Tödlicher Schall - Vincent Kliesch - E-Book
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Tödlicher Schall E-Book

Vincent Kliesch

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Beschreibung

Der fünfte Geniestreich des Bestseller-Duos Vincent Kliesch & Sebastian Fitzek! Im 5. Thriller der AURIS-Reihe macht ein psychopathischer Kollege mit dem absoluten Gehör Jagd auf den forensischen Phonetiker Matthias Hegel: Der Mann, der das Verbrechen hört, und die hartnäckige True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge müssen ein weiteres Mal zusammenarbeiten. Niemand außer ihm kann sie hören: Im Zug nach Berlin nimmt der geniale forensische Phonetiker Matthias Hegel als einziger eine Kakophonie von Tönen wahr, die nur eines bedeuten kann – eine Herausforderung von einem Gegner, der ihm mindestens ebenbürtig ist! Tatsächlich handelt es sich um Veith Vries, einen ehemaligen Studienfreund und brillanten Kollegen, der vor Jahren zu Hegels erbittertem Feind wurde. Jetzt hat Vries nichts mehr zu verlieren und nur noch ein Ziel: Hegel nehmen, was ihm am wichtigsten ist. Während Hegel all sein Geschick als Phonetiker aufbieten muss, um sich durch einen Parcours voller tödlicher Rätsel und Fallen zu kämpfen, plant Vries einen akustischen Anschlag, mit dem er in die Geschichte eingehen will … Schon über den ersten Berlin-Thriller der außergewöhnlichen AURIS-Reihe urteilte krimi-couch: »Ein absolutes Muss für alle Thriller-Fans: Spannung von der ersten bis zur letzten Seite, unerwartete Wendungen und ein atemraubendes Erzähltempo.« Die Thriller-Reihe der befreundeten Bestseller-Autoren Vincent Kliesch und Sebastian Fitzek ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Auris - Die Frequenz des Todes - Todesrauschen - Der Klang des Bösen - Tödlicher Schall

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Seitenzahl: 409

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Vincent Kliesch

Tödlicher Schall

AurisNach einer Idee von Sebastian Fitzek

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Niemand außer ihm kann sie hören: Die Kakofonie von Tönen, die der geniale forensische Phonetiker Matthias Hegel im Zugabteil plötzlich wahrnimmt, kann nur eins bedeuten – eine Herausforderung von einem Gegner, der ihm mindestens ebenbürtig ist! Tatsächlich handelt es sich um Veith Vries, einen ehemaligen Studienfreund und brillanten Kollegen, der vor Jahren zu Hegels erbittertem Feind wurde. Jetzt hat Vries nichts mehr zu verlieren und nur noch ein Ziel: Hegel nehmen, was ihm am wichtigsten ist. Während Hegel all sein Geschick als Phonetiker aufbieten muss, um sich durch einen Parcours voller tödlicher Rätsel und Fallen zu kämpfen, plant Vries einen akustischen Anschlag, mit dem er in die Geschichte eingehen will …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

Epilog

Danksagung

Leseprobe »Im Auge des Zebras«

Dieses Buch ist allen gewidmet, die mich während meiner Erkrankung an Bauchspeicheldrüsenkrebs unterstützt haben.

Allen Ärzten, Pflegekräften, Servicemitarbeitern, Therapeuten und natürlich auch meinen Freunden, die sich während meiner zahlreichen Krankenhausaufenthalte um mich, meine Wohnung und mein Leben außerhalb der Klinik gekümmert haben.

Der Krebs wurde durch glückliche Fügungen früh genug entdeckt, konnte entfernt werden, und ich gelte mittlerweile offiziell als geheilt. Ohne alle diese wunderbaren Menschen wäre das nicht möglich gewesen.

Herzlichen Dank!

Prolog

Veith Vries

Alles war minutiös geplant und gewissenhaft vorbereitet. Es hatte viele Jahre gedauert, an diesen Punkt zu gelangen, doch Veith Vries bereute keine einzige Minute davon. Nicht jetzt, nachdem alles exakt so geworden war, wie er sich das vorgestellt hatte. Wie viele Nächte hatte er wach gelegen, um über jeden einzelnen seiner Züge nachzudenken? Wie viel Zeit, Mühe und Geld hatte es gekostet? Und wie viele Menschen werden wohl ihr Leben lassen müssen, damit dieses Schwein endlich bereut, was es mir angetan hat? Nein, er hatte keine Angst. Weder Sorgen noch Gewissensbisse. Jetzt, nachdem es endlich losgehen konnte, verspürte Vries nichts weiter als ein tiefes Gefühl inneren Friedens. Eigentlich fast zu schade, dachte er, dass nur zwei Menschen – höchstens vielleicht drei – sein Werk würden verstehen und wertschätzen können. Und selbst das nur dann, wenn sie es alle überlebten, was, wenn er es realistisch betrachtete, eher nicht zu erwarten war.

»Ich hoffe, du hast eine angenehme Heimreise.« Er strich mit dem Zeigefinger über das Display seines Rechners, auf dem er den Bericht über Matthias Hegels Entlassung aus der Rehaklinik aufgerufen hatte. »Ich werde bei dir sein, und du wirst es bemerken. Allerdings auch nur du …«

Vries schüttelte den Kopf, während er das Foto von Matthias Hegel betrachtete. Wie war es diesem Kerl bloß schon wieder gelungen, den Hals aus der Schlinge zu ziehen und dem Tod ein weiteres Mal von der Schippe zu springen? Unbestritten, Hegel war ein Genie. Ein brillanter Phonetiker, Arzt und Psychologe. Es gab zudem nicht viele Wissenschaftler, die sich einer so großen Medienpräsenz erfreuen konnten wie er. Wobei wahrlich nicht alles, was man in den vergangenen Jahren über Hegel zu lesen bekommen hatte, als erfreulich zu bezeichnen gewesen war. Zumindest nicht für ihn. Seine Frau sollte er ermordet haben, freimütig hatte er die Tat sogar vor Gericht gestanden und sich widerstandslos verurteilen lassen. Doch dann kam die Wende: Einer Verschwörung sei er zum Opfer gefallen, hieß es plötzlich. Die junge True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge hatte das vermeintliche Komplott unter Einsatz ihres Lebens aufgedeckt, Hegel war freigesprochen worden.

Diese Jula hat mir im Grunde einen Gefallen getan. Im Gefängnis hätte ich schließlich nicht dieses wundervolle Spiel mit dir spielen können.

Doch nach Hegels Freispruch war der Wahnsinn erst so richtig losgegangen. Man hatte ihn und Jula Ansorge entführt und ihn gleich mehrmals beinahe getötet. Und gerade so als hätte er einen Exklusivvertrag mit den Medien zu erfüllen, hatte Hegel danach einen komplizierten Mordfall aufgeklärt, um unmittelbar darauf mit einem lebensgefährlichen Aneurysma ins Koma zu fallen.

Wenn dein Leben eine einzige Show ist, dann lassen wir die Show doch einfach in die nächste Runde gehen. Nur dass du dieses Mal nicht der Regisseur bist, sondern das Versuchskaninchen.

Veith Vries schloss für einen Moment die Augen; dieses Pressefoto von Hegel zu betrachten war gleich auf mehrere Arten unangenehm für ihn. Nicht nur, dass er den Anblick der Visage dieses Kerls kaum noch ertragen konnte, das Foto roch für ihn zudem nach fauler Minze und schmeckte wie Staub in seinem Mund.

»Deine Reha hat mir Zeit verschafft, um es perfekt zu machen.« Er verschränkte zufrieden die Hände hinter dem Kopf, öffnete die Augen wieder und ließ den Blick über die zahlreichen Fotos schweifen, die er in der Abgeschiedenheit des Souterrains aufgehängt hatte. »Ich werde dich ganz bestimmt nicht unterschätzen, diesen Gefallen tue ich dir nicht. Wer ein Genie wie dich zur Strecke bringen will, der muss schon selbst eins sein. Nun ja, bei aller Bescheidenheit … Matthias, ich schätze, du wirst ein paar wirklich miese Tage haben.« Er merkte selbst nicht, wie seine Lippen sich zu einem breiten Lächeln verzogen, während das Bellen eines Hundes vor dem Haus den Duft von Zedernholz an seine Nase trug. »Du bist so gut in allem, was du tust, so präzise und effizient. Ganz besonders darin, den Menschen zu nehmen, was sie lieben.«

Vries erhob sich von seinem Sessel und positionierte sich in der Raummitte. Er drehte sich im Kreis und ließ den Blick über die Wände gleiten. Wie lange hatte er darauf warten müssen? Wie oft hatte er es bereits in seinen Gedanken durchgespielt? Doch jetzt nicht mehr, die Tage des Planens waren endlich vorbei. Er trat auf die Wand zu, beugte sich zu einem der Fotos vor, ließ den Blick mit melancholischem Lächeln kurz darauf verweilen, spürte noch einmal den Geruch von Zedernholz in der Nase und flüsterte schließlich so, als könne die Frau auf dem vergilbten Schnappschuss ihn verstehen: »Jetzt ist für Hegel die Zeit der Gerechtigkeit gekommen. Wie viel Spaß wir haben werden …« Kurz schloss er mit seligem Lächeln erneut die Augen und fühlte den warmen Atem der Stille. Dann sagte er leise: »Matthias, das werden die schlimmsten Tage deines Lebens.«

1

DIENSTAGHegel

Die Töne piepten so unangenehm in seinen Ohren, dass Hegel zusammenzuckte und missmutig das Gesicht verzog. Was ist denn das, verdammt noch mal? Schon wieder meinte Hegel diese schrecklichen Klänge wahrgenommen zu haben. Auch wenn sie nur ganz leise und keiner konkreten Ausgangsquelle zuzuordnen waren. So als versuchten sie, sich zu verstecken. Subtil, im Grunde kaum da, aber dann eben doch. Diese quälende Tonfolge, die unmelodisch war und allein schon deswegen nicht von irgendwoher aus einem der Kopfhörer seiner Mitfahrer zu ihm vorgedrungen sein konnte. Abgesehen davon, dass sich niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, diese komplett unsinnige Aneinanderreihung von Tönen anhören würde.

Matthias Hegel war sich im Klaren darüber, dass er Geräusche hören konnte, die den Ohren vieler Menschen verborgen blieben. Sein extrem empfindliches und zugleich absolutes Gehör war eine ihm angeborene Eigenschaft. Hegels Ohren waren beinahe so empfindlich wie die einer Fledermaus, und wenn ihn dies auch zu einem der besten Phonetiker der Welt gemacht hatte, so war es doch jetzt, in diesem Zugabteil, weit mehr Fluch als Segen. Wo kann denn dieses grausame Gepiepe bloß herkommen? Hegel sah sich ein weiteres Mal im Abteil um, doch nach wie vor ließ keiner der Passagiere auch nur irgendeine Reaktion auf die beißenden Klänge erkennen. Er hatte wegen dieser schrecklichen Geräusche sogar das Abteil gewechselt, und schon im vorigen Wagen schien er der Einzige gewesen zu sein, der die Töne hatte wahrnehmen können. Zumindest hatte auch dort niemand außer ihm auf die Laute reagiert. Doch dass diese nun hier, weit von dem vorigen Abteil entfernt, in seinem Ohr tosen würden, ergab keinen Sinn.

Hegel atmete tief durch, als die Laute endlich verklungen waren. Er wartete noch einige Sekunden, ob sie wiederkehren würden, doch da dies nicht geschah, atmete er durch und lehnte sich erleichtert in seinen Sitz zurück. Lass deine Gedanken einfach frei fließen. Das monotone Rauschen, das der Zug beim Rollen über die Gleise verursachte, beruhigte Hegel schnell wieder. Er musste sogar schmunzeln, als er sich plötzlich als Kind vor seinem inneren Auge sah.

Von klein auf hatte er es geliebt, mit der Bahn zu fahren. Sein Vater war Diplomat gewesen und seine Mutter eine wohlhabende Unternehmerin. Die drei waren viel gereist und hatten an verschiedenen Orten auf der Welt gelebt. Und auch wenn seine Eltern kaum Verständnis dafür aufgebracht hatten, dass ihr Sohn anstelle eines kurzen Fluges eine lange Bahnfahrt mit oft mehreren Umstiegen bevorzugte, hatten sie ihm diesen Gefallen getan, wann immer es die Reiseroute ermöglichte. Hegel war damals vielleicht drei oder vier Jahre alt gewesen, sodass er seinen Eltern noch nicht hatte erklären können, aus welchem Grund er so gern mit dem Zug fuhr. Dass es die spezifischen Fahrgeräusche der Bahn auf ihren Gleisen waren, die er dem ruppigen Klang von Flugzeugturbinen vorzog, war ihm damals selbst noch nicht bewusst gewesen. Ganz abgesehen von der Veränderung des Luftdrucks, sobald das Flugzeug sich auf seinen Weg in die Wolken aufmachte. Was für normale Menschen eine Kleinigkeit war, die sich mit einem simplen Druckausgleich beheben ließ, hatte den jungen Matthias regelmäßig zu Tränen gequält. Meine Eltern mussten ganz schön viel mit mir durchmachen, aber sie haben sich nie beklagt. Wie schade, dass ich mich dafür nicht mehr bei ihnen bedanken kann. Hegel verspürte einen Schauer von Wehmut, bevor er wieder die Augen schloss und sich entspannte. Das Fiepen blieb verschwunden, und das wunderbare Rauschen des Zuges über die Gleise schien ihn nun wie ein Baby in der Wiege zu schaukeln.

»Ist Ihnen bewusst, dass Sie im Grunde schon tot waren?« Die Worte der Oberärztin klangen in Hegels Erinnerung nach. »Die Leute sagen ja immer, dass Ärzte die schlimmsten Patienten seien, aber in dieser Art und Weise hätten Sie das nun wirklich nicht bestätigen müssen! Ihr Aneurysma stand kurz davor, Sie ins Jenseits zu befördern. Und das Koma nach der Operation hätten Sie auch vermeiden können, wenn Sie nicht so unvernünftig gewesen wären.«

Sie hatte vollkommen recht gehabt, keine Frage. Doch Hegel wusste selbst nach langem Nachdenken noch nicht, was er hätte anders machen können. Wann immer er während seiner Reha in den vergangenen Wochen Überlegungen dazu angestellt hatte, war er stets von Neuem zu dem Schluss gelangt, dass er alles ganz genau so wieder machen würde, wie er es getan hatte. Natürlich, sein Handeln war verantwortungslos und lebensgefährlich gewesen. Dennoch hatte er aber das einzig Richtige getan. So fasste er die Tatsache, dass er entgegen jeder statistischen Wahrscheinlichkeit trotz allem noch am Leben und sogar vollständig genesen war, nicht etwa als ein Geschenk des Schicksals auf. Vielmehr betrachtete Hegel die zusätzliche Lebenszeit, die sein Glück und die Arbeit seiner Ärzte ihm beschert hatten, als einen Auftrag.

Zweifellos hatte er in der Vergangenheit viele Fehler gemacht. Und auch wenn ihm bewusst war, dass er meist keine andere Wahl gehabt hatte, war es jetzt doch Demut, die er in sich spürte. Wie oft hatte er sich gefragt, was wohl aus seiner geliebten Tochter Mathilda geworden wäre, wenn er die Folgen seines Handelns nicht überlebt hätte. Die Kleine lebte zwar die meiste Zeit des Jahres bei ihren Großeltern, doch Margrit und Bodo Konradi waren nicht mehr die Jüngsten, und nachdem Mathilda schon ihre Mutter verloren hatte, wäre sein Tod ein kaum zu überwindendes Trauma für seinen kleinen Engel gewesen. Eines Tages, so dachte Hegel voll Wehmut, würde er seiner Tochter erzählen müssen, wie es zum Tod ihrer Mutter gekommen war.

Immerhin gab es außer ihm vermutlich niemanden mehr, der die ganze Wahrheit um den Mord an Johanna Konradi kannte. Aber das hat noch Zeit. Jetzt genieße ich einfach die Zuggeräusche, das leichte Ruckeln und den Geruch der alten Polster. Tiefe Zufriedenheit zeichnete sich in Hegels Gesicht ab, und für wenige Sekunden war seine Welt vollkommen in Ordnung.

»Sagen Sie mal, kenne ich Sie nicht aus der Abendschau?« Die grelle Stimme der Frau auf dem Sitz ihm gegenüber riss Hegel nach wenigen Minuten aus seiner Ruhe.

Er öffnete die Augen und traf den Blick der älteren Dame, die sich zu ihm vorgebeugt hatte, als wolle sie ihn hypnotisieren. »Meinen Sie mich?«

Es schien heftig im Kopf der Frau zu arbeiten. »Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Das war doch in der Presse! Kann es sein, dass ich Sie in der Zeitung gesehen habe?« Sie starrte Hegel an, als sei er ein Museumsexponat.

Natürlich hatte die Frau mit ihrer Frage auch die Aufmerksamkeit der umsitzenden Fahrgäste auf Hegel gelenkt. Sowohl der korpulente Herr mit dem etwas selbstverliebt wirkenden Zwirbelbart sowie die Frau am Gang mit den drei übereinandergezogenen Jacken sahen ihn nun prüfend an. Hegel überdachte seine Optionen. Dass er gestanden hatte, Mathildas Mutter ermordet zu haben, war schon eine Weile her, doch die Medien, gerade die regionalen, hatten viel darüber berichtet. Die Ermittlungen der jungen Podcasterin Jula Ansorge, der es schließlich gelungen war, seine Unschuld aufzudecken, waren überwiegend über Julas Podcast im Internet zu verfolgen gewesen. Aus dem Internet kennt sie mich eher nicht, sie sieht nicht so aus, als wüsste sie, was ein Podcast ist.

Was hätte sie noch über ihn gesehen oder gelesen haben können? Nach seiner Haftentlassung war er entführt worden und hatte in der Folge gemeinsam mit Jula Ansorge große Teile einer international agierenden Verbrecherorganisation auffliegen lassen. Das könnte der Abendschau einen Bericht wert gewesen ein. Und dann war da ja auch noch diese Schießerei in seiner Agentur, nachdem er innerhalb weniger Stunden einen komplizierten Todesfall aufgeklärt hatte und kurz darauf ins Koma gefallen war. Okay, was von alledem hat die Gute wohl in der Abendschau gesehen?

»Ich bin Lyriker.« Hegel lächelte mit einer dezenten Note von Bescheidenheit. »Man hat mir vor Kurzem den Kleeberg-Preis verliehen für meinen lyrischen Gedichtband Gespräche mit dem spanischen Mädchen. Sie haben mich vermutlich in einer Kultursendung des RBB gesehen.«

Die Frau hüpfte leicht in ihrem Sitz hoch und klatschte erleichtert in die Hände. »Genau das war’s, ich wusste es! Ich vergesse nämlich niemals ein Gesicht, das ist eine Gabe von mir. Sie sind also Autor? Das ist ja toll! Ich wollte auch mal ein Buch schreiben, über mein Leben. Was ich schon alles erlebt habe, ich sage Ihnen, diese Höhen und Tiefen … Aber ich habe leider keine Zeit zum Schreiben, ich muss ja arbeiten. Wo nehmen Sie denn die Ideen für Ihre Texte her?«

Hegel bereute es bereits, dass er sich zu diesem Scherz hatte hinreißen lassen. Wenn ich gesagt hätte, dass ich als brutaler Frauenmörder in den Medien war, hätte sie sofort Ruhe gegeben. Das Schöne an der Wahrheit ist, dass sie einem nie jemand glaubt. Okay, das sollte ich mir fürs nächste Mal merken. Hegel sah beiläufig aus dem Fenster und erkannte zu seiner Erleichterung, dass sich der Zug allmählich dem Berliner Hauptbahnhof näherte. Sehr lange würde er diese Farce also nicht mehr mitspielen müssen. »Wissen Sie, wenn man mit dem spanischen Mädchen spricht, dann benötigt man keine Ideen. Die Worte dieser jungen Frau, ihre Gedanken, ihre ganze Aura – das ist so inspirierend, danach bewegen sich die Finger wie von selbst über die Tastatur.«

Die Frau wollte den Blick nun anscheinend gar nicht mehr von Hegel wenden. Doch gerade als sie mit großer Geste zu einer weiteren Frage ansetzte, zuckte er zusammen und krümmte sich in seinem Sitz.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Die Frau riss besorgt die Augen auf und griff seine Hände.

»Diese Töne! Das sind ein b und ein a.« Hegel kniff die Augen zusammen und zuckte erneut. »Dann kommt ein c, ein h, dann eine Pause.«

»Brauchen Sie Hilfe?« Jetzt wirkte auch der Mann mit dem Zwirbelbart besorgt.

»Können Sie die Töne denn gar nicht hören?« Hegel presste sich die Hände an die Ohren.

»Was denn für Töne?« Die Frau rückte auf ihrem Sitz so nah an Hegel heran, als wolle sie sich auf seinen Schoß setzen. »Brauchen Sie irgendwas?«

Doch schon fiepte es erneut in Hegels Ohr. »Jetzt kommt ein e und dann ein g. Immerzu, das ergibt überhaupt keine Melodie.« Und während seine Mitfahrer noch hilflos zu Hegel hinübersahen, waren die Töne auch schon wieder verklungen. Doch kaum dass er wieder durchatmen und seine besorgten Mitfahrer beruhigen wollte, erklangen die Töne ein weiteres Mal. Dieses Mal leiser, langsamer, aber nicht weniger deutlich zu vernehmen. Kaum vorstellbar, dass niemand außer ihm es hörte.

»So ist das mit den Schriftstellern.« Der Mann mit dem Zwirbelbart schenkte Hegel ein mitleidiges Lächeln. »Das sind alles Mimosen! Hätten Sie mal was Richtiges gelernt!«

2

Die Tür hatte keine Einschusslöcher mehr, Hegels Rückkehr ins Leben fing also schon mal gut an. Er war direkt vom Berliner Hauptbahnhof mit dem Taxi ins Hotel Adlon gefahren, in dem er vor einigen Monaten eine komplette Suite gekauft und in seine Agentur für phonetische Ermittlungen umgewandelt hatte. Er betrieb diese gemeinsam mit Jula Ansorge, der Frau, die zunächst seine Unschuld im Fall des Mordes an seiner Partnerin Johanna herausgefunden hatte, bevor sie danach gemeinsam mehrfach in Gefahr geraten und beinahe ums Leben gekommen waren. Es mangelt uns beiden jedenfalls nicht an gemeinsamen Erinnerungen …

Ihre äußerst unterschiedlichen Dickköpfe hatten sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit im Lauf der Zeit tatsächlich zum geradezu idealen Ermittlerduo gemacht: Hegel, der mit seinem Wissen und seinen herausragenden phonetischen Kenntnissen Dinge herausfinden konnte, die anderen verborgen blieben. Und Jula, die mit unzerbrechlichem Mut und dem bedingungslosen Glauben an das Gute stets so lange für eine Sache kämpfte, bis der Gerechtigkeit Genüge getan war. Ja, die beiden waren ein gutes Team, und das, obwohl Jula wahrhaft kein Fan von Hegel gewesen war. Ganz im Gegenteil, die schlimmsten Vergehen hatte sie ihm bereits vorgeworfen, und es war äußerst schwer für ihn gewesen, Jula davon zu überzeugen, dass er nicht das Monster war, das sie lange Zeit in ihm gesehen hatte. In vielen kleinen Schritten hatte sie ihre Abneigung gegen ihn weitgehend abgebaut. Dass er vor ihren Augen beinahe an den Folgen seines Aneurysmas gestorben war, hatte ein Übriges getan.

»Ich hatte ehrlich Angst, dass Sie nie wieder aufwachen würden«, hatte sie bei einem ihrer Besuche in der Reha zu ihm gesagt. »Das war vermutlich der Moment, in dem ich erkennen musste, dass Sie vielleicht doch nicht so schlecht sind, wie ich immer dachte. Sie haben immer wieder Menschen geholfen, die ohne Sie verloren gewesen wären. Und wenn Sie dabei vielleicht auch eigennützige Ziele verfolgt haben, hat Ihre Arbeit trotzdem viele Unschuldige vor schlimmen Schicksalen bewahrt. Das ist eine Tatsache, die ich wohl nicht länger einfach ignorieren kann.«

Hegel atmete noch einmal tief durch. Nach der Zugfahrt mit diesen schrecklichen Tönen kam ihm die Musik, die im Flur des Hotels aus den Boxen dudelte, zum ersten Mal seit seinem Einzug hier regelrecht erholsam vor.

»Dann ist die Zeit der Krankheit wohl offiziell beendet. Auf, zurück ins Leben!« Hegel sprach zu sich selbst, ganz leise, aber doch voll innerer Überzeugung. Die tiefere Symbolik, die sich hinter seinem unmittelbar bevorstehenden Eintreten in die Agentur verbarg, war unverkennbar, und er konnte nicht leugnen, dass sie ihm gefiel. Wie viele Wochen er schwach, hilflos und mit starken Schmerzen im Bett gelegen hatte. Angeschlossen an Maschinen, durch Schläuche ernährt. Er hatte über einen Knopf an seinem Bett die Möglichkeit gehabt, sich selbst starke Schmerzmittel verabreichen zu können, wenn die spürbaren Folgen seiner Operation für ihn nicht mehr auszuhalten gewesen waren. Diese selbst verordnete Dosis stand ihm aus naheliegenden Gründen zwar nur einmal pro Stunde zur Verfügung, doch wäre es nach Hegel gegangen, hätte er am liebsten minütlich auf den Knopf gedrückt. Und das, obwohl er selbst Arzt war und sehr genau wusste, wie sich derart starke Schmerzmittel auf den Körper auswirkten. Hegel hatte nach seiner Operation viel Gewicht verloren, und seine Muskeln hatten sich durch das lange Liegen ebenfalls zurückgebildet. Doch in der Reha waren die Kräfte – und schließlich auch viele seiner Kilos – wieder zu ihm zurückgekehrt.

Die Zeit des Leidens ist jetzt vorbei. Der Tod war so freundlich, mich noch einmal von der Leine zu lassen, und ich bin gern dazu bereit, dieses Geschenk anzunehmen. Es gibt noch viel zu tun, und es würde mich nicht wundern, wenn es schon hinter dieser Tür auf mich warten würde …

»Also dann!« Sanft lächelnd zog er die Schlüsselkarte aus seiner Tasche und entriegelte das Schloss. »Die Pause war lang, aber heilsam. Und das auf allen Ebenen.« Er nickte knapp und öffnete die Tür. »Das ist jetzt also meine offizielle Rückkehr in den Wahnsinn.«

Hegel würde sehr bald erfahren, wie passend seine Worte gewesen waren.

3

Es war ganz still im Eingangsbereich. Jedes Möbelstück, jede Vase, jedes Dekoelement stand an seinem Platz. Die Bilder im Flur hingen exakt gerade, in den Vasen standen frische Blumen, und der Lufterfrischer hatte das Büro in einen dezenten, äußerst angenehmen Duft getaucht. Ja, es war alles genau so, wie es immer gewesen war. Und doch horchte Hegel, wie er es immer tat, tief und aufmerksam in die Stille hinein. Immerhin, Jula hatte ihn gleich zwei Mal gefragt, wann genau er heute nach Berlin zurückkommen und wo er nach seiner Ankunft als Erstes hingehen wolle. Und auch wenn sie dies bemerkenswert beiläufig getan hatte, fiel es Hegel doch schwer, nicht damit zu rechnen, dass ihn gleich eine Überraschung erwartete. Frau Mohr vom Empfang hatte Hegel zwar freundlich und professionell wie immer begrüßt. Doch es hatte eine minimale Schwingung in ihrer Stimme gelegen, die ihn auf ihren leicht erhöhten Puls aufmerksam gemacht hatte. So als müsse sie sich bemühen, sich irgendetwas nicht anmerken zu lassen.

Dass die Suite nach Reinigungsmitteln duftete und aussah wie aus einem Katalog über Traumimmobilien, war nicht weiter besonders. Der Service des Reinigungsteams im Adlon war erstklassig und verlässlich. Doch dass fast alle Türen der Suite weit offen standen, bis auf die zu seinem Büro, kam Hegel dann doch verdächtig vor. Kurz setzte er seine klackenden Schritte über das Parkett aus und hielt für einige Sekunden den Atem an. Jetzt war es vollkommen still auf dem Gang, zumal die massiven Fenster so gut wie keine Geräusche vom belebten Pariser Platz nach hier oben vordringen ließen. Da, es war minimal gewesen, doch trotzdem eindeutig. Hegel lächelte, nachdem er dieses winzige Scharren vernommen hatte. So als habe sich eine Schuhsohle für den Bruchteil einer Sekunde über den Parkettboden bewegt.

Das Scharren kam nicht von Julas Schuhen. Jedenfalls nicht von welchen, die sie in meinem Beisein schon mal getragen hat. Dann sind es also mindestens zwei Gäste, wenn ich davon ausgehe, dass Jula wohl in jedem Fall dabei ist. Ich werde ihr die Überraschung nicht verderben, das wäre gemein.

Hegel zog sein Handy hervor und wählte Julas Nummer. So wie er es erwartet hatte, war ihr Smartphone abgeschaltet, weswegen sofort die Mailbox ansprang.

»Liebe Jula, ich bin heil in Berlin angekommen und gerade im Adlon eingetroffen, um nach dem Rechten zu sehen.« Er griff nach der Türklinke zu seinem Büro und drückte sie etwas zu langsam hinunter. »Vielleicht könnten wir ja heute Abend …« Weiter kam er nicht.

»Herzlich willkommen zurück!!!« Nicht völlig synchron, aber doch deutlich darum bemüht, schallte es ihm entgegen.

Hegels Tochter Mathilda, deren Großmutter Margrit, natürlich Jula, deren kleiner Bruder Elyas, dessen bester Freund Friedrich und sogar Kommissar Oswald Holder, Hegels engster Vertrauter beim LKA Berlin, waren gekommen. Sogleich knallte eine Konfettikanone, bunter Flitter flog durchs Büro, und die Musikanlage spielte »Auf in den Kampf, Torero« aus Georges Bizets Oper Carmen.

»Eine passendere Musik hätten Sie nicht auswählen können, Chapeau!« Hegel strahlte übers ganze Gesicht, und seine Freude war alles andere als gespielt. Er selbst hätte nicht sagen können, wann genau ihm dies zuletzt passiert war. »Sie wollen wohl, dass ich gleich wieder umfalle, was?«

Hegel sah die Runde seiner Gäste mit offensichtlich gespielter Strenge an, lächelte dann väterlich und beugte sich zu seiner Tochter hinunter, um sie auf den Arm zu heben. Er stellte fest, dass Mathilda in den vergangenen Monaten etwas größer und schwerer geworden war. Mein Engel wird langsam erwachsen. Aber solange ich sie noch auf diese Weise begrüßen kann, werde ich es tun.

»Bist du jetzt endlich wieder ganz gesund, Papa?« Die Kleine sah Hegel sorgenvoll an.

Natürlich hatte Mathilda ihren Vater oft in der Klinik besucht. Doch die gerade für ein Kind überaus kläglichen Umstände, unter denen sie ihren Vater dort vorgefunden hatte, waren für die Kleine durchaus fordernd gewesen.

»Die Ärzte sagen, ich werde wieder ganz der Alte.« Hegel drückte Mathilda einen dicken Kuss auf die Wange und zog sie noch etwas fester an sich heran.

»Ganz der Alte? Na, das wollen wir doch wohl nicht hoffen!« Jula zwinkerte ihm zu. »Schließlich habe ich Sie in den letzten Monaten vollkommen anders erlebt, als es der alte Hegel war. Sie waren teilweise sogar freundlich, und hier und da haben Sie auch mal ohne mysteriöse Untertöne mit mir gesprochen.«

Nie zuvor hatte Jula so vorbehaltlos flapsig mit ihm geredet, und Hegel spürte deutlich, wie sehr ihn das freute. »Ich werde versuchen, in Zukunft ein bisschen weniger undurchsichtig zu sein. Aber erwarten Sie keine Wunder, ich bin immer noch Auris, das wandelnde Ohr.« Hegel sah Jula mit Verbindlichkeit im Blick an. »Der Mann, den mein Leben aus mir gemacht hat, steckt auch nach dieser schweren Zeit noch in mir. Nur dass er viel Zeit und Ruhe zum Nachdenken hatte.«

Jula nickte und zog die Mundwinkel hoch, wenn auch nur ein wenig. »Dann hoffen wir mal, dass Sie über die richtigen Dinge nachgedacht haben.«

Hegel spürte, dass er mit Jula bereits eine komplexe Konversation eingegangen war. Allein durch diese wenigen Worte, einzig innerhalb dessen, was zwischen den Zeilen gelegen hatte. Aus einem Gefühl heraus legte er ihr die rechte Hand auf die Schulter. »Ich denke schon.« Seine Mimik war eindeutig. »Das sage ich nicht einfach nur so dahin, glauben Sie mir bitte.« Hegel meinte zu erkennen, dass Jula und er einander verstanden hatten. Wirklich verstanden.

Jula wandte sich ab und deutete in die Weite des Arbeitszimmers. »Wie gefällt Ihnen denn Ihr Büro? Ich meine, als Sie das letzte Mal hier waren, sah es ja am Ende doch etwas verwüstet aus.«

Hegel musste erneut lächeln, wenn es dieses Mal auch ein eher nachdenkliches Lächeln war. Als er zuletzt in diesem Raum gewesen war, hatte ein aggressiver, unter Drogen stehender Mann mit einer Schrotflinte das Schloss zu der Suite zerschossen und sich dadurch gewaltsam Zutritt verschafft. Hegel konnte sich gut erinnern, dass der Mann vollkommen außer sich und dadurch unberechenbar gewesen war. Er sah zu einem seiner Gemälde hinüber, die er selbst angefertigt hatte. Es hing etwas weiter hinten an der Wand. Dieser Kerl mit der Schrotflinte hatte damals damit gedroht, sich zu erschießen, doch das hatte Hegel unbedingt verhindern müssen. Der halbe Schädel dieses bekoksten Arschlochs wäre auf das Gemälde gespritzt, doch das, was Hegel auf der Leinwand festgehalten hatte, war für ihn ebenso kostbar wie unwiederbringlich. Schließlich war es Hegel gelungen, den Mann zu beruhigen, so viel wusste er noch. Kurz darauf setzte seine Erinnerung aus. In seinen Sessel hatte er es noch geschafft, die Bilder davon sah er wie verwaschen vor seinem inneren Auge. Und ja, er hatte wohl noch etwas zu Jula gesagt. Dann war es schwarz und still gewesen. Wenn auch nur für die gefühlte Dauer weniger Sekunden, bevor er auf der Intensivstation wieder zu sich gekommen war. Wochen später, wie man ihm zu seiner Verwunderung mitgeteilt hatte. Wer hätte gedacht, dass ich dieses Bild noch mal sehen würde? Hegel setzte Mathilda ab, atmete tief durch und sah sich im Kreis seiner Gäste um.

»Ich danke Ihnen und euch allen, dass ihr hier seid. Die letzten Wochen waren nicht leicht für mich. Ich habe dem Tod ins Auge sehen müssen und begriffen, was ich durch ihn verlieren würde. Ich habe mich gefragt, wie man wohl über mich denken und reden würde, wenn ich jetzt sterbe. Was ich gut und was ich weniger gut im Leben gemacht habe. Ich muss gestehen, dass es nicht sehr angenehm war, meine bisherige Zeit auf der Erde noch einmal vollständig zu rekapitulieren. Ich weiß selbst, dass ich nicht immer der sein konnte, der ich gern gewesen wäre. Und ja, oft wollte ich auch genau der sein, der ich war. Aber zu wissen, dass es noch ein paar Menschen gibt, die sich vielleicht über meine Rückkehr freuen würden, hat mich während der schweren Zeit sehr angetrieben.« Er zwinkerte in die Runde. »Na ja, zum einen das, und zum anderen das Wissen, dass niemand von euch sehen konnte, was für lächerliche Übungen ich in der Reha machen musste …«

Alle lachten, und kurz war es für Hegel, als beginne hier und jetzt ein neuer Abschnitt in seinem Leben. Wie viele Geheimnisse er mit sich trug, von denen er wusste, dass er sie niemals teilen durfte. Wie viele Dinge er schon getan hatte, auf die er wahrlich nicht stolz war. Doch Hegel hatte jedes Mal zu seinen Entscheidungen und Handlungen gestanden. Sie waren notwendig gewesen, auch wenn ihm wahrlich nicht jede leichtgefallen war.

»Gucken Sie mal, wir sind nicht die Einzigen, die an Sie gedacht haben!« Elyas strahlte Hegel an und deutete auf dessen großen, gläsernen Schreibtisch. »Die Leute haben Ihnen wie bekloppt Grußkarten geschickt! Ihre Bekannten scheinen noch nichts von WhatsApp mitbekommen zu haben.«

Tatsächlich lag ein bemerkenswert hoher Stapel Post auf dem Schreibtisch. Hegel staunte selbst darüber, mit wie vielen Menschen er anscheinend bislang beruflich zu tun gehabt hatte. Wirkliche Freunde hatte er in seinem Leben hingegen wahrlich nicht viele gefunden. Bis auf die, die jetzt hier im Raum stehen. Kurz blendete Hegel die Geräusche um sich herum aus. Freunde … Mathildas Großmutter hatte ihn vor einiger Zeit erschießen wollen. Nur weil sie rechtzeitig von diesem Plan abgekehrt war, hatte man sie mit einer Bewährungsstrafe davonkommen lassen. Und Jula? Sie hatte öfter als ein Mal versucht, Hegel den Mord an Mathildas Mutter nachzuweisen. Sie hat ja keine Ahnung, was wirklich dahintersteckt. Oswald Holder vom LKA Berlin hatte Hegel eigentlich schon immer mit Skepsis gegenübergestanden, es war wohl in erster Linie seine gute Arbeit als Polizeiberater, die Holder schätzte. Und die beiden Jungs, Elyas und sein bester Freund Friedrich, waren zwar nette Kerle, aber auch ein ziemlich chaotisches Teenagerduo mit hohem unfreiwilligem Comedypotenzial. Doch ohne genau diese Menschen wäre mein Leben trist und einsam. So seltsam es klingt, aber ich schätze, das sind wohl wirklich meine Freunde. Und ich würde um nichts in der Welt auf sie verzichten wollen.

»Ich hoffe, Sie haben am Samstag noch nichts vor.« Elyas strahlte Hegel an, als habe er ihm einen Lottogewinn zu verkünden. »Da gibt es nämlich ein spektakuläres Konzert in Berlin, das Sie auf keinen Fall verpassen dürfen!«

»Ich weiß.« Hegel sah zu dem Jungen. »Die Rolling Stones kommen ins Olympiastadion. Ich denke aber nicht, dass ich mir hunderttausend Menschen dicht um mich herumgedrängt antun möchte.«

Elyas sah Hegel an, als habe dieser ihn soeben persönlich beleidigt. »Wer redet denn von den Stones? Ich spiele im Mauerpark ein paar Nummern aus meinem neuen Album! BigEly live, alle Songs von Friedrich produziert. Das dürfen Sie nicht verpassen!«

Hegel lächelte väterlich. »Das ist natürlich etwas anderes. Und bei der gewaltigen Konkurrenz im Olympiastadion müssen wir ja auch aufpassen, dass es vor deiner Bühne am Ende nicht leer bleibt.«

»Ich komme auch zu BigElys Konzert!« Mathilda lachte fröhlich auf. »Mit Oma und dir!«

Friedrich von Würzburg fuhr sich durch die blonden Locken und griff eine Karte vom Schreibtisch. »Okay, nachdem wir das geklärt hätten, wollen Sie denn jetzt gar nicht wissen, wer Ihnen alles geschrieben hat?« Er zeigte Hegel mit einem Lächeln die Grußkarte. »Die hier kam nur eine halbe Stunde bevor Sie eingetroffen sind. Sie wurde persönlich übergeben, von einer jungen Frau.« Friedrich grinste. »Alter, die war einfach mal so was von heiß, da haben Sie was verpasst! Und sie hat gesagt, der Inhalt ist total wichtig und würde Sie sicher sehr interessieren. Ich sollte Ihnen die Karte gleich als erste geben, sie hat es ziemlich dringend gemacht.«

Hegel sah den Jungen etwas zu ernsthaft an. »Nun, in diesem Fall muss ich wohl ohne weiteren Zeitverlust der Frage nachgehen, was für eine dringliche Beglückwünschung mir diese heiße Dame hat zukommen lassen.« Er zwinkerte Friedrich zu, streckte die Hand nach dem Kuvert aus und ließ es sich von dem schlaksigen Jungen reichen. Hegel zog die Karte hervor und sah sie mit theatralischer Mimik an. »Da steht nur ein großes W vorn auf der Karte. Anscheinend muss man die Texte auf Grußkarten neuerdings nach Anzahl der Buchstaben bezahlen. Wofür das W wohl stehen mag?« Er zeigte die Frontseite unter seinen Gästen herum, tatsächlich war der Buchstabe das Einzige, was darauf zu lesen war.

»Vermutlich für Waschlappen!« Elyas lachte auf und gab Friedrich ein High Five. »Sorry, war ein Spaß! Das W steht natürlich für Wurstfachverkäuferin.«

Jetzt lachten alle.

»Dann wollen wir mal hoffen, dass diese ominöse und gleichwohl attraktive Wurstfachverkäuferin bei ihrem selbst verfassten Grußwort etwas weniger kryptisch vorgegangen ist.« Hegel klappte die Karte auf, als wäre sie eine königliche Depesche.

Piepende Töne erklangen.

»Was soll das denn sein?« Mathilda sah ihren Vater skeptisch an. »Ein Lied? Das klingt aber blöd!«

Es handelte sich um eine dieser Karten, die beim Öffnen Musik abspielten. Nur dass keine typische Geburtstagsmelodie, Hochzeitsfanfare oder sonstige erwartbare Komposition erklang. Der Chip in der Karte spielte eine scheinbar willkürliche Folge von Tönen ab, die keine erkennbare Melodie ergab. Vier Töne, dann eine Pause, dann noch zwei Töne. Und wieder von vorn.

»Ich …« Hegel war schlagartig wie erstarrt, sein Lächeln gewichen, das Gesicht blass geworden. »Ich kenne diese Tonfolge. Ich habe sie …« Er stockte, und es wurde ihm schwindelig.

»Matthias, ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Oswald Holder trat an Hegel heran und sah ihm besorgt ins Gesicht.

»Es ist das W.« Hegel zeigte dem Kommissar die Frontseite der Karte. »Das kann man nicht in Noten schreiben, den Rest schon.«

»Papa, was ist denn mit dir?« Mathilda sah ihren Vater besorgt an, der jetzt wie seine eigene Statue dastand. Regungslos, fahl, als habe ein böser Geist Besitz von ihm ergriffen.

»Oswald, Sie müssen sofort eine Einheit in den Bachweg schicken. Da wird gleich etwas passieren.« Hegel war so ernst geworden, dass auch Holder die Gesichtszüge entglitten.

»In den Bachweg? Wie kommen Sie denn darauf? Und was soll da passieren?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich weiß nur, dass mir jemand mitteilt, dass…«

Doch da hörten sie auch schon den Knall. Dumpf, bedrohlich, aus einiger Entfernung. Jedoch so laut, dass nicht einmal die weitgehend schalldichten Fenster der Suite es unterdrücken konnten. Hegel sah nach draußen, und er bemerkte, dass die Blicke seiner Gäste dem seinen folgten. Dann sahen sie auch schon den Rauch aufsteigen. Ganz hinten am Horizont.

»Das ist die Gegend, in der der Bachweg liegt.« Jula trat näher ans Fenster, bevor sie sich wieder Hegel zuwandte. »Okay, was ist hier los?«

»Papa?« Mathilda zitterte am ganzen Leib.

Holder setzte nach. »Matthias, im Ernst: Wie konnten Sie wissen, dass da gleich etwas passieren würde?«

Hegel bemerkte, wie sich nacheinander alle Anwesenden zu ihm umwandten und ihn mit weit geöffneten Augen fixierten.

»Das ist es ja.« Er sprach ganz ruhig, und er konnte spüren, wie seine Kehle trocken wurde. »Er hat es mir schon den ganzen Tag über angekündigt.«

»Matthias!« Holder sprach jetzt forscher, griff Hegel an die Schultern und sah ihn eindringlich an. »Was zur Hölle ist hier los?«

Hegel ließ die Karte aus seiner Hand zu Boden fallen, bevor er mehr hauchte als sprach: »Ich habe keine Ahnung.«

4

So haben Sie sich Ihren ersten Tag zurück im Leben nicht vorgestellt, was?« Oswald Holder ließ den Blick ohne erkennbare emotionale Regung über die Trümmer gleiten, während immer neue Einsatzwagen eintrafen und das Rufen und Hupen hinter der Absperrung mit jeder Minute lauter wurde.

»Sie stellen die falsche Frage, Oswald.« Auch Hegel versuchte, sich keine Emotionen anmerken zu lassen, doch in seinem Inneren schossen die Überlegungen wie die Funken eines Feuerwerks durch seinen Verstand.

Die beiden waren nur wenige Minuten nach der Explosion gemeinsam aufgebrochen und hatten den Bachweg dank der Sirene von Holders Dienstwagen innerhalb kurzer Zeit erreicht. Der Kommissar hatte sich noch auf dem Weg von Hegels Suite zu seinem Wagen telefonisch mit den zuständigen Kollegen besprochen und angekündigt, dass er den Phonetiker offiziell als Berater zu der Angelegenheit hinzuziehen wolle. Somit waren sie nun beide legitimiert, den Tatort zu betreten und sich dort umzusehen.

»Welche Frage hätte ich denn stellen sollen?« Holder klang so ruhig wie immer, Hegel konnte trotz seiner kleinen Provokation kaum einen Anstieg der Spannung in der Stimme des erfahrenen Polizisten erkennen.

Die Szenerie, die sich den beiden bot, erinnerte Hegel an Bilder, wie er sie von Kriegsberichterstattungen kannte. Das dreistöckige Gebäude mit den neun Wohneinheiten war bis auf die Grundmauern eingestürzt. Und obwohl es ein eher windiger Tag war, stieg noch immer so viel Rauch und Asche in die Luft auf, dass sie Schwierigkeiten mit der Sicht hatten.

»Ihre Frage hätte lauten müssen: Wer war es, der sich meinen ersten Tag zurück im Leben ganz genau so vorgestellt hat? Und, noch viel wichtiger: warum?«

Holder spitzte kurz die Lippen und nickte leicht mit dem Kopf zur Seite. »Von mir aus, dann kommen wir also ohne Umwege zum springenden Punkt: Was hat das hier mit Ihnen zu tun? Warum hat dieses schreckliche Gedudel auf Ihrer Grußkarte Sie darauf gebracht, dass etwas im Bachweg geschehen würde?«

Im Hintergrund war die Sirene eines Rettungswagens zu hören, der sich mühsam den Weg durch die Menge der Schaulustigen hinter der weiträumigen Absperrung bahnte. Es hatte nach Holders ersten Informationen ein paar leichte Verletzungen durch umherfliegende Steine und Splitter gegeben, ein Todesopfer war bislang nicht in den Trümmern gefunden worden.

»Das Gebäude steht seit Jahren leer, das Mauerwerk war marode, das Haus nicht mehr bewohnbar. Es gab immer wieder Proteste deswegen, Wohnraum in Berlin, darüber müssen wir ja nicht reden …« Hegel sah den Kommissar nicht an, vor seinem geistigen Auge ging er noch einmal die bisherigen Ereignisse durch. »Der Senat konnte sich nicht entscheiden, ob er abreißen lässt oder sanieren will, und das hätte sich locker noch ein paar Jahre hingezogen. Wer immer das hier war, wollte nicht willkürlich Menschen töten. Er hatte eher vor, mir seine Macht zu demonstrieren. Und das so, dass ich ihn nicht einfach nur bemerke.«

Holder nickte. »Er wollte, dass Sie ihn bewundern!«

»Das denke ich nicht, Oswald.« Noch immer war Hegel so ruhig und entspannt, als befände er sich in einem Skulpturenpark. »Wer das hier angestellt hat, der wollte, dass ich ihn fürchte!«

»Also gut, gehen wir von einem narzisstischen Psychopathen aus. Hätte der in seinen Augen nicht einen weit größeren Effekt erzielt, wenn es möglichst viele Tote gegeben hätte? Würden Sie ihn dann nicht umso mehr fürchten? Ich denke, er hat dieses leer stehende Haus hier ausgewählt, weil er zwar großen Lärm machen, aber niemanden verletzen wollte.«

»Und genau das beunruhigt mich am meisten.« Hegel hatte einige Jahre lang als Psychotherapeut praktiziert, allein schon, weil er die Tiefen und Weiten der menschlichen Seele so gut ergründen wollte, wie es ihm nur möglich war. »Das, was er hier abgezogen hat, ist so groß und spektakulär, dass es kaum Zweifel daran geben kann, dass er für seine narzisstische Machtdemonstration auch über Leichen gehen würde. Leider hat er genau das heute ziemlich augenfällig vermieden.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe.« Zum ersten Mal konnte Hegel einen Beiklang von Sorge in Holders Stimme feststellen. »Aber daran bin ich ja bei Ihnen gewöhnt.«

Hegel schloss die Augen, machte eine abwehrende Bewegung und sagte: »Er wollte mich provozieren, testen. Vielleicht wollte er mir sogar die Möglichkeit geben, diese Sprengung noch zu verhindern. Er konnte ja nicht wissen, wann genau ich seine Karte öffnen würde. Und dass er sie von einer attraktiven Dame in die Hände eines hormongeladenen Teenagers hat geben lassen, damit Friedrich mir diese eine spezielle Karte trotz der vielen anderen so bald wie möglich aushändigt, zeigt, dass er das alles hier mit viel Aufwand und genauer Planung durchgezogen hat.« Hegel lächelte, wenn auch nicht vor Bewunderung. »Aber wirklich bemerkenswert ist, wie er heute im Zug vorgegangen ist.«

Holder sah Hegel mit einem Blick an, der ihn geradezu anzuflehen schien, sich nicht jede Information einzeln aus der Nase ziehen zu lassen.

»Er hat mir heute Mittag eine Chance gegeben, ihm bei seiner Sprengung zuvorzukommen. Ich wette, Ihre Spezialisten werden herausfinden, dass man den Zünder relativ einfach hätte entschärfen können, wenn man gewusst hätte, wo man ihn suchen muss. Deswegen hat er mir heute musikalisch mitgeteilt, an welchem Ort er zuschlagen will. Allerdings ohne Einzelheiten dazu, was er plant. Das wäre musikalisch allerdings auch ziemlich schwer geworden.«

Holder war viel zu professionell, als dass ihm die Gesichtszüge entgleiten würden. Hegel meinte aber, zumindest ein Zucken der Wimpern bemerkt zu haben.

»Musikwissenschaft?« Der Kommissar atmete schwer aus. »Okay, wir reden also über das schreckliche Gedudel auf dieser Grußkarte. Matthias, bitte: Was, verflucht noch mal, ist hier gerade passiert?«

Weitere Einsatzfahrzeuge trafen ein, und die Beamten der Schutzpolizei hatten zunehmend Mühe, die immer größer werdende Menge an Schaulustigen vom Ort des Geschehens fernzuhalten. Zudem war die Evakuierung der umliegenden Gebäude in vollem Gange, da weder eine weitere Sprengung noch das Einstürzen benachbarter Gebäude infolge der Explosion ausgeschlossen werden konnten.

»Diese Töne von der Karte. Ich habe sie heute schon einige Male gehört. Und zwar nur ich! Deswegen bin ich mir auch so sicher, dass es hier ganz persönlich um mich geht. Derjenige, der das hier durchgezogen hat, konnte sich mit dem Tag meiner Rückkehr aus der Klinik kaum einen dramaturgisch besseren Zeitpunkt auswählen.« Hegel ging in die Knie, griff einen Steinsplitter vom Boden und sah ihn an, als symbolisiere dieser ganz allein das volle Ausmaß dessen, was heute an diesem Ort geschehen war. »Die Töne sollten keine Melodie ergeben. Sie sollten mir den Ort verraten, an dem er seine Machtdemonstration geplant hatte. Mit dieser Idee hat er beim Bachweg echt Glück gehabt! Er hatte nämlich fast den gesamten Straßennamen in Form von Tönen zur Verfügung. Seine Tonfolge war b, a, c und h. Dann eine Pause, danach die Töne e und g.«

Holder nickte, und ein anerkennendes Lächeln huschte für die Dauer eines Wimpernschlags über seine Lippen. »Schreibt man es auf, ergibt es Bach-eg.«

Hegel zuckte wie zum Bedauern die Schultern. »Wirklich verstanden habe ich es leider erst, als ich die Karte gesehen habe. Es stand ein großes W darauf. Man kann das W nicht mit einem Ton darstellen, das gibt es in der Notensprache nicht. Er hat mir abschließend noch den fehlenden Buchstaben geliefert. Bachweg.«

»Er wusste also nicht nur, wann Sie mit welchem Zug fahren würden, er wusste auch, dass Sie das absolute Gehör haben. Normale Menschen können einen Ton ja schließlich nur erkennen, wenn sie eine Referenz haben.«

Hegel konnte in Holders Augen lesen, dass dieser wohl eifrig dabei war, die Puzzleteile zu einem Bild zusammenzusetzen. »Er hat mir bereits den ganzen Tag über mitzuteilen versucht, wo er etwas vorhatte. Aber nicht, wann und was. Und wie hätte ich darauf kommen sollen, dass er mit großem Aufwand, minutiöser Planung und absolut kaltblütig und gewissenlos ein Gebäude mitten in der Berliner City sprengen würde? Dass es keine Toten gab, könnte er gehofft haben. Sicher sein konnte er sich da nicht. Jetzt ergibt auch die Methode Sinn, wie er mir diese Töne im Zug vorgespielt hat. Es gibt tatsächlich eine Möglichkeit, Töne so abzuspielen, dass nur eine bestimmte Person in einem vollen Raum sie hören kann. Und obwohl ich deswegen im Zug sogar das Abteil gewechselt habe, hat er es trotzdem weiterhin geschafft, mich zu beschallen.«

»Matthias, wenn das stimmt, dann hat heute irgendjemand ein extrem gefährliches, aufwendiges und kostspieliges Spektakel veranstaltet. Nur um herauszufinden, ob Sie es noch verhindern können – oder nicht.«

Jetzt schwiegen sie beide. Und wenn das Rufen und Tosen um sie herum auch mit jeder Minute drängender wurde, fühlte es sich für Hegel dennoch so an, als stünden sie beide, er und Holder, ganz allein vor dem Trümmerhaufen dieses Gebäudes.

»Nicht irgendjemand.« Hegels Blick ging nach oben zum Himmel. Er war blau und wolkenlos, womit er dem Phonetiker den einzigen friedlichen Anblick weit und breit bot. »Derjenige, der das hier angerichtet hat, wusste sehr genau, was er da tut. Und er wusste auch sehr genau, für wen.«

»Ich verstehe.« Holder klang etwas aufgeregter, obwohl jemand, der ein weniger geschultes Ohr als Hegel hatte, es vermutlich nicht bemerkt hätte. »Sie denken, dass das hier ein Täter war, der sich mit Phonetik auskennt. Und der Ihnen beweisen wollte, dass er besser ist als Sie.« Der Kommissar senkte die Lautstärke, obwohl niemand in der Nähe stand. »Matthias, warum haben Sie gerade gesagt, dass er es leider vermieden hat, seine Macht durch Todesopfer zu demonstrieren?«

Hegel wandte den Blick noch nicht von den Wolken ab. »Weil er sich das aufheben wollte. Selbst wenn ich schnell auf den Bachweg gekommen wäre, hätte ich nicht gewusst, worum es genau geht. Und selbst wenn ich darauf gekommen wäre, nach einem Sprengsatz in einem Haus zu suchen, was ja nun eher abwegig gewesen wäre, hätte ich in einem vollkommen anderen Haus gesucht.«

»Wie meinen Sie das?« Holder wurde ruhiger. »In welchem Haus hätten Sie denn gesucht?«

Hegel wandte sich in südliche Richtung um und deutete mit dem Finger auf ein Hochhaus, das einige Hundert Meter entfernt stand. »In dem Studentenwohnheim.«

Holders Augen öffneten sich etwas weiter. »Jetzt reden Sie schon! Was wissen Sie über diesen Anschlag hier?«

»Ich habe im Bachweg gewohnt, vor langer Zeit. Und zwar in dem Studentenwohnheim. Und da hat jemand mit mir gewohnt. Ein Phonetiker. Einer, der weiß, wie man Töne so einspielt, dass nur einer im Raum sie hören kann.«

»Sie wissen, wer das hier gewesen ist?« Holders Stimme wurde leiser. »Deswegen haben Sie also gesagt, er habe beim Bachweg Glück gehabt. Weil er die Straße nicht einfach danach ausgewählt hat, dass man sie gut in Noten schreiben kann.«

»Nein, der Ort ist eine Botschaft an mich. Er fordert mich zu einem Spiel heraus. Jemand, der mir schon immer beweisen wollte, dass er besser ist als ich.«

»Also gut.« Holder wurde immer leiser. »Wer war das hier?«

Erst jetzt wandte Hegel den Blick vom Himmel ab und sah dem Kommissar in die Augen. »Er heißt Veith Vries. Während unseres Studiums waren wir Freunde, aber es wurde immer schlimmer mit seiner Psyche. Irgendwann ist die Freundschaft zerbrochen, ich habe ihn lange nicht gesehen. Veith ist anscheinend mittlerweile zu allem fähig, also bereiten Sie Ihre Kollegen auf das Schlimmste vor. Uns stehen ein paar bemerkenswerte Tage bevor. Ich meine, wenn eine Haussprengung am helllichten Tag mitten im Stadtzentrum nur sein Auftakt ist, dann dürfen wir gespannt sein, was er sich noch alles hat einfallen lassen.«

5

Veith Vries

Der Anblick der staubenden Trümmer klang wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schultafel, und kurz ließ der Schmerz Vries zusammenzucken. Doch sogleich wurde das Quälen des Geräuschs, das nur er zu vernehmen imstande war, von einem überwältigenden Wohlgefühl überlagert. Von der befriedigenden Erkenntnis, dass alles exakt so abgelaufen war, wie er es sich vorgestellt hatte.

»Du weißt es, oder?« Sein Blick wich kurz vom Fernseher auf die Wand mit den Bildern aus, genauer gesagt auf das alte Foto, das sie beide gemeinsam zeigte. Lachend, Arm in Arm vor der Universität.

»Zurzeit ist noch völlig unklar, wie es zu dem Einsturz kommen konnte.« Die Journalistin stand so weit vom Ort des Geschehens entfernt, dass man lediglich ein wenig Staub in ihrem Hintergrund aufsteigen sehen konnte. »Wie die ermittelnden Behörden uns mitteilten, kann ein terroristischer Anschlag jedoch nicht ausgeschlossen werden.«

Vries lächelte selig. Die Worte der Frau auf dem Monitor rochen nach Schokolade mit verbrannter Ananas.

»Ich wusste, dass du dich hier versteckst. Sehr clever, wirklich. Hier finden sie dich nie …« Die ihm wohlvertraute Stimme erklang hinter seinem Rücken, von der Kellertür her. »Du willst es jetzt also wirklich durchziehen …«