Tödlicher Schlaf - Christoph Elbern - E-Book
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Tödlicher Schlaf E-Book

Christoph Elbern

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Beschreibung

Gefährliche Experimente.

Hamburg, 1907. Im Hafenkrankenhaus begegnet der Bakteriologe Carl-Jakob Melcher einem Schulfreund. Ludolf Harberg ist sehr angeschlagen durch die Schlafkrankheit. In seinen wachen Momenten erzählt er von seinen Erlebnissen in Ostafrika – von den Experimenten, die der Mediziner Robert Koch angeblich an Einheimischen unternommen hat. Bevor er Genaueres erzählen kann, stirbt Harberg. Für die Ärzte eine Folge seiner Krankheit, doch Carl-Jakob glaubt an Mord und beginnt zu ermitteln, ohne zu ahnen, dass es nicht der einzige Todesfall in seiner Nähe bleiben wird und dass auch er in Verdacht gerät ... 

Spannend und voller überraschender Wendungen – Carl-Jakob Melcher, Mediziner am Hamburger Tropeninstitut, muss einen verdeckten Mord aufklären.

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Seitenzahl: 441

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Cover for EPUB

Über das Buch

Carl-Jakob Melcher möchte sich als Bakteriologe eigentlich nur seiner Forschungsarbeit widmen, als plötzlich aus London die Opernsängerin Agatha Rosenberg anreist, um sich in Hamburg für ein Engagement an der Oper zu bewerben. Agatha, die in London der Suffragettenbewegung nahestand, bringt nicht nur viel Unruhe ins Haus seiner Tante Isolde Knudsen, bei der Carl-Jakob immer noch wohnt, sie mischt sich auch vehement in das politische Leben der Hansestadt ein, was nicht überall gern gesehen wird.

Zudem wird Carl-Jakob ins Hafenkrankenhaus gerufen. Ein Patient ist aus Afrika eingeliefert worden. Carl-Jakob erkennt in dem Schwerkranken seinen Schulkameraden Ludolf Harberg wieder, der, an der Schlafkrankheit leidend, in seinem Zimmer dahinsiecht und ihn kaum erkennt. In seinen wenigen wachen Momenten macht Ludolf Andeutungen über seine Arbeit mit dem weltberühmten Mediziner Robert Koch – dass sie gefährliche Experimente unternommen haben, bei denen Menschen zu Tode gekommen sind. Angeblich ist er auch im Besitz geheimer Aufzeichnungen, doch darüber, wo sie sich befinden, schweigt Ludolf sich aus. Wenig später ist Ludolf tot. Die Ärzte glauben, dass er an seiner Krankheit gestorben ist. Carl-Jakob aber zweifelt daran. Mit einem Gerichtsmediziner findet er die wahre Ursache für Ludolfs Tod. Bald darauf jedoch steckt er selbst in größten Schwierigkeiten. Er soll einen Mord begangen haben.

Über Christoph Elbern

Christoph Elbern, Jahrgang 1960, hat Germanistik und Anglistik studiert und lange als Journalist gearbeitet. Er war unter anderem Chefredakteur bei »Prinz« und »TV Movie«. Seit 2010 leitet er eine Agentur für Unternehmenskommunikation in Kassel. Unter Pseudonym hat er bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Er lebt in Hamburg.

Bei Rütten & Loening erschien bisher: »Hafenmörder – Carl-Jakob Melcher ermittelt«.

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Christoph Elbern

Tödlicher Schlaf

Hamburg 1907: Carl-Jakob Melcher ermittelt

Historischer Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2 — Drei Monate zuvor

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Impressum

Wer von diesem historischen Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Kapitel 1

Noch heute habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht dabei gewesen bin an diesem Abend im Hotel. Ich weiß, dass es anders ist, ich weiß, dass ich dort war. Und doch ist es, als wäre das alles nur von einem Kinematografen auf eine Leinwand projiziert worden. Und so ist das Blut an meinen Händen und auf dem Teppich nicht rot, die verschlissenen Vorhänge des Zimmers sind nicht dunkelgrün und die hölzernen Möbel nicht dunkelbraun. Hellgraue und dunkelgraue Töne bestimmen das Bild in meinem Kopf, das ich von diesem Abend im Juli 1907 habe.

Alle anderen Details der dramatischen Ereignisse zwischen Frühjahr und Sommer dieses Jahres sind mir viel lebendiger im Kopf. Ich kann sie spüren. Alle Düfte, Geräusche, Details, Gespräche und Gedanken sind heute so lebendig und so untrennbar mit mir verbunden wie damals.

Doch ausgerechnet diese eine verheerende Situation in dieser Nacht im Hotel entzieht sich meinem Gefühl und in Teilen auch meinem Gedächtnis, und ich muss das ergänzen, was mir andere erzählt haben.

Es war viel Blut an meinen Händen. Es muss mit Druck aus ihrer Halsschlagader geschossen sein, und ich habe wohl versucht, die Blutung zu stoppen. Auf ihrer schwarzen Bluse kann von dem Blut nicht viel zu sehen gewesen sein. Ich weiß, dass unter meinen Händen das Leben aus ihrem dünnen Körper gewichen sein muss. Ich stelle mir vor, dass sie schwach gezuckt hat. Und sie hat noch etwas gesagt. Etwas, was ich in diesem Moment nicht verstand und nicht einordnen konnte, das sich aber so tief als einzige manifeste Erinnerung dieser Minuten in mein unbewusstes Denken geprägt hat, dass es mir Monate später wieder einfiel, als es wichtig wurde.

Das Zimmer habe ich hinterher nie mehr betreten. Nicht für viel Geld würde ich den Ort je wieder aufsuchen. Aus Schilderungen und von ein paar Fotografien, die ich viel später sah, weiß ich, dass es ein nicht besonders großes Zimmer mit abgenutzten Möbeln, dunklen Samtvorhängen und einer ebenso dunklen Tagesdecke auf dem breiten Bett war. Eine Absteige, wie meine reiche Tante sagen würde.

Meine Erinnerung setzt wieder ein, als ich auf dem Flur vor dem Zimmer Gepolter vernahm. Mehrere Personen versuchten offenbar, leise zu sein. Flüstern und Tuscheln auf der anderen Seite der Zimmertür. Ein Schaben, dann flog die Tür auf. Das infernalische Krachen, mit dem die Klinke gegen die Wand schlug, das Klirren von irgendetwas Gläsernem. Noch heute sehe ich die drei Männer in der Tür stehen: ganz vorne mein bester Freund, Kriminalsekretär Martin Bucher, flankiert von zwei uniformierten Schutzmännern. Ich erinnere mich an das Gefühl panischer Angst, als Martin ausrief: »Du, Carl-Jakob?«

Ich sehe mich neben der toten Frau hocken, zwischen meinem Daumen und meinem Zeigefinger ein kleines Messer, ein Obstmesser, wie man es zum Schälen von Äpfeln verwendet. Blutig dieses Messer und blutig meine Hände. Ich erinnere mich, wie ich das Messer ansah, vor meinen Augen drehte, als könnte mir dieses unschuldige Werkzeug meine Fragen beantworten. Dann erst nahm ich wahr, dass Martin eine Pistole auf meinen Kopf gerichtet hatte.

Wer einen besten Freund hat, und ich wünsche es jedem Mann und jeder Frau, einen Menschen so bezeichnen zu können, der kann vielleicht nachfühlen, was es bedeutet, von eben dieser Person tödlich bedroht zu werden.

»Lass sofort das Messer fallen«, sagte mein bester Freund.

Ich tat wie geheißen und richtete mich langsam auf.

Kapitel 2

Drei Monate zuvor

Die zuckerweiße Villa der Familie Knudsen an der Westseite der Alster in Hamburg-Harvestehude war eigentlich ein ruhiger Ort. Meine Tante, die Reederwitwe Isolde Knudsen, hatte sich nach dem Tod meines Onkels Wilhelm drei Jahre zuvor zwar nur eine kurze Trauerzeit auferlegt und schnell wieder zu sich und ins Leben gefunden, doch es gab nur noch selten Gesellschaften im Haus und wenn, dann waren es Abendessen oder Literaturzirkel, die sehr betulich abliefen.

Tante Isolde, die sich in ihrem fünfundfünfzigsten Jahr noch bester Gesundheit und Vitalität erfreute, kündigte in regelmäßigen Abständen an, dass sie das schlossähnliche Gebäude mit seinen knapp dreißig Zimmern nun endlich verkaufen werde. Für sich allein brauche sie ja nicht so viel Platz. Bei der Ankündigung war es bisher geblieben. So ganz allein lebte die Tante ja auch nicht in der Villa Knudsen. Da war noch Pauline, das neunzehnjährige Dienstmädchen, das seit einem Jahr das Haus und seine Herrin versorgte. Ein pausbäckiges, rothaariges Bauernmädchen aus Ostfriesland, das mir etwas zu laut und der Tante etwas zu vorlaut war. Aber weil Pauline eine fleißige und fröhliche Deern war, konnten wir damit leben. Köchin Maria stammte aus Italien und gehörte seit Urzeiten zum Inventar der Villa ebenso wie der Fahrer und Kutscher Johannes, der seit über zwanzig Jahren hier seinen Dienst tat. Johannes stammte aus Afrika, genauer aus dem sogenannten Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika. Der große, kräftige Schwarze hatte sich mit der Unterstützung meines Onkels eine beeindruckende Bildung angeeignet, die weit über Lesen, Schreiben und Rechnen hinausging. Wie alt Johannes war, wusste er selbst nicht genau. Ende dreißig, schätzte er. Das Geburtsdatum in seinem Pass, der ihn als Bürger des Deutschen Reiches auswies, hatte sich Onkel Wilhelm ausgedacht, als er ihm das für einen Afrikaner so wertvolle Dokument vor langer Zeit besorgt hatte.

Johannes fuhr den Mercedes-Benz Simplex, ein Automobil, das Onkel Wilhelm noch angeschafft hatte und das die Tante wegen seines Komforts und seiner Wirkung auf die Umgebung liebte und wegen seines Lärms und Gestanks hasste. Wie die Villa stand auch das Automobil auf der Liste der Dinge, die die Tante eigentlich nicht brauchte und bald verkaufen wollte. Fast genauso gerne, wie die Tante im Kraftwagen fuhr, ließ sie sich von Johannes im gepflegten Landauer kutschieren, der von den Pferden Brünhilde und Siegfried gezogen wurde.

Seit einiger Zeit war Johannes im Hause auch als eine Art Butler tätig, vor allem, wenn Gäste kamen. Es war beeindruckend, wie er zwischen Pferdestall, Automobilwerkstatt und Salon nicht nur rasch die Kleidung wechseln konnte, sondern auch seinen ganzen Habitus. War er bei den Pferden noch derbe und fluchte laut, so konnte er sich zwischen den feinen Gästen der Tante vornehm bewegen und eloquent auf Fragen antworten. Und davon gab es viele. Wer Johannes zum ersten Mal sah, wollte in ihm alle Vorurteile über den vermeintlich primitiven Menschentyp aus Afrika bestätigt wissen, und es war immer wieder eine Freude, zu sehen, wie der kluge und charmante Mann alle düpierte. Daran hatte auch Tante Isolde ihre Freude, die Johannes über alle Maßen schätzte und fast wie ein Familienmitglied ansah.

Johannes kam irgendwie auch nicht los von der Familie Knudsen. Es stand ihm frei, zu gehen und anderswo sein Glück zu versuchen. Er könnte jederzeit wiederkommen. Das hatte ihm mein Onkel zu Lebzeiten stets zugesichert, und meine Tante hielt es ebenso. Doch er blieb. Gelegentlich traf er sich mit anderen Dienstboten zum Schach oder zum Klönschnack, wie er, ganz Hamburger, sagte. Aber da wurde ihm dann häufig zu viel getrunken. Johannes selbst trank keinen Tropfen. Er hatte mir einmal erzählt, dass er als Kind in seiner Heimatstadt Lüderitzbucht mit Freunden im Hafen eine Flasche Aquavit gestohlen hatte, welche sie auch sogleich leerten. So schlecht, wie es den Jungen anschließend ging, sollte es Johannes nie wieder gehen, hatte er sich geschworen und war seitdem abstinent geblieben.

Tante Isolde hätte Johannes auch gerne zu einer Frau verholfen, doch war die Auswahl an schwarzen Frauen in Hamburg gering, und eine Verbindung mit einer weißen Frau konnte sich die Tante, vermutlich allerdings auch Johannes, nicht vorstellen.

Und schließlich lebte noch ich in der Villa Knudsen: Carl-Jakob Melcher, bald dreißig Jahre alt, von Beruf Bakteriologe mit frischem Doktortitel. Ich beschäftigte mich am Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten bei Dr. Bernhard Nocht mit ansteckenden Krankheiten aller Art.

Wilhelm Knudsen, ein Bruder meiner Mutter, und seine Frau Isolde hatten mich vor zehn Jahren, nach dem Tod meiner Eltern, bei sich aufgenommen und mir eine Zukunft ermöglicht. Nur so konnte ich das Gymnasium beenden, in Greifswald studieren und den Beruf ergreifen, der mich ausfüllt. Seit ich vor drei Jahren meine Stelle in Hamburg angetreten hatte, logierte ich bei der Familie Knudsen, und mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich die Gastfreundschaft der Tante weidlich ausnutze, wuchs.

Ebenso wie die Tante schon länger in ein kleineres Domizil umziehen wollte, so hatte auch ich vor, eine Wohnung zu suchen und einen Hausstand zu gründen. Für einen Mann meines Alters war es höchste Zeit. In den vergangenen Jahren fehlte mir jedoch zu diesem konventionellen Lebensrezept die eine wichtige Zutat: eine Frau an meiner Seite.

Mit Margot hatte ich diese Frau inzwischen womöglich gefunden. Seit einem halben Jahr traf ich mich mit der Kinderärztin. Sie war schön, klug und fröhlich. Was wollte ich mehr? Ich hatte Margot im allgemeinen Krankenhaus in Eppendorf kennengelernt, wo wir einige Wochen lang Fälle von Masern bei Kindern untersuchten. Wir fanden uns gleich sympathisch.

Händchenhalten, ein paar Küsse, manchmal schon recht leidenschaftlich. Wir gingen noch recht schüchtern miteinander um. Noch zögerte ich, den nächsten Schritt zu gehen, da es beim letzten Mal, als ich mich verliebt und große Pläne gemacht hatte, gründlich schiefgegangen war. Doch das ist eine andere Geschichte.

Tante Isolde mochte Margot, war bei ihren seltenen Besuchen höflich und respektvoll zu ihr. Aber sie machte mir gegenüber auch keinen Hehl daraus, dass sie eine studierte Frau, die einen anspruchsvollen Beruf ausübte und weiterhin ausüben wollte, nicht als geeignete Ehefrau und Mutter ansah. Das überraschte mich nicht und sollte mich nicht beeinflussen. Ich liebte Tante Isolde, doch sie war einfach noch nicht im zwanzigsten Jahrhundert angekommen.

Ich betonte eingangs, dass es normalerweise sehr ruhig im Hause Knudsen zuging. Das tat ich deshalb, weil es an einem stürmischen und viel zu kalten Maitag des Jahres 1907 schlagartig vorbei war mit der Ruhe am Harvestehuder Weg. An diesem Tag wurde kurz vor Einbruch der Dämmerung Agatha Rosenberg durchs Portal geweht. Man muss es so sagen, denn der Auftritt der jungen Frau glich eher einem bedrohlichen Wetterphänomen als einer normalen Ankunft. Hinter Agatha stolperte Johannes ins Haus, den man kaum erkennen konnte, da er einen Turm von Taschen und Koffern vor sich her balancierte, der jeden Moment zu kippen drohte. Wie sich herausstellte, war das nur ein Teil von Agathas Habseligkeiten. Weitere Stücke lagen noch im Automobil und wiederum weitere in einer Droschke, die gerade auf den Hof fuhr.

In der Halle stürmte Agatha auf Tante Isolde zu. Ein schwarzer Wirbelwind: großer schwarzer Hut mit schwarzen Federn, darunter hüpften schwarze Locken hervor, ein schwarzer Wollmantel, unter dem ein schwarzer Rock mit reichlich Spitze nicht ganz bis auf den Boden reichte, so dass man die hochhackigen schwarzen Schnürstiefel darunter gut sehen konnte.

»Tante Isolde«, rief sie aus und umarmte die Hausherrin. »Was freue ich mich, dich zu sehen.« Die vertrauliche Anrede überraschte mich. Agatha war nicht mit Tante Isolde verwandt. Sie war die Tochter einer sehr guten Freundin der Tante. Agathas Vater, der Bankier Moses Rosenberg, mit dem Onkel Wilhelm auch geschäftlich verbunden gewesen war, hatte vor zehn Jahren ein Investmentbüro an der Themse eröffnet und war mit seiner Frau und der damals siebzehnjährigen Agatha und ihrem älteren Bruder ins Vereinigte Königreich gezogen. Wie Tante Isolde mir berichtete, konnte Rosenberg sein ohnehin schon erhebliches Vermögen auf diesem Wege noch einmal vervielfachen.

»Du kennst Agatha ganz bestimmt. Sie war damals häufig mit ihrer Mutter bei uns zu Gast«, behauptete Tante Isolde, als sie mir vor einer Woche von dem bevorstehenden Besuch der Frau erzählte, aber ich erinnerte mich nicht an sie. Vor zehn Jahren hatte ich gerade mein Studium in Greifswald begonnen, und zuvor hatte ich kaum zwei Jahre im Hause Knudsen gelebt und konnte mir nicht jede Familie merken, die dort ein- und ausging.

Ich kam aus der Bibliothek, als Agatha eintraf, und blieb mit einigem Abstand stehen, um die lebhafte Begrüßung nicht zu stören. Ich beobachtete Agatha. Sie war fast so groß wie ich, also gut einen Meter und achtzig, und selbst in dem weiten Mantel wirkte sie noch dünn. Auf dem schlanken, glatten Hals saß ein schmaler Kopf. Ihr fast hageres Gesicht hatte im Profil etwas Vogelhaftes, was durch die recht spitze Nase unterstrichen wurde. Unweigerlich dachte ich: Eine Schönheit ist sie nicht, die Freundin aus London. Als Agatha mich erblickte, ließ sie von Tante Isolde ab und stürmte auf mich zu.

»Und du musst Zee-Jott sein«, rief sie. Ja, sie kreischte fast, umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Damit hatte ich nicht gerechnet. Genauso wenig wie mit der Anrede. Zee-Jott war mein Spitzname auf dem Gymnasium gewesen, den ich heute nur noch von meinem alten Freund Martin Bucher hörte. Ich war mit Agatha sicher nicht zur Schule gegangen. Sie war drei Jahre jünger als ich und hatte das Lyzeum besucht.

»Gut siehst du aus«, ergänzte sie. Natürlich hatte sie recht. Mein halblanges, blondes Haar war frisch geschnitten, den rotblonden Vollbart stutzte und pflegte ich jeden Morgen, und wenn ich wieder mit dem Rudern anfangen würde, könnte sich schnell mein Idealgewicht wieder einstellen.

Ich muss ziemlich irritiert geschaut haben, denn Agatha trat einen Schritt zurück, sah mich mit schiefem Kopf an und sagte: »Du erinnerst dich nicht an mich, oder?«

»Ja, äh«, stammelte ich.

»Das macht nichts, Zee-Jott. Du bist mit meinem Bruder zur Schule gegangen, Konstantin.«

An Konstantin Rosenberg erinnerte ich mich dunkel. Er war nicht Teil unserer Gruppe, eher ein Eigenbrötler. Ich nickte wissend.

»Ja, richtig, Konstantin.«

Agatha bezog ihr Zimmer im ersten Stock, das über ein eigenes Bad verfügte, und machte sich frisch. In diesem Zimmer hatte ich bis vor Kurzem gewohnt. Inzwischen war ich ins Erdgeschoss gezogen, in die drei Räume, die zuvor mein Cousin Adolf bewohnt hatte. Das war eigentlich zu viel Komfort für jemanden, der keine Miete bezahlte, aber Tante Isolde hatte darauf bestanden, dass ich dort wohnte, und Geld nahm sie von mir auch nicht an.

Im Speisezimmer hatte Fräulein Pauline bereits ein festliches Mahl aufgetragen, völlig unüblich für einen Dienstag. Nicht, dass Tante Isolde hätte sparen müssen. Seit dem Tod ihres Mannes und dem Verkauf der Reederei Knudsen war sie ausgesprochen wohlhabend. Aber als gläubige Lutheranerin war sie um Bescheidenheit bemüht, und dick werden wollte sie auch nicht.

Für Agatha gab es also an diesem Abend eine Ausnahme, und ich war dankbar, davon profitieren zu dürfen, denn ich war im Institut wieder einmal nicht zum Mittagessen gekommen. Agatha erschien zum Abendessen vollständig in Schwarz gekleidet. Ich war geneigt, zu fragen, ob sie in Trauer sei, verkniff es mir aber. Tante Isolde hätte mich sicher dahingehend informiert.

Agatha stürzte begeistert auf den Esstisch zu, lobte das Essen, die Düfte, das Geschirr. Sie nahm von allen Speisen wenig auf ihren Teller und aß auch davon nur einen Bruchteil. Kein Wunder, dass sie so dünn war. Andererseits hatte sie auch gar keine Zeit zum Essen, da sie unablässig plapperte und gestikulierte. Ich beobachte sie fasziniert und musste mich bemühen, sie nicht anzustarren. Sie war pure Energie, Präsenz, die keine Ablenkung zuließ. Und sie hatte einen schönen Mund. Schmale, rote Lippen, ebenmäßige Zähne. Unter der spitzen Nase wirkte dieser perfekte Mund allerdings fast karikaturenhaft.

Aus der Halle drang gelegentlich das Poltern und Schlurfen von Johannes zu uns herüber, der immer noch damit beschäftigt war, Agathas zahllose Gepäckstücke die Treppe hinaufzubugsieren.

Wir erfuhren von Agatha zunächst alle Details über die zweitägige Dampferfahrt von London nach Hamburg, über die Nachlässigkeit des Personals an Bord, die hohen Preise und die langweiligen Mitreisenden. Tiefpunkt der Reise war ein Sturm vor der Elbmündung.

»Am zweiten Tag habe ich nur noch gekotzt, sage ich euch. Es war die Hölle«, schimpfte sie und lachte sarkastisch. »So ein scheiß Dampfschiff torkelt über die Wellen wie ein Korken.«

Tante Isolde zuckte kaum merklich zusammen. Solch derbe Sprache hörte man nicht mehr im Hause Knudsen, seit mein Cousin Adolf vor drei Jahren von seiner Mutter des Hauses verwiesen worden war.

Als Agatha doch einmal einen Bissen kauen musste, nutzte Tante Isolde den Moment und stellte ein paar Fragen.

»Wie geht es deinen Eltern? Wie ergeht es dir in London, was macht deine Karriere?«

Die Antworten auf die Fragen kannte Tante Isolde, die einen regen Briefwechsel mit Henriette Rosenberg unterhielt. Sie fragte wohl eher aus Höflichkeit.

»Moses und Henriette geht es gut«, berichtete Agatha, und ich fand es befremdlich, dass sie ihre Eltern bei den Vornamen nannte. »Solange Moses das Geld verdienen und Henriette es ausgeben kann, führen sie eine glückliche Ehe. Meine Mutter ist eine Frau des neunzehnten Jahrhunderts. Es reicht ihr, auf Händen getragen zu werden. Sie will nicht selbst laufen.« Diese Bemerkung ließ Tante Isolde kurz schlucken. Mir fiel nun ein leichter britischer Akzent in Agathas Sprache auf, den sie zu unterdrücken versuchte. Manchmal suchte sie auch nach dem richtigen deutschen Wort.

»Und London ist eine richtige Stadt, eine moderne Metropole«, sagte sie, als sei sie selbst für diesen Umstand verantwortlich. »In London ist alles möglich.« Sie beugte sich vor und sah uns aus ihren tief liegenden braunen Augen an. »Wisst ihr eigentlich, dass London fast zehnmal so groß ist wie euer niedliches Hamburg? Sechs Millionen Menschen.«

»Müssen wir uns deshalb jetzt schlecht fühlen?«, fragte ich etwas gekränkt.

»Nein, müsst ihr nicht. Aber ihr könnt lernen. Die Briten sind dem Deutschen Reich zwanzig Jahre voraus, in allem.«

Mich langweilte dieser aufgesetzte Patriotismus einer Zugewanderten. Ich war gespannt, wie sie ihre Karriere beschreiben würde. Tante Isolde hatte mir erzählt, dass Agatha am Konservatorium in London eine Ausbildung zur Opernsängerin absolviert hatte. Sehr zum Leidwesen ihres Vaters, der das für Firlefanz hielt und seine Tochter lieber mit irgendeinem einflussreichen Bankierssohn oder Politiker verheiraten würde. Die große Bühne war Agatha in London aber wohl bisher verwehrt geblieben, und das war dann auch einer der Gründe, weshalb sie uns die Ehre ihres Besuches erwies. Sie erhoffte sich in der kulturellen Provinz der Hansestadt einen besseren Einstieg als Primadonna.

Tante Isolde tat mir den Gefallen, das Thema erneut anzusprechen: »Und deine Karriere?«

Hatte ich nun eine weitere großspurige Eloge über Agathas großes, verkanntes Talent erwartet, so wurde ich überrascht. Sie war erstaunlich ehrlich.

»Das hatte ich mir einfacher vorgestellt«, sagte sie und sah betreten auf ihren Teller, auf dem ein Stück gebratene Gänsebrust erkaltete. »In London gibt es viele gute Sängerinnen, und die wollen alle ans Royal Opera House. Ich bin nur eine von vielen Guten.« Sie machte eine Pause. »Vielleicht nicht mal das.«

»Aber du hast doch studiert«, sagte Tante Isolde. »Irgendjemand hat dein Talent doch erkannt und gefördert.«

»Ja, mag sein. Aber vielleicht hat die gesellschaftliche Stellung meines Vaters und vor allem sein Geld doch mehr Einfluss darauf gehabt, als ich Schaf mir eingestehen wollte.«

»Mach dich mal nicht schlecht, Kind«, beschwichtigte Tante Isolde und tätschelte Agathas Hand. »Nun bist du in Hamburg, und hier werden wir dein Talent zu schätzen wissen.«

»Du meinst also«, sagte Agatha und lächelte süffisant, »dass mein mittelmäßiger Sopran für eine kleine Großstadt wie Hamburg reicht, oder was?«

»Ach, hör schon auf«, schimpfte Tante Isolde. »Sing uns etwas vor. Los!«

Agatha verdrehte die Augen. »Das habe ich befürchtet. Ich bin gar nicht eingesungen.«

»Bitte, Agatha«, sagte ich. »Ich würde dich auch gerne singen hören.«

Wir gingen in den Salon, wo ein schwarz glänzender Steinway-Flügel stand, der bei festlichen Anlässen zum Einsatz kam und wenn Tante Isolde mal selbst in die Tasten griff, was selten vorkam.

Während Fräulein Pauline Mokka und Cognac servierte, sang Agatha in einer Ecke des Salons von uns abgewandt einige Koloraturen und machte andere eher merkwürdige Geräusche, um sich einzusingen. Dann nahm sie am Klavier Platz.

Tante Isolde und ich standen mit unseren Mokkatassen mitten im Salon und blickten erwartungsvoll auf Agatha. Fräulein Pauline, die kurz den Salon verlassen hatte, kam mit Köchin Maria und Johannes zurück. Schüchtern standen die Dienstboten abseits. Sie wussten, dass Tante Isolde nichts dagegen hatte, wenn sie an dem bevorstehenden Ereignis teilnahmen.

Agatha begann ein kurzes Vorspiel, das eine bekannte Melodie variierte, und ließ dann auch gleich ihre Stimme hören.

»Komm, lieber Mai, und mache …«, sang sie, dieses fröhliche, leichte Lied von Mozart, das jedes Kind und sogar ein Banause wie ich kennt. Ich beobachtete ihre Finger, die über die Tasten tanzten, als hätten sie ein eigenes Leben. Agatha hatte die Augen geschlossen, ihr Mund öffnete sich beim Singen weit und gab ihr ein etwas fratzenhaftes Aussehen. Das kannte ich aus der Oper, die ich mit Tante Isolde regelmäßig besuchen musste. Auf mich wirkte das immer etwas grotesk, aber was wusste ich schon.

Agathas Gesang klang für mich sehr rein und klar, sie sang, soweit ich das beurteilen konnte, einen sehr hohen, intensiven Sopran, und ich war etwas besorgt um die dünnen Cognacschwenker. Agatha konnte singen, ohne Frage.

Bei der Liedzeile »Ach, lieber Mai, wie gerne einmal spazieren gehn!« öffnete sie kurz die Augen und sah mich an. Oder bildete ich mir das ein? Als sie geendet hatte, applaudierte das fünfköpfige Publikum begeistert.

»Noch eins, bitte«, forderte Tante Isolde, und Agatha erfüllte den Wunsch mit einem elegischen, fast traurigen Stück, das ich nicht kannte. Später erfuhr ich, dass es sich um die »Sapphische Ode« von Hamburgs berühmtem Sohn Johannes Brahms handelte. Wie in der Oper, wo ich auch bei deutschen Texten nur die Hälfte verstand, gingen in dem nun recht tiefen Gesang die wichtigsten Worte unter. Deshalb schlug ich später den Text in der gut sortierten Bibliothek im Hause Knudsen noch einmal nach:

Rosen brach ich nachts mir am dunklen Hage;

Süßer hauchten Duft sie als je am Tage;

Doch verstreuten reich die bewegten Äste

Tau, der mich näßte.

Auch der Küsse Duft mich wie nie berückte,

Die ich nachts vom Strauch deiner Lippen pflückte:

Doch auch dir, bewegt im Gemüt gleich jenen,

Tauten die Tränen.

Bildete ich mir das ein, oder sah mich Agatha wieder an, als sie die Zeile mit dem Küssen sang?

So war mit Agatha also der Wohlklang in die Villa Knudsen eingezogen. Aber auch der Lärm. Agatha machte sich ständig unüberhörbar. Sie rannte mit harten Absätzen übers Parkett und die Treppen rauf und runter, sie klapperte und schepperte im Bad, sang bei allen möglichen Verrichtungen gerne englische Shantys und Sauflieder. Wenn ihre Bewegungen einmal nicht so krachend daherkamen, dann, weil sie barfuß unterwegs war. Eine der vielen Angewohnheiten, die Tante Isolde als unschicklich für eine junge Dame einordnete. Aber die Gastgeberin ließ ihren Gast gewähren. Sah sie in Agatha eine Art Wiedergeburt ihrer Tochter? Die kleine Marianne, die den Knudsens spät geschenkt und in ihrem vierten Jahr durch die Masern wieder genommen worden war, wäre heute ungefähr in Agathas Alter. Oder verbarg sich hinter Agathas extrovertiertem Benehmen ein größeres Problem, von dem nur Tante Isolde wusste?

Ich hatte nie gefragt, weder die Tante noch Agatha, wie es denn weitergehen sollte und wie lange sie zu bleiben gedachte. Aber was ging mich das auch an?

Kapitel 3

Für den folgenden Sonntag hatten wir einen Ausflug geplant. Margot und ich wollten mit meinem Freund Martin und seiner Frau Mathilde in Hagenbecks Tierpark. Der neue Zoo, von dem die ganze Stadt, ach was, das ganze Deutsche Reich sprach, hatte erst vor einer Woche nördlich von Hamburg im Ort Stellingen eröffnet, und es war nur Tante Isoldes guten Verbindungen zu verdanken, dass wir schon Eintrittskarten hatten. Natürlich nahmen wir Agatha mit, darum musste mich die Tante nicht erst bitten. Meine Bedenken, dass sie sich bei zwei Paaren wie das fünfte Rad am Wagen fühlen könnte, wischte Agatha hinweg. Sie freue sich riesig darauf, versicherte sie, Martin wiederzusehen, und noch mehr auf meine Margot. Martin hatte ich vorgewarnt, damit er sich auf Agathas Energie einstellen konnte. Die erste Begegnung der beiden in der großen Droschke nach Stellingen, die uns Tante Isolde spendiert hatte, fiel dann ähnlich einseitig aus wie bei mir ein paar Tage zuvor. Agatha war überschwänglich erfreut, Martin konnte sich kaum an sie erinnern. Es war wohl so, dass in der Oberprima die kleinen Schwestern unserer Mitschüler für uns eher unsichtbar waren.

Der Andrang vor dem Tierpark war an diesem herrlichen Sonntag besonders groß, und obwohl wir bereits Billetts hatten, mussten wir uns in die lange Schlange vor dem Tor einreihen. Aber das war nicht so schlimm, da das Tor selbst schon eine Augenweide war. Ein helles, massives Steinportal mit allerlei Verzierungen, deren beeindruckendsten die lebensgroßen Bronzefiguren eines Eisbärenpaares, eines Löwenpaares und zweier Männer waren, der eine ein Indianer, der andere ein afrikanischer Eingeborener. Den eigentlichen Torbogen bildeten die hochgestreckten Rüssel zweier Elefantenköpfe.

Der Tierpark hatte auch deshalb schon lange vor seiner Eröffnung für Gesprächsstoff in der Stadt gesorgt, weil Hamburg bereits einen Zoo hatte. Der lag nahe der Innenstadt an der Grenze zu St. Pauli und erfreute sich ausreichender Zustimmung. Doch niemand konnte es der Familie Hagenbeck, die seit über fünfzig Jahren als Tierhändler und Schausteller erfolgreich war, verbieten, außerhalb der Stadtgrenzen einen eigenen Park zu eröffnen. Der sorgte besonders für Furore, weil Carl Hagenbeck den ersten gitterlosen Zoo der Welt versprach und seine Entwürfe von Wällen und Gräben, die Tiere und Besucher fast unsichtbar voneinander trennten, bereits vor Jahren hatte patentieren lassen.

Gleich zu Beginn konnten wir uns von der Wirkung der hagenbeckschen Idee überzeugen. Wir gingen auf einen riesigen Felsen zu. Es sah aus, als könnten wir diesen Berg mühelos erreichen und dass die Horde Paviane, die auf dem Felsen verstreut hockte und uns feindselig und zähnefletschend ansah, umgekehrt mit einem Sprung zu uns gelangen konnte. Margot klammerte sich etwas ängstlich an mich, auch Mathilde suchte die Nähe ihres Mannes. Nur Agatha schritt mutig drei Meter vor uns und erreichte als Erste den Rand der Anlage. Ein niedriger Zaun und eine Hecke, mehr war nicht mehr zwischen ihr und den wilden Affen. Dann erst sahen wir den tiefen Graben aus glattem Beton, der direkt hinter der Hecke gut drei Meter tief und ebenso breit klaffte. Zum Felsen hin war die Grabenwand schräg, so dass Affen, die in den Graben fielen, leicht wieder zu ihrem Felsen kommen konnten. Es war ihnen hingegen unmöglich, über die steile Seite des Grabens zu den Zuschauern zu gelangen. Die Frauen entspannten sich etwas.

Margot trug ein helles Sommerkleid mit gelben Blumen. Dazu einen modernen Strohhut mit breiter Krempe, den ich ihr kürzlich aus Berlin mitgebracht hatte, wo ich am Königlich Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten ein Symposium besucht hatte. Agatha trug ein dünnes schwarzes Kleid und einen grob geflochtenen schwarzen Hut. Mathildes Kleiderwahl unterlag gewissen Einschränkungen. Ein inzwischen ans Monströse grenzender Bauch zwang die Schwangere, die wenigen Kleider, die ihre Mutter den Umständen entsprechend umgearbeitet hatte, immer wieder anzuziehen. Das Kindlein wurde für den August erwartet, und Martin und Mathilde freuten sich so offensiv auf das Kleine, dass es mir schon manchmal auf die Nerven ging. War ich neidisch? Ein wenig sicherlich. Martin war schon ein paar Schritte weiter in der Lebensplanung als ich, obwohl wir beide gleich alt waren. Aber ich war auch etwas eifersüchtig. Seit Martin mit Mathilde verheiratet war, hatte er viel weniger Zeit für mich. Früher hatten wir uns häufiger auf ein Bier getroffen, waren ins Theater gegangen oder auf der Alster gerudert. Das fehlte mir. Besonders fehlte mir aber, von Martin in seine Fälle bei der Hamburger Kriminalpolizei eingebunden zu werden. Seitdem wir vor drei Jahren sieben Morde aufklären und die beiden dafür verantwortlichen Mörder dingfest machen konnten, hatte ich noch weitere kleine Hilfsdienste leisten können. Nützlich war dabei neben meinem messerscharfen Verstand – Martins Worte, nicht meine – auch meine wissenschaftliche Ausbildung. Immer mehr Fälle können unter dem Mikroskop und im Reagenzglas gelöst werden. Biologie und Chemie liefern Zeugen, die mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen sind und deren Sprache man erst entschlüsseln muss. Es machte mir große Freude, da mitzumischen. Mein Vorgesetzter, Dr. Bernhard Nocht, ließ mich gewähren, solange ich meine Pflichten am Institut nicht vernachlässigte. Und auch Arnold Manthey, Martins Chef, hörte nach anfänglicher Skepsis gerne auf meine Meinung, wenn er nicht weiterwusste. Doch Martin und ich hatten nun schon längere Zeit keine kriminalistische Nuss mehr gemeinsam geknackt. Ich hegte den Verdacht, dass Martin, seit Mathilde guter Hoffnung war, die schweren Verbrechen lieber von Kollegen ermitteln ließ. Hatte der Familienvater über den Draufgänger gesiegt? Fühlte sich Martin in der Schreibstube jetzt sicherer als in den dunklen Gassen des Gängeviertels, wo Mord und Totschlag an der Tagesordnung waren? Ich sprach ihn nicht darauf an, und ich hatte darüber auch nicht zu urteilen. Wenn ich mal Vater bin, halte ich mich vielleicht auch von den besonders schlimmen Infektionen fern. Infektionen sind die Mörder und Räuber in meiner Welt. Bakterien und andere Krankheitserreger sind die gefährlichen Verbrecher, die ich jage. Die Waffen, mit denen ich sie unschädlich mache, sind Hygiene, Arzneien und Impfstoffe.

»Haha, guckt mal, was der da macht«, rief Agatha plötzlich schrill aus und riss mich aus meinen Gedanken. Sie deutete auf einen Pavian, der völlig ungeniert am Rande des Grabens hockte und masturbierte. Sein leuchtend roter kleiner Penis war unübersehbar. Mathilde und Margot sahen sich erst kurz an und dann errötend auf den Boden. Martin kicherte, worauf seine Frau ihn leicht in die Rippen stieß. Ein älteres Paar, das in der Nähe stand, sah Agatha an, schüttelte den Kopf und ging murmelnd davon.

Tante Isolde hätte Agatha jetzt sicher zur Seite genommen und ihr ein paar Hinweise zum gebotenen Anstand gegeben. Ich sah darin keinen Sinn. Agatha war siebenundzwanzig Jahre alt. Sie wusste, was sich gehörte, und die Regeln waren in der feinen Gesellschaft von London sicher die gleichen wie bei uns. Ihre Grenzüberschreitungen waren bewusst und geplant.

Wir flanierten weiter. Mit fiel auf, dass sich sowohl Margot als auch Mathilde nun etwas von Agatha fernhielten. War es nun an mir, den sozialen Leim zu bilden und die Fremde einzubeziehen? Dafür hätte ich mich im Gehen von Margot trennen müssen, um zu Agatha aufzuschließen. Das hätte Margot missdeuten können. Ich war einfach nicht gut in solchen Dingen.

Nach Elefanten und Kängurus, den absonderlichsten Säugetieren, die ich je gesehen hatte, kamen wir an einen Bereich, in dem nicht Tiere, sondern Menschen ausgestellt wurden. Auf einem Schild stand zu lesen, dass es Massai waren, aus den britischen Schutzgebieten in Ostafrika, die hier in einer Handvoll Hütten lebten. Ich zählte zwölf Männer und Frauen und sechs Kinder. Sie hockten auf dem Boden, verrichteten Handarbeiten, zwei Frauen kochten etwas in einem Topf auf einem Feuer. Drei Kinder malten irgendwelche Bilder in den Sand. Die Massai trugen keine Kleidung wie wir, sondern waren in farbenfrohe Gewänder gewickelt, Teppichen oder Decken ähnlich. An einer Hüttenwand lehnten fremdartige Schilde und Speere. Es war eine friedliche Szene, die Menschen beachteten uns gar nicht.

Die Familie Hagenbeck war mit Tierhandel zu Wohlstand gekommen, doch den großen Reichtum hatten diese Völkerschauen gebracht, die Hagenbeck seit vielen Jahren nicht nur in Hamburg, sondern im ganzen Reich und auch in halb Europa veranstaltete. Es gab viele, die auf diese Weise mit fremden Völkern Geld verdienten, aber Hagenbeck war der erfolgreichste von ihnen.

Wir harrten einen Moment schweigend vor der Anlage aus. Neben uns lärmte eine Gruppe junger Männer, die offenbar direkt aus der Schänke kam und sich nun darüber amüsierte, dass eine der Frauen ihr Kind nährte, wobei ihre Brüste zu sehen waren. Margot schaute zu den Burschen herüber, und wenn ich sie nicht bei der Hand gefasst hätte, wäre ihr sicher eine scharfe Bemerkung rausgerutscht. Margot war Kinderärztin. Der Friede einer stillenden Mutter war ihr heilig.

Es war das erste Mal, dass ich eine solche Völkerschau gewissermaßen fertig und aufgebaut sah. Bisher hatte ich nur ein paar Mal mit ihren, wie soll man sagen, Darstellern zu tun gehabt, wenn sie über den Hafen anreisten. Auch wenn die Gruppen aus Afrika, der Südsee oder Grönland gerne von den Veranstaltern als gefährlich, manchmal sogar als Menschenfresser dargeboten wurden, so waren sie doch in der Regel harmlos. Sie waren vielmehr froh, wenn ihnen niemand etwas antat. Eine Gefahr ging von ihnen vor allem dann aus, wenn sie Krankheiten wie Typhus, Cholera und Pocken einschleppten. Und auch wir konnten ihnen Krankheiten übertragen, auf die ihre Körper nicht vorbereitet waren. Die Veranstalter, die die Gruppen in ihren Heimatländern unter Vertrag nahmen, waren eigentlich verpflichtet, die Menschen zu impfen. Aber wir wussten zu genau, dass das häufig aus Geiz oder Gleichgültigkeit unterlassen wurde. Immer wieder kam es zu Krankheits- und Todesfällen.

»Wollen wir hoffen, dass die auch freiwillig hier sind«, sagte Agatha, die lange nachdenklich auf die Gruppe der auffallend schönen schwarzen Menschen geschaut hatte.

»Wieso, was meinst du?«, fragte Mathilde.

»Es kommt immer wieder vor, dass die wie Tiere eingefangen werden und gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.«

»Es kommt immer wieder vor, dass welche von denen ausbüxen und durchs Land reisen«, gab nun Martin zum Besten. »Die hausen dann irgendwo im Wald und machen keine Anstalten heimzukehren.«

»Und was essen die dann?«, fragte Margot.

»Was sie zu Hause auch essen: Giraffen und Wasserbüffel und Bananen«, sagte Martin und lachte.

Margot schüttelte den Kopf. Sie war nicht immer empfänglich für Martins eigenartigen Humor.

»Der Mann da schaut uns an«, sagte Agatha, immer noch nachdenklich auf die Gruppe blickend. »Was denkt er? Denkt er: Ist das großartig, dass ich in Hamburg sein kann und euch alle kennenlerne? Oder denkt er: Was glotzt ihr so? Ich bin kein Tier. Ich bin ein menschliches Wesen.« Angesichts dieser Massai war Agathas rebellische Energie einer erstaunlichen Empfindsamkeit gewichen.

»Der denkt vermutlich gar nicht viel«, sagte Martin. »Der kann ja nicht mal lesen und schreiben.«

»Ach«, zischte Agatha ihn an, »und deshalb kann er nicht denken, meinst du?«

Martin zuckte verlegen mit den Schultern.

»Möchtest du irgendwo sitzen und von Menschen, die so ganz anders aussehen als du, den ganzen Tag angestarrt werden?«, fragte Agatha, die sich nun Martin zugewandt hatte. Sie klang weniger aggressiv, eher interessiert.

»Nee, natürlich nicht«, sagte Martin. »Aber die kriegen ja Geld dafür. Ich habe einen Beruf, ich muss das nicht tun.«

»Die haben auch Berufe«, sagte Agatha, die Martin offenbar noch nicht aus der Zange nehmen wollte. Ich beobachtete den Konflikt mit einer Mischung aus Faszination und schlechtem Gewissen. Müsste ich Martin beistehen? Dann bemerkte ich, dass auch Margot der Konfrontation interessiert folgte. Und nicht nur sie. Auch die Gruppe der betrunkenen Jungs schien Agatha zu beobachten.

»Die sind Hirten von Beruf und Bauern, vielleicht ist einer von denen Zimmermann. Und die Frauen sind Köchinnen und Heilerinnen«, sagte Agatha, immer noch ruhig.

»Das sind verlauste Wilde«, mischte sich nun einer der betrunkenen Jungs ein. »Die können nur das da.« Er machte eine obszöne Bewegung mit dem Becken.

Agatha ging ein paar Schritte auf den jungen Kerl zu. Ich spannte mich instinktiv an, und auch Martin wirkte reaktionsbereit. Das konnte hier nun schnell außer Kontrolle geraten. Was auch immer Agatha vorhatte, gegen die fünf Kerle hatten Martin und ich keine Chance.

»Das können die bestimmt besser als du mit deinem winzig kleinen Schwanz«, sagte Agatha nun, keinen Meter mehr von ihrem Widersacher entfernt. »Und sie haben auch mehr im Kopf als du in deinem Spatzenhirn.«

Abrupt tat der Junge einen Schritt auf Agatha zu, die nicht zurückwich und auch keine Angst zeigte. Seine Freunde hielten den Jungen zurück.

»Komm, Paule, lass uns weitergehen«, sagte einer, und die Jungs trollten sich.

Einen Moment starrten wir Agatha an. Sicher dachten wir alle das Gleiche. Was ist das für eine Frau? Warum setzt sie sich so vehement für eine Handvoll Afrikaner ein? Und wieso hat sie keine Angst vor diesen betrunkenen Burschen? Müssen wir sie bewundern oder fürchten?

Später am Abend brachte ich Margot nach Hause. Sie hatte ein Zimmer in der Altstadt bei einer Witwe, die an alleinstehende Frauen vermietete. Ich hatte das Haus noch nie betreten. Zur Manifestation des Männerverbotes in diesem Haus lag immer ein Dobermann vor der Tür, der knurrte, wenn er mich nur von Weitem sah, sich von Margot aber freudig streicheln ließ.

»Sie ist eine besondere Person, deine Cousine«, sagte Margot, als wir noch Händchen haltend auf der dunklen Straße standen.

»Sie ist nicht meine Cousine. – Findest du sie besonders faszinierend oder besonders bedrohlich?«, fragte ich.

Sie lächelte, dachte nach. Im Schein der Straßenlaterne leuchteten ihre Augen in ihrem zarten Gesicht wie meerblaue Planeten. Margot stellte sich auf die Zehenspitzen, sie war ein gutes Stück kleiner als ich, und gab mir einen langen Kuss.

»Ich glaube, ich finde sie faszinierend«, sagte sie dann. »Aber mir ist klar, warum sie nicht verheiratet ist. Männer finden sie sicher eher bedrohlich. Was ist mit dir?«

»Da sie mir noch nicht gegenübergetreten ist wie diesem Burschen im Zoo heute, empfinde ich sie nur als anstrengend. Ja, ich glaube, das trifft es.«

Meine Noch-nicht-Verlobte Margot Murnau lebte erst seit einem Jahr in Hamburg. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und stammte eigentlich aus Bayern, was ihr einen besonderen Akzent verlieh, den ich ausgesprochen erregend fand. Ihr Vater war Großbauer und Besitzer mehrerer Brauereien und Wirtshäuser im Chiemgau, ihre Mutter war vor einigen Jahren an Brustkrebs gestorben.

Vielleicht war dieser Schicksalsschlag der Grund, weshalb der in der Tradition verwurzelte Maximilian Murnau seiner Tochter in der Schweiz ein Medizinstudium ermöglicht hatte. Fast überall in Europa konnten Frauen inzwischen studieren, nur im Deutschen Reich war es weitgehend verboten. In Heidelberg und auch in Württemberg waren kürzlich erste naturwissenschaftliche Studiengänge für Frauen geöffnet worden, und Margot war sicher, dass andere Universitäten sich bald auch nicht länger verweigern konnten.

»Schon bald, mein lieber Carli«, hatte sie mal gesagt, »wird eine promovierte Bakteriologin neben dir im Labor stehen, und du kannst nichts dagegen tun.«

»Das muss ich gar nicht«, hatte ich erwidert, »solange Nocht was zu sagen hat, bleibt unsere Wissenschaft männlich.«

»Vielleicht suchst du dir auch besser eine blutjunge, hübsche und naive Schauspielerin wie dein Vorbild Robert Koch, mein Lieber«, hatte sie geantwortet.

Margot konnte Latein, sprach fast fließend Englisch und Französisch und hatte in Zürich neben dem Studium Forschungen zur Wirksamkeit von Arzneimitteln geleitet. Sie war mir in der Wissenschaft mindestens ebenbürtig. Mich reizte das, Tante Isolde machte das Angst.

»Wirst du am Ende die Kinder versorgen, wenn deine Frau zehn Stunden am Tag im Krankenhaus steht?«, hatte sie gefragt. Ich wusste es nicht. Zurzeit war es so, dass Margot sehr viel arbeitete, mehr als ich. Bakterienkolonien und Reagenzien konnte man nach sechs Uhr sich selbst überlassen. Leidende Kinder nicht. Oft ging Margot erst spät am Abend nach Hause.

Wir würden einen Weg finden, um eine Familie zu gründen, da war ich sicher, auch wenn wir dieses Thema noch nie zu Ende gedacht hatten. Doch eine richtige medizinische Karriere war Margot ohnehin versagt, da Frauen keine verantwortlichen Positionen in Klinken innehaben durften, und eigene Praxen konnten sie ebenfalls nicht eröffnen. Margots Position am Neuen Allgemeinen Krankenhaus in Eppendorf war die einer Assistenzärztin.

»Wart’s ab«, hatte Margot einmal gesagt, »wenn Frauen alles studieren dürfen, dürfen sie auch bald überall praktizieren.« Ihr Optimismus war erfrischend.

Wir hatten nun eine Weile eng umschlungen auf der Straße gestanden, uns geküsst, und Margot konnte meine Erregung nicht verborgen geblieben sein. Sie war Ärztin und mit Körperfunktionen, auch den männlichen, vertraut. Es war Zeit für mich, zu gehen.

Margot war nicht bereit, mit mir einen nächsten Schritt auf dem Weg der Leidenschaft zu gehen, dessen war ich sicher. Sie war ein katholisches Mädchen vom Lande. Da galt die Sünde der Unzucht noch etwas. Ich selbst hatte meine Unschuld bereits während des Studiums bei einer Greifswalder Prostituierten verloren. Und wenn das nicht zählte, wie Martin behauptete, dann spätestens vor drei Jahren bei Clara, dem Dienstmädchen im Hause Knudsen. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich Margot noch nicht erzählt hatte. Nachdenklich trat ich den Heimweg an.

Kapitel 4

Wie bereits erwähnt, waren Gesellschaften in der Villa Knudsen in diesen Tagen nicht mehr so häufig. Das war anders, als der Reeder Wilhelm Knudsen noch lebte und mindestens einmal in der Woche Kaffeekränzchen, Rumverkostungen oder Soireen stattfanden. Onkel Wilhelm wurde vor drei Jahren von einer verirrten Kugel aus einem Polizeigewehr auf den Ohlsdorfer Friedhof geschickt, und seitdem war vieles anders.

Umso bemerkenswerter war es, dass Tante Isolde nun an einem gewöhnlichen Donnerstag eine Handvoll Freunde und Bekannte zum »Dinner mit Überraschung«, wie es in der Einladung stand, eingeladen hatte.

Pünktlich um sieben Uhr fuhren ein paar Kutschen und ein Automobil mit den Gästen vor der Villa Knudsen vor.

Zuerst stiegen der Bankier Ludwig Rabenhorst mit Gattin Erika aus ihrem Automobil. Rabenhorst war ein Freund Isoldes aus Kindertagen, und die Tante hatte mir verraten, dass der gewichtige Hüne Erika damals nur genommen hatte, weil Isolde ihn nicht gewollt hatte. Das kinderlose Paar war in seinen Fünfzigern und gehörte auf jede Einladungsliste bei Isolde Knudsen. Die beiden strahlten eine unaufgesetzte Vornehmheit aus, was sie von vielen Angebern in diesen ersten Hamburger Kreisen unterschied.

Allein in seiner Kutsche, vom Kutscher abgesehen, saß der Kaffeeimporteur Christoph Heinze, ein verwitweter Pfeffersack mit ungebändigtem schlohweißem Haarschopf und Vollbart. Ein Reserveoffizier, der nie eine Kugel abgefeuert hatte, wie Onkel Wilhelm einmal abfällig erwähnt hatte, und ein langjähriges Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Heinze klebte seit Onkel Wilhelms Beerdigung an Tante Isolde wie eine Klette und gab offensichtlich die Hoffnung nicht auf, ihr irgendwann näherzukommen. Das war für Isolde Knudsen allerdings völlig ausgeschlossen. Sie wollte keinen Mann mehr in ihrem Leben. Sie hatte Wilhelm Knudsen sicherlich einmal geliebt und bis zu dem Tag respektiert, als er versuchte, einer skrupellosen Mörderin zur Flucht zu verhelfen, was misslang und Wilhelm das Leben kostete. Einen neuen Wilhelm brauchte Isolde nicht, und eine gute Partie, die Heinze zweifellos war, hatte Isolde Knudsen nicht nötig. Ich glaube, sie genoss ihre Unabhängigkeit sehr. So, wie sie über den Kaffeebaron sprach, mochte sie ihn nicht besonders, aber in ihren Kreisen wusste man, wie wertvoll einflussreiche Freunde sein konnten.

Ein weiterer dieser einflussreichen Freunde Isoldes stand auf der Gästeliste, und ich lag sicher nicht falsch, wenn ich vermutete, dass er und sein Arbeitsbereich der tiefere Grund dieses Dinners war. Max Bachur war seit zehn Jahren Direktor gleich mehrerer Hamburger Theater und in dieser Position ausgesprochen erfolgreich. Endgültig war Bachur in die Stadtgeschichte eingegangen, als er im Jahr zuvor den gefeierten italienischen Tenor Enrico Caruso nach Hamburg geholt hatte. Bachur war Tante Isolde seit Jahren zugewandt, weil sie die Oper leidenschaftlich liebte und dieser Liebe von Zeit zu Zeit mit üppigen Spenden Ausdruck verlieh. Bachur betrat mit seiner Frau Margarete die Eingangshalle, einer blassen, unauffälligen Frau, die den ganzen Abend über wenig sagte.

Die Speisenfolge für das fast intime Dinner war tagelang mit Maria erarbeitet worden. Tante Isolde ging in solchen Aufgaben auf, sie war eine Gastgeberin, die kein Mittelmaß duldete. In der italienischen Köchin Maria hatte sie eine Meisterin ihres Faches, die an solchen Abenden immer wieder über sich hinauswuchs.

Aufgetragen wurden von Maria, Pauline und Johannes in perfekter Choreografie zunächst eine Rinderbouillon mit pochiertem Wachtelei, als Hauptgang ein im Ganzen gebackener Lachs mit Dauphinkartoffeln und Rosenkohl. Zum Dessert gab es einen leichten Zitronenkuchen.

Nach der Vorspeise und nach dem Hauptgang wurde die angekündigte Überraschung präsentiert, die natürlich aus Gesangsdarbietungen von Agatha Rosenberg bestand. Ich hatte mitbekommen, wie Agatha sich ein paar Tage zuvor geziert hatte, während des Menüs als Pausenfüller zu singen, sie sei kein Salon-Orchester, aber Tante Isolde hatte ein schlagendes Argument: Nach dem Dessert sind die Herren angetrunken, dann ist die Gefahr groß, dass sie Agathas Talent einfach überhören.

Ich stellte es mir schwierig vor, zu singen, während einem ob der feinen Speisen das Wasser im Mund zusammenlief. Aber da Agatha so gut wie nichts aß, hatte sie damit sicher keine Probleme.

Vor dem Lachs gab sie Schuberts »Forelle« zum Besten, die – Zufall oder Absicht? – ja ebenfalls der Gattung der Salmo angehört. Vor dem Dessert hörten wir »Engel« von Tante Isoldes Lieblingskomponisten Richard Wagner. Ob nur ich das leichte Zittern in Agathas Stimme bemerkte, weil ich sie fast täglich singen hörte, weiß ich nicht. Sie musste nervös sein, schließlich konnte viel davon abhängen, ob Impresario Bachur beeindruckt war oder nicht. Anmerken konnte man ihm sein Urteil nicht. Er klatschte artig, machte Allerweltsbemerkungen wie »beachtlich«, »wohlklingend« und lobte die gesungenen Lieder und ihre Schöpfer mehr als die Sängerin.

Während des Desserts kam das Tischgespräch erst richtig in Gang, wobei den größten Anteil Kaffeebaron Heinze innehatte, der auf ein Stichwort des Bankiers Rabenhorst – es ging um undankbare Arbeiter – eine Geschichte vortrug, die ihn sichtlich erregte.

»Sie können es sich nicht vorstellen, was ich letzte Woche an Undank erlebt habe«, begann Heinze. Er war knapp über sechzig, recht dick und kurzatmig. »Bei uns ist ein Miedje auf einen meiner Vorarbeiter losgegangen und hat ihn übel verprügelt. Der Mann liegt immer noch im Krankenhaus. Das Miedje war wie von Sinnen. Es brauchte drei Schutzmänner, um sie in die Polizeikutsche zu expedieren.«

Die anderen schauten ihn mit offenen Mündern an.

»Was ist ein Miedje?«, fragte schließlich Agatha, die bisher recht unauffällig gewesen war. Eine Ermahnung der Tante, zumindest für ein paar Stunden feine Dame zu spielen, hatte offenbar gefruchtet.

»Ein Miedje«, sagte Heinze und wirkte etwas irritiert. »Das wissen Sie nicht? Na, gut. Miedjes sind junge Frauen, die bei der Kaffeeröstung die Stinker aussortieren. Das sind Bohnen, die zu lange fermentiert sind und den Geschmack verderben können. Die Bohnen werden auf großen Tischen ausgeschüttet, und die Miedjes picken mit ihren jungen Augen und flinken Fingern die faulen Bohnen raus.«

»Wie Aschenbrödel«, sagte ich.

»Ja, genau«, Heinze lachte, »so hat der alte Bismarck sie genannt, als er vor vielen Jahren mal bei uns war und sich alles angeschaut hat: Aschenbrödel des Kaffeehandels.« Und so hatte Heinze elegant eingeflochten, dass er dem lange verstorbenen Reichskanzler Bismarck begegnet war, was er sicher bei jeder Gelegenheit erwähnte.

»Und warum ist dieses Mädchen auf Ihren Vorarbeiter losgegangen, Christoph?«, fragte Tante Isolde.

»Weil sie irre ist, warum sonst? Der Mann hat es vermutlich gewagt, sie zum Fleiß anzutreiben. Wir können uns von den Faulen ja nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Das sind wir den Fleißigen schuldig.«

»Wenn das so ein junges Mädchen ist«, fragte nun Agatha, »wie kann sie dann einen gestandenen Mann so verprügeln? Der ist doch sicher viel stärker als sie.«

»Ja, wenn er damit rechnet, angegriffen zu werden, ist das so. Aber das muss alles sehr schnell gegangen sein, ich war ja nicht dabei. Plötzlich hatte die Deern wohl dieses Eisenrohr in der Hand und hat auf seinen Schädel eingedroschen. Die Polizei muss nun noch herausfinden, wo das Rohr eigentlich herkam. Da oben auf dem Boden braucht man solche Rohre nicht. Wenn die kleine Hexe das geplant und das Rohr mitgebracht hat, dann ist das ein Mordversuch, der sie gut und gerne den Kopf kosten kann.« Man konnte Heinze ansehen, wie sehr er sich diesen Ausgang des Dramas wünschte. »Jetzt sitzt sie im Untersuchungsgefängnis und wartet auf ihren Prozess.«

Einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Ob alle darüber nachdachten, mit wem sie mehr Mitleid haben sollten, mit dem geschundenen Vorarbeiter oder der verzweifelten Arbeiterin?

»Wie viele dieser Miedjes arbeiten denn bei Ihnen?«, fragte Agatha, und nicht nur ich beobachtete sie interessiert, sondern auch Tante Isolde. Wir hatten in den vergangenen Wochen gelernt, dass Agatha plötzlich verbale Attacken reiten konnte.

»Das wechselt. Je nachdem, wie viel Kaffee ankommt. Fünfzig, hundert, selten mehr.«

»Ist das nicht sehr anstrengend«, setzte Agatha nach, »den ganzen Tag Bohnen zu picken? Die sind doch bestimmt auch heiß.«

»Anstrengend?«, rief Heinze aus. »Wir reden von Kaffeebohnen, junges Fräulein.« Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger die Größe einer Bohne, als ob das nicht jeder wüsste. »Das ist kinderleicht. Darum machen es ja auch Mädchen. Die schweren Arbeiten, Schiffe entladen, Säcke befüllen und so weiter, die machen bei uns die Männer. Und die allerschwerste Arbeit, nämlich den Laden am Laufen zu halten und trotz all der gierigen Gewerkschaften noch Profite zu machen, die bleibt an mir hängen, und ich habe keinen, dem ich einfach mal ein Rohr über den Schädel ziehen kann, wenn mir danach ist.« Er lachte rau.

Ich saß Agatha gegenüber, und als sich unsere Blicke kurz trafen, erkannte ich, dass sie dasselbe dachte wie ich: Was kann es Anstrengenderes geben, als zehn bis zwölf Stunden am Tag auf dem Dachboden einer heißen Rösterei zu stehen und Fingerspitzenarbeit zu verrichten?

Heinze versicherte sich des Mitgefühls aller Anwesenden für sein Unternehmerschicksal, und so ging man zu unverfänglicheren Themen über.

Bei der Verabschiedung erlöste Max Bachur Agatha dann endlich von ihrer quälenden Ungewissheit.

»Rufen Sie mich an, junges Fräulein«, sagte er und gab Agatha eine Visitenkarte. »Dann machen wir einen Termin zum Vorsingen.«

Agatha bedankte sich mit einem Knicks, eine Geste, die ich bei ihr noch nicht gesehen hatte, und leuchtete vor Glück. Ich sah Tante Isolde an, die zufrieden nickte.

Kapitel 5

Eine Woche nach dem Dinner mit Gesang hatte Agatha einen Termin zum Vorsingen bei Bachur und seinem Kapellmeister. Ich hätte den Theaterdirektor zu gerne gefragt, ob das englische Fräulein auch eingeladen worden wäre, wenn es Tante Isoldes Zuwendungen an sein Haus nicht gäbe, aber das verbot sich natürlich.

Am Vorabend des wichtigen Ereignisses saßen Agatha und ich noch spät im Salon und tranken Wein. Tante Isolde und die Dienstboten waren schlafen gegangen. Ich öffnete gerade die zweite Flasche eines phantastischen 1888er Bordeaux. Die besonders edlen Tropfen hatte noch Onkel Wilhelm erworben, diese Bestände gingen zur Neige. Tante Isolde ließ den Weinhändler, der die Familie seit Generationen belieferte, inzwischen eher durchschnittliche Tropfen aussuchen. Ihre Bescheidenheit zeigte sich zu meinem Bedauern auch in diesem Lebensbereich.

»Solltest du nicht langsam mal schlafen gehen?«, fragte ich Agatha, die schneller trank als ich und spürbar angetrunken war. »Morgen ist dein großer Tag.«

»Und darum kann ich noch nicht schlafen gehen«, sagte sie und gähnte. »Dann liege ich allein mit meiner schrecklichen Angst vor dem Versagen wach. Da sitze ich lieber hier mit dir und lasse mir sagen, dass es ganz wunderbar wird.«

»Es wird ganz wunderbar, Agatha«, sagte ich gehorsam, und sie lächelte mich freundlich an. »Aber es wird vielleicht noch wunderbarer, wenn du ohne Katzenjammer zum Vorsingen gehst.«

Sie winkte ab.

»Du bist ein bezaubernder Mann, Carl-Jakob«, sagte sie, und ich spürte, wie ich errötete. »Deine Margot kann sich glücklich schätzen. Wann heiratet ihr? Wie viele Kinder wollt ihr haben?«

Ich zuckte mit den Schultern.