentür auftauchten und dort, im Gang, verharrten. War sein Henker darunter? Wer von diesen Beamten würde die Nadeln in seine Arme stechen, die Ventile öffnen, die zu injizierende ausgeklügelte, tödliche Mischung auf den Weg schicken, auf dass die endgültige Schwärze sich in seinem Herzen ausbreite wie Sepia eines Tintenfisches im Meer?

Seine Ketten rasselten, als er die rechte Armbeuge mit seiner linken Handfläche bedeckte und über eine vernarbte Vene rieb. In der Vergangenheit oft missbraucht, waren seine Venen dank des makabren Nutzens eines zweijährigen Trainings im Gym des Gefängnisses sehr dick, kräftig und gut sichtbar: gesund, könnte man sagen. Es war die Hoffnung, die ihn dazu gebracht hatte, tagtäglich Eisen zu stemmen und sich selbst zu einer nie zuvor gekannten physischen Anstrengung aufzuschwingen. Er streckte beide Arme aus und betrachtete sie. Genau wie seine Brustmuskeln hatten seine Trizeps, Bizeps und die Unterarme an Umfang zugenommen, waren stark und gut definiert — das genaue Gegenteil des dürren Junkies, aus dem ein Geständnis herauszuprügeln, es nur zweier Cops bedurft hatte, vor dreieinhalb Jahren, ganz hinten in einem Gefängnis in Dallas.

Er beugte die Arme und die Tätowierungen, die beide der Länge nach bedeckten, wuchsen entsprechend und wurden wieder kleiner. Colleen … Würde sie sich dieses Körpers jetzt gern bedienen? Selbst Fast Eddie könnte er ein oder zwei Obszönitäten zeigen. Bobby Mencken berührte die beiden runden Narben auf seiner Schulter.

Schnell verbannte er diese Namen aus seinen Gedanken. Es waren emotional besetzte Substantive, besetzt mit Empfindungen, denen er sich seit zwei Jahren verweigerte, seit dem endgültigen Urteilsspruch, der nach dem Scheitern aller Berufungen nur noch den Gang in die Todeskammer für ihn bereithielt. Doch … Er beugte wieder die Arme, die Muskeln schwollen an, rollten und bewegten sich in Wellen, so wie er es vor den zerkratzten, körnigen, mit Plexiglas verkleideten Spiegeln im Gym gelernt hatte. Nicht übel, wahrlich nicht übel. Kein Kerl hier drinnen hatte ihn jemals abgewiesen, selbst ein, zwei jungenhafte Aufseher waren der Anziehungskraft dieses Körpers erlegen, dem Freudenspender, dem Todesengel.

Doch würden sie ihm eine Wahl lassen? Welche Droge? Welche Venen genau würden den Tod empfangen? Und wie käme der Tod daher? Mit welchem Gift? Ein Giftcocktail, wurde allerorten gemunkelt. Er lachte halbherzig, zuversichtlich, dass der Staat die besten Drogen zur Verfügung stellen würde, um sein, Bobby Menckens, Ableben sicherzustellen. Und trotz der großen Sommerhitze durchlief ihn ein Schauer und seinen nackten Oberkörper überzog eine Gänsehaut. Eine eisige Leere verschlang sein Lachen und er hob die Arme an die Brust. Die Kette, die seine Armgelenke verband, fiel dagegen. Ihre Glieder fühlten sich warm an auf der prickelnden Haut.

Dann waren sie alle an der Tür. Direktor Johanson, Pit Bull Peters, ein Mann aus dem Büro des Gouverneurs, die vier anderen Aufseher, weitere Wärter. Einer von ihnen schloss die Tür auf.

Peters betrat die Zelle, einen Ausdruck auf dem Gesicht, der Thanatos, der Gottheit des Todes, zur Ehre gereicht hätte. Peters blieb stehen und die Tür schloss sich hinter ihm.

Wow, dachte Mencken, und ein kräftiger Stoß Paranoia auslösendes Adrenalin verjagte das träge Valium aus den Steuerungszentren seines Stoffwechsels. Jede Faser seines Körper signalisierte Alarm, ohne dass auch nur ein einziger seiner Gesichtsmuskeln durch ein Zucken seine um das Doppelte gesteigerte Wahrnehmung verraten hätte. Die schwache Glühbirne in der Zelle schien heller zu leuchten mit jedem Insekt, das dagegenflog. Irgendwas war im Gange. Peters und Mencken in ein und derselben Zelle, das war eine bewusste Provokation, genauso wie … Bobby Menckens Blick schoss hinüber zu dem betenden Priester.

Genauso wie das Töten einer domestizierten Kakerlake?

Peters stand da wie auf dem Exerzierplatz, die routinierten Hände hinter dem Rücken gefaltet, unsicher, ob der Geistliche mit seinem Ritual am Ende angelangt war, in der Hauptsache jedoch in Erwartung, dass Gefangener Mencken auf dem Weg zu seinem goldenen Schuss aus der Reihe tanzte. Der Körper des Wärters hatte die unschöne Form einer auf dem Kopf stehenden Pyramide.

Seinen Erzfeind im Visier, zog Mencken langsam seine Füße auf die Kante der Pritsche, platzierte seine Unterarme auf den Knien, versuchte, die Entfernung zwischen sich und dem Aufseher abzuschätzen und kam ins Grübeln. Verlangte das altehrwürdige Zeremoniell einer solchen Situation nicht absolutes Taktgefühl gegenüber dem zum Tode Verurteilten?

Die Zelle war klein, kaum drei Meter breit. Mencken kannte ihre Abmessungen genau.

Peters’ Blick wanderte hinüber zu den Verantwortlichen hinter den Gitterstäben, die miteinander berieten. Johanson würde ihm wenig Spielraum einräumen. Es gab zu viele Zeugen.