Tödlicher Irrtum - Agatha Christie - E-Book

Tödlicher Irrtum E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Stets hatte Jacko Argyle beteuert, seine Mutter nicht ermordet zu haben. Trotzdem wird er für die Tat verurteilt und stirbt kurz darauf im Gefängnis. Zwei Jahre später überbringt Arthur Calgary der Familie den Beweis für Jackos Unschuld. Diese ist wider Erwarten alles andere als erfreut, denn nun hat sie Gewissheit: Der Mörder muss einer von ihnen sein. Während das Misstrauen unter ihnen wächst, versucht Calgary, die Geheimnisse der Familienmitglieder zu ergründen, und muss bald lernen, dass die Wahrheit nicht immer der Gerechtigkeit dient.

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Agatha Christie

Tödlicher Irrtum

Roman

Aus dem Englischen von Dorothea Gotfurt

Atlantik

I

Als er zur Fähre kam, dämmerte es bereits.

Er wäre viel früher dort gewesen, wenn er seine Abfahrt nicht immer wieder hinausgezögert hätte.

Er hatte bei Freunden in Redquay zu Mittag gegessen, und während er sich möglichst unbefangen an der allgemeinen Unterhaltung beteiligte, fürchtete er sich insgeheim vor der ihm bevorstehenden Aufgabe. Er nahm die Einladung seiner Freunde, noch zum Tee zu bleiben, an; nach dem Tee jedoch konnte er seinen Aufbruch nicht länger hinausschieben.

Das Taxi wartete schon auf ihn. Er verabschiedete sich, und bald fuhr er über die zehn Kilometer lange Küstenchaussee bis zu einer waldigen Straße, die landeinwärts führte. Der Fahrer bog in diese Straße ein, und kurz darauf kamen sie zu einem kleinen Steinkai am Fluss.

Dort stieg er aus und läutete die große Glocke am Ufer, bis er die Aufmerksamkeit des Fährmannes auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses erregte.

»Soll ich hier auf Sie warten?«, fragte der Fahrer.

»Nein, ich habe ein Taxi bestellt, das mich drüben in einer Stunde abholen und direkt nach Drymouth fahren wird.«

Der Mann nahm Fahrgeld und Trinkgeld dankend entgegen, blickte auf den von leichten Nebelschwaden verhangenen Fluss und bemerkte:

»Da kommt die Fähre schon.«

Dann sagte er gute Nacht, wendete seinen Wagen und fuhr davon.

Arthur Calgary blieb allein am Kai zurück, allein mit seinen Gedanken, allein mit der Angst vor seiner schwierigen Mission. Wie wild und verlassen diese Gegend doch ist, dachte er, man könnte meinen, an einem einsamen See in Schottland zu sein; und doch sind die Hotels, die Läden, die Bars und die Menschenmengen von Redquay nur wenige Kilometer entfernt.

Die Ruder des Fährbootes plätscherten leise, als es an dem kleinen Kai anlegte. Arthur Calgary ging den kurzen Pfad hinunter, der zur Anlegestelle führte, und stieg ins Boot. Der Fährmann war alt und grau; er und das Boot schienen fast miteinander verwachsen zu sein. Als sie abfuhren, blies ein kalter Wind vom Meer her.

»Kühl heute Abend«, meinte der Fährmann.

Calgary stimmte ihm zu und sagte, es sei viel kälter als gestern. Er glaubte, in den Augen des Fährmannes eine heimliche Neugier zu erkennen. Was wollte dieser Fremde? Die Saison war längst vorbei; außerdem war es schon spät, zu spät, um in dem kleinen Café drüben einzukehren. Der Fremde besaß kein Gepäck, also kam er nur auf einen kurzen Besuch. Calgary fragte sich selbst, warum er so spät am Tag gekommen sei. Sollte er unbewusst diesen Augenblick so lange wie möglich hinausgezögert haben? Die Überquerung des Rubikon … die Überquerung des Flusses … des Flusses. Er dachte plötzlich an jenen anderen Fluss, an die Themse.

Noch gestern hatte er auf die Themse gestarrt – war es wirklich erst gestern gewesen? Er wandte sein Gesicht wieder dem Mann zu, der ihm gegenübersaß und ihn mit forschenden Augen betrachtete. Eine deutliche Frage lag in diesen Augen.

Man müsste es lernen, seine Gedanken besser zu verbergen, dachte er.

Es war eine höchst unangenehme Angelegenheit, aber er musste seine Pflicht tun; danach erst durfte er versuchen, das Ganze zu vergessen.

Er entsann sich stirnrunzelnd der gestrigen Unterhaltung, und er hörte wieder die sympathische, ruhige Stimme …

»Sind Sie wirklich fest entschlossen zu diesem Schritt, Dr. Calgary?«

Er hatte ärgerlich geantwortet:

»Es bleibt mir doch nichts anderes übrig, sehen Sie das denn nicht ein? Wie könnte ich mich davor drücken?«

Die Antwort, die er erhielt, erstaunte ihn.

»Man muss die Dinge von allen Seiten betrachten.«

»Vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus gesehen, kann es doch wohl nur einen Weg geben!«, erwiderte er erregt. Versuchte der andere etwa, die Angelegenheit zu vertuschen?

»Allerdings, aber die Sache ist verwickelter, als Sie glauben; es handelt sich um mehr als um Gerechtigkeit.«

»Da bin ich anderer Meinung. Man muss schließlich an die Familie denken!«

Die Antwort war sehr rasch gekommen: »Eben daran dachte ich – an die Familie.«

Dr. Calgary konnte ihn beim besten Willen nicht verstehen; der andere fuhr fort: »Sie müssen natürlich das tun, was Sie für gut und richtig halten, Dr. Calgary.«

Das Boot lief auf Sand – er hatte den Rubikon überquert.

»Das macht sechs Pence, oder wollen Sie auch zurück?«, sagte der Fährmann.

»Nein, danke; keine Rückfahrt«, erwiderte Calgary.

Er bezahlte und fragte:

»Kennen Sie das Haus Sonneneck?«

Jetzt betrachtete der Mann ihn mit unverhohlener Neugier.

»Ja, natürlich. Dort rechts – hinter den Bäumen –, Sie können es von hier aus sehen. Sie gehen den Hügel hinauf, dann biegen Sie rechts in die neue Straße ein, die durch die Siedlung führt. Es ist das letzte Haus.«

»Vielen Dank.«

»Sie wissen doch, dass Mrs Argyle im Sonneneck …«

»Ja, ich weiß Bescheid«, unterbrach ihn Calgary, der nicht beabsichtigte, sich auf eine Diskussion einzulassen.

Ein sonderbar verschlagenes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Fährmannes aus. Er sah plötzlich aus wie ein heimtückischer Faun.

»Sie selbst hat dem Haus den Namen gegeben – während des Krieges. Es war ein neues Haus, ohne Namen, aber der Grund und Boden, auf dem es steht, der hatte einen Namen: Schlangennest. Doch so wollte sie das Haus natürlich nicht nennen – wir jedoch sprechen noch immer vom Schlangennest.«

Calgary verabschiedete sich brüsk und begann, den Hügel hinaufzusteigen. Alle Bewohner schienen in ihren Häusern zu sein, und er hatte das Gefühl, dass sie durch die Vorhänge starrten und ihn beobachteten. »Er geht zum Schlangennest«, flüsterten sie. Schlangennest – ein unheimlich zutreffender Name.

Nein, so ging es nicht weiter, er musste sich zusammennehmen, musste sich genau überlegen, was er sagen wollte.

Calgary erreichte das Ende der freundlichen neuen Straße mit den freundlichen neuen Häusern. Jede der Villen besaß einen hübschen Garten, und die Bewohner drückten ihren persönlichen Geschmack durch die Wahl der Blumen aus: Chrysanthemen, Rosen, Nelken, Geranien …

Am Ende der Straße war ein Gartentor, auf dem »Sonneneck« stand. Er öffnete das Tor und ging über den kurzen Weg, der zum Haus führte. Es war ein gut gebautes, unpersönliches, modernes Haus mit einem Spitzgiebel und einer kleinen, überdachten Vorhalle – ein Haus, wie man es in vielen Siedlungen und in vielen guten Wohngegenden findet. Calgary stellte fest, dass der Stil des Hauses die wundervolle Aussicht nicht wert war. Am gegenüberliegenden Ufer des Flusses, der hier eine scharfe Kurve beschrieb, lagen bewaldete Hügel. Weiter unten, zur Linken, machte der Fluss wieder eine Biegung. In der Ferne sah man Wiesen und Obstgärten.

Calgary blickte einen Moment versonnen auf den Fluss. Hier hätte man ein Schloss bauen sollen, dachte er, ein verwunschenes Märchenschloss! Von jener Art, wie sie Zuckerbäcker manchmal aus Pfefferkuchenteig formen. Doch das Haus, das man sah, vermittelte den Eindruck von Nüchternheit, Maß und wohlhabender Gediegenheit – ohne einen Funken architektonischer Phantasie.

Aber dafür konnte man seine Bewohner, die Argyles, natürlich nicht verantwortlich machen. Sie hatten das Haus schließlich nur gemietet, nicht bauen lassen. Allerdings hatten sie – oder zumindest einer von ihnen – es als Domizil der Familie ausgesucht … Länger kannst du es nun nicht mehr aufschieben, sagte er sich und drückte entschlossen auf die Klingel.

Er wartete einen Augenblick, dann läutete er nochmals. Endlich hörte er Schritte, und die Haustür wurde geöffnet.

Erschrocken trat er ein wenig zurück. In seiner überhitzten Phantasie glaubte er, der Tragik in Person gegenüberzustehen. Das Gesicht war jung, eben deshalb wirkte es umso dramatischer. Die tragische Maske sollte immer jugendlich sein, dachte er. Jugend, die hilflos dem unentrinnbaren Schicksal, der grausamen Zukunft ausgeliefert ist.

Während er sich zu sammeln versuchte, überlegte er: Ein irischer Typ; tiefblaue Augen mit dunklen Schatten, welliges schwarzes Haar, vorstehende Backenknochen, ein gewölbter Hinterkopf … Das junge Mädchen sah ihn aufmerksam und abweisend zugleich an.

»Ja? Sie wünschen?«

»Ist Mr Argyle zu Hause?«

»Ja, aber für Fremde ist er nicht zu sprechen. Oder kennen Sie ihn?«

»Nein, ich kenne ihn nicht, aber …«

Sie war im Begriff, die Tür wieder zu schließen.

»Dann sollten Sie sich schriftlich anmelden.«

»Entschuldigen Sie, aber ich muss ihn unbedingt sprechen. Sind Sie Miss Argyle?«

»Ich bin Hester Argyle«, gab sie unwillig zu. »Wie ich Ihnen schon sagte, mein Vater empfängt niemanden ohne vorherige schriftliche Anmeldung.«

»Ich komme von weit her …« Sie blieb ungerührt.

»Das sagen sie alle, aber ich dachte, sie hätten sich nun endlich zufriedengegeben. Ich nehme an, dass Sie ein Reporter sind«, bemerkte sie unfreundlich.

»Nein, durchaus nicht.«

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als glaube sie ihm nicht.

»Was wollen Sie denn dann?«

Hinter ihr, im Hausflur tauchte ein anderes Gesicht auf – das reizlose, schlichte, von graublondem Kraushaar umrahmte Gesicht einer Frau in mittleren Jahren. Die Frau schien wie ein Drache über dem jungen Mädchen zu wachen.

»Es betrifft Ihren Bruder, Miss Argyle.«

Hester Argyle hielt den Atem an, dann sagte sie mit tonloser Stimme: »Michael?«

»Nein, Ihren Bruder Jack.«

»Ich hab doch gewusst, dass Sie Jackos wegen kommen«, rief sie erregt. »Warum lassen Sie uns nicht in Frieden? Das alles ist längst vorbei und erledigt. Warum muss es wieder und wieder aufgerührt werden?«

»Man kann niemals sagen, dass etwas endgültig erledigt ist.«

»Aber es ist erledigt! Jacko ist tot. Es ist alles vorbei. Wenn Sie kein Journalist sind, müssen Sie Arzt sein – ein Psychologe oder so etwas. Bitte, gehen Sie, ich kann meinen Vater jetzt nicht stören. Er ist beschäftigt.«

Bevor sie die Tür schließen konnte, zog Calgary schnell den Brief aus der Tasche und drückte ihn ihr in die Hand.

»Hier ist ein Brief von Mr Marshall.«

Sie betrachtete den Umschlag nachdenklich, dann sagte sie unsicher: »Von Mr Marshall aus London?«

Jetzt näherte sich auch die ältere Frau, die bisher im Hintergrund der Diele geblieben war. Sie musterte Calgary feindselig; er dachte plötzlich an einen Besuch im Kloster – ja, sie erinnerte ihn an eine Nonne, an die Schwester hinter dem kleinen Gitter, der man erst genau Auskunft über die eigene Person und den Zweck des Kommens geben musste, bevor man die Vorhalle des Klosters betreten durfte.

»Sie kommen von Mr Marshall?«, fragte sie streng.

Hester starrte auf den Briefumschlag, dann eilte sie die Treppe hinauf.

Calgary blieb bei der Haustür stehen; der klösterliche Drache ließ ihn nicht aus den Augen.

Er versuchte krampfhaft, Konversation zu machen, aber es fiel ihm nichts ein.

Hesters klare Stimme unterbrach das Schweigen.

»Vater bittet Sie heraufzukommen.«

Seine Wächterin trat unwillig einen Schritt zur Seite. Sie blieb nach wie vor misstrauisch. Er legte seinen Hut auf einen Stuhl und ging die Treppe hinauf. Hester erwartete ihn am Treppenabsatz.

Das Innere des Hauses machte einen fast übertrieben sauberen Eindruck, es wirkte beinahe wie eine Privatklinik.

Hester führte ihn über einen Korridor; sie ging drei Stufen hinunter, öffnete eine Tür und bedeutete ihm, ihr in das Zimmer zu folgen.

Es war eine Bibliothek, und Calgary sah sich entzückt um. Die Atmosphäre dieses Raumes war anders, als er erwartet hatte, anders als der Rest des Hauses. In diesem Zimmer lebte ein Mensch, arbeitete, entspannte sich. Die mit Büchern gefüllten Regale reichten bis zur Decke, die Sessel waren schäbig, aber bequem. Der Schreibtisch war mit Briefen und Dokumenten aller Art bedeckt, auf kleinen Tischen lagen Bücher und Zeitungen. Er hatte eben noch Zeit, einen Blick auf eine sehr reizvolle junge Dame zu werfen, die das Zimmer verließ, während er es betrat. Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den Mann, der aufstand und ihn mit dem geöffneten Brief in der Hand begrüßte.

Leo Argyle wirkte auf den ersten Blick wie der Schatten eines Mannes – zart, bleich, beinahe durchsichtig. Seine Stimme war weich und sympathisch.

»Dr. Calgary?«, sagte er. »Bitte nehmen Sie Platz.«

Calgary setzte sich und nahm dankend die ihm angebotene Zigarette. Argyle ließ sich ihm gegenüber nieder. Alle seine Bewegungen waren sehr langsam. Calgary hatte das Gefühl, in einer Welt zu sein, in der Zeit keine Rolle spielte. Leo Argyle lächelte sanft und klopfte mit einem Finger auf den Brief; dann begann er zu sprechen.

»Mr Marshall schreibt, dass Sie uns etwas Wichtiges mitzuteilen haben, er sagt jedoch nicht, um was es sich handelt. Rechtsanwälte vermeiden es immer, sich festzulegen, finden Sie nicht auch?«, sagte er freundlich.

Calgary stellte leicht erstaunt fest, dass der Mann, der ihm gegenübersaß, einen glücklichen Eindruck machte. Es war kein überschäumendes Glück, eher eine stille Zufriedenheit. Hier war ein Mensch, der froh war, nichts mit der Außenwelt zu tun zu haben.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich empfangen haben«, erwiderte Calgary höflich. »Ich hielt es für besser, mit Ihnen zu sprechen, als Ihnen einen Brief zu schreiben.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er in plötzlicher Erregung fort: »Es ist schwierig, sehr, sehr schwierig …«

»Bitte nehmen Sie sich Zeit.«

Leo Argyle war noch immer liebenswürdig und zurückhaltend. Er beugte sich vor und versuchte, Calgary auf seine sanfte Art zu helfen.

»Da Sie mir einen Brief von Marshall bringen, nehme ich an, dass Ihr Besuch etwas mit meinem armen Jack zu tun hat.«

Calgary konnte sich nicht mehr an die sorgfältig vorbereiteten Worte und Phrasen erinnern, und doch musste er irgendwie sprechen. Wieder stammelte er:

»Es ist so entsetzlich schwierig …«

Nach einem kurzen Schweigen meinte Leo zögernd:

»Vielleicht kann ich Ihnen die Sache erleichtern: Wir wussten, dass unser Jacko kaum mit normalen Maßstäben zu messen war. Nichts, was Sie uns zu sagen haben, wird uns überraschen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Jacko nicht die volle Verantwortung für die furchtbare Tragödie trägt.«

»Natürlich war er nicht verantwortlich«, warf Hester ein.

Calgary blickte erstaunt auf; einen Augenblick lang hatte er ihre Anwesenheit vergessen. Sie saß hinter ihm auf einer Sessellehne, und als er sich zu ihr umwandte, fuhr sie eifrig fort:

»Jacko war schon als kleiner Junge ein Scheusal – wenn er die Geduld verlor, ergriff er den ersten besten Gegenstand und ging damit auf einen los.«

»Aber Hester – Hester!«, meinte Argyle vorwurfsvoll.

Das Mädchen legte rasch die Hand auf den Mund. Es errötete und sagte verlegen: »Ich bitte um Entschuldigung … ich hab's gut gemeint … aber ich hätte das nicht sagen sollen, nicht jetzt, nachdem – nachdem f…«

»Nachdem der Fall erledigt ist«, vollendete Argyle ihren Satz. »Das alles gehört der Vergangenheit an. Ich möchte nur noch hinzufügen, dass wir uns bemühen, den Jungen als einen Invaliden zu betrachten, als eine Abnormität – das ist wohl der beste Ausdruck.« Er sah Calgary an. »Geben Sie uns da recht?«

»Nein«, erwiderte Calgary.

Es folgte ein kurzes Schweigen. Das scharfe Nein hatte seine Zuhörer anscheinend verblüfft. Er versuchte, die Wirkung zu mildern, und fügte hinzu:

»Es – es tut mir leid, aber Sie wissen ja noch nicht, worum es sich handelt.«

»Allerdings.« Argyle schien zu überlegen … Er wandte sich an seine Tochter. »Vielleicht solltest du uns kurz allein lassen, Hester.«

»Nein, auf keinen Fall. Ich muss unbedingt hören, was er uns zu sagen hat.«

»Das kann aber sehr peinlich sein.«

»Und was für eine Rolle spielt das jetzt noch? Was Jack auch Furchtbares getan haben mag – es ist ja längst vorbei.«

»Bitte, glauben Sie mir, es kann keine Rede davon sein, dass Ihr Bruder etwas getan hat – ganz im Gegenteil«, warf Calgary rasch ein.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Die Tür am anderen Ende des Zimmers wurde geöffnet, und die junge Dame, die Calgary bei seinem Eintreten bemerkt hatte, trat herein. Sie trug nun einen Mantel und ein kleines Köfferchen.

Sie sah Argyle an.

»Ich gehe jetzt – oder ist noch irgendetwas zu erledigen?«

Nach kurzem Zögern, Calgary hatte bereits bemerkt, dass Argyle immer zögerte, bevor er etwas sagte, legte er eine Hand auf ihren Arm und bat sie:

»Setz dich zu uns, Gwenda. Darf ich bekannt machen: Dr. Calgary – Miss Vaughan, die seit … seit«, – wieder zögerte er –, »die seit Jahren meine Sekretärin ist.« Dann fügte er hinzu: »Dr. Calgary ist hierhergekommen, um uns etwas zu erzählen – oder um uns etwas zu fragen – über Jacko.«

»Um Ihnen etwas mitzuteilen«, unterbrach Calgary, »und obwohl Sie sich nicht klar darüber sind, machen Sie es mir mit jeder Minute schwerer.«

Alle sahen ihn erstaunt an, doch glaubte er in Gwenda Vaughans Augen ein gewisses Verstehen aufflackern zu sehen.

Sie ist wirklich sehr reizvoll, dachte er, nicht mehr ganz jung – vielleicht schon Ende der dreißig. Ihre Haare und Augen waren dunkel, ihre Figur vollschlank. Sie machte den Eindruck eines gesunden, vitalen und gleichzeitig tüchtigen, intelligenten Menschen.

Argyle sagte kühl: »Ich weiß wirklich nicht, inwiefern wir Ihnen Ihre Aufgabe erschweren, Dr. Calgary – nichts liegt mir ferner. Aber vielleicht könnten Sie jetzt zur Sache kommen …«

»Ja – und bitte verzeihen Sie meine Worte. Sie wurden dadurch hervorgerufen, dass Sie und Ihre Tochter immer wieder betonten, dass alles vorbei und erledigt sei. Aber das ist keineswegs der Fall. Die Sache ist nicht erledigt. Wenn Sie gehört haben, worum es geht, werden Sie mein Zögern verstehen«, fuhr Calgary fort. »Zunächst einmal muss ich Ihnen etwas über mich selbst erzählen. Ich bin Geologe, und ich war bis vor kurzem Mitglied einer Südpolexpedition. Wir sind erst vor wenigen Wochen nach England zurückgekehrt.«

»Waren Sie bei der Hayes-Bentley-Expedition?«, fragte Gwenda. Er schaute sie dankbar an.

»Ja. Ich erzähle Ihnen das vor allem, um zu erklären, dass ich seit fast zwei Jahren von der Welt und den Ereignissen des Tages abgeschnitten war.«

Sie bemühte sich, ihm zu helfen.

»Sie meinen Ereignisse wie Mordprozesse.«

»Sehr richtig, genau das meine ich, Miss Vaughan.«

Er wandte sich an Argyle.

»Ich möchte Ihnen nicht wehtun, aber ich muss Sie leider bitten, mir einige Daten und Zeiten zu bestätigen. Im vorigen Jahr, am neunten November, gegen achtzehn Uhr, kam Ihr Sohn Jack in Ihr Haus und hatte eine Unterhaltung mit seiner Mutter, Mrs Argyle.«

»Ja.«

»Er teilte ihr mit, dass er sich in einer schwierigen Lage befinde. Er verlangte Geld – und zwar nicht zum ersten Mal.«

»Das stimmt, er hat oft Geld von uns verlangt«, seufzte Leo Argyle.

»Mrs Argyle schlug ihm seine Bitte ab. Er wurde sehr ärgerlich, und bevor er fortging, drohte er wiederzukommen und sie zu zwingen, ihm Geld zu geben. ›Du willst doch nicht, dass ich ins Gefängnis komme, oder?‹, sagte er, und sie erwiderte: ›Ich fange an zu glauben, dass das vielleicht das Beste für dich wäre.‹«

Leo Argyle wurde unruhig.

»Meine Frau und ich hatten uns darüber ausgesprochen. Wir waren sehr unglücklich über unseren Jungen. Wieder und wieder halfen wir ihm und versuchten, ihm noch einmal eine Chance zu geben. Wir glaubten, dass die Gefängnisdisziplin ihm möglicherweise …« Seine Stimme wurde unhörbar.

Schließlich sagte er: »Bitte, fahren Sie fort.«

»Am späten Abend dieses Tages wurde Ihre Frau ermordet – mit einem Feuerhaken erschlagen. Auf dem Feuerhaken befanden sich Fingerabdrücke Ihres Sohnes, und eine größere Geldsumme war aus dem Schreibtisch Ihrer Frau verschwunden. Die Polizei fand Ihren Sohn in Drymouth. Das Geld trug er bei sich – hauptsächlich in Fünfpfundscheinen. Auf der Rückseite eines dieser Scheine stand eine Adresse – und so konnte der Bankbeamte, der Ihrer Frau das Geld am gleichen Morgen ausgehändigt hatte, den Schein identifizieren. Bei dem darauffolgenden Prozess gegen Ihren Sohn lautete das Urteil: vorsätzlicher Mord.«

Das schicksalsschwere Wort war gefallen – MORD.

Calgary fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Ich hörte von dem Verteidiger, Mr Marshall, dass Ihr Sohn bei seiner Verhaftung seine Unschuld wiederholt und ausdrücklich beteuert habe. Er behauptete, ein einwandfreies Alibi für die Zeit zu besitzen, während der Mord, nach Aussagen der Polizei, verübt worden war – nämlich zwischen sieben und halb acht.

Jack Argyle sagte, dass er um diese Zeit mit einem Auto, dessen Fahrer ihn auf der Landstraße von Redmyn nach Drymouth, etwa anderthalb Kilometer von hier, kurz vor sieben mitgenommen hatte, in Drymouth einfuhr. Da es schon dunkel war, konnte er die Automarke nicht erkennen, aber er wusste, dass die schwarze oder dunkelblaue Limousine von einem Mann in mittleren Jahren gefahren wurde. Man bemühte sich vergeblich, eine Spur des Wagens und seines Fahrers zu entdecken, und schließlich waren selbst seine Verteidiger davon überzeugt, dass der Angeklagte diese Geschichte frei erfunden hatte.

Beim Prozess stützte sich die Verteidigung in der Hauptsache auf die Aussagen der Psychologen und versuchte, auf Unzurechnungsfähigkeit zur Tatzeit – infolge der psychischen Labilität des Angeklagten – zu plädieren. Diese ›Beweise‹ wurden vom Richter in einer sarkastischen Zusammenfassung zerpflückt; Jack wurde für schuldig befunden und zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt. Sechs Monate später starb der Gefangene an einer Lungenentzündung.«

Drei Augenpaare waren auf Calgary gerichtet. Gwendas Augen spiegelten Interesse und Aufmerksamkeit – Hesters Misstrauen – Leo Argyle blickten ausdruckslos.

»Würden Sie mir bestätigen, dass diese Tatsachen korrekt sind?«, bat Calgary.

»Ja – sie sind korrekt«, stellte Leo fest. »Ich weiß nicht, warum diese schmerzlichen Dinge, die wir vergessen möchten, wieder aufgerührt werden mussten.«

»Ich habe den Eindruck, dass Sie mit dem Urteil des Richters übereinstimmen, oder irre ich mich?«

»Sie irren sich nicht; die Tatsachen lassen sich nicht leugnen, und man muss zu der logischen Schlussfolgerung kommen, dass es zweifellos – ein Mord war. Sobald man sich jedoch eingehender mit der Persönlichkeit des Täters befasst, wird man ihm mildernde Umstände zubilligen. Der arme Junge war ein sehr unausgeglichener Mensch, aber leider war sein Zustand, vom gerichtlichen Standpunkt aus gesehen, nicht als anormal zu bezeichnen. Ich kann Ihnen versichern, dass Rachel, meine verstorbene Frau, ihm bestimmt als Erste verziehen hätte. Sie war ein unendlich gütiger Mensch, außerdem war sie eine sehr fortschrittliche Frau, die mit allen psychologischen Faktoren durchaus vertraut war. Sie hätte ihn nicht verurteilt.«

»Sie wusste am besten, wie abscheulich Jacko sein konnte«, meinte Hester. »Er war schon immer so – es war wohl seine Natur.«

»Keiner von Ihnen zweifelte also an seiner Schuld«, sagte Calgary langsam.

Hester sah ihn erstaunt an.

»Wie konnten wir daran zweifeln? Natürlich war er schuldig.«

»Nein, schuldig ist nicht das richtige Wort«, meinte Leo.

»Es ist bestimmt nicht das richtige Wort.« Calgary holte tief Atem.

»Jack Argyle war – unschuldig!«

2

Zu Calgarys Erstaunen rief diese Äußerung keine Sensation hervor. Er hatte Verwirrung erwartet, ungläubige Fragen, dankbare Erleichterung, nicht aber das nun folgende kalte und misstrauische Schweigen.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie meiner Ansicht sind, Dr. Calgary?«, fragte Leo Argyle schließlich zögernd. »Glauben Sie, dass er für seine Taten nicht verantwortlich war?«

»Ich glaube, dass er es nicht getan hat, nicht getan haben kann, und dass er nur durch eine Kette unglückseliger Umstände daran gehindert wurde, seine Unschuld zu beweisen. Ich hätte sie beweisen können.«

»Sie?«

»Ich war der Mann im Auto.«

Calgary sprach so ruhig, dass sie den Sinn seiner Worte im ersten Augenblick nicht zu begreifen schienen. Bevor sie Zeit hatten, sich zu sammeln, öffnete sich die Tür, und die Frau, die Calgary bei seiner Ankunft im Hausflur gesehen hatte, kam mit energischen Schritten ins Zimmer.

Sie sagte ohne Umschweife: »Ich kam zufällig draußen vorbei und hörte diesen Mann sagen, dass Jacko Mrs Argyle nicht umgebracht hat. Warum sagt er das? Woher weiß er das?«

Ihr herausforderndes Gesicht begann plötzlich zu zucken.

»Ich muss auch wissen, um was es geht«, setzte sie kläglich hinzu, »sonst fühle ich mich ausgeschlossen.«

»Das sollen Sie keinesfalls, Kirsty. Sie gehören zur Familie.«

Leo Argyle stellte vor: »Miss Lindstrom – Dr. Calgary. Dr. Calgary hat uns eben die unglaublichsten Dinge mitgeteilt.«

Calgary wunderte sich über den schottischen Namen Kirsty. Sie sprach ausgezeichnet Englisch, aber ihr Tonfall war eindeutig der einer Ausländerin. Jetzt sagte sie vorwurfsvoll:

»Warum kommen Sie hierher, warum sagen Sie diese Dinge? Wir haben genug durchgemacht. Müssen Sie uns wieder daran erinnern? Was auch geschehen sein mag – es war Gottes Wille.«

Ihre selbstsichere Art wirkte abstoßend auf Calgary. Vielleicht gehört sie zu den Menschen, für die Unheil und Katastrophen eine willkommene Abwechslung in ihrem öden Dasein sind, dachte er. Nun, diese Illusion würde er ihr nehmen.

Er sprach schnell und trocken.

»Ich stoppte an jenem Abend, um fünf Minuten vor sieben, auf der Landstraße von Redmyn nach Drymouth, um einen jungen Anhalter ein Stück mitzunehmen. Ich fuhr mit ihm nach Drymouth. Unterwegs unterhielten wir uns, und ich fand ihn nett und sympathisch.«

»Jacko besaß viel Charme und war allgemein beliebt«, bestätigte Gwenda. »Doch er war auch sehr jähzornig und nicht aufrichtig – aber das zeigte sich natürlich nicht sofort.«

»Bitte fahren Sie fort, Dr. Calgary«, bat Leo Argyle. »Warum haben Sie uns das alles nicht damals mitgeteilt?«

»Ja, warum?«, warf Hester atemlos dazwischen. »In allen Zeitungen standen Aufrufe – wie konnten Sie nur so egoistisch sein, so gemein …«

»Hester, Hester!«, mahnte ihr Vater. »Lass Dr. Calgary erst einmal zu Ende erzählen.«

»Ich weiß, wie Ihnen zumute ist«, sagte Calgary zu Hester. »Aber hören Sie mich bitte an. An diesem Abend war viel Verkehr auf den Straßen, und es war schon nach halb acht, als ich den mir unbekannten jungen Mann in Drymouth absetzte. Da die Polizei davon überzeugt ist, dass der Mord zwischen sieben und halb acht begangen wurde, ist seine Unschuld hiermit bewiesen.«

»Ja, aber Sie …«, begann Hester wieder erregt.

»Bitte, haben Sie noch etwas Geduld. Um Ihnen alles verständlich zu machen, muss ich ein wenig ausholen.

Ich war seit zwei Tagen in Drymouth, und zwar wohnte ich in der Wohnung eines Freundes, der zu der Zeit auf einer Seereise war. Er gestattete mir, sein Auto zu benutzen, das in einer Privatgarage stand. Ich beabsichtigte, am Abend des 9. November nach London zurückzufahren; am Nachmittag besuchte ich meine alte Kinderfrau, die in einem kleinen Häuschen in Polgarth lebt, etwa sechzig Kilometer westlich von Drymouth.

Obwohl sie sehr alt und geistig nicht mehr ganz auf der Höhe ist, erkannte sie mich sofort wieder und freute sich sehr, mich zu sehen. Sie hatte sogar in der Zeitung von meiner bevorstehenden Polarexpedition gelesen. Ich blieb nicht lange dort, um sie nicht zu ermüden, und da es noch ziemlich früh war, entschloss ich mich, nicht auf dem direkten Weg nach Drymouth zurückzufahren, sondern dem alten Pfarrer Peasmarsh in Redmyn einen Besuch abzustatten und einen Blick in seine umfangreiche Bibliothek zu werfen, die viele seltene Bücher enthält.

Der alte Herr besaß kein Telefon, und so musste ich es dem Zufall überlassen, ob ich ihn zu Hause antreffen würde. Ich hatte Pech – das Haus war verschlossen und verriegelt. Ich verbrachte einige Zeit in der Kathedrale, bevor ich über die Hauptstraße zurück nach Drymouth fuhr. Ich hatte reichlich Zeit, um mein Gepäck abzuholen und das Auto in die Garage zu bringen, bevor ich in den Zug nach London stieg. Auf dem Weg nach Drymouth hielt ich an, um, wie ich Ihnen bereits erzählte, einen unbekannten jungen Mann mit in die Stadt zu nehmen.

Als ich auf dem Bahnhof ankam, stellte ich fest, dass ich noch Zeit hatte, mir Zigaretten zu kaufen. Ich verließ den Bahnhof, und als ich im Begriff war, die Straße zu überqueren, bog ein Lastwagen in voller Fahrt um die Ecke und warf mich zu Boden.

Nach Aussagen von Passanten stand ich sofort wieder auf; ich benahm mich ganz normal und schien nicht verletzt zu sein. Ich sagte, ich müsste einen Zug erreichen, und eilte zurück zum Bahnhof. Als der Zug in Paddington einfuhr, war ich bewusstlos und wurde von einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Dort stellte man fest, dass ich eine Gehirnerschütterung erlitten hatte – die Reaktion darauf soll sich häufig erst nach einiger Zeit einstellen.

Als ich ein paar Tage später wieder bei Bewusstsein war, konnte ich mich weder an den Unfall noch an meine Reise nach London erinnern. Ich wusste nur, dass ich auf dem Weg nach Polgarth gewesen war, um meine alte Kinderfrau zu besuchen; danach – völlige Leere. Es bestand kein Grund anzunehmen, dass die Stunden, an die ich mich nicht erinnern konnte, irgendwelche Bedeutung haben könnten. Weder ich noch irgendjemand sonst wusste, dass ich an jenem Abend über die Redmyn-Drymouth-Straße gefahren war.

Ich musste England bald danach verlassen. Man hatte mir absolute Ruhe verordnet, ich durfte nicht einmal Zeitungen lesen. Vom Krankenhaus fuhr ich direkt zum Flughafen, um nach Australien zu fliegen und mich dort der Südpolexpedition anzuschließen. Obwohl ich noch nicht sehr kräftig war, ließ ich mich von meinem Vorhaben nicht abbringen, und ich war viel zu intensiv mit den notwendigen Vorbereitungen beschäftigt, um mich für Mordberichte zu interessieren; als es zum Prozess kam, war ich bereits auf dem Weg zum Südpol.«

Er machte eine Pause. Alle sahen ihn gespannt an.

»Erst vor etwa einem Monat, gleich nach meiner Rückkehr nach England, machte ich die furchtbare Entdeckung. Ich bat meine Wirtin um etwas Packpapier, und sie brachte mir einen Stoß alter Zeitungen. Als ich eine davon auf dem Tisch ausbreitete, sah ich die Fotografie eines jungen Mannes, dessen Gesicht mir bekannt vorkam. Ich versuchte vergeblich, mich zu erinnern, woher ich ihn kannte und wer er war. Seltsamerweise fiel mir nur ein, dass ich mich mit ihm über Aale unterhalten hatte; er war sehr interessiert, von mir Einzelheiten über die Lebensweise des Aals zu erfahren. Aber wann und wo? Ich las, dass der junge Mann Jack Argyle hieß, des Mordes angeklagt war und dass er der Polizei gegenüber behauptete, von einem Mann in einer schwarzen Limousine mitgenommen worden zu sein.

Und da erwachte plötzlich die Erinnerung an die verlorenen Stunden wieder. Ich hatte den jungen Mann nach Drymouth mitgenommen und mich dort von ihm verabschiedet, war in die Wohnung zurückgegangen, zum Bahnhof, überquerte die Straße, um Zigaretten zu kaufen – ich entsann mich jetzt sogar des Lastwagens –, aber von dem Moment an setzte mein Erinnerungsvermögen noch immer aus, bis zu dem Augenblick, da ich im Krankenhaus erwachte. Ich las den Artikel noch einmal durch. Der Prozess hatte vor über einem Jahr stattgefunden, der Fall war fast vergessen.

Ich ließ mir die Zeitungen kommen, in denen über den Prozess berichtet wurde, dann ging ich zu dem Verteidiger Marshall und erfuhr, dass der unglückliche junge Mann im Zuchthaus an einer Lungenentzündung gestorben war. Wenn es nun auch zu spät war, um das ihm zugefügte Unrecht wiedergutzumachen, so sollte doch wenigstens seinem Andenken Gerechtigkeit widerfahren. Ich ging mit Mr Marshall zur Polizei. Die Staatsanwaltschaft beschäftigt sich jetzt mit dem Fall; Mr Marshall nimmt an, dass er an den Innenminister weitergeleitet werden wird.

Marshall wird Ihnen selbstverständlich einen genauen Bericht geben, aber ich bestand darauf, Sie zunächst persönlich zu informieren. Ich werde mein Schuldgefühl Ihnen gegenüber niemals verlieren, auch wenn ich im Grunde genommen unschuldig an der Tragödie bin.«

»Wir wissen, dass Sie nichts dafür können«, beruhigte Gwenda Vaughan ihn. »Es war eine katastrophale Verkettung unglücklicher Umstände.«

»Hat man Ihnen geglaubt?«, fragte Hester.

Er sah sie erstaunt an.

»Hat die Polizei Ihnen geglaubt? Vielleicht haben Sie sich das Ganze nur ausgedacht.«

Er lächelte unwillkürlich.

»Ich bin ein sehr glaubwürdiger Zeuge«, erwiderte er freundlich. »Ich bin persönlich unbeteiligt, habe einen guten Ruf, und es ließ sich leicht nachweisen, dass ich um diese Zeit in Drymouth war. Mr Marshall schien natürlich zunächst etwas misstrauisch – wie alle Anwälte –, und er wollte Ihnen keine Hoffnungen machen, bevor er des Erfolges sicher war.«

Jetzt sprach Leo Argyle zum ersten Mal.

»Was verstehen Sie eigentlich unter Erfolg?«

»Bitte verzeihen Sie mir«, sagte Calgary schnell, »das Wort ist schlecht gewählt. Ihr Sohn ist eines Verbrechens beschuldigt worden, das er nicht verübte; man hat ihn verurteilt, und er ist im Gefängnis gestorben. Aber wir werden dafür sorgen, dass wenigstens sein guter Name wiederhergestellt wird. Der Innenminister wird wahrscheinlich bei der Königin vorstellig werden und um eine Begnadigung bitten.«

Hester lachte.

»Warum Begnadigung – wenn er kein Verbrechen begangen hat?«

»Sie haben recht, diese juristische Bezeichnung trifft hier nicht zu, aber der Fall wird vors Unterhaus kommen, und danach werden die Zeitungen Jack Argyle rehabilitieren – sie werden schreiben, dass er das ihm zu Lebzeiten zur Last gelegte Verbrechen nicht begangen hat.«

Er schwieg, alle schwiegen. Er nahm an, dass sein Bericht als ein schwerer Schock empfunden wurde – aber letzten Endes musste er doch auch eine große Befriedigung für alle sein.

Er stand auf.

»Ich fürchte«, meinte er unsicher, »mehr kann ich dazu nicht sagen … Ich kann nur wiederholen, wie leid mir das alles tut, wie unglücklich ich über diese verhängnisvolle Entwicklung der Dinge bin … bitte, verzeihen Sie mir – das alles wissen Sie ja nur zu gut. Die tragischen Umstände, die dazu beigetragen haben, sein Leben zu beenden, belasten nun das meine.«

Seine Stimme bekam einen bittenden, beschwörenden Ton. »Das Ganze muss irgendeinen Sinn haben … zu wissen, dass er diese grauenvolle Tat nicht begangen hat, dass sein Name … Ihr Name … in den Augen der Welt seine Ehre zurückerhält …?«

Falls er gehofft hatte, eine Antwort zu erhalten, sah er sich enttäuscht.

Leo Argyle saß zusammengekauert in seinem Sessel, Gwendas Augen ruhten auf seinem Gesicht. Hester starrte Löcher in die Luft, Miss Lindstrom murmelte etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf.

Calgary blieb hilflos an der Tür stehen und blickte zurück.

Schließlich stand Gwenda Vaughan auf, kam auf ihn zu, legte eine Hand auf seinen Arm und sagte leise:

»Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen, Dr. Calgary. Sie müssen uns Zeit lassen, mit dieser neuen Entwicklung fertig zu werden.«

Er nickte und ging aus dem Zimmer; Miss Lindstrom folgte ihm mit der Bemerkung:

»Ich werde Sie hinausbringen.«

Auf dem Treppenabsatz stellte sie sich vor ihn hin und sagte ärgerlich: »Sie können ihn nicht zurück ins Leben bringen! Welchen Sinn hat es also, alles wieder aufzurühren? Alle hatten sich damit abgefunden – jetzt werden sie leiden –, es ist immer ein Fehler, sich einzumischen.«

»Seine Unschuld muss doch bewiesen werden«, erklärte Arthur Calgary ein wenig hilflos.

»Das ist alles schön und gut, aber Sie haben ja keine Ahnung, was Sie angerichtet haben. Männer können eben nicht denken!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Ich liebe die ganze Familie. Ich bin