TÖDLICHER SCHATTEN - Yves Patak - E-Book

TÖDLICHER SCHATTEN E-Book

Yves Patak

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Beschreibung

Sommer in New York City. Marc Renner, Lehrer für englische Literatur und erfolgloser Schriftsteller, findet sich in einer fatalen Abwärtsspirale: Jobverlust, Kampfscheidung, seine Freundin verlässt ihn. Doch kurz vor dem finanziellen Desaster stolpert er über eine mysteriöse Zeitungsannonce: „Kaufe Ihre alte Geschichte.“ In seiner Not verkauft Marc das Manuskript seines Thrillers einem merkwürdig geschäftigen Greis, dessen Hobby das Sammeln von Romanfiguren ist.

Kurz darauf beginnt in Manhattan eine blutige Mordserie, deren Ursprung zu Marcs Computer führt und ihn zum Hauptverdächtigen macht. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, eine verzweifelte Suche nach jenem alten Mann, in dem er den Drahtzieher hinter den Morden vermutet …

Eine nervenzerreißende Reise in die Welten des Unerklärlichen und des Wahnsinns.

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Yves Patak

 

Tödlicher Schatten

 

© 2014 Yves Patak Alle Rechte beim Autor. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm, elektronische oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer oder sonstiger Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: Miladinka Milic - www.milagraphicartist.com ISBN 978-1-5446-1516-5 e-book formatting by bookow.com

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Inhaltsverzeichnis

Karte von ManhattanDas InseratDer AnrufDer SchreibzirkelDer SammlerDie Frau im TaxiDer PhilanthropDie LeuchtreklameDas Kairos-IconDie EmailDie PhilanthropenIm CapriccioDas AngebotDer LottokönigKillerinstinktSwan Lake HotelAuftragsmordKabbalaHudson RiverDer RabbiJanodaCarnegie HallDas RitualSchatten der NachtH.Über den Autor

Karte von Manhattan

Marc Renners Studio (Bleecker Street, Greenwich Village) Times Square Central Park Toms Loft (Horatio Street, Meatpacking District) Saint Patrick’s Pub Empire State Building The Pond (Central Park South) Carnegie Hall Etana Yahaloms Apartment (Harlem) Helen Shaws Apartment (124th Street) Hudson River Greenway (Marc und Helens Geheimversteck)

Das Inserat

Sonntag, 22. Juli, 17.12 Uhr

Bleierne Sommerhitze in New York City. Über dem Asphalt flimmerte die abgasgeschwängerte Luft. Nur im Schritttempo quälte sich der Verkehr die 7th Avenue hinauf. Auch für die vielen Yellow Cabs gab es kein schnelleres Durchkommen.

In seinem klapprigen Taxi – einem uralten, aus zweiter Hand erstandenen Buick – saß Marc Renner am Steuer, den Kopf voller Sorgen. Der Stau vor ihm erschien ihm wie das lebendige Symbol seiner aktuellen Lebenssituation. Ihm war, als hätte sich das Schicksal vor einem halben Jahr persönlich gegen ihn verschworen. Binnen weniger Wochen hatte er seine Eltern bei einem tragischen Autounfall verloren, danach den Job als Englisch- und Literaturlehrer und schließlich seine Ehe. Nicht, dass ihm an letzterer noch viel gelegen hätte – Susan und er hatten sich in den letzten Jahren unwiderruflich auseinandergelebt. Nur die Tatsache, dass seine Noch-Ehefrau dermaßen verbittert war, dass sie eine Kampfscheidung der üblen Sorte anstrebte und ihn allem Anschein nach in den Ruin treiben wollte, kam ihm absurd und unwirklich vor. So unwirklich wie die Tatsache, dass er – statt seinen Schülern die Schönheit der zeitgenössischen amerikanischen Literatur nahezubringen und mit Begeisterung weiter an seinem zweiten Roman zu arbeiten – seinen Lebensunterhalt nun als Taxifahrer verdienen musste. In einem Taxi, dessen Zusammenbruch unmittelbar bevorzustehen schien. Und was dann? Marc hatte bereits fast all sein Erspartes für einen Anwalt ausgegeben, dessen Kompetenz er inzwischen mehr als anzweifelte.

Wie eine dunkle Welle kam die Erinnerung an das, was folgte. Zwei Wochen, nachdem er aus dem ehelichen Apartment ausgezogen war, hatte sich Doreen, seine jüngere Schwester, das Leben genommen. Ihre Depression hatte seit Jahren wie ein Schatten über der Familie gelegen, und der unerwartete Unfalltod der Eltern war genau der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Doreens Tod wiederum war es, der Marc zum ersten Mal in seinem Leben ernsthaft aus dem Gleichgewicht geworfen hatte. Schlaflose, von Albträumen geplagte Nächte brachten ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Ein Leben lang hatte er sich als Beschützer seiner ‚kleinen Schwester’ gesehen, hatte versucht, das in Schieflage geratene Boot ihres Lebens über Wasser zu halten – und nun war es gekentert. Irgendwann hatte Marc seinem Hausarzt nachgegeben und sich ein neues, stimmungsaufhellendes Mittel verschreiben lassen. Nur, dass Marcs Alpträume davon noch schlimmer wurden. Drei Tage nach Beginn der Kur durchlebte er beängstigende Episoden von Selbstentfremdung, bis er die Tabletten schließlich das WC hinunterspülte. Eine Woche später verliebte er sich in Helen, die rassige Rothaarige von seinem Schriftstellerzirkel, und zum ersten Mal seit dem Tod der Eltern schien ein Lichtstrahl die Dunkelheit in seinem Leben zu durchdringen.

Helen.

Der Gedanke an die heißblütige Rothaarige versetzte ihm einen Stich in die Brust. Ihre Liebe war so feurig, so leidenschaftlich gewesen, dass Marc zu glauben begann, dass all die Wunden in seiner Seele endlich heilen würden – bis Helen aus heiterem Himmel, nur wenige Wochen nach ihrem ersten Kuss, die Affäre beendete. Auch jetzt, Monate später, konnte er es nicht verstehen, und Helen hatte nie darüber reden wollen.

Gedankenverloren strich er sich mit der Hand über die kleine Narbe am Kinn.

Helen...

„Verflucht, was ist denn das für ein Scheiß-Stau?“ riss ihn der dicke, cholerische Fahrgast auf der Rückbank aus seinen Gedanken. Er beugte sich nach vorne, wischte sich mit einem großen, schon feuchten Taschentuch den Schweiß von den geröteten Wangen und starrte entrüstet auf die Blechlawine hinaus.

Marc betrachtete den schwitzenden Mann mit dem texanischen Akzent im Rückspiegel und schwieg. Ruhig Blut. Der Mann schaute auf seine protzige Armbanduhr und schnalzte gereizt mit der Zunge.

„Verdammt, kennen Sie keine Schleichwege? Sind doch Taxifahrer, Mann! Oder gehören Sie zu der Generation, die ohne GPS kaum noch den Heimweg findet, he?“

Marc gab sich Mühe, einen neutralen Ton zu wahren. „Sir, ich kenne so ziemlich jeden Schleichweg vom Business District bis in die Bronx. Um diese Zeit bricht der Verkehr um den Times Square herum nun mal einfach zusammen.“

„An einem Sonntag? Wollen Sie mich für blöd verkaufen oder was?“

„No, Sir. Aber auch Sonntags besuchen tausende von Leuten den Theater District und den Times Square. Theatergänger, Museumsbesucher, all die Touristen, Sie wissen schon...“

Ärgerlich schüttelte der Mann den Kopf. „Ist ja beschissen! Und trotzdem nehmen Sie Fahrgäste auf, was? Klar, zu ’nem schnellen Dollar sagt niemand nein!“ Sein Blick fiel auf das abgegriffene Buch auf dem Beifahrersitz. Ein schwarzer Rabe auf blutig geflecktem Hintergrund.

„Oho, Edgar Allan Poe!“ höhnte der Texaner. „Ist ja ein Ding: keine Klimaanlage, keine Schleichwege, dafür ein Bücherwurm als Fahrer! Na, dann gute Nacht!“

Marc verbiss sich eine scharfe Entgegnung. Durch die offenen Fenster kamen Autoabgase und immer wieder mal ein ungeduldiges Hupen, während die Autoschlange im Schneckentempo über die 7th Avenue vorwärts kroch. Auf dem Rücksitz nestelte der schwitzende Mann an seinem Hemdkragen herum.

„Heilige Scheiße, keine Klimaanlage bei 35 Grad im Schatten… das ist eine gottverdammte Zumutung! Dank Ihnen werde ich mit Verspätung und verschwitzt wie ein Schwein in eine wichtige Sitzung platzen müssen!“

Demonstrativ fächelte der Dicke sich mit einer Zeitung Luft zu, und Marc sah im Rückspiegel mit einem Anflug von Wehmut, dass es die New York Times war – seit seiner Studentenzeit seine Zeitung! Doch nach der Entlassung aus der Dwight Johnson High School und kurz nach der Trennung von Susan, hatte er alle nicht unbedingt notwendigen finanziellen Lasten über Bord werfen müssen. Die Times war zu seinem großen Bedauern ein Teil davon gewesen. Nun musste er sich damit begnügen, den Gratis-Teil der Times online auf seinem iPhone zu lesen – was das Gefühl, eine echte, knisternde Zeitung aus Papier in der Hand zu halten, für ihn bei weitem nicht ersetzen konnte.

Der Texaner lehnte sich noch weiter vor und starrte verkniffen aus dem Fenster. „Zum Teufel, Sie sind schuld, wenn mir ein verdammt großer Deal durch die Lappen geht!“

Marc merkte, wie ihm angesichts des unaufhörlich schimpfenden Mannes der Geduldsfaden riss. „Vielleicht wären Sie ja zu Fuß schneller, Mister!“

„Darauf können Sie Ihre Rostlaube verwetten!“ Umständlich fischte der Texaner zwei Geldscheine aus der Jackentasche und warf sie nach vorn auf den Beifahrersitz, wo sie neben dem Poe-Buch zu liegen kamen.

„Schönes Leben als Taxifahrer noch!“ Wütend stieß der Mann die Tür auf und stemmte seine Leibesfülle aus dem Auto.

„Mögest du in interessanten Zeiten leben“, murmelte Marc, einen alten chinesischen Fluch zitierend. Er beobachtete, wie sich der schwitzende Mann nun, die Aktentasche wie ein Schild vor sich haltend, durch die Autokolonne zum Bürgersteig drängte und zwischen den Passanten verschwand.

Marc seufzte. Er verstaute die Dollarnoten in einer abgegriffenen Brieftasche und schaute routinemäßig auf die Rückbank, ob der Mann – wie so viele Fahrgäste – etwas liegengelassen hatte. Die Zeitung. Er griff nach ihr und breitete sie über das Lenkrad aus. Meine erste Times seit Monaten. Er strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn, putzte die Brille an seinem Columbia University T-Shirt und blätterte direkt zu den Stelleninseraten. Vielleicht ist heute ja mein Glückstag. Rasch überflog er die Angebote, hielt Ausschau nach Stichworten wie ‚High School‘, ‚Englischlehrer‘ und ‚Englische Literatur‘. Nichts. Kein einziges Angebot. Eine Überschrift aber, in der Rubrik Marktplatz gleich neben den Stellenangeboten, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Das Inserat war unauffällig, die Schrift nicht grösser als bei den anderen Inseraten – und dennoch zogen die vier Worte Marcs Auge an wie ein Magnet:

KAUFE IHRE ALTE GESCHICHTE

Unter der einen Zeile eine Telefonnummer, sonst nichts. Kein Name. Keine Adresse. Ein unerklärliches Kribbeln erfasste Marc. Merkwürdig. ‚Kaufe Ihre alte Geschichte’…

Ungeduldiges Hupen hinter ihm ließ ihn aufschrecken. Vor ihm löste sich der Stau allmählich auf. Kurzentschlossen riss Marc die Seite mit dem Inserat heraus und legte sie unter das Buch auf dem Beifahrersitz. Dann schloss er zum Vordermann auf, nicht im Geringsten ahnend, dass das rätselhafte Inserat sein Leben für immer verändern würde.

Im südlichen Teil des Central Park, knapp eine Meile von Marc entfernt, strich eine sanfte Abendbrise durch den kleinen Wald neben dem Pond, dem stiefelförmigen Teich am untersten Zipfel von Manhattans grüner Lunge. Pärchen und Menschengruppen jeden Alters flanierten gemütlich unter dem üppigen Laubdach dahin, den Duft von Erde und frisch gemähtem Gras atmend.

Auf einer Parkbank, die ihm seit Tagen als Wohn- und Schlafstätte diente, lag laut schnarchend Liam Tolbert. Der magere junge Mann döste auf ein paar Zeitungsseiten, die er sich als Matratze ausgelegt hatte. Im Halbschlaf verscheuchte er eine Fliege von seinem stoppeligen Kinn.

Liams Schulkarriere war kurz gewesen, seine Vielfalt an Gelegenheitsjobs – darunter kleine Diebstähle – beeindruckend. Die letzten Monate hatte er ernsthaft erwogen, ein Buch zu schreiben, ein Buch mit dem seiner Ansicht nach hammerstarken Titel ‚King of Bums‘ – König der Penner. Der Titel war spitze, und zu erzählen hatte Liam mehr als genug. Und was, dachte er, konnte erhabener sein, als im eigenen Roman als Hauptfigur aufzutreten?

Das einzige Problem, das zwischen ihm und einem neuen Leben als Bestseller-Autor und Millionär stand, war das Crystal Meth. Das gottverdammte Ice. Seit er diesem Teufelszeug verfallen war, schien sein Gehirn zu verrotten wie ein von Termiten befallener Baumstumpf. Die Idee aber, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, war ein Geniestreich, der das sinkende Schiff seines Lebens im letzten Moment noch retten würde. Davon war Liam überzeugt. Doch jedes Mal, wenn er versuchte, sich auf den roten Faden, auf den Plot zu konzentrieren, entstand in seinem Kopf ein schwarzes Loch, eine gähnende Leere, während sein von Geschwüren übersäter Körper unkontrolliert zu zittern begann. Und dann kam das Verlangen, jene überwältigende Gier nach mehr Ice – dem süßen Gift, das ihn in wenigen Monaten um Jahre hatte altern lassen.

Liam öffnete die Augen und blinzelte einen Moment lang verwirrt in der Gegend herum. Immer noch verschlafen drehte er sich auf der Parkbank um, und der Teil der New York Times, der ihm als Kopfkissen diente, segelte zu Boden. Leise raschelnd öffneten sich die Seiten bei der Rubrik Marktplatz. Er glotzte verständnislos zu der Zeitung hinunter und sah auf einmal eine Überschrift, die zu ihm zu sprechen schien.

KAUFE IHRE ALTE GESCHICHTE

Meine Fresse, dachte er, während seine Zunge eine offene Stelle im Mundwinkel ertastete. Wenn das kein Zeichen ist! Vielleicht brauchte er seinen Roman ja nicht einmal selbst zu schreiben! Vielleicht konnte er ihn einfach einem dieser Typen erzählen, die dann alles aufschreiben, einem dieser Ghost-Dingsda? Einem dieser namenlosen Schreiberlinge, die aus einer guten Story ein echtes Buch machten?

Urplötzlich überfiel ihn ein inneres Frieren, zusammen mit der beängstigend realen Überzeugung, dass er nun eine Entscheidung treffen musste. Gleich hier und jetzt, dass dies seine letzte Chance war, um...

Um was?

In seinem Kopf breitete sich die Leere aus, jene eigentümliche Windstille im Geist. Liam begann am ganzen Leib zu zittern und griff in seine Hosentasche, wo er noch ein letztes Stück Ice in einem Streifen Aluminiumfolie aufbewahrte. Dabei glitt sein Blick noch einmal über die Zeitungsseite, und er hielt inne, den Mund halb offen. Wo war das Inserat? Mit einem Ausdruck kindlichen Staunens blinzelte er auf die Stelle, wo er eben noch die Überschrift gelesen hatte.

„Was is’n das für’n Scheiß?“ murrte er. Keine Spur von ‚KAUFE IHRE ALTE GESCHICHTE.‘ Hatte er das nur geträumt?

Das Zittern wurde stärker. Liam kramte die Glaspfeife und das Feuerzeug aus den Tiefen eines schmutzigen Stoffbeutels hervor.

„Scheiß auf das Buch!“ rief er. Das Crystal Meth erschien ihm auf einmal weitaus wichtiger als seine jämmerliche Lebensgeschichte. Tief zog er die Droge in die Lunge, und das Zittern ließ nach. Durch halb geschlossene Lieder schaute Liam hoch – und zuckte zurück.

„Was zur Hölle...?“

Vor ihm stand ein riesiges, braungrünes Insekt – eine Gottesanbeterin, grösser als er selbst! Schreiend rollte sich Liam von der Bank, fiel hart auf den Boden, rappelte sich hoch und rannte davon.

„Hilfe! Hiiilfe!“

Einige Parkbesucher in der Nähe schauten auf, sahen den mageren Mann mit den hervorquellenden Augen davonrennen und wandten sich gleichgültig wieder ihren Beschäftigungen zu.

Liam rannte. Rannte um sein Leben. Das Insekt stakste hinter ihm her, die langen dünnen Hinterbeine wie Siebenmeilenstiefel bewegend, die stachelbewehrten Zangen nach ihm ausgestreckt.

„Nein!“, heulte er. „Hau ab!“ Speichel rann aus seinen Mundwinkeln. Das Monster hatte ihn beinahe eingeholt. Liam sah das in der Sonne funkelnde Wasser des Ponds vor sich. Ohne weiter nachzudenken sprang er hinein. In dem Moment, als ihn das warme Wasser umschloss, fiel ihm ein, dass er nicht schwimmen konnte. In Panik blies er die Backen auf und versuchte mit hektischen Paddelbewegungen an die Oberfläche zu gelangen. Auf einmal war das schreckliche Gesicht der Gottesanbeterin über ihm, schwebte riesig und hungrig direkt über der Wasseroberfläche, und Liam schrie auf, wobei er all seine Luft in einer perlenden Wolke ausstieß. Kopflos strampelnd sank er tiefer und tiefer, bis das Verlangen nach Luft zu einem Schmerz wurde, den er nicht mehr ertragen konnte. Reflexartig atmete er tief ein, und das moorige Wasser flutete in seine Lungen. Die Augen weit aufgerissen sank Liam auf den Grund des Teichs.

Gedankenvoll fuhr Marc durch Midtown, während er nur halbherzig nach Fahrgästen Ausschau hielt. ‚Kaufe Ihre alte Geschichte.’ Der eine Satz wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Wer kaufte da was für ‚alte Geschichten’? Und wofür? Auf einmal stutzte er. Hatte sich das Motorengeräusch verändert? Rasch prüfte er die Instrumententafel, und seine Miene verdüsterte sich. Mist! Der Motor stand kurz davor, zu überhitzen, was bei der Gluttemperatur in den sommerlichen Straßenschluchten Manhattans kein Wunder war. Der klapprige Buick hatte seine glorreichen Zeiten längst hinter sich, und Marc fragte sich nicht zum ersten Mal, was er tun würde, wenn sein guter alter Yellow Cab endgültig zusammenbrach.

Er fuhr zur Bisma Mobil Tankstelle, wo er Kühlwasser nachfüllte. Als er sich wieder ins Auto setzte, fiel sein Blick auf das Zeitungsblatt, das er aus der Times herausgerissen hatte. Behutsam zog er es unter dem Buch hervor und breitete es über dem Lenkrad aus.

KAUFE IHRE ALTE GESCHICHTE

Der eine Satz löste in ihm etwas aus, das er kaum definieren konnte. Verdruss? Ja, vielleicht. Einen tiefen Verdruss, eine Frustration, die wie bittere Galle schmeckte. Der Geschmack von zerbrochenen Illusionen. Der Geschmack des Misserfolgs.

Wie manche Englisch- und Literaturlehrer, hatte auch Marc über die Jahre den Traum gehegt, dass in ihm mehr schlummerte als ein Lehrmeister – ein neuer James Patterson vielleicht, ein Ken Follett, ein Thomas Harris seiner Generation. Über die letzten Jahre hatte er es geschafft, ein paar Short Stories zu veröffentlichen, gratis allerdings, nur für zwei hatte er ein symbolisches Honorar erhalten. Dann, vor drei Jahren, hatte er seinen ersten Roman in Angriff genommen – einen Thriller, dessen finstere Hauptfigur ein Profikiller namens Hermes Jackson war. Und war beim Schreiben selbst überrascht gewesen, mit welcher Leichtigkeit er der Figur des Hermes Leben eingehaucht hatte! Als wäre dieser eine wirkliche, ihm zutiefst vertraute Person, die er nur zu beobachten, zu beschreiben brauchte…

Ein Jahr später hatte Marc das fertige Manuskript mit hoffnungsvollem Herzen auf die Reise geschickt, an dreißig renommierte Verlage. Er wusste nur zu gut um die verschwindend kleine Chance, mit einem Erstling einen Autorenvertrag an Land zu ziehen, war aber dennoch zuversichtlich, als er damals die dreißig Pakete im U.S. General Post Office aufgab. Sein Roman ‚Cold Play‘ hatte alles, so war er überzeugt, was es zu einem Bestseller brauchte: eine spannende Geschichte voller Rätsel und Wendungen, vollgestopft mit Konflikten, gewürzt mit Blut und Sex. Das Schlüsselelement jedoch war die ebenso faszinierende wie polarisierende Hauptfigur: Hermes Jackson, der mysteriöse, innerlich zerrissene Auftragsmörder. Hatte er doch das Zeug dazu, in all seiner Lebensqual einer der einprägsamsten, ja aufwühlendsten Charaktere der Kriminalliteratur zu werden! Ein Steppenwolf, mit dem Fluch eines unheimlichen Talents beladen, das er sich nie gewünscht hatte. Ein nächtlicher Einzelgänger, hart, einfallsreich – und dennoch einer eigentümlichen Moral verpflichtet. Marc hatte das fertige Manuskript Susan und seinen Kollegen vom Schriftstellerzirkel zu lesen gegeben, und alle waren sich einig gewesen, dass Hermes ein fesselnder, wenn auch beängstigender Typ war, so unvergesslich wie ein Hannibal Lecter. Und trotzdem war der Roman, nach einer zweiten Runde von Versendungen, bisher 67 Mal abgewiesen worden. Die meisten Verlage hatten den Standardbrief geschrieben („Wir bedauern, dass Ihr Werk nicht in unsere aktuelle Programmplanung passt, und wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Suche nach einem geeigneten Verlag“ und blablabla), neun Verlage immerhin hatten das Manuskript differenziert beurteilt, und alle hatten die Figur des enigmatischen Hermes Jackson lobend erwähnt. Beeindruckend. Unheimlich. Furchteinflößend. Eigentümlich berührend.

Marc wandte sich wieder dem Inserat zu.

KAUFE IHRE ALTE GESCHICHTE

Vier Worte, die etwas in ihm vibrieren ließen. Vier Worte, die alles bedeuten konnten. Ihm war schmerzlich bewusst, dass er etwas in seinem Leben verändern musste, und zwar dringend. Seine Geldreserven waren so gut wie aufgebraucht, und die Vorstellung, noch ein weiteres Jahr, gar noch viele Jahre als Taxifahrer in Manhattan zu arbeiten, war unerträglich. Erstickend. Noch im letzten Herbst hatte er schließlich mit Hingabe Englisch und zeitgenössische Literatur unterrichtet, ein Job, der nicht gerade viel Geld, ihm aber eine große Befriedigung und Zeit zum Schreiben brachte. Bis ihn Lois Ampler, die Schulleiterin, am letzten Novembertag des Vorjahrs in ihr Büro gebeten hatte.

„Marc, wir haben ein Problem.“ Lois’ verhärmtes Gesicht war noch ernster als sonst gewesen. „Das Erziehungs-Departement geht uns jetzt ans Eingemachte.“

Marc runzelte die Stirn. „Sprechen wir von weiteren Budget-Kürzungen?“

Lois nickte, die fahlen Lippen zusammengepresst. „Und zwar volles Rohr. Wir sind zu einem weiteren Stellenabbau gezwungen.“

Marc schien es, als wären alle Uhren der Welt gleichzeitig stehengeblieben. Nur drei Monate zuvor war Dale Libovitz, der Geographielehrer, entlassen worden.

„Lois, Sie wollen mich doch nicht etwa auf die Straße setzen?“

Ihre humorlosen, klugen Augen hielten seinem Blick stand. „Es tut mir aufrichtig Leid, Marc. Wir haben nur die Wahl zwischen Ihnen und Daphney Fiddler. Daphney ist alleinerziehende Mutter – “

„ – und meine Noch-Ehefrau ist daran, mich ausbluten zu lassen!“ warf Marc ein, unfähig, seine Bestürzung zu verbergen. „Die Wohnung gehört ihr, und seit sie mich vor zwei Monaten rausgeworfen hat, lebe ich in einer Schuhschachtel von einem Studio, um über die Runden zu kommen!“

Aber er konnte es in ihren Augen lesen: Lois hatte ihre Entscheidung getroffen. Einen Monat nach dem Gespräch hatte Marc seinen Schreibtisch geräumt.

Wieder wanderten seine Augen zurück zu dem geheimnisvollen Inserat.

KAUFE IHRE ALTE GESCHICHTE

Er überlegte, ob es sich bei der Anzeige um einen schlechten Scherz handelte. Vielleicht war der Inserent jemand, der sich über erfolglose Autoren wie Marc lustig machen wollte? Oder war die Botschaft ganz anders zu verstehen, und der Verfasser der Annonce interessierte sich einfach für die Biographie älterer Zeitgenossen? Marc hielt dies für äußerst unwahrscheinlich. Oder gab es tatsächlich Menschen, die nicht veröffentlichte Romane kauften, um…

Ja – um was?

Wieder strich er sich über die Narbe am Kinn. Noch vor einem halben Jahr hätte er seinen Roman nur an einen etablierten Verlag verkauft, in der Hoffnung, dass der Vorschuss und die Tantiemen ihm die Tür zur professionellen Schriftstellerei öffnen würden. Selbstverlag kam für ihn nicht in Frage, auch wenn er sich bewusst war, dass seine Einstellung für seine zweiunddreißig Jahre diesbezüglich ziemlich altmodisch war. Genau so, wie er sich sträubte, einen Roman als eBook zu lesen (weil ein echtes Buch einfach aus Papier zu bestehen hatte), so war es für ihn eine Sache der Ehre, einen guten, einen richtigen Verlag zu finden, entdeckt zu werden! Waren doch jene Schriftsteller, die bei Amazon, CreateSpace oder Lulu ihre Bücher veröffentlichten, verzweifelte, narzisstische Wesen, die auch dann nach dem Rampenlicht lechzten, wenn alles, was sie zu bieten hatten, nur Schall und Rauch war. Verlierer, die nicht mit der Tatsache umgehen konnten, dass sie als Schriftsteller das Mittelmaß nie übersteigen würden. Ein befremdlicher Gedanke schoss Marc durch den Kopf. AuchHermes würde mich dafür verachten, wenn ich ihn und seine Geschichte im Selbstverlag veröffentlichen würde. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und las nochmals die Nummer unter dem Inserat.

(212) 876-1111.

Eine Telefonnummer aus Manhattan also. Kein Kommentar, keine Email-Adresse, nicht die geringste Erklärung, was für ein Sinn oder Zweck sich hinter dem Inserat verbarg. Wirklich merkwürdig. Er dachte an sein beinahe leeres Bankkonto. An die 5000 Dollar, die er Tom noch schuldete. An sein altersschwaches Taxi, das jeden Moment den Geist aufgeben konnte. An die destruktive, sich in die Länge ziehende Kampfscheidung. Was, wenn der Inserent tatsächlich eine interessante Summe für eine nicht veröffentlichte Geschichte herausrückte? Was, wenn es sich um einen gerissenen Verleger handelte, der mit dieser Taktik an vielversprechende, von anderen Verlagen verkannte Manuskripte herankommen wollte und diese dann gewinnbringend unter eigenem Namen veröffentlichen konnte, ohne den Erlös mit dem Autor zu teilen?

Marc startete den Motor, die Augen auf die Kühlwassertemperatur gerichtet. Der Zeiger war in den orangen Bereich gesunken. Schon besser. Er beschloss, noch einen Moment im Leerlauf stehen zu bleiben um sicherzugehen, dass der altersschwache Motor sich beruhigt hatte.

Sogleich wanderte Marcs Aufmerksamkeit wieder zum Inserat zurück. Habe ich überhaupt eine Wahl? Der finanzielle Notstand stand nicht vor der Tür, nein – er hatte sich bereits bei ihm einquartiert! Schon jetzt sah er sich gezwungen, sieben Tage die Woche zu arbeiten, von früh bis spät, um über die Runden zu kommen. Und wenn das Taxi nun endgültig zusammenbrach…?

Gedankenverloren rieb er sich die Narbe am Kinn, ein Souvenir von einem besonders harten Ninjutsu-Sparring gegen einen übereifrigen jungen Mexikaner.

Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn und richtete seine Aufmerksamkeit auf eine dringendere, eine höchst unangenehme Frage. Würde ich meine Geschichte, mein Manuskript wirklich verkaufen? Meinen ersten Roman einfach aufgeben?

Marcs Finger öffneten und schlossen sich rhythmisch um das Lenkrad. Was würden Sie mir für meinen Roman bieten, Mr. Unbekannt? Sein Blick schweifte hinüber zur anderen Straßenseite, zu einer grell leuchtenden Reklametafel, auf der gerade ein rotierendes Rouletterad zu sehen war, offenbar eine Werbung für ein Casino. Marcs Geist ging auf Wanderschaft, flog mit Lichtgeschwindigkeit in ein Casino, das er vor Jahren in Las Vegas besucht hatte. Das Caesars Palace Casino… genau. Mühelos visualisierte er die unendlichen Reihen von Glücksspielautomaten, die Roulette-Tische mit ihren wirbelnden Rädern, das Klirren von Münzen, wenn jemand den Jackpot knackte, die Berieselungsmusik im Hintergrund. Er sah sich selbst über den unruhig gemusterten Teppich gehen, sah, wie er eine Münze in einen der einarmigen Banditen warf, einem wild blinkenden Kasten mit aufgemalten Rosen, Säbeln und Pistolen, sah seine eigene Hand, die nach dem Hebel griff und ihn kräftig herunterzog. Vier Zahlenrollen schwirrten im Kreis herum, verschwommene schwarze Streifen auf weißem Hintergrund.

„Was würden Sie mir für den Roman bieten“, flüsterte Marc, und vor seinem geistigen Auge wurde die äußerste Rolle rechts langsamer und blieb mit einem leisen Klicken stehen.

Eine Null.

Die zweite Rolle von rechts... klick, eine weitere Null. Klick. Noch eine Null! Marc starrte auf die Zahlenrolle ganz links, auf die vierte Rolle, die über alles entscheiden würde. Eine Niete?1000? 3000? Was wird es sein? Immer langsamer rotierte die Rolle, bis auch sie stehenblieb. Klick.

Eine Neun.

Die Zahl, mit offenen Augen phantasiert, war so real, dass er sie beinahe berühren konnte.

9000!

„Ich biete Ihnen 9000 Dollar, Mr. Renner.“

Unwillkürlich hatte Marc seine Stimme so verstellt, dass er sich wie ein älterer Mann anhörte – und in jenem Moment wusste er mit felsenfester Sicherheit, dass es keine Frau war, die hinter dem Inserat steckte, sondern ein Mann. Ein alter Mann.

9000 Dollar.

Er ließ die visualisierte Zahl auf der Zunge zergehen. 5000, um die Schulden bei Tom zu tilgen. 2000, um sein Taxi in Schuss zu bringen. Und 2000 für die Miete der nächsten drei Monate. Oder er würde sich eine einmonatige Auszeit gönnen und jede gottverdammte Highschool, jedes College in Manhattan und den benachbarten Bezirken persönlich abklappern, bis er einen der Direktoren überzeugt hatte, dass er der Lehrer war, auf den sie gewartet hatten. Bei Gott, ich könnte sogar nur zu 70 Prozent als Lehrer arbeiten und endlich an meinem neuen Roman weiterschreiben!

Ach ja? meldete sich eine kühle innere Stimme. Ein Schriftsteller, der sein erstes und einziges Werk für ein Butterbrot an einen Unbekannten abgibt, will tatsächlich weiterschreiben?

Marc ließ den Arm aus dem Fenster hängen und trommelte mit den Fingern auf die leicht verbeulte Tür des Taxis. Obwohl sich die Sonne bereit im Sinkflug Richtung Skyline befand, war das Blech immer noch warm, beinahe heiß.

Niemand sagt, dass ich meinen Roman verkaufe, dachte er trotzig. Ich spiele nur mit dem Gedanken.

Er griff in die Hosentasche und zog seine drei Entscheidungssteine hervor – drei haselnussgroße Halbedelsteine, weiß, schwarz und rot. Fünf Jahre bereits trug er die Steine mit sich, seit einem äußerst lehrreichen Ninjutsu-Seminar in Kyoto, wo ihm der Großmeister Toshikatsu Watanabe die Steine in Anerkennung von Marcs besonders präzisem Kampfstil geschenkt hatte. Er schüttelte die Steine in der geschlossenen Hand und zog dann ohne hinzuschauen einen der Steine hervor.

Weiß.

Entschlossen griff er nach dem iPhone in der Ablage. Er warf nochmals einen Blick auf die Nummer unter dem Inserat und merkte, dass er sie bereits auswendig kannte. 9000 Dollar, ermahnte er sich, während er die Nummer tippte. Keinen Cent weniger.

Marc schaute auf die Temperaturanzeige des Kühlwassers. Beinahe im grünen Bereich. Er atmete tief durch und tippte die Nummer in den Touchscreen ein.

Der Anruf

Sonntag, 22. Juli, 17.49 Uhr

Das Freizeichen ertönte. Einmal. Zweimal.

„Janoda!“ dröhnte es aus dem Hörer, und Marc zuckte zusammen. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war ohne Zweifel die eines alten Mannes – allerdings eines kraftvollen alten Mannes. Verwegen, dachte Marc und sah vor seinem geistigen Auge einen rüstigen, braungebrannten Rentner, dem das Wort Ruhestand ein Fremdwort und ein Gräuel war.

„Mr. Janoda, mein Name ist Renner. Marc Renner. Ich habe Ihr Inserat gelesen.“

„Was für ein Inserat denn?“ fragte Janoda munter. „Sie müssen wissen, ich handle mit vielen Dingen!“

„Das Inserat aus der heutigen Times. ‚Kaufe Ihre alte Geschichte‘.“

„Ach, dieses Inserat!“ Das Lachen des alten Mannes war ebenso jugendlich wie ansteckend. „Das hab ich wohl ziemlich kryptisch formuliert, nicht wahr?“

„In der Tat“, erwiderte Marc vorsichtig. „Ich nehme an, dass die Annonce kein Jux ist?“

„Oh nein!“ rief Janoda. „Nicht die Bohne! Nur eines meiner vielen spleenigen Hobbys. Haben Sie denn eine spannende Geschichte auf Lager, die Sie nicht mehr brauchen?“

Und wie ich sie brauche, dachte Marc düster. Aber das Wasser steht mir bis zum Hals.

„Ich habe einen Roman geschrieben, Mr. Janoda. Einen guten Roman, wie ich glaube. Leider hatte ich mit der Suche nach einem Verlag bisher kein Glück, und ich bin momentan in einem ziemlichen finanziellen Engpass. Darf ich fragen, von was für einem Preis wir da etwa reden?“

„Oh, bitte nicht am Telefon!“ Janoda hüstelte und senkte die Stimme. „Wenn es Ihnen recht ist, treffen wir uns zu einem Bier, um die Sache in Ruhe zu besprechen. Wenn Sie möchten, noch heute!“

„Mr. Janoda, ich – “

„Nennen Sie mich Samael! Oder noch besser Sam. Und ich nenne Sie Marc. Damit stellen wir ein Vertrauensverhältnis her, und ich werde ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich versuche, Sie über den Tisch zu ziehen.“

Marc lächelte. Der Typ war sympathisch!

„Ist mir recht, Sam.“

Janoda räusperte sich. „Nicht, dass ich meine eigenen Chancen schmälern möchte, aber haben Sie einmal darüber nachgedacht, Ihren Roman im Selbstverlag herauszubringen, junger Mann?“

„Hab ich. Und Selbstverlag kommt für mich nicht in Frage.“

„Die Brandmarkung des Möchtegerns, ja?“

Marc schob die Brille hoch. Konnte der Alte Gedanken lesen oder war die Situation so offensichtlich?

„Sie sagen es, Mr. Jano– “

„Sam! Bitte! Das klingt so unendlich viel jünger als ‚Mr. Janoda‘!“ Da war wieder jener spritzige Humor, ja, Schalk in der Stimme des Alten.

„Sam, natürlich.“ Neben Marc dröhnte ein Tankwagen vorbei und jagte eine Dieselwolke durch das offene Fenster. „Ich rufe in erster Linie an, um von Ihnen zu hören, wie viel Ihnen mein Roman wert wäre. Aber ehrlich gesagt bin ich auch neugierig zu erfahren, was Sie damit zu tun gedenken. Wenn Sie ihn einfach lesen möchten, leihe ich Ihnen das Manuskript gerne auch gratis.“

„Oh, ich weiß ja noch gar nicht, ob ich Ihren Roman überhaupt kaufen will!“ rief Janoda vergnügt. „Zuerst muss ich wissen, ob er die richtigen Zutaten hat.“

„Zutaten?“

„Genau. Doch das bespreche ich lieber unter drei Augen mit Ihnen.“

„Drei Augen….?“

„Jawohl, mein junger Freund, drei. Mein rechtes Auge habe ich 1951 im Korea-Krieg eingebüßt, durch ein Stück Schrapnell, das mir beinahe noch das Gehirn weggesäbelt hätte. Was mich nicht daran gehindert hat, mehr von der Welt zu sehen als die meisten Zweiäugigen!“ Janoda lachte leise in sich hinein. „Also, Marc, wie stehen die Aktien – hätten Sie heute Abend Zeit für ein unverbindliches Treffen? Ich gebe eine Runde aus! Dann können wir in aller Ruhe besprechen, ob wir ins Geschäft kommen.“

Marc zögerte. „Heute Abend habe ich bereits eine Verabredung.“

„Schriftstellerzirkel, ja?“

Marc war verblüfft. „Woher wissen Sie das?“

Wieder kam das jugendliche Lachen durch die Leitung. „Wohlbegründete Vermutung? Die Intuition des Greisenalters? Wer weiß! Wie wäre es mit einem Treffen nach Ihrem Zirkel?“

Marc warf einen Blick auf die Uhr an seinem Taxameter. „Nun, der Zirkel dauert bis etwa neun Uhr abends. Ich weiß nicht, ob Ihnen das zu spät ist?“

„Bei allen Heiligen, nein!“ Diesmal war das Lachen leiser, als amüsierte sich Janoda über einen Insiderwitz. „Ich bin zwar alt, aber ich bin eine richtige Nachteule. Böse Zungen würden es wohl als senile Bettflucht bezeichnen. Was sagen Sie: halb zehn im Saint Patricks Pub, Ecke 42nd Street und 11thAvenue?“

Unwillkürlich fuhr Marcs Hand in die Hosentasche, berührte die Steine. Will ich das wirklich? Auf einmal erschien ihm die Hitze im Taxi trotz der offenen Fenster unerträglich, die stickigen Dämpfe von Autoabgasen und Ozon übelkeiterregend. Ich kann so nicht weiterleben!

„Das ist in Hell’s Kitchen, nicht wahr?“

„Haargenau!“ Janoda klang erfreut. „Sie kennen die Region! Waren Sie mal Taxifahrer?“

„Ich... ich bin Taxifahrer! Momentan zumindest.“ Und war das wieder nur ‚Intuition‘, Sam?

„Ausgezeichnet! Also, halb zehn im Saint Patrick’s?“

„Einverstanden, Mr. Ja– … Sam. Wie erkenne ich Sie?“

„Ich bin der Kerl, der das Durchschnittsalter im Pub um zwanzig Jahre erhöht! Bis später, mein Freund!“

Es klickte, und das Besetztzeichen ertönte. Marc schaute auf und bemerkte erstaunt, dass der Verkehr neben der Tankstelle so ungehindert floss, als hätte es nie die geringste Stockung gegeben. Zudem lief der alte Buick-Motor nun so ruhig wie schon lange nicht mehr. Ein gutes Omen? Die Uhr am Taxameter zeigte 17.56 Uhr. Marc beschloss, früher als sonst Feierabend zu machen, um vor dem Schriftstellerzirkel noch zu duschen. Nach einem Tag in dem hoffnungslos überhitzten Taxi fühlte er sich klebrig und schmutzig und sehnte sich nach einer Abkühlung.

Er fuhr los und machte sich eine geistige Notiz, zu Hause gleich ein Exemplar von ‚Cold Play‘ für den mysteriösen Mr. Janoda auszudrucken – und verzog das Gesicht. So muss sich eine Mutter fühlen, die ihr Kind zur Adoption freigibt. Er bog in die West 30th Street und bremste abrupt auf Schritttempo ab. Die Straße vor ihm war leer, ein Bild, das er in Manhattan nie zuvor erlebt hatte, zumindest tagsüber nicht. Und eben stand ich noch im Stau. Auf einer Ebene, die er nicht genau definieren konnte, hatte er die befremdende Ahnung, dass das Telefon mit dem alten Geschichtensammler etwas verändert hatte. Aber was?

Wenig später parkte Marc den Buick auf dem bewachten ‚Car Care’ Parkplatzgelände an der Ecke 20th Street und 10th Avenue. Von Tuan, dem vietnamesischen Parkplatzwächter, war nichts zu sehen, und Marc hängte den Autoschlüssel in das kleine hölzerne Wärterhäuschen. Er verließ das Parkplatzgelände und bog nach links um die Ecke, wo eine Betontreppe zum High Line Park hinauf führte. Nach zehn bis zwölf Stunden im Taxi war es stets ein Genuss, auf der alten Hochbahntrasse mehrere Meter über den Straßen von Manhattan zwischen Bäumen, Wiesen und Blumen nach Hause zu joggen, statt inmitten von hupenden Autos und Abgaswolken.

Oben auf der Trasse spähte Marc zum seit Tagen wolkenlosen Himmel empor, in dessen Blau sich bereits die ersten Violetttöne des nahenden Abends mischten. Wenn ich morgen wieder zum Himmel schaue, werde ich eine große Entscheidung getroffen haben. Er fröstelte, dann trottete er los in Richtung Süden, zum Ende des ehemaligen Bahndamms bei der Gansevoort Street. Für einen kurzen Augenblick zuckte der alte, krampfartige Schmerz in der linken Hüfte auf, der Schmerz, der ihn seit einem hässlichen Skiunfall in den Rocky Mountains vor zwölf Jahren begleitete. Er biss die Zähne zusammen und joggte weiter. Wie gewöhnlich flaute der Schmerz allmählich ab, wurde zu dem dumpfen Druck im Hintergrund, mit dem Marc zu leben gelernt hatte. Locker trabend dachte er an die Verabredung mit Janoda, jenem rätselhaften alten Mann mit dem spleenigen Hobby, unveröffentlichte Geschichten zu sammeln. Ein Mann, der trotz seines offenbar hohen Alters vor jugendlichem Tatendrang förmlich zu strotzen schien.

Janoda… merkwürdiger Name. Klingt das Griechisch?

Marcs Gedanken wanderten zu seinem ehemaligen Kollegen Akylas Rafailidis, dem jovialen Athener, der an der Dwight Johnson High School während den Pausen oft so begeistert über die griechischen Götter referiert hatte, weil diese ‚so herrlich menschlich‘ waren. Marc erinnerte sich an einen frostig kalten Märztag, an dem Rafailidis im Lehrerzimmer über die weniger bekannten Gottheiten der griechischen Mythologie referiert hatte. Mit einer Tasse von seinem berüchtigten Pulverkaffee in der Hand hatte der patriotische Grieche einen Gott erwähnt, der in gewisser Weise der unbekannte Zwilling von Chronos, dem Gott der Zeit, war. Kairos, dachte Marc, überrascht, wie klar die Erinnerung auf einmal kam. Der Gott der Entscheidung... und des günstigen Zeitpunkts.

„Poseidippos von Pella hat ein berühmtes Gedicht über Kairos verfasst“, hatte Rafailidis, der sein Wissen nur zu gerne zum Besten gab, mit geübter Rednerstimme verkündet. „Eine Stanze davon, liebe Kollegen, solltet ihr euch merken:

‚Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet. Warum bist du am Hinterkopf kahl?Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten bin, wird mich auch keiner von hinten erwischen, so sehr er sich auch bemüht.’“ Marc atmete tief durch und rannte etwas schneller.Kairos... Möge er mir heute Abend beistehen.

Der Schreibzirkel

Sonntag, 22. Juli, 18.21 Uhr

Den Strahl auf das Gesicht gerichtet, ließ Marc das kalte Wasser über seinen nackten Körper fließen. Nach der brütenden Hitze im Taxi und dem abendlichen Lauf über die Hochbahntrasse war die Dusche eine wahre Ekstase, und Marc genoss die Abkühlung so lange, bis seine Haut vor Kälte prickelte.

Er stieg aus der engen Duschkabine, rubbelte sich halbwegs trocken und tastete nach seiner Brille, die auf dem Waschtisch unter dem gesprungenen Badezimmer lag. Die Brille war ihm, vor allem was den Sport betraf, nicht gerade angenehm. Mit Kontaktlinsen sah er wesentlich schärfer, doch leider vertrug er diese kleinen Plastikscherben, die man sich gegen jeden Instinkt auf die Hornhaut aufsetzte, überhaupt nicht. Marc war kein eitler Mann, dennoch hatte er nicht vergessen, wie Helen ihn während einem ihrer herrlich romantischen Rendezvous am Hudson River die Brille abgenommen, ihn lange betrachtet und dann mit dem jungen Mickey Rourke verglichen hatte.

Mit den Fingern kämmte er sich das noch nasse Haar zurück, betrachtete sich im Spiegel und stellte fest, dass sein kantiges, sonst gutgeschnittenes Gesicht erschöpft, irgendwie gehetzt wirkte, die kastanienbraunen Augen unstet – das Gesicht eines Mannes auf der Flucht. Sein Blick glitt über seinen Körper. Seine vom Ninjutsu trainierten Muskeln waren immer noch gut sichtbar, aber nicht mehr so klar definiert wie noch vor einem Jahr. Er überschlug die Sache kurz im Kopf und kam zu dem ernüchternden Schluss, dass er in den letzten Monaten kaum mehr als zweimal die Woche trainiert hatte – im Gegensatz zu früher, als er fünfmal wöchentlich zum Training ging. Muss mich am Riemen reißen, dachte er missmutig. Den lieben langen Tag hock ich im Taxi rum. Er nahm sich vor, gleich ab nächster Woche wieder hart zu trainieren. Das Sparring würde ihm auch Gelegenheit geben, seine wachsende Frustration auf gesunde Art loszuwerden.

Er warf das Handtuch über die Stange, schlüpfte in ein paar verwaschene Boxershorts und tappte, nasse Spuren hinterlassend, in den einen Raum des winzigen Studios, der ihm gleichzeitig als Wohn-, Schreib- und Schlafzimmer diente. Vor einem Dutzend übereinander gestapelten Apfelsinenkisten, die ihm auch nach acht Monaten noch ‚provisorisch‘ als Büchergestell und Kleiderschrank dienten, lag eine dünne Futonmatratze, daneben ein altmodischer Radiowecker, dessen grüne Digitalzahlen nervös flimmerten. Schräg vor dem Fenster stand ein antik anmutender, blecherner Klapptisch, darauf der ebenfalls ziemlich veraltete Laptop. Marc hatte den Blechtisch – moosgrün mit einem Art-déco-Girl, das sich in einem riesigen Champagnerglas rekelte – samt dem dazu passenden Klappstuhl am Green Flea Market an der Columbus Avenue gekauft und bald festgestellt, dass er viel lieber an dem wackeligen Klapptisch arbeitete als an dem sperrigen Teakholz-Schreibtisch, den er nach dem Auszug aus Susans Wohnung verkauft hatte. Der Klapptisch stand an dem einen Platz, der wenigstens ein paar Stunden täglich von der Sonne beschienen wurde. Zudem war dies der einzige Ort, von dem er beim Schreiben aus dem offenen Fenster auf die Bleecker Street hinausschauen konnte. Neben dem Fenster stand in einem wuchtigen, rustikalen Terrakotta-Topf eine stattliche Yuccapalme und beugte ihren Stamm lichthungrig in Richtung Straße, in Richtung Sonne.

Das Fenster und die spärliche Aussicht halfen Marc, das bedrückende Engegefühl, welches das Studio in ihm auslöste, zu mildern. Dennoch war das Studio in gewisser Weise ein Glücksfall gewesen. Da sich der Eigentümer die seit Jahrzehnten anstehenden Reparaturen hartnäckig ersparen wollte, war die winzige Bleibe günstiger als die meisten vergleichbaren Studios in den Außenbezirken Manhattans.

Von oben dröhnten die Basstöne des Fernsehers von Mrs. Delaney, der ebenso freundlichen wie schwerhörigen alten Dame im Stock über Marc. Er schaute zur rissigen Decke und verdrehte die Augen. Muss mir das mit den Ohrstöpseln nochmals überlegen. Sein Blick glitt über das dicke Manuskript auf dem Laptop. Noch vor der Dusche hatte er es für Janoda ausgedruckt, gelocht und sorgfältig mit Hanfschnur gebunden. In dicken schwarzen Courier-Buchstaben stand auf der Titelseite

COLD PLAY by Marc Renner

Noch während er den Titel las, formte sich ein Kloss in seiner Kehle. Ich kann das nicht tun! Er kämpfte gegen den plötzlichen Impuls, Janoda anzurufen und das Treffen abzusagen.

„Keine Wahl.“ Seine Kiefermuskeln spannten sich an. „Keine gottverdammte Wahl.“

Seine Augen wanderten zu dem Stapel Post neben dem Laptop, und sein Mund wurde hart. Über die letzten Monate hatten sich die Postsendungen zu einer wahren Bedrohung entwickelt. Rechnungen, und noch mehr Rechnungen. Und jede brachte ihn näher an den Punkt, wo es einfach nicht mehr weitergehen würde. Jedes Mal, wenn er auf einem der Umschläge ein dunkelblaues A.F. sah – den Initialen von Andrew Forbes, des Anwaltes, den er sich dank Susans juristischen Winkelzügen hatte nehmen müssen – schoss sein Puls in die Höhe. Forbes nahm 330 Dollar die Stunde und war damit immer noch einer der günstigeren Anwälte Manhattans. Marc nahm den Plastik-Brieföffner mit dem Aufdruck Joe’s Steak Shack und schlitzte die Umschläge einen nach dem anderen auf. Kein A.F. – dafür eine Rechnung von 239 Dollar für den Vergaser, den er vor zwei Wochen hatte ersetzen lassen. Eine Werbung für Ayurveda-Behandlungen in Soho. Eine weitere Rechnung, 145 Dollar, für das Ausflicken eines Reifens. Die alte Schrottkiste kostet mich bald mehr als sie einbringt! Er überschlug die Zahlen im Kopf und kam auf das ernüchternde Resultat, dass ihm nach Bezahlung der heutigen Rechnungen noch knapp 380 Dollar auf dem Konto verblieben.

380 Dollar cash. Und 5000 Schulden bei Tom.

Missmutig öffnete er die übrigen Briefe. Noch mehr Werbung – und zwei weitere Absagen bezüglich seines Romans. Absagen von unbedeutenden, winzigen Verlagen, aber dennoch Absagen. Das macht dann 69. Er starrte finster auf das frischgedruckte Manuskript auf dem Tisch, die Enttäuschung bitter in seinem Mund. Unwillkürlich schlug er die flache Hand auf die Titelseite. Genug ist genug! Für 9000 Mäuse konnte der alte Mann seine Geschichte haben. Und falls er feilschte, würde Marc sie ihm auch für weniger überlassen.

Der Gedanke brachte ihn zurück zum Telefonat, das er vor knapp einer Stunde mit Janoda geführt hatte. Wie hatte der Alte gesagt? ‚Nennen Sie mich Samael! Oder noch besser Sam.‘

Nachdenklich rieb sich Marc das Kinn. Samael. Nicht Samuel. Er überlegte, ob er den Namen schon einmal gehört hatte. Irgendetwas daran klang… falsch. Vielleicht habe ich mich einfach verhört. Er blickte zum Radiowecker am Kopfende des Futons. 18.37 Uhr. Zeit, mich auf den Weg zu machen. Rasch schlüpfte er in ein braunes Bubba Gump-T-Shirt und eine legere Chinohose, steckte das Manuskript in seinen abgewetzten Samsonite-Aktenkoffer und verließ das Studio. In dem kleinen Buchantiquariat im Erdgeschoss brannten noch alle Lichter. Dan Peddler, ein verschworener Demokrat und Inbegriff des intellektuellen Bücherwurms, hatte wohl schon etliche Nächte zwischen den alten Buchregalen verbracht. Als er Marc durch die Schaufensterscheibe sah, öffnete er die Ladentür und winkte ihm zu.

„Morgen, Marc!“ rief er. „Gute Nachrichten für Sie. Nächste Woche kriege ich ein nummeriertes Exemplar von Poe’s Lighthouse rein. Limitierte Auflage, ein wunderbares Stück.“

„Danke, Dan. Haben Sie schon einen Preis?“

Peddler winkte ab. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Sie kriegen wie immer einen Spezialpreis!“

Marc lächelte. „Herzlichen Dank. Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie’s haben?“

„Selbstverständlich! Einen schönen Abend Ihnen!“

Marc lief die Bleecker Street hinauf, in Richtung Meatpacking District, der Aktenkoffer eigenartig schwer in seiner Hand. Obwohl er noch keine Entscheidung getroffen hatte, ob er Janoda das Manuskript wirklich verkaufen wollte, fühlte er sich wie ein Verräter. Abraham der Zweite. Von einem grausamen Schicksal gezwungen, seinen Erstgeborenen zu opfern. So jenseitig die Idee war, konnte sich Marc kaum von der Vorstellung lösen, dass er kurz davor stand, einen Frevel zu begehen und seiner Hauptfigur, Hermes Jackson, das Messer in den Rücken zu stoßen. Abscheulicher als ein neuzeitlicher Jago. Er dachte an die Kollegen vom Schreibzirkel. Was würden sie sagen, wenn sie von seinem Vorhaben erfuhren? Würden sie entrüstet sein? Entsetzt? Enttäuscht? Was würde Helen dazu sagen? Sie dürfen nichts davon erfahren. Nicht heute.

Der heutige Schriftstellertreff fand bei Tom statt. Marc hatte den BLC – den ‚Better Letter Club‘ – vor zwei Jahren zusammen mit Tom Cummins und Allan Wanton gegründet. Ursprünglich ‚The Pen-Tangle Club‘ genannt (in Anspielung auf den fünfzackigen Stern, der den Mitgliedern wie ein Pentagramm als Talisman dienen sollte), wurde der von Marc bei einem weinseligen Abend scherzhaft geäußerte Begriff ‚Better Letter Club‘ auf Anhieb von allen Mitgliedern übernommen, bis der alte Titel in Vergessenheit geriet. Der BLC war inzwischen auf acht Mitglieder angewachsen und offen für weitere Autoren, die mindestens einen Roman geschrieben hatten. Keines der Mitglieder hatte es bisher geschafft, einen Roman bei einem etablierten Verlag zu veröffentlichen, was den Zyniker Rick dazu verleitet hatte, den BLC neu als ‚Blatant Loser Club‘ – als ‚Club der Himmelschreienden Verlierer‘ – umzubenennen.

Wie jedes Mal, wenn Marc am monatlichen Schriftstellertreffen teilnahm, erinnerte ihn dieses unangenehm an die Tatsache, dass die Begegnungen nie bei ihm stattfinden konnten. Marcs Studio war einfach zu winzig, um die acht Personen des Zirkels zu beherbergen, und wenn es mit seinen Finanzen weiterhin so rasch bergab ging, würde er sich selbst das Studio nicht mehr lange leisten können.

9000 Dollar.

Marcs Kiefermuskeln spannten sich an. Allmählich wurde der Betrag zu einer magischen Zahl, zu einer fixen Idee. Wie maßlos überromantisiert schien doch das Bild des zwar brotlosen, dafür von gesellschaftlichen Zwängen freien Schriftstellers, wenn man mit 32 Jahren auf einmal vor dem Nichts stand!

Der Gedanke an sein eigenes Alter ließ eine weitere Erinnerung an Janodas Worte aufflackern. ‚Haben Sie einmal darüber nachgedacht, Ihren Roman im Selbstverlag herauszubringen, junger Mann?‘ Marc überquerte die Christopher Street, aus den Augenwinkeln auf den Verkehr achtend. Woher will der eigentlich wissen, wie alt ich bin? Konnte man zwischen der Stimme eines 30-jährigen und eines 55-jährigen wirklich unterscheiden? Oder war der Alte selbst ein solches Fossil, dass ihm jeder Mensch unter siebzig jung vorkommen musste?

An der Ecke Christopher/10th Street kaufte Marc sich bei Caruso’s Takeaway ein Stück Peperoni Pizza und eine Dose Arizona Green Tea zum Mitnehmen. Obwohl die Schwüle des späten Nachmittags etwas milder geworden war, klebte ihm bereits auf halber Strecke zu Toms Apartment das T-Shirt am Rücken. Nachdenklich kaute er seine Pizza. 9000 Dollar. Ein neues Taxi – oder eine Auszeit, eine Schreibzeit für meinen neuen Roman? Ein unerwartet hässlicher Gedanke drängte sich ihm plötzlich auf. Was, wenn der sonderbare Kauz mir für den Roman nur 500 Dollar bietet? Oder meine Geschichte gar nicht will?

Marc hatte die Horatio Street erreicht. Er spülte das letzte Stück Pizza mit dem Rest des inzwischen lauwarmen Grüntees herunter und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Bis zu Toms Loft war es nur noch ein Häuserblock. Werden mir meine Schreibkumpels was anmerken? Er zerdrückte die Dose und warf sie in einen Mülleimer am Straßenrand, auf den jemand einen grünen Wahlsticker mit der Botschaft ‚Huxley for President!’ geklebt hatte.

Eine unangenehme Gespanntheit hatte von Marc Besitz ergriffen, saß ihm im Nacken wie ein boshafter Affe. Würde er beim BLC überhaupt noch dazugehören, falls er dem eigenartigen alten Mann seinen Roman tatsächlich verkaufte? Was hatte Chuck Kempsky bei einem ihrer Treffen gesagt: ‚Ein wahrer Schriftsteller veröffentlicht sein Buch – oder kämpft bis zum letzten Atemzug dafür.‘ Marc strich sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Und Idealisten sterben vor ihrer Zeit.

Toms Wohnung an der Horatio Street lag in einer Wohngegend, die Marcs sehr ähnlich war – nur, dass Tom in einem herrlich weiträumigen Loft wohnte, einem Loft mit Klimaanlage und Aussicht auf den Hudson River. Tom war ein herzlicher, gesprächiger Typ, ausgestattet mit dem tapsigen Charme eines übergroßen Bernhardinerbabys. Seine vorzeitige Kahlköpfigkeit vertuschte er seit Jahren mit einer Baseballmütze und einem Kinnbart, und Marc erinnerte sich an einen angeregten Abend, an dem Allan – mit 56 Jahren der Älteste im BLC und unausgesprochener Vorsitzender – im Brustton der Überzeugung behauptete, dass Tom die Mütze sogar im Bett anbehielt, weil er sich selbst ohne sie im Traum selbst nicht wiedererkennen würde. Tom teilte sich sein Leben auf zwischen einem einträglichen Job als IT-Freelancer und einem absolut brotlosen als Schriftsteller. Er hatte zwei historische Romane im Selbstverlag herausgegeben und insgesamt etwa sechzig Bücher verkauft, die meisten davon an Freunde und Familie. Das Los, dachte Marc düster, das fast allen Schriftstellern zuteil wird. Und dennoch hofft jeder, die Ausnahme zu sein. Er drückte die Klingel, vor seinem inneren Auge das Cartoon-Bild, das Susan vor Jahren einmal ausgeschnitten und an den Kühlschrank geheftet hatte; auf dem Bild standen tausende von identischen Pinguinen auf einer Eisfläche, während ein einziger die Flügel emporstreckte und lauthals schrie „Lass es mich sein! Lass es mich sein!“

Es surrte, und Marc drückte die Tür auf. Er nahm die Treppe zum fünften Stock, wo ein grinsender Tom ihn mit einem High Five abklatschte.

„Yo, Marc, Alter, was geht ab? Komm rein, der harte Kern ist schon da!“ Jovial schlug er Marc auf die Schulter, doch hinter Toms fröhlicher Miene konnte Marc etwas Bedrücktes herausfühlen.

„Alles im Grünen, Tom. Und bei dir?“

Tom zuckte mit den Achseln und rückte die Baseballmütze mit dem Apple-Logo zurecht.

„Kann nicht klagen.“ Er sah Marcs skeptischen Blick und verdrehte die Augen. „Okay, okay, für Lippenbekenntnisse kennen wir uns zu lange. Ich hätte eigentlich nichts zu klagen, aber ich hab gegenwärtig einen kleinen moralischen Durchhänger. Leider einen, den man nicht mit Viagra kurieren kann.“

Er lachte halbherzig über seinen eigenen Witz und führte Marc in den riesigen Wohnraum, wo bereits Allan, Chuck und Rick um einen Clubtisch saßen, feuchte Budweiserdosen in der Hand und lebhaft über etwas debattierten. Marc bemerkte Ricks wie üblich verkniffenen Ausdruck und fragte sich einmal mehr, warum sie den griesgrämigen, überkritischen Prokuristen überhaupt in den Zirkel aufgenommen hatten.

Auf dem Tisch standen, wie Marc befürchtet hatte, Plastikschalen mit Kartoffelchips, Erdnüssen, Dosenwürstchen und Gummibärchen. Ein Lob auf die Pizza.

Marc begrüßte die drei Männer mit einem Handschlag.

„Na“, rief Chuck fröhlich, „wie geht’s unserem jungen Taxi-Karateka?“

„Staublunge und Großstadt-Existenzangst“, grinste Marc, „sonst alles in Butter. Und ihr?“