Tödliche Nähe | Ein atmosphärischer Spannungsroman mit beklemmend-eindringlicher Stimmung - Antonia Richter - E-Book

Tödliche Nähe | Ein atmosphärischer Spannungsroman mit beklemmend-eindringlicher Stimmung E-Book

Antonia Richter

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Beschreibung

Die Bedrohung lauert im Verborgenen und wartet nur auf dich …
Ein atmosphärischer Spannungsroman mit beklemmend-eindringlicher Stimmung

Seit dem Tod ihrer Mutter ist die junge Schauspielerin Hazel Karelius nicht mehr dieselbe. Geplagt von Albträumen und unerbittlichen Migräneattacken, kämpft sie täglich gegen den erbarmungslosen Neid und Konkurrenzdruck in ihrem einstigen Traumjob. Gerade als sie beschlossen hat, ihrem Beruf den Rücken zu kehren, erreichen sie bedrohliche Botschaften am Arbeitsplatz. Ihre Kollegen verhalten sich zunehmend verdächtig und Hazel wird von einer lähmenden Angst erfasst. Wem kann sie jetzt noch vertrauen?
Die Lage eskaliert, als Hazel auch in ihren eigenen vier Wänden keine Sicherheit mehr findet. Unerklärliche Vorfälle häufen sich, und sie beginnt, an ihrem Verstand zu zweifeln. Ist es nur Einbildung? Doch dann entdeckt Hazel grausame Geschenke, die jemand heimlich in ihrem Haus platziert hat. Eine unheimliche Person wartet auf sie – und das perfide Spiel hat gerade erst begonnen …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Ich sehe, was du tust.

Erste Leser:innenstimmen
„Die beklemmende Situation, in der sich Hazel befindet, ist so realistisch beschrieben, dass ich mich selbst verfolgt gefühlt habe.“
„Ein absolut atemberaubender und unheimlicher Stalker-Thriller!
„Die Mischung aus psychologischem Druck und echter Gefahr macht diesen Psychothriller zu einem nervenaufreibenden Erlebnis.“
„Antonia Richter hat die düstere Stimmung und die wachsende Paranoia von Hazel sehr authentisch dargestellt.“

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Seitenzahl: 511

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über dieses E-Book

Seit dem Tod ihrer Mutter ist die junge Schauspielerin Hazel Karelius nicht mehr dieselbe. Geplagt von Albträumen und unerbittlichen Migräneattacken, kämpft sie täglich gegen den erbarmungslosen Neid und Konkurrenzdruck in ihrem einstigen Traumjob. Gerade als sie beschlossen hat, ihrem Beruf den Rücken zu kehren, erreichen sie bedrohliche Botschaften am Arbeitsplatz. Ihre Kollegen verhalten sich zunehmend verdächtig und Hazel wird von einer lähmenden Angst erfasst. Wem kann sie jetzt noch vertrauen? Die Lage eskaliert, als Hazel auch in ihren eigenen vier Wänden keine Sicherheit mehr findet. Unerklärliche Vorfälle häufen sich, und sie beginnt, an ihrem Verstand zu zweifeln. Ist es nur Einbildung? Doch dann entdeckt Hazel grausame Geschenke, die jemand heimlich in ihrem Haus platziert hat. Eine unheimliche Person wartet auf sie – und das perfide Spiel hat gerade erst begonnen …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Ich sehe, was du tust.

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe September 2024

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-213-0 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-215-4 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-214-7

Copyright © 2023, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2023 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Ich sehe, was du tust (ISBN: 978-3-98778-040-0).

Covergestaltung: Verena Kern unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Here, © Krzysztof Bubel, © Lee Charlie, © Iris_art, © amber_85, Lektorat: Astrid Pfister

E-Book-Version 07.02.2025, 14:44:44.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Tödliche Nähe

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Tödliche Nähe
Antonia Richter
ISBN: 978-3-98998-214-7

Die Bedrohung lauert im Verborgenen und wartet nur auf dich …Ein atmosphärischer Spannungsroman mit beklemmend-eindringlicher Stimmung

Das Hörbuch wird gesprochen von Barbro Viefhaus.
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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

es freut mich ganz besonders, und ich bedanke mich sehr herzlich dafür, dass Sie sich für dieses Buch entschieden haben und nun meine Geschichte um Hazel Karelius in Händen halten.

Bestimmt haben Sie schon gelesen, dass im Mittelpunkt von „Tödliche Nähe – Deine Angst ist mein Spiel“ die junge Theaterschauspielerin Hazel steht, die, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, sowohl im Theater als auch zu Hause, von unheimlichen Vorfällen heimgesucht wird.

Erlauben Sie mir, Ihnen, bevor der Vorhang sich öffnet und die Vorstellung beginnt, einen Blick hinter die schriftstellerischen Kulissen zu gewähren.

Beim Schreiben gibt es für mich immer wieder Szenen, die mich ganz besonders anrühren. So muss es für mich sein, so muss das Schreiben sich anfühlen, damit ich darauf vertrauen kann, die richtigen Themen und Worte zu finden. Bei der Geschichte von Hazel war dies der Fall. Sie hat mich gefunden, mich berührt, verstört und an den Grundfesten meines Vertrauens gerüttelt.

Obwohl ich wusste, wie die Geschichte ausgehen würde, habe ich mit Hazel mitgefühlt, ihre Zerrissenheit zwischen Lähmung und Alarmiertheit angesichts eines unbekannten Verfolgers gespürt und am Ende …

Aber ich möchte nicht zu viel verraten.

Ich bin davon überzeugt, dass es beim Schreiben ausnahmslos immer und über alle Genres hinweg um Emotion geht. Ein Spannungsroman muss für mich daher nicht unbedingt blutig sein, und auch in diesem Buch werden Sie es, zumindest vordergründig, nicht mit allzu blutigen Szenarien zu tun bekommen. Mit Dramen jedoch ganz gewiss, von denen manche ganz offensichtlich im Scheinwerferlicht geschehen, während andere peu à peu enthüllt werden.

An der Seite von Hazel wünsche ich Ihnen nun spannende Unterhaltung und mindestens so viel Spaß beim Lesen, wie ich beim Schreiben hatte.

Mit herzlichen Grüßen

Antonia Richter

Kapitel 1

Hazel Karelius musste nur noch dreißig Mal sterben, um endlich frei zu sein.

Zweiunddreißig Mal, um genau zu sein, dachte sie und schob im Fallen eine Hand an ihre Wange, um nicht mit dem Gesicht auf den staubigen Brettern zu landen.

Die Pause, die auf ihren Tod folgte; die absolute Dunkelheit als Kontrast zu der ausgeklügelten Bühnenbeleuchtung, markierte wie immer die Grenze zwischen Illusion und Realität.

Die Stille war beinahe surreal, aber gleich … gleich würde das Publikum den Zauber durchbrechen. In bester Absicht und mit begeistertem Applaus würde es die Leistung der Schauspieler würdigen, und die mit jeder Menge Leidenschaft und Technik erschaffene Traumwelt arglos einreißen.

Nur für wenige Sekundenbruchteile würde das Publikum noch eine gesichtslose Menge bleiben. Das anonyme Schwarz, dem Hazel sich Abend für Abend offenbarte … dem sie ihre ungefilterte Emotion in den dunklen Rachen schleuderte.

Sie erhob sich im Schutz der lichtlosen Bühne und huschte nach hinten zu den anderen. Nur für einen kurzen Augenblick, das war klar, denn der erste Vorhang gebührte der Hauptdarstellerin. Sie war kaum auf der Hinterbühne angelangt, wo die anderen sich eng aneinanderdrückten, als auf der Hauptbühne alle Lichter angingen und zeitgleich der Applaus aufbrandete.

Hazel zählte innerlich bis zehn und lief dann nach vorne. Sie knickste in einer Mischung aus Schauspieler- und Tänzerinnenverbeugung und war im nächsten Moment schon wieder von der Bühne verschwunden. In genau abgesprochener Reihenfolge taten es ihr nun jene Eltern, Lehrer und Schüler gleich, die knapp zwei Stunden lang versucht hatten, den Todeiner Schülerin entweder zu forcieren oder zu verhindern.

Schließlich fanden sich alle hinter der Bühne zusammen, um einander gleich darauf wieder spielerisch nach vorn zu schieben. Spätestens jetzt, als sie alle aus ihren Rollen fielen, um ein wenig des Applauses für sich selbst in Anspruch zu nehmen, platzte die Seifenblase. Abend für Abend.

In dem demonstrativ fröhlichen Gewusel verspürte Hazel plötzlich einen heftigen Stoß in ihrem Rücken. Die anderen hatten nichts bemerkt, nur eine wusste davon. Das war Hazel spätestens dann klar, als Pia sie im letzten Moment vor dem Fall grob an der Schulter zurückriss.

»Vorsicht, Chrissie«, zischte sie in ihrem Nacken, »tu dir nicht weh!«

Hazel reagierte nicht. Natürlich nicht. Sie hätte das auf die Situation schieben können. Selbstverständlich strahlte sie glücklich ins Publikum, als sie sich mit ihren Schauspielkollegen ein letztes Mal für diesen Abend verbeugte. Alles andere wäre absolut deplatziert gewesen. In Wahrheit aber hätte sie auch hinter der Bühne nicht gewusst, wie sie auf diese offene Gemeinheit der Kollegin reagieren sollte.

Ihr einziger Trost konnte sein, dass die Antwort auf diese unliebsame Frage schon in wenigen Wochen mehr als obsolet sein würde. Zufrieden stellte sie diese Erkenntnis dennoch nicht.

Sosehr sie eben alle noch ein Team gewesen waren, so schnell zerfiel die Gemeinschaft hinter der Bühne in die bekannten Grüppchen und Einzelgänger. Hazel beeilte sich, durch die verschlungenen Katakomben in die große Gemeinschaftsgarderobe zu kommen.

Wer sehen und vor allem gesehen werden wollte, ging hinter der Bühne seitlich hinaus. Mit Sicherheit war Pia gerade hierhin getanzt. Hazel legte auf den ganzen Rummel keinen Wert. Nachdem der Sturm sie in der Rolle erfasst, herumgewirbelt und an die markierte Stelle gespuckt hatte, war sie nach der Vorstellung vielmehr bemüht, wieder in ihr kontrolliertes Ich zurückzufinden. Bebend vor Emotion und mit noch zitternden Knien, gelang ihr das mal besser, mal schlechter. Heute, nach der müßig überspielten Attacke der Kollegin, waren ihre Gedanken überraschend klar.

Wie immer wählte sie den schmalen Gang von der Hinterbühne, um unbemerkt zur Garderobe zu kommen. Auf dem verwinkelten, von Schattengeistern bevölkerten Weg registrierte sie einmal mehr den besonderen pudrigen Duft, den es nur im Theater gab, und der eine Spur Lampenfieber von Generationen von Schauspielern und ein Konzentrat der jahrzehntealten Geschichten in sich trug und der sie schon früh verzaubert hatte. Seit ihrer Kindheit war die Theaterluft für sie untrennbar mit der Faszination für diese Scheinwelt verbunden, in der Kummer und Glück genau einen Abend lang währten.

Gerade bog sie um die letzte Ecke, als sie, noch auf dem Gang, die schrille Stimme ihrer Kontrahentin hörte.

»Klar, ich war damals ja auch noch blutjung.« Pia lachte kokett. »Gerade mal dreiundzwanzig. Aber es war ein schöner Start für eine junge, unerfahrene Schauspielerin, und immerhin habe ich beim ersten großen Engagement gleich die Hauptrolle bekommen!«

Hazel ahnte, über welche Rolle sie sprach.

»Auch wenn sie, nun ja, nicht gerade die Krone des Anspruchs ist. Zugegeben.«

Natürlich nicht. Hazel hob die Augenbrauen. Zu durchschaubar war der Versuch ihrer Kollegin, die die Hauptrolle zumindest heute nicht mehr bekommen hatte, ihre Leistung kleinzureden. Sicher konnte sie da noch nachlegen. Drei, zwei, … und tatsächlich.

»Unser Regisseur damals hätte die Christiane jedenfalls niemals mit einer über Dreißigjährigen besetzt.«

Jetzt hatte sie es ihr aber gegeben. Hazel unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Stattdessen betrat sie den Raum vermeintlich unbeeindruckt und steuerte an den anderen vorbei zu ihrem Platz. Von Pias Entourage kam nur ein unbestimmtes Murmeln, womöglich zustimmend, genau konnte Hazel das nicht sagen.

Mittlerweile machte sie der ständige Konkurrenzdruck am Theater nicht mehr traurig, sondern nur noch müde. Sie konnte die zahlreichen Möchtegern-Attacken ihrer überspannten, vermutlich frustrierten Kollegin mittlerweile allerdings gut ausblenden. Dass sie sich im Gegensatz zu ihr auch mit vierunddreißig noch ihre Tänzerinnenfigur und ein mädchenhaftes Äußeres bewahrt hatte, war in ihren Augen kein Makel.

In Hazels erstem Leben, das sie ebenfalls auf die Bühne, wenn auch mit Spitzenschuhen und Tutu, hätte führen sollen, hatte es diese Art von Lästereien nicht gegeben. Wahrscheinlich waren sie alle einfach zu erschöpft gewesen von den vielen Stunden täglichen Trainings. Kein Wunder also, dass sie nicht gelernt hatte, sich gegen solche verbalen und körperlichen Angriffe zur Wehr zu setzen.

Sie spähte verstohlen in Richtung Pia, die inzwischen ein anderes Thema gefunden zu haben schien, mit dem sie ihre kleine Anhängerschar unterhielt. Einerseits froh darüber, dass die Kontrahentin das Interesse an ihr verloren hatte, ärgerte Hazel sich dennoch wieder einmal über ihre fehlende Schlagfertigkeit, und noch mehr darüber, dass sie diese unerfreuliche Episode so sehr beschäftigte.

»Ich habe das gesehen«, erklang plötzlich eine heisere Stimme dicht hinter ihr, als sie sich gerade vor den Spiegel ihrer verschnörkelten Schminkkommode, einem Überbleibsel ausrangierten Bühneninventars, gesetzt hatte. Der warme Atem des Sprechers streifte unangenehm ihren Nacken und ein, zwei verlorene Speicheltröpfchen landeten auf ihrer Haut. Sie erschauderte innerlich, beherrschte sich aber.

»Ach, Elliott, du bist es!«, versuchte sie, Zeit zu gewinnen. Der Kollege sah abseits des schmeichelnden Bühnenlichts ziemlich fertig aus. Aus geröteten Augen starrte er sie empört an, gerade so, als habe sie sich etwas zuschulden kommen lassen. Sie konnte nichts dagegen tun, dass sie sich schlagartig noch ein wenig unwohler in ihrer Haut fühlte. Schlimmer noch, als sich wehrlos mobben zu lassen, war es wohl nur noch, dabei beobachtet zu werden.

»Genau. Aber lenk mal nicht ab.«

»Hm?«

»So langsam überspannt sie den Bogen echt. Das ist nicht cool, wenn du mich fragst.«

»Da sind wir uns einig«, gab Hazel zurück. »Und jetzt? Was soll ich denn deiner Meinung nach gegen ihre ungerichtete Aggression tun?«

»Also ungerichtet sah der Stoß gerade nicht aus.« Elliott starrte finster auf den Boden.

»Ach komm, über so etwas lohnt es sich einfach nicht, nachzudenken. Wer verletzt ist, verletzt andere. Sagt man das nicht so?« Hazel hoffte, dass ihr Kollege sich mit dieser Floskel abspeisen ließ.

»Keine Ahnung.« Elliott war in Gedanken offensichtlich schon wieder ganz woanders. Hazel erschien er mit einem Mal seltsam traurig.

»Aber nett, dass du …«, begann sie, als Elliott sich plötzlich abwandte und in Richtung seines Schränkchens, das in besseren Zeiten ebenfalls auf der Bühne gestanden hatte, verschwand.

Irritiert schloss sie den Mund. Was auch immer das sollte, es hatte jedenfalls nicht dazu beigetragen, dass sie sich besser fühlte. Hazel legte ihre Abschmink-Utensilien bereit und begann energisch damit, sich das siebzehnjährige Schulmädchen aus ihrem Gesicht zu wischen.

Sie hatte sich lange mit der Frage gequält, ob ihre Entscheidung für das Theater ein Fehler gewesen war. Ob ihre russische Mutter, die erfolgreiche Tänzerin, Ballettlehrerin und Choreografin, letzten Endes doch recht behalten hatte und ihr Platz in Wirklichkeit woanders war. Noch heute hatte sie ihre Stimme im Ohr: »Das Ballett wird dich stählen, körperlich wie mental, und dir eine Disziplin antrainieren, die dich durch dein ganzes Leben tragen wird. Nichts wird dich dann noch aus der Bahn werfen können, nichts mehr wird so hart sein, wie das, was du bereits geschafft hast.«

Vielleicht hatte sie recht gehabt. Wirklich mental gestählt zu sein, fühlte sich nämlich ganz bestimmt anders an.

Aber dennoch hatte sie sich damals widersetzt, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hatte mit sechzehn Jahren ihrer Mutter zu erklären versucht, warum es die Schauspielerei sein musste. Wie es ihr nur auf der Bühne gelang, laut zu sein. Wie unvorstellbar die Freiheit war, die ihr die Rollen verschafften. Dass sie sich zeigen, alle Emotionen ausleben konnte und genau dann das Leben spürte, wie nie zuvor.

Schließlich war ihre strenge, disziplinierte Mutter weich geworden. Vielleicht hatte sie in ihren Augen jenen Funken erkannt, der sie selbst einst zu Höchstleistungen angetrieben hatte. Hazel hatte die Diskussion jedenfalls längst gewonnen, als sie noch zu kämpfen geglaubt hatte. Sie trug die Worte ihrer Mutter bis heute im Herzen: »Es bedeutet dir viel, das habe ich verstanden. Wenn es so ist, musst du es tun. Du weißt, dass ich dich immer unterstützen werde.«

Und jetzt? War sie dabei aufzugeben? Hatte sie verloren? Was würde ihre Mutter sagen, wenn diese sie so sähe? Ein undefinierbares Knäuel aus aufgeschobener Trauer und Scham verstopfte ihre Kehle, und ihre Augen füllten sich zu ihrem Entsetzen mit Tränen.

Schluss jetzt! Sie war keineswegs schwach und würde auch nicht aufgeben. Im Gegenteil, sie hatte eine Lösung gefunden und war dabei, etwas Neues zu wagen. Warum sollte ihre Mutter nicht stolz auf sie sein, und warum, verdammt noch mal, sollte sie das mit ihren vierunddreißig Jahren überhaupt kümmern?

Sie stopfte Wattepads und Feuchttücher in den Kosmetikeimer, fuhr sich flüchtig mit der Bürste durch die Haare und band sie zu einem strammen Pferdeschwanz zusammen. Dabei sah sie sich im Spiegel streng in die Augen und dachte erneut: Schluss jetzt!

Bevor sie ihre Gedanken jedoch auf die nähere Zukunft richten und sich Mut machen konnte, blitzte etwas in ihrem Gesichtsfeld auf, das sie zunächst nicht einordnen konnte. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte die letzten Reste des Make-up-Entferners weg.

Noch ein wenig verschwommen fiel ihr Blick auf die rechte untere Ecke des Spiegels und verharrte dort wie gebannt.

Kapitel 2

Hazel neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite. Frontal konnte sie die blutige Nachricht besser erkennen.

Ich komme

hatte jemand in purpurroten Lettern auf den spiegelnden Untergrund geschmiert. Lippenstift, vermutete Hazel, hoffentlich kein Blut. Dass sie tatsächlich die Adressatin dieser Worte sein sollte, konnte sie kaum glauben, auch wenn sie alle feste Plätze in der Künstlergarderobe hatten. Aber das machte doch keinen Sinn.

Hazel hob und drehte ihren Kopf unauffällig und sah in Pias Richtung. Ihre Kollegin war allerdings gerade damit beschäftigt, ihre Bühnenkleidung zusammenzulegen, und wirkte zur Abwechslung einmal ehrlich desinteressiert an ihr und der seltsamen Botschaft. Sie ließ ihren Blick heimlich weiter über ihre Kollegen wandern, aber noch immer stach ihr nichts Auffälliges ins Auge. Kostüme wurden abgelegt, Gesichter von der zähen Theaterschminke befreit. Genau wie sie, wollten die anderen nach der Vorstellung so schnell wie möglich nach Hause. Für ihre merkwürdige Entdeckung schien sich hier jedenfalls niemand zu interessieren.

Hazel beschloss, dem kuriosen Schriftzug keine allzu große Bedeutung beizumessen. Nichtsdestotrotz spürte sie deutlich, wie eine Gänsehaut ihre Arme überzog. Sie konnte das Gefühl, dass jemand sie beobachtete, einfach nicht verdrängen. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten, das war ihr egal. Sie stand unvermittelt auf und drehte sich um. Immer noch schien niemand Notiz von ihr zu nehmen. Einer hatte sie jedoch offenbar schon länger ganz genau im Visier. Elliott schaute laut, auf seine ganz eigene Weise, und hielt ihrem Blick unbeeindruckt stand

Die gewohnte Geräuschkulisse aus Gesprächsfetzen, Lachen und zugerufenen Abschiedsfloskeln trat auf einmal in den Hintergrund. Hazel spürte einen unangenehm wattigen Druck auf ihren Ohren. Nur die stumme Verbindung zu Elliott, der wie eine Statue im Türrahmen stand, sirrte wie ein Laserstrahl durch ihren Kopf.

Was er wirklich mitbekommen hatte und ob er ebenso überrascht war wie sie, konnte sie nicht erkennen, doch so oder so verursachte ihr sein ungewohntes Interesse ein ungutes Gefühl im Magen. Er sah ihr jetzt nicht mehr in die Augen, sondern betrachtete ihr Gesicht sekundenlang eindringlich, so als wolle er jede Regung in sich aufsaugen. Sie runzelte die Stirn und überlegte gerade, ob sie zu ihm hinübergehen sollte, als seine Aufmerksamkeit im Bruchteil einer Sekunde erstarb. Er wandte sich ab, ohne sie noch einmal anzusehen, und verließ grußlos den Raum.

Hazel hielt irritiert inne. Sie würde von sich zwar nicht behaupten, dass sie Elliott besonders gut kannte oder gar einschätzen konnte, doch seine emotionalen Ausbrüche waren ihnen allen hier mittlerweile gut vertraut.

»Er hat seine ganz eigene Bühne immer mit dabei«, hatte sie in einer entsprechenden Situation mal aus dem allgemeinen Getuschel der Kollegen herausgehört und das damals als äußerst unhöflich und ungerecht empfunden.

Vielleicht war es gerade ja auch gar nicht um sie gegangen. In seinem Getriebensein kreiste Elliott so sehr um sich selbst, dass andere Menschen für ihn womöglich gar nicht mehr als Staffage waren. Lediglich Kulisse für seinen wechselnden Wahn oder eine Projektionsfläche für einen Spielpartner, und als solche irgendwie schon sinnvoll, darüber hinaus aber kaum einen Gedanken wert.

Was auch immer hinter Elliotts auffälligem Verhalten stecken mochte, sie würde es nicht herausfinden und hatte überdies auch gar keine Zeit zu verlieren. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr bestätigte ihr nämlich, dass es bereits nach Mitternacht war, und morgen um zehn Uhr stand bereits die nächste Probe an. Viel wichtiger aber war der Termin, den Hazel für den Nachmittag vereinbart hatte. Vor zwei Wochen war das gewesen und seither hatte ihr Herz beim Gedanken daran immer eine Spur schneller geschlagen. Schließlich hatte sie damals rigoros ausgeschlossen, diesem Menschen noch einmal freiwillig gegenüberzutreten. Aber die Dinge änderten sich, so einfach war das … so beängstigend und so wenig abwendbar.

Sie wandte sich zu ihrem Platz um, sammelte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und schlüpfte in den Mantel. Wenn sie vor dem Schlafen noch ein wenig Zeit darauf verwenden wollte, Mut für morgen zu tanken, musste sie jetzt los. Ein halbherziges »Tschüss, bis morgen« später, fand sie sich allein in dem schummrig beleuchteten Gang vor der Garderobe wieder. Noch heute war es für sie faszinierend, wie sich der Weg nach draußen durch absurde Kurven und Kehren und über mehrere Treppen nach oben, zum Licht, hinschlängelte. Im Halbdunkel passierte Hazel die schalldichten Probenräume, verschlossene und offene Türen und leere Kammern und trat schließlich an Johnnys Pförtnerloge aus dem Gang heraus. Sie warf dem freundlichen Hausinspektor einen schnellen Gruß zu und stand wenig später in der herbstkühlen Nacht.

Während sie auf den Bus wartete, überlegte sie einmal mehr, wie es wohl sein würde, wenn sie in wenigen Wochen das Theater zum letzten Mal auf diesem Weg verließ. In der Gewissheit, dass sie so bald nicht zurückkehren würde und mit der Spielstätte zugleich auch ihren seit Jahren gewohnten Alltag verabschieden würde. Es würde wohl eine Erleichterung sein, ihr aber bestimmt auch schwerfallen.

Es war seltsam, aber sie wusste instinktiv, dass der Bruch so hart sein musste, damit sie es wirklich spürte … damit sie begriff, dass sie entkommen konnte. Warum ihr das so wichtig war, konnte sie gar nicht erklären, aber sie war sich sicher, dass es gerade jetzt wichtiger denn je war, und dass sie dabei keine Kompromisse mehr machen wollte.

Der leere Bus hielt vor ihr und sie stieg vorne ein. Sie zeigte dem Fahrer ihr Ticket und vermied dabei jeden Augenkontakt. Es war ihr unangenehm, der einzige Fahrgast zu dieser Uhrzeit und mit ihrem Ziel zu sein. Die letzte mögliche Haltestelle lag etwa zweihundert Meter von ihrem Haus entfernt und ihr Weg führte zum Großteil durch die westliche Flanke des Stadtwaldes. Sie überlegte kurz, eine Station früher auszusteigen, aber auch dort war die Straße nach Mitternacht wie ausgestorben.

Eine knappe Viertelstunde später stieg sie am Rand des kleinen Waldstücks aus. Dabei überprüfte sie den Weg hinter sich und vor sich unauffällig und achtete darauf, ihre Schritte ruhig und entschlossen zu setzen. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass davon abgeraten wurde, dunkle Wege immer wieder zu der gleichen Zeit zu gehen. Prima Idee. Sie schüttelte den Kopf. Wohl dem, der diese Wahl hatte.

Hazel rechnete unwillkürlich jeden Moment damit, dass eine plumpe Gestalt aus dem Gebüsch springen und sie packen würde, und natürlich lief sie längst viel zu schnell. In weiten Abständen färbten orangestrahlende Laternen den aufsteigenden Bodennebel und tauchten den Weg in ein diesiges Licht. Gerade hell genug, um gesehen zu werden. Allein die Tatsache, dass sie gleich dort vorne am Waldrand wohnte und es eigentlich nur ein relativ kurzes Stück war, das sie zu Fuß zurücklegen musste, hatte sie bisher immer in Sicherheit gewiegt. Ein trügerisches Gefühl, wie ihr heute wieder besonders bewusst wurde, da etwas Entscheidendes anders war.

Denn gleich würde sie ihr leeres, dunkles Haus betreten, in dem niemand auf sie wartete. Bei dem Gedanken daran wurde sie nervös. Villem und sie waren in den letzten Jahren nicht oft voneinander getrennt gewesen, aber jetzt war die zehntägige Geschäftsreise einfach nicht abwendbar gewesen und so hatte sie das Haus in dieser Zeit ganz für sich allein. Sie sollte versuchen, das Ganze positiv zu sehen. Immerhin hatte sie so die Möglichkeit, ungestört über ihre nächsten Schritte nachzudenken und sich ganz auf das Treffen morgen zu konzentrieren.

So in Gedanken versunken, hatte sie kaum bemerkt, dass sie den größten Teil des kleinen Waldstücks schon fast hinter sich gelassen hatte. Weit und breit war niemand zu sehen, trotzdem war Leben um sie herum. Die Geräuschkulisse wurde von den Nachtvögeln in den Bäumen und ihrer durch die Büsche huschenden Beute dominiert. Alles war vollkommen friedlich.

Nun auch in ihr. Sie trat aus den Schatten hinaus auf den asphaltierten Wirtschaftsweg, der direkt zu ihrem Haus führte. Wie es sich gehörte, war nichts als Dunkelheit hinter den Fenstern zu erkennen, als sie mit dem Schlüssel nacheinander die zwei unabhängigen Sicherheitsschlösser der Haustür öffnete. Hazel war bewusst, dass sie im Schein der über den Bewegungsmelder gesteuerten Beleuchtung für jedermann gut sichtbar im Licht stand. Sie wollte gerade unauffällig ins Haus huschen, als sich etwas in ihr Blickfeld drängte. Was war das denn für ein buntes Fähnchen, das da aus ihrem Briefkasten hing? Sie runzelte die Stirn, zog die Zeitung heraus und trat ins Haus.

Sie schaltete die Deckenlampe an und sofort glitt ihr Blick über die Titelstory der reich bebilderten Tageszeitung, die sie gewiss nicht abonniert hatte. Einer der Gründe dafür war unmittelbar ersichtlich. Auf Seite eins des Skandalblattes prangte ein detailliertes Foto einer Leiche. Einem Mordopfer, wie die fett gedruckte Überschrift reißerisch in Großbuchstaben verriet. Der Körper lag ausgestreckt halb über, halb unter einem Berg von blutbesudeltem Kinderspielzeug, Puppen und Plüschtieren. Die Gliedmaßen erschienen seltsam verrenkt, das Gesicht war nur notdürftig verpixelt.

Sie erschauderte. Welchen Erkenntnisgewinn sollte diese Darstellung des Toten bringen? Schlimm genug, dass es kranke Menschen gab, die solche Taten begingen. Daraus aber auch noch Profit zu schlagen, empfand sie als zutiefst unmoralisch. Genau deswegen boykottierte sie diese Art von Schmutzblättchen auch. Außerdem konnte sie auf das Kopfkino sehr gut verzichten.

Mit spitzen Fingern trug sie die Zeitung die wenigen Schritte in die Küche und warf sie mit Nachdruck in den Papiermüll. Erst dann verriegelte sie sorgfältig alle Schlösser und betätigte den Lichtschalter für das hinter der Tür auf der rechten Seite abgehende Treppenhaus. So war die Helligkeit direkt hinter dem frontalen Glaselement der Haustür im Landhausstil deutlich abgeschwächt. Sie wusste, dass sich ihre Silhouette im indirekten Lichtschein nun kaum noch abzeichnete.

Mit wenigen Handgriffen zog sie ihren Mantel aus, hängte ihn in die Garderobe und schlüpfte aus den Straßenschuhen in ihre Hausschuhe. Die Stille im Haus war ungewohnt für sie. Selbst wenn ihr Mann an manchen Tagen bereits im Bett war, wenn sie nach der Vorstellung spät nach Hause kam, war da doch irgendwie Leben im Haus. Sie spürte ihn selbst schon beim Betreten des Hauses. Sein Fehlen heute fühlte sich einfach falsch an.

Als Erstes ging sie an der angelehnten Küchentür vorbei und durch den engen Flur ins Wohnzimmer. Von hier aus hatten sie einen wunderbaren Blick durch zwei große Panoramafenster in den riesigen, blickgeschützten Garten. Die nächsten Häuser standen ein ganzes Stück entfernt. Der Gedanke, dass jemand sie beobachten könnte, war also absolut unsinnig. Dennoch ließ sie die Wohnzimmerlampe zunächst ausgeschaltet und betätigte im Dämmerschein des Treppenhauses die zwei elektrischen Rollläden. Erst als diese vollständig nach unten gefahren waren, entspannte sie sich und schaltete das Licht an.

Auf dem Weg ins Badezimmer versuchte sie, die Spiegelungen auf den gläsernen Bilderrahmen an den Wänden im Flur zu ignorieren. Aber sie war trotzdem nervös. Sie machte sich nur schnell frisch und kehrte dann mit einer Wasserflasche und einem Glas ins Wohnzimmer zurück. Die Digitalanzeige der Mini-Wetterstation auf dem Tisch, für die Villem sich so begeistert hatte, zeigte 01.15 Uhr an. Eigentlich sollte sie jetzt im Bett liegen, aber der Termin am morgigen Tag verschwand einfach nicht aus ihrem Kopf.

Sie war unruhig und ging in Gedanken immer wieder mögliche Versionen des anstehenden Gesprächs durch, denn eines war klar: Sie musste unbedingt vorbereitet sein und durfte keinesfalls in alte Verhaltensmuster fallen, wenn sie ernst genommen werden wollte. Ach ja, entspannt sollte sie bei alldem außerdem auch noch wirken, selbstbewusst und keine Angriffsfläche bieten.

Kapitel 3

Nach der Probe am heutigen Vormittag hatte sie auf der Liste ihrer noch ausstehenden Tode einen weiteren durchstreichen können. Sie war nun bei einunddreißig angelangt.

Jetzt hatte sie für einige Stunden frei, bevor sie am späten Nachmittag pünktlich zwei Stunden vor der Vorstellung wieder am Theater sein musste. Jenny, die Zweitbesetzung in Tod einer Schülerin, hatte sie um die Abendvertretung in dieser Woche gebeten und sie hatte gern eingewilligt. Zum einen mochte sie die junge Kollegin, die sie dem Wesen nach an sie selbst in ihren ersten Jahren am Theater erinnerte, und außerdem wusste sie, wie gewaltig die Umstellung auf das professionelle Schauspielerleben war, in dem sich soziale Kontakte außerhalb der Arbeit in kürzester Zeit auf ein Minimum reduzierten. Vom Privatleben ganz zu schweigen.

Sie unterstützte Jenny daher gern und war überrascht über die fast mütterliche Zuneigung zu der knapp fünfzehn Jahre jüngeren Kollegin. Für ihre nähere berufliche Entwicklung sah sie dies durchaus als positives Zeichen. Damit war sie eigentlich auch schon beim Thema: Dem Besuch bei ihrer alten Schauspiellehrerin, der uralten Orla, wie sie diese heimlich immer genannt hatte. Wohl, um ihr ein wenig von der furchteinflößenden Art zu nehmen. Ein Wunsch, der ebenso verständlich wie vergeblich gewesen war.

Aber das waren alte Geschichten, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie stieg aus dem Linienbus, der sie in den wohlhabenderen Stadtteil gebracht hatte, und lief die letzten paar Hundert Meter zu Fuß. Seit ihrem letzten Treffen waren über zehn Jahre vergangen. Eine Zeit, die an ihnen beiden nicht spurlos vorübergegangen sein dürfte. Oder, um es anders zu formulieren: Hazel war froh, dass ihre gestrenge Mentorin noch am Leben und gewillt war, sie zu empfangen.

Und was war mit ihr selbst? Sie war seit vielen Jahren dauerhaft an verschiedenen Theatern engagiert, nicht selten als Hauptrolle. Sie lebte das Leben einer erfolgreichen Schauspielerin. Offenbar trug der Unterricht der alten Orla also Früchte. Womöglich freute sich diese sogar darüber oder war gar stolz auf ihre frühere Schülerin.

An dieser Stelle würde im Film nun kitschige Musik eingespielt werden und die Protagonistin in einen Sonnenuntergang spazieren. Hazel schmunzelte und fühlte, wie die Anspannung, die sie wegen des kurz bevorstehenden Wiedersehens befallen hatte, ein wenig nachließ. Es war vollkommen klar, dass die uralte Orla niemals so reagieren würde, und falls doch, bestünde berechtigter Grund zur Sorge.

»Ich bin dafür da, dich zu bilden und zu stählen«, hatte sie ihr mehr als einmal ungerührt erklärt, wenn sie ihre Schülerin kleingemacht hatte, bis diese ihre Tränen kaum noch zurückhalten konnte. »Jetzt heul nicht. Was, wenn dein Liebster dich verlässt und du zwei Stunden später eine Vorstellung hast? Dann kannst du dich auch nicht so gehenlassen. Haltung, Madame, Haltung!«

Das Schmunzeln war bei dieser Erinnerung schlagartig aus Hazels Gesicht gewichen und sie merkte, wie tief die Verletzungen immer noch saßen, mithilfe derer die Meisterin sie hatte stählen wollen. Warum sie sich dennoch dafür entschieden hatte, den Kontakt mit ihr wieder aufzunehmen, hatte mehrere Gründe.

Bei aller Härte hatten deren Worte Hazel doch in einer Weise erreicht, mit der sie etwas hatte anfangen können. Im Spannungsfeld einer alles andere als gleichberechtigten Beziehung verstanden sie sich durchaus, und am Ende hatte ihr Spiel tatsächlich davon profitiert. Das musste über allem stehen. Außerdem – und die Bedeutung dieses Umstands konnte nicht groß genug geschätzt werden – war Orla eine alte Bekannte ihrer Mutter. Diese hatte ihr damals die exzentrische Lehrerin empfohlen, und es wäre Hazel niemals in den Sinn gekommen, diese Wahl anzuzweifeln. Auf eine nicht wirklich erklärbare Art und Weise fühlte sie sich ihrer Mutter verpflichtet, auch heute noch auf diese Empfehlung zu vertrauen. Schließlich war die Beziehung zwischen Lehrerin und Schülerin in ihrem Geschäft eine absolut persönliche Angelegenheit. Erst recht auf ihrem Leistungsniveau, wie sie vollkommen sachlich und uneitel erkannte. Hier ein Perfect Match zu finden war äußerst schwierig und zeitaufwendig.

Nicht zuletzt reizte es Hazel, zu sehen, wie sie einander nach all der Zeit begegnen würden. Ob es auf annähernd gleicher Augenhöhe geschehen konnte oder ob ihre alten Rollen sich unbeeindruckt von Zeit und Entwicklung automatisch über sie legen würden.

Sie atmete tief durch. Jetzt, in der Übergangsphase zur dunklen Jahreszeit, erschien ihr die Luft immer besonders rein. Das feuchte Laub unter ihren Füßen verlieh der Herbstluft eine ganz eigene, erdige Note. Hazel spürte wieder einmal, wie sehr sie diese Jahreszeit dem Sommer vorzog. Vielleicht konnte die klare Luft sogar etwas gegen ihre heftigen Kopfschmerzen ausrichten. Wieder sog sie diese bewusst ganz tief in ihre Lungen und behielt sie dort einen Moment lang, bevor sie sie geräuschvoll ausstieß, und sich einredete, dass ihre Anspannung schon wieder etwas abgenommen hatte.

Sie kannte den Weg noch von früher und wusste daher, dass es nur noch wenige Schritte waren. Hier wurde die Bebauung langsam spärlicher. Lauter eindrucksvolle Häuser, deren Pforten weit von der Straße entfernt lagen, und die ihren Reichtum beinahe gelangweilt zur Schau trugen.

Ganz anders wohnte die alte Orla. Hazel lief die letzte Kurve entlang, an deren Ende sie einen ersten Blick erhaschen würde. Gleich …

»Da wohnt die Hex’!«, kreischten unvermittelt schrille Kinderstimmen in ihrem Kopf. »Geh nicht dorthin, da wohnt die Hex’!«

Eine Erinnerung an ein lange vergangenes Weihnachtsmärchen, das sie im Kindermusiktheater aufgeführt hatten. Es war zwar schon einige Jahre her, aber die Lieder hatten sich ihr offenbar eingebrannt.

Sie versuchte sich an einem verunglückten Lächeln, als ihr Blick auf die Miniaturvilla fiel, an der sich scheinbar nichts verändert hatte. Dichtes Efeu erstickte die Mauern dunkel und unheilvoll. Das Haus behütet seine Geheimnisse, schoss es Hazel durch den Kopf. Kein Laut würde von hier nach außen dringen, und unliebsame Widersacher würden verschluckt.

So ein Unsinn. Sie rief sich zur Ordnung und straffte die Schultern. Sie nahm die Haltung an, die unzweifelhaft gleich von ihr gefordert werden würde. Aber sie war gewappnet.

Den Eingang des Grundstücks markierte, genau wie damals, ein Rosenspalier, dem sich nach wenigen Schritten ein belaubter Miniatur-Bogengang anschloss. Hazel passierte die Rosen. Jetzt bloß nicht zögern. Die Luft war hier, unter dem Laubdach, sofort deutlich kühler.

Hazels Herz schlug unwillkürlich schneller und die so sorgsam im Zaum gehaltene Aufregung kehrte jäh zurück. Dann, plötzlich, blitzte in ihrem Gesichtsfeld etwas auf. Ihr Blick flog über das grüne Dach – war das ein verlorener Sonnenstrahl oder war es die schlimmere Alternative? Sie konzentrierte sich auf die grelle Form; eine gezackte leuchtende Raute, die jetzt durch ihr Blickfeld wanderte, und schloss die Augen. Wie sie befürchtet hatte, blieb das sich bewegende Bild bestehen.

Die frische Herbstluft hatte also nichts gegen ihre Migräne ausrichten können und die Anspannung hatte ein Übriges dazu getan. Sie fischte blind eine jener starken Tabletten aus ihrer Tasche, die es manchmal schafften, einen schweren Verlauf aufzuhalten. Ohne sie würde sie morgen schlimmstenfalls flachliegen. Akut konnte der kleine runde Segensbringer allerdings nicht viel ausrichten.

Die Aura, eine neurologische Erscheinung, die ihren mitunter tagelangen starken Kopfschmerzen vorausging, kam immer ungelegen. In diesem Moment aber ganz besonders. Wann immer es möglich war, suchte sie in solchen Situationen sofort einen dunklen Raum auf und legte sich mit erhöhtem Oberkörper hin, bis das Ganze vorbei war. Sie wusste, dass diese Auren in den meisten Fällen maximal eine Stunde anhielten, sich in dieser Zeit aber so sehr verstärken konnten, dass ihr gesamtes Gesichtsfeld von einem Flackern überstrahlt wurde.

Der wirklich schlimme Schmerz kam immer erst danach. Hazel versuchte, das für den Moment als Trost zu sehen, und hoffte, dass die optischen Irritationen in der nächsten halben Stunde nicht allzu schlimm werden würden. Länger würde ihr Gespräch heute hoffentlich nicht dauern.

Die Raute hatte sich mittlerweile zu einer noch kleinen Doppelhelix entwickelt und zuckte über das obere rechte Viertel ihres Blickfelds.

Dass ihre Nervosität sich nun auf zwei Schauplätze verteilte, führte nicht zu einer Verbesserung ihres Befindens. Sie beschloss, so gut wie möglich zu ignorieren, was sie nicht ändern konnte und konzentrierte sich stattdessen auf das bevorstehende Treffen.

Dann, als sie noch nicht wirklich darauf gefasst war, stand auf einmal die uralte Orla wenige Schritte vor ihr und starrte sie an. Hazel war einige Sekunden wortlos im Anblick ihrer alten Lehrmeisterin gefangen. Diese war immer noch eine Erscheinung, das konnte man mit Fug und Recht sagen. Selbst hier, fernab der Bühne, im trüben Licht eines Herbstnachmittags und in ungewohnt legerer Freizeitkleidung. Hazel hätte wetten können, dass sie die einstige Ikone der Landesbühne noch nie in profanen Bluejeans gesehen hatte.

Das ungewöhnliche Beinkleid bildete einen schrägen Kontrast zu der Gestaltung ihres Gesichts. Obwohl sichtlich gealtert und von viel mehr Falten als früher durchzogen, war es sorgfältig, wenn auch sehr kräftig, geschminkt. Den Fokus bildeten, wie schon früher, die dramatisch dunkel umrandeten Augen und der großzügig bis zu den Augenbrauen verteilte anthrazitfarbene Lidschatten. Die Vorstellung, wie sich die über Jahrzehnte aufgetragenen Farben peu à peu in die alte, pergamentartige Haut hineingefressen hatten, drängte sich Hazel unweigerlich auf.

»Na also, da bist du ja«, richtete die Meisterin jetzt das Wort an sie, und Hazel fühlte sich sofort wieder wie damals. Der vertraute Klang der Stimme, die der minimale russische Akzent so einzigartig machte, war ein bisschen, wie nach Hause kommen. In ein strenges Zuhause, in dem genau eine das Sagen hatte. So viel zum Thema Augenhöhe.

»Du hast dich kaum verändert«, urteilte Orla jetzt.

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.« Hazels Stimme klang unerfreulich belegt und zu leise. Das alte leidige Thema. Eines der alten Themen.

»Ist die Frage, ob das ein Kompliment ist.« Ihre alte Lehrmeisterin lachte heiser auf. »Aber vielleicht sollte ich dich erst einmal hineinbitten. Komm mit!«

Sie schob die schön verzierte Tür aus dunklem Holz auf und winkte Hazel zu sich.

Kapitel 4

Im Haus roch es noch genauso wie damals. Nach einer Mischung aus Tee und dem Nachhall von Orlas schwerem Parfum.

Das war das Erste, was Hazel auffiel, als sie aus dem düsteren Garten in den helleren Eingangsbereich der kleinen Villa trat. Es war bemerkenswert, wie der aufdringliche Duft im emotionalen Zentrum ihres Gehirns schier explodierte und sie in der Zeit zurückwarf. Sie war sofort wieder achtzehn Jahre alt.

»Na komm schon, du kennst das Haus doch sicher noch.« Orla wedelte mit der Hand hinter ihrem Rücken nach ihr und steuerte, wie es aussah, die große Wohnküche an.

Sie hatte recht. Natürlich erinnerte sich Hazel noch an die alten Wege und Räume. Sie passierte die venezianischen Masken an den Wänden des Flurs, denen sie noch nie in die toten Augen hatte sehen können. Während sie Orla den Gang hinunter folgte, ermahnte sie sich, im Hier und Jetzt zu bleiben. Bei ihrem heutigen Besuch waren die Vorzeichen ganz andere als damals. Sie war inzwischen erwachsen geworden und wollte lediglich den Rat ihrer alten Lehrerin.

Sie registrierte eine leichte Übelkeit, die aus Aufregung, wahrscheinlich aber auch dem sich anbahnenden Migräneanfall resultieren mochte. Die eben noch kleine Doppelhelix war weiter angewachsen und zuckte nun fast schon über ihr halbes Gesichtsfeld. Nachdem sie sich von der hellen Lichtquelle im Eingangsbereich entfernt hatte, trat das störende Flackern wieder deutlicher zutage.

Hazel versuchte, die Aura zu ignorieren, und stellte fest, dass die Wände mittlerweile nicht mehr von den gruseligen Masken verziert wurden. Stattdessen – noch verstörender, wenn man sie fragte – thronten jetzt Puppen aller Art auf kleinen, eigens dafür angebrachten Regalbrettern. Sie schienen sie zu fixieren, aus ihren kleinen und großen, gemalten und mechanischen Schlafaugen in weißen, wächsernen oder hölzernen Gesichtern. Mit Blicken, die in die Vergangenheit sahen und von der Zukunft wussten.

Hazel fühlte sich seltsam abgestoßen von all dem Kitsch. Geschmacklosigkeit hatte man Orla früher nie vorwerfen können. Extravaganz, die schon, aber was sie hier sah, ließ Hazel beinahe an der Zurechnungsfähigkeit ihrer alten Lehrerin zweifeln. Zu ihrem Erstaunen hoffte sie fast, dass diese die bekannte Härte zeigen und diesen traurigen Verdacht widerlegen würde.

»Wo bleibst du denn? Komm schon herein! Ich habe meine Zeit schließlich nicht geklaut!«

Das klang schon viel eher nach der alten Orla. Hazel schlüpfte hastig in die geräumige Wohnküche und trat, mit einem Lächeln, das hoffentlich nicht allzu angestrengt wirkte, zu ihr.

»Hallo Orla, schön, dass du Zeit für mich hast.« Hazel konnte die hinderliche Angewohnheit, sich selbst ständig zu reflektieren, einfach nicht abstellen. Warum war sie nicht lockerer? Oder klang wenigstens weniger steif? Immerhin war sie Schauspielerin. Bei Orla konnte sie jedoch offensichtlich keine Illusion erschaffen.

Diese nickte nur beiläufig. »Möchtest du ein Glas Wasser? Ansonsten habe ich nur Champagner da.« Sie lachte krächzend, »Dafür müssen wir aber erst mal sehen, ob wir zwei etwas zu feiern haben.«

»Äh, gern. Also, Wasser, meine ich.« Verstohlen betrachtete Hazel ihre alte Lehrerin. Ihr Kompliment, die willkommene Floskel, dass diese sich kaum verändert hatte, war, in vernünftigem Licht betrachtet, falsch gewesen. Die grelle Küchenbeleuchtung zerrte ihr Alter grausam lächelnd auf die Bühne und verzog sich danach in die dunkleren Zimmerecken. Orlas schlanke, vermutlich mit viel Mühe und großer Disziplin, über Jahre hinweg gehaltene Figur, wirkte im Alter hager und schlaff. Heute war sie ein schwarzer, dürrer Vogel, der sich durch ihre wallende Kleidung größer und gewichtiger zu machen versuchte.

»Hier, bitte. Setz dich endlich, du weißt doch wo. Ist alles noch wie früher.«

Nun ja, nicht ganz. Erst jetzt fiel Hazel die seltsame Unruhe auf, die von Orla ausging. Ein kontinuierliches leichtes Zittern, und ein hin und wieder sinnloses Nicken, hatten die Macht über ihren Kopf übernommen. Ein unkontrollierbarer Tremor, dem die alte Lehrerin nichts entgegenzusetzen hatte. Das stimmte Hazel seltsam traurig.

»Du auch!«

»Wie bitte?« Hazel schreckte aus ihren Gedanken auf.

»Na, du bist auch noch wie früher. Viel zu still! Du bist doch jetzt eine erwachsene Frau und eine erfolgreiche Schauspielerin. Komm her und zeig mir das! Zeig mir, was aus dir geworden ist!«

Hazel schluckte. »Ja, also, wie gesagt, es freut mich sehr, dass es mit unserem Termin heute geklappt hat.« Ihre Worte dröhnten in ihrem schmerzgeplagten Kopf und klangen wie von sehr weit her. Verdammt.

Orla lächelte sie an, die Augenbrauen ungeduldig hochgezogen, während sie wartete. Dann deutete sie ein Kopfschütteln an und ergriff wieder das Wort.

»Sag mir, wie du auf diese Idee kommst.«

Hazel spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.

»Du hast am Telefon gesagt, dass du die Seiten wechseln möchtest. Von der Schauspielerin zur Lehrerin. Was, glaubst du, befähigt dich dazu, in meine Fußstapfen zu treten?«

»Oh, so habe ich das nicht gemeint«, beeilte sich Hazel zu sagen.

»Warum denn nicht? Bin ich etwa kein gutes Vorbild?« Orla lachte scheppernd und Hazel bemühte sich, zu lächeln.

»Doch, natürlich. Ich werde allerdings noch viel lernen müssen, um meinen Traum wahr machen zu können und eine wirklich gute Lehrerin zu werden, meine ich. Da war es für mich natürlich keine Frage, dass ich mich an Sie wenden würde.«

»Das ist klar. Du kennst auch keine andere, die so gut ist wie ich«, stellte Orla nüchtern fest. »Aber wieso der Sinneswandel? Lehren ist eine Passion, und zwar eine ganz andere als das Spielen.«

»Na ja, ich habe nun schon viele Jahre erfolgreich gespielt und …«, Hazel stockte. Es war ihr unangenehm, ihren Traum so sachlich und kühl ausgesprochen zu hören. Nicht ohne Grund hatte sie ihre Pläne bisher sorgsam für sich behalten. Einzig Villem wusste davon, ihre Theaterkollegen ahnten nichts und würden erst zu gegebener Zeit vor vollendete Tatsachen gestellt werden.

»Ich merke einfach …«

»Gibst du etwa auf?«, fuhr Orla scharf dazwischen. »Denn es klingt für mich gerade so.«

Es war wie früher. Ihre alte Lehrerin hatte den Nagel schmerzhaft klar auf den Kopf getroffen. Denn genau diese Frage hatte Hazel sich selbst in zahlreichen schlaflosen Nächten gestellt. Ihre Schauspielkarriere war immerhin das Ergebnis harter, entbehrungsreicher, in erster Linie aber leidenschaftlicher Arbeit. Wie konnte sie diese jetzt einfach so wegwerfen?

»Es wäre eine dumme Flucht, das muss dir klar sein. Wenn das der Grund sein sollte.«

Hazel nickte. Aber so einfach war es nicht. Ihr Traum hatte seine Schattenseiten. Am Theater, diesem Zirkus befriedigter wie verhungernder Eitelkeiten, stand ihre Leidenschaft kurz davor zu sterben. Sie spürte das schon lange, daher wurde es Zeit, zu handeln.

Ebenso klar erkannte sie in diesem Moment, dass ihre alte Lehrerin nichts von dem, was sie am Theater nicht mehr ertrug, als Argument gelten lassen würde. Die ewigen Zickenkriege nicht, und auch nicht die permanente Selbstdarstellung fernab der Bühne, die simplen Gemütern das brüchige Bild einer großen Begabung schuf.

Das alles sollte sie wohl besser für sich behalten und stattdessen erklären, was sie am Lehren reizte. Positive Gründe für das Neue anführen, anstatt negative gegen das Alte. Sie ahnte, dass sie ansonsten nicht wiederkommen brauchte.

»Bitte, klär mich auf. Sonst kann ich dir nicht helfen.«

Hazel nickte erneut und sah Orla in diesem Moment fest in die Augen, auf der Suche nach einem Funken Verständnis, aber der Blick ihrer Lehrerin war undurchdringlich wie ein zugefrorener See und zugleich herausfordernd. Wage den ersten Schritt, wir werden ja sehen, ob dich das Eis trägt.

»Es wirkt nicht so, als wärst du dir sicher. Weißt du, vor dem Theater gibt es für Menschen wie uns kein Entkommen. Es wird uns immer wieder einholen, wenn wir ihm nicht unseren festen Willen entgegensetzen.«

Hazel hörte Orla wie durch einen dichten Nebel. Viel lauter waren die Gedanken und die Zweifel in ihrem Kopf, die anstelle von Wagemut wieder die Oberhand zu gewinnen schienen. Schließlich war es doch so, dass sie bis vor Kurzem niemals gedacht hätte, ihre alte Lehrerin überhaupt noch einmal wiederzusehen. Zuviel war geschehen, damals. Zuviel kaputtgemacht worden. Mit einem kalten Lächeln und darüber hinaus keinem weiteren Gedanken.

Hatte es ihr geschadet? Ja. Konnte sie es ihr vorwerfen? Nein. Weil die Dinge nicht so einfach waren. Schon damals nicht. Das Theater hatte sie früh umgarnt, oftmals bezirzt, manchmal gefesselt, und sie hatte das alles gewollt. Sie war dem stetigen Lockruf allzu bereitwillig gefolgt und hatte sich von Orla kleinmachen lassen, immer wieder, angeblich um zu wachsen.

Heute stand sie wieder hier wie ein Häuflein Elend, eine Enttäuschung. Zu Unrecht. Es wurde Zeit, sich Orla zu zeigen.

Hazel straffte sich und begann leise zu sprechen: »Ich denke nicht, dass es um Flucht oder Entkommen geht, oder gehen kann. Vielleicht sollen die verteilten Rollen einfach nur neu gewählt werden, mit dem Wissen und den Bedürfnissen von heute.«

»Vielleicht«, entgegnete Orla. »Vielleicht machst du dir aber auch einfach etwas vor, weil es dich vor dem schwereren Weg rettet.«

»Das denke ich nicht.«

Hazel spürte, dass sich gerade etwas Entscheidendes in ihrer Interaktion änderte. Die alte Lehrerin fühlte sich von ihrem Widerspruch offenbar herausgefordert und Hazel nahm den Fehdehandschuh bereitwillig auf.

»Es geht um etwas anderes, um etwas Größeres, das über jeder Rolle, ob privat oder auf der Bühne, stehen sollte.«

»Jetzt bin ich aber gespannt. Du gefällst mir, Mädchen, weiter so.«

Hazel fuhr unbeirrt fort, so als habe es den Einwurf von Orla gar nicht gegeben. Sie war schon zu weit gegangen und wenn sie ehrlich war, fühlte es sich gut an, der alten Lehrerin endlich Paroli zu bieten.

»Vielmehr geht es mir um Haltung. Nicht um die äußere, die ist in meinem Fall tadellos.« Es fiel ihr schwer, so überaus selbstbewusst aufzutreten, und sie musste aufpassen, nicht überheblich zu klingen, schließlich wollte sie ernst genommen werden. »Nein, ich spreche von der inneren Haltung. Von der Selbstverständlichkeit, mit der ich meine Rolle im wahren Leben einnehmen möchte. Mit der ich meine neue Rolle als Schauspiellehrerin einnehmen und mir bei alldem selbst glauben möchte.«

Im ersten Moment herrschte Stille. Hazel sah Orla unverwandt an. Sollte sie zu weit gegangen sein, war es gut, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen, bevor das Unheil seinen Lauf nahm. Aber sie täuschte sich.

»Brava, Mädchen, bravissima! So können wir arbeiten!«

Hazel traute ihren Ohren kaum. Etwas hatte sich geändert, das hörte sie an Orlas voller Stimme und das sah sie in ihrem stolzen Blick … eine Sekunde, bevor die alte Lehrerin ihre neu gewonnene Haltung mit einem Satz zerstörte.

»Wie stolz deine Mutter auf dich wäre.«

Kapitel 5

Als Hazel am selben Abend im Bus saß, der zum Theater fuhr, musste sie wieder und wieder darüber nachdenken, warum Orlas letzter Satz sie so sehr erschüttert hatte.

Die alte Lehrerin und ihre Mutter waren viele Jahre lang gut befreundet gewesen, und ihre Mutter war es auch gewesen, auf deren Empfehlung hin sie mit gerade mal achtzehn Jahren ihre Lehrerin gewählt hatte. Wenn sie ehrlich war, hatte eigentlich ihre Mutter Orla diese für sie ausgesucht. Anfangs hatte sie das nicht gekümmert, denn sie war einfach glücklich gewesen, dass ihre Mutter ihre Entscheidung gegen das Ballett und für die Schauspielerei nicht nur akzeptiert, sondern sogar aktiv unterstützt hatte.

Der Abschied war kurz und für Orlas Verhältnisse herzlich ausgefallen. Auch ein neuer Termin stand bereits fest. So recht wusste Hazel allerdings gar nicht, ob sie das wirklich wollte. Andererseits redete sie sich ein, dass sie schließlich nichts zu verlieren hatte. Wohlwissend, dass sie in Wahrheit bei niemandem so ungeschützt war, wie bei der alten Lehrerin. Sie kannte sie einfach zu lange. Ihr konnte sie nichts vormachen. Jedenfalls nicht, ohne dass diese sie auf ihre unverwechselbare Art enttarnte.

Aber diese Sorgen würde sie sich ein anderes Mal machen. Jetzt galt es erst einmal den Abend zu überstehen. Sie hatte ernsthaft darüber nachgedacht, sich für die Vorstellung krank zu melden. Auch wenn die Aura sich längst verflüchtigt hatte, hatte sie ihr zweifelhaftes Versprechen doch zuverlässig eingelöst. Ihr Kopf schmerzte seit Stunden heftig. Doch es ging ihr gegen den Strich, vor den Kollegen eine wie auch immer geartete Schwäche zu zeigen. Nicht in der überschaubaren Zeit, die sie noch am Theater sein würde.

Kaum war sie, in letzter Sekunde, in der Garderobe angekommen, ging der Wahnsinn auch schon wieder weiter. Sie hatte sich gerade vor ihren Spiegel gesetzt, da hörte sie Elliott überlaut und deutlich jammern.

»Ihr werdet alle sterben!«, heulte er auf.

Sehen konnte Hazel ihn nicht, aber ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sollte das eine Rolle sein, für die er probte, gebührte ihm fraglos aller Applaus. Die kleine Vorstellung war sehr überzeugend. Zu seiner Figur im heutigen Stück gehörte der Text jedenfalls nicht. Wahrscheinlich war es nur eine Übung. Wenn dem so war, beherrschte er sie perfekt.

Aus einer Laune heraus stieg sie in die Szene ein und fragte beiläufig: »Oh, und wann? Weißt du da mehr?«

Sofort verstummte Elliott. Er sah sie verwirrt an. Seine Augen waren rotgerändert und verquollen, so als habe er entweder eine schlechte Nacht oder einen tränenreichen Zusammenbruch hinter sich.

»Was?«, fragte er und wirkte vollkommen wehrlos. Hilflos, ohne den Rahmen einer Rolle auf sich selbst zurückgeworfen. Mit diesem nackten Ich schien er nicht besonders vertraut oder im Reinen zu sein.

»Schon gut, ich wollte dich nicht unterbrechen«, schob Hazel hastig hinterher und überkreuzte ob dieser Lüge heimlich Zeige- und Mittelfinger der linken Hand hinter ihrem Rücken. Es war ein wenig gemein von ihr gewesen, Elliott so zu irritieren. Immerhin hatte er ihr in letzter Zeit als einer der wenigen Kollegen so etwas wie Mitgefühl entgegengebracht. Die anderen waren überwiegend gleichgültig. Zugegebenermaßen nicht speziell ihr gegenüber, sondern eigentlich allen Mitspielern. Das war eines der Dinge, die sie am Theater zunehmend störten. Aber das war ein anderes Thema.

»Entschuldige.« Sie sah Elliott freundlich an. »Das war richtig gut! Aber ich glaube, wir müssen gleich …«

Elliott nickte, wirkte aber weiterhin abwesend. Das Kinn erhoben, ließ er seinen Blick über die versammelten Schauspieler wandern als suche er etwas und ging dann wortlos zu seinem Platz hinüber.

Hazel schminkte sich mit raschen, geübten Bewegungen, konnte ihre Ohren dabei allerdings nicht verschließen. Das wusste offensichtlich auch Pia.

»Ach, Mäusefäustchen ist ja auch schon da«, flüsterte Pia gerade laut genug, dass sie es auch garantiert hören konnte.

Hazel war bewusst, dass es sich hierbei um einen jener seltenen Zufälle handeln musste, die im Grunde unmöglich waren. Pia war einfach nur gehässig und so hilflos in ihrer Missgunst, dass sie sich nicht zu schade dafür war, über Hazels zierliche Oberweite zu lästern. Immerhin hatte ihre mädchenhafte Figur mit Sicherheit einen nicht geringen Anteil daran, dass sie die Hauptrolle in Tod einer Schülerin bekommen hatte. Sie und nicht Pia. Die keinesfalls wissen konnte, dass Villem genau diesen Begriff in ganz anderen Situationen liebevoll und zärtlich in Hazels Ohr flüsterte.

»Ganz starlike. Kommt als Letzte und geht wahrscheinlich wieder als Erste. Nun ja …« Den Rest des Satzes ließ Pia offen. Zur freien Verfügung gewissermaßen. Müde registrierte Hazel, dass heute anscheinend niemand in ihre Lästereien einsteigen wollte. Nun ja! Nicht ohne Genugtuung zitierte sie ihre Kontrahentin in Gedanken.

Im Zuschauerraum ertönte in diesem Moment der letzte Gong. Der Countdown lief und Hazel riss sich zusammen. Jetzt zählte nur, dass sie die Vorstellung irgendwie überstand.

Tatsächlich quälte sie sich mehr schlecht als recht durch das Stück. Als sie in der Schlussszene am Boden lag, wurde ihr schlagartig furchtbar übel. Sie brachte ihren und den Gruppenvorhang taumelnd hinter sich und floh direkt danach in die Waschräume.

Zittrig und mit verquollenen Augen, wankte sie anschließend in die Garderobe. Dort ließ sie sich auf ihren Stuhl vor dem großen Kosmetikspiegel fallen und angelte nach der Wasserflasche in ihrer Tasche. Fast leer, na prima.

»Hier, ich habe noch eine volle.«

Elliott war so plötzlich hinter ihr aufgetaucht, dass Hazel im ersten Moment erschrocken zusammenfuhr. Sie lächelte ihn entschuldigend an. »Danke dir, sehr aufmerksam. Du hast was gut bei mir«, sagte sie und griff nach der Flasche.

»Was ist denn los? Hoffentlich ist es nicht wegen Pia. Sie ist es nicht wert, weißt du?«

»Nein, nein, ich bin heute nur ein wenig … unpässlich.« Hazel hoffte, dass er sich mit diesem vermeintlichen Hinweis auf Frauenprobleme abspeisen ließ. Es war ja total nett, wie er sich um sie sorgte, aber sie war heute einfach nicht in der Lage Small Talk zu betreiben. Schon gar nicht über Pia.

Elliott schluckte die Erklärung ohne weitere Fragen, und sah sie nur noch einmal prüfend an, bevor er ebenso still verschwand, wie er gekommen war.

Kurz darauf verließ Hazel den Raum tatsächlich, wie von Pia vorhergesagt, als eine der Ersten und fand sich wenig später in dem gewundenen Gang nach draußen wieder. Heute war ihr die drückende Enge ganz willkommen. Der Schwindel, der sie auf der Bühne befallen hatte, war noch nicht wieder ganz verschwunden und die wechselnden Lichtverhältnisse waren nicht gerade förderlich. Mit vorsorglich erhobenen Händen hielt sie sich dicht an der Wand, jederzeit bereit, sich aufzufangen.

Es passierte, als sie in den hellen Eingangsbereich trat. Das grelle Licht biss förmlich in ihren Kopf und eine erneute Übelkeitswelle schwappte über sie hinweg. Sie stützte sich reflexhaft an der Wand ab, in der Hoffnung, keine größere Aufmerksamkeit zu erregen. Von den Kollegen war zum Glück noch niemand hinter ihr. Johnny, der in diesem Moment seinen Raum zuschloss, war ihre kleine Schwäche allerdings nicht verborgen geblieben.

»Na na, min Deern. Was war denn das? Ich glaube …« Er nestelte weiter am Schloss herum und schob die Tür im nächsten Moment wieder auf. Dann schaltete er das Licht in seinem Raum ein, löschte es aber eine Sekunde später.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee. Na komm!« Er streckte ihr hilfsbereit die Hand entgegen. »Du setzt dich jetzt erst einmal und schnaufst richtig durch. In der Zwischenzeit rufe ich dir ein Taxi. Ist das ein Angebot?« Er zwinkerte lächelnd und nahm der Situation damit die Peinlichkeit, die eigentlich nur in Hazels Kopf existierte.

Nachdem das Taxi bestellt war, wandte er sich ihr wieder zu. »Migräne?«

»Ja, woher …?«

Johnny winkte ab. »Ich kenne das. Ist nicht schön.« Und dann nach einem Moment fuhr er fort: »Hast du so die Vorstellung durchgestanden?«

»Ja, es hat schon heute Mittag angefangen.«

»Arme Deern. Dann steckst du jetzt ja gerade richtig tief drin. Pass auf, das Taxi muss jeden Moment hier sein. Du bist also bald zu Hause. Ruh dich aus, tu dir was Gutes, und wenn es dir morgen nicht besser geht, melde dich krank.«

Hazel wollte abwinken, aber Johnny ließ keine Widerrede zu. »Nein, nein. Du gibst immer hundertfünfzig Prozent, das weiß jeder hier. Aber wenn der Körper so deutliche Signale sendet, hat er es verdient, dass du auf ihn hörst.«

Sie sah ihn überrascht an.

»Ich, äh … ich sehe da manchmal so eine Gesundheitssendung und … Ja, also, es ist jedenfalls wichtig, dass du auf dich aufpasst.« Er räusperte sich. Seine überraschenden Kenntnisse im medizinischen Bereich schienen ihm jetzt doch ein wenig unangenehm zu sein. »Jedenfalls finde ich, dass du ruhig auf einen alten Mann hören kannst.« Er zwinkerte ihr noch einmal zu.

Hazel lächelte gerührt. Johnny würde ihr in ihrem neuen Leben auf jeden Fall fehlen. »Dankeschön, ich werde das beherzigen. Mir geht es auch schon viel besser.«

Johnny hob die Augenbrauen und drohte ihr spielerisch mit dem Finger. »Denk an meine Worte, wenn es morgen nicht besser ist!«

Hazel stieg mit einem warmen Gefühl im Bauch ins Taxi ein. Diese zwischenmenschliche Herzlichkeit war es, die sie im ständigen Konkurrenzkampf so sehr vermisste, aber so war es nun mal am Theater. Sie hoffte, ihren zukünftigen Schülern mehr, als die reine Schauspielleistung vermitteln zu können.

Zwischendurch schaute sie auf ihr Handy, um zu sehen, ob Villem noch wach war. Nein, er hatte schon vor über einer Stunde eine Gute-Nacht-SMS geschickt. Da hatte sie noch auf der Bühne gestanden. Traurigkeit stieg kurz und heftig in ihr auf. Wie sehr sie ihn vermisste. Sie waren fast nie voneinander getrennt, und während sie vor seiner Abreise noch geglaubt hatte, dass es zur Abwechslung einmal ganz schön wäre, das Haus für sich zu haben, konnte sie diesen Gedanken heute kaum noch nachvollziehen. Sie seufzte unhörbar.

Jetzt bog der Wagen um die letzte Kurve. Wie zu erwarten, lag das Haus dunkel vor ihr. Die Straße war still, als sie ausstieg. Mechanisch bezahlte sie, schloss die Tür auf und betrat das Haus. Endlich. Sie streifte Schuhe und Mantel ab und lief ohne Umweg ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf die Couch fallen und atmete tief durch. Sie vergewisserte sich, dass die Wasserflasche auf dem Tisch stand. Ja, da war sie, Gott sei Dank.

Alles, was sie brauchte, war in Reichweite. Sie konnte sich also einen kurzen Moment ausruhen. Selten hatte sie sich so dermaßen schlapp gefühlt, dazu noch der bohrende Schmerz, der gleichermaßen in Kopf und Magen wütete.

Es fiel nur indirektes Licht aus dem Flur ins Wohnzimmer. Der Garten lag im Schein des zunehmenden Mondes und war von einem etwas helleren Schwarz als der Raum. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie die Augen schloss und sich einfach treiben ließ. Im Meer des Schmerzes, so, als könne er ihr nichts anhaben.

Als sie später wieder zu sich kam, konnte sie nicht sagen, wie lange sie so dagesessen hatte. Ein Blick auf die schwach beleuchtete Wetterstation sagte ihr, dass es schon nach halb zwei war. Sie erhob sich und wollte gerade zum Fenster gehen, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Noch bevor ihr Bewusstsein erkannte, worum es sich handelte, stellten sich die Härchen an ihren Armen auf.

Die Zeit schien sich für Bruchteile von Sekunden in mehreren Schichten übereinander zu schieben, als sie verstand, dass da ein Gesicht war. Strahlend weiß im Mondlicht und ganz nah. Nur wenige Meter entfernt, direkt an der Fensterscheibe. Ihr Puls raste von einer Sekunde auf die andere, dann war der Spuk vorbei.

Wie paralysiert verharrte sie in dieser unmöglichen Haltung, halb von der Couch erhoben, und versuchte, sich zu sammeln. Das konnte doch gar nicht sein. Warum sollte jemand …? Wer würde ihr einen solchen Schrecken einjagen wollen? Das war doch Unsinn. Es war bestimmt nur eine Laune ihrer überanstrengten Nerven, die sinnlos feuerten und ihr dieses Trugbild beschert hatten. Wahrscheinlich hatte sich einfach ihr eigenes bleiches Gesicht in der Scheibe gespiegelt. Zum Glück hatte niemand mitbekommen, wie hysterisch sie war.

Sie straffte sich und ging mit Beinen, die die Konsistenz von Götterspeise angenommen hatten, zum Fenster. Sie warf einen raschen Blick in den Garten, um sich davon zu überzeugen, dass er menschenleer war.

Natürlich schlich niemand durch die dunklen Silhouetten der Sträucher und der großen Blutbuche.

Kapitel 6

Hazel erwachte mit einem unangenehmen Geschmack im Mund und ohne eine Vorstellung davon, wie spät es sein mochte, auf der Wohnzimmercouch.

Noch halb angezogen hatte sie hier eine unruhige, kurze Nacht verbracht. Wenn die Migräne so stark wie gestern war, musste sie mit erhöhtem Oberkörper schlafen. Ansonsten hielten Schwindel und Übelkeit sie wach und machten alles noch schlimmer.

Die Wetterstation auf dem Couchtisch zeigte an, dass es draußen diesig bei neun Grad und außerdem bereits viertel nach acht war. Gar nicht so schlecht. Demnach hatte sich ihr Körper wenigstens ein paar Stunden Schlaf geholt. Es ging ihr auch deutlich besser als in der Nacht. Die Übelkeit war verschwunden und der Kopfschmerz auf ein leises Summen heruntergefahren. Was sie jetzt brauchte, war frische Luft und ein wenig Bewegung, um ihren verspannten Körper aufzulockern. Dann würde auch das Summen ausklingen und ihr normaler Rhythmus wieder aktiviert werden.

Sie hasste es, wenn sich durch die Migräneattacken etwas an ihrem gewohnten Tagesablauf änderte. Berufsbedingt war dieser schon speziell genug. Die regelmäßige Verlängerung des Tages in die Nacht hinein verzieh der Körper einem bei Weitem nicht so leicht, wie sie als junge Frau gedacht hatte. Dass man sich bald an die allabendlichen Vorstellungen gewöhnt hatte, war eine Lüge. Sie hatte Tage, da spürte sie die Verschiebung allzu deutlich. Verrückt eigentlich, wie lange sie nun schon in diesem verzerrten Bild lebte.

Die Belastung durch diesen besonderen Tagesablauf war zuerst noch freundlich dahergekommen. Viel präsenter und interessanter als gesunde Arbeitszeiten, war der Theatertrubel gewesen, sodass sie viele Jahre lang nicht gemerkt hatte, wie mürbe sie diese Arbeit in Wahrheit machte. Irgendwann waren die Perlen abgestoßen und der Glitzer verflogen und dann wurde es hart.

Das war bei ihr zugleich der Zeitpunkt gewesen, als sie gemerkt hatte, dass all ihre Freundinnen und Freunde verschwunden waren. Zu Beginn ihrer Schauspielzeit hatte sie diese Gefahr für ein Klischee gehalten. Sie hätte niemals geglaubt, dass ihr das je passieren würde, und doch musste sie sich eingestehen, dass es genauso gekommen war. Die anderen hatten sie schon seit Jahren nicht mehr angerufen. Sie erinnerte sich daran, wie sie Treffen früher immer wieder hatte absagen müssen, und dass sie allem Bedauern zum Trotz lange noch eine Art Stolz darüber empfunden hatte, zu gut gebucht zu sein, um bei Spieleabenden von Freunden dabei sein zu können.

Inzwischen beschränkten sich ihre sozialen Kontakte auf die Kollegen, die genau das auch für immer blieben. Kollegen, keine Freunde, denen man sich anvertrauen konnte. Stattdessen war man immer auf der Hut. Sie war sich sicher, dass es den anderen ähnlich ging. Aber das Thema war müßig. In der momentanen Situation gab es hierfür nun mal keine Lösung. Auch wenn sie jetzt ganz besonders spürte, wie sehr ihr eine Freundin fehlte, mit der sie das Pro und Contra ihrer Entscheidung an gemütlichen Abenden immer wieder durchkauen könnte.