Together - Katrin Gindele - E-Book

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Katrin Gindele

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Beschreibung

Sommer muss auf Winter treffen, die Glut das Eis bezwingen. So erfüllt sich das Schicksal und Friede kehrt ein. Von einer dunklen Vorahnung getrieben und starr vor Angst, erwacht Solea viel zu früh aus dem Winterschlaf. Durch grausame Monster entführt, wird sie in eine Welt verschleppt, die jenseits ihrer Vorstellungskraft liegt. Um zu überleben, setzt sie alles auf eine Karte: Solea gewinnt das Vertrauen ihrer Feinde und findet am Ende viel mehr als einen Verbündeten. Doch welche Bande können bestehen, an einem Ort, der von Dunkelheit beherrscht wird?

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Jessica StrangStapenhorststraße 1533615 Bielefeld

www.tagtraeumer-verlag.deE-Mail: [email protected]: Katrin GindeleBuchsatz: Skill-Tree – Inh. André Ferreira

Lektorat/ Korrektorat: Teja CiolczykGwynnys Lesezauber – Bloggerin & Lektorin

Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Illustrationen: Samira Yanushkova © Dreamstime.com

ISBN: 978-3-946843-92-4

Alle Rechte vorbehalten

© Tagträumer Verlag 2020

Katrin Gindele

TOGETHER

Zwischen den Jahreszeiten

Prolog

In einem Land längst vergangener Zeit, da lebten einst zwei Völker in friedlicher Eintracht miteinander.

Das Südvolk verehrte den Lichtgott, das Nordvolk sprach seine Verehrung der Schattengöttin aus.

Beide Gottheiten waren in ihrer Art friedlich und den Völkern wohlgesonnen.

Doch schon bald sollte sich alles ändern.

Den Königshäusern wurde kurz nacheinander ein Kind geboren. Das Nordvolk begrüßte einen strammen Jungen als zukünftigen Herrscher, während das Südvolk ein Mädchen willkommen hieß. Um den ewigen Frieden zwischen den Völkern zu wahren, wurden die Königskinder alsbald einander versprochen. Die Hochzeit sollte sechszehn Sommer später stattfinden, so lautete das Bündnis.

Als die Zeit gekommen war, weigerte sich die Königstochter den Sohn des Nordens als ihren Gemahlen zu akzeptieren, weil sie sich unlängst in einen anderen Burschen verliebt hatte.

Der König des Nordvolks fühlte sich hintergangen und erklärte dem Südvolk den Krieg.

Was folgte, war eine unerbittliche Fehde, die blutiger nicht hätte sein können. Viele volle Monde zeigten sich am Nachthimmel, so lange kämpften beide Völker auf dem Schlachtfeld für ihr Königreich und zogen damit schlussendlich den Zorn der Götter auf sich.

Der Lichtgott, der bis dahin noch auf eine friedliche Einigung zwischen den Kriegführenden gehofft hatte, beendete das blutige Treiben schließlich, indem er einen wilden Sturm über das Schlachtfeld schickte, der sie weit auseinandertrieb. Schweren Herzens, da beide Völker kein Einsehen zeigten, schloss er einen Pakt mit der Schattengöttin, der dafür sorgen sollte, dass so etwas Furchtbares nie mehr geschehen konnte.

Süd- und Nordvolk sollten niemals wieder aufeinandertreffen, so lautete die Vereinbarung.

Wie mit einem Lineal gezogen, trennten die Götter das Land in der Mitte und entzweiten beide Völker für alle Zeit.

Ein undurchdringlicher Wald, in der Mitte unterbrochen von einer weitläufigen Lichtung, würde fortan die Grenze zwischen beiden Königreichen sein. Osten und Westen des Landes wurden unbewohnbar, sodass es keine Möglichkeit gab, sich dem Willen der Götter zu entziehen.

Von nun an würde der Lichtgott sein Volk den Sommer hindurch lenken, während die Schattengöttin ihres zukünftig nur noch im Winter leitete.

Sobald der Herbst ins Land zog und das Licht der Dunkelheit wich, begab sich der Lichtgott in seine wohlverdiente Winterruhe. Und mit ihm, wenige Sonnenuntergänge später, nun auch die Bewohner des Südens.

Die dunkle Zeit gehörte nunmehr dem Norden. Doch sobald die Sonne wieder an Kraft gewann, erwachte der Lichtgott zu neuem Leben und die Zeit für den Süden war gekommen.

Die Schattengöttin indes zog sich zurück, um neue Kraft zu schöpfen, und überließ dem Lichtgott und seinem Gefolge für die nächsten sechs Monate die südliche Hälfte des Landes, während im Norden alle Bewohner ein paar Sonnenaufgänge nach ihrer Göttin, in die Sommerruhe folgten.

Doch so wirklich zufrieden war die Göttin mit dieser Entscheidung nicht, nur allzu gern hätte sie die Völker wieder friedlich miteinander vereint gesehen.

Und so kam es, das erzählte man sich zumindest, dass die Göttin dem Lichtgott ein Versprechen abrang:

Wenn sich Sonne und Mond am Himmel begegnen, dann wird eine Südtochter aus ihrem eisigen Schlaf erwachen und einem Sohn des Nordens ihr Herz schenken.

Wenn sich die Glut des Sommers mit dem Eis des Winters vereint, wird ewiglich Frieden zwischen den Völkern einkehren und voller Eintracht werden sie Seite an Seite über das wiedervereinte Land herrschen.

1

Nur ein einziges Mal wollte ich vor der Winterruhe erleben, dass ich von meiner Mutter nicht permanent durchs Haus gescheucht wurde.

»Und wenn du damit fertig bist«, hallte ihre schrille Stimme durch unser Schlafzimmer, »hilf deiner Schwester bei den Wochenaufgaben, die müssen bis heute Abend fertig sein.«

»Ja, Mutter.«

Ich stöhnte innerlich. Jeden Sommer die gleiche Leier. Mach dies. Mach das. Als würde die Welt untergehen, wenn ich vergesse das Geschirr in den Schrank zu räumen.

Mit mäßiger Begeisterung stellte ich die letzten beiden Teller in den Schrank, warf das Trockentuch ins Waschbecken und drehte mich zu meiner kleinen Schwester um, die am Küchentisch hockte und auf ihrem Stift herumkaute.

»Wie weit bist du?«, wollte ich wissen, ehe ich den freien Stuhl neben ihr zurückzog, um mich zu setzen.

»Nicht sehr weit«, gab Florica zurück und schaute mich hilfesuchend an.

Mit einem Blick auf den Zettel, der vor meiner Schwester ausgebreitet auf dem Tisch lag, wurde mir klar, dass nicht sehr weit noch schwer untertrieben war.

»Du hast ja noch nicht einmal angefangen«, beschwerte ich mich, weil ich genau wusste, was mir bevorstand.

»Doch. Hab ich«, murrte Florica und zeigte auf das Gekritzel, oben rechts am Blattrand.

»Oh wow. Du hast es geschafft deinen Namen zu schreiben.«

Entnervt verdrehte ich die Augen.

»Was ist das Thema?«, schob ich hastig nach, da mir auffiel, wie reumütig mich meine kleine Schwester anschaute.

»Die Geschichte unseres Volkes«, gab Florica bekannt. Ihre großen blauen Kulleraugen schauten mich ratlos an. Ich seufzte leise.

»Okay, dann wollen wir doch mal sehen«, versuchte ich sie aufzumuntern.

»Was weißt du denn über unser Volk?«

Florica, die von uns liebevoll Flo genannt wurde, starrte schweigend auf das Papier, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass dort wie durch Zauberhand irgendwann die Antwort auftauchen würde.

Natürlich passierte nichts dergleichen.

»Wie nennt man unser Volk?«, gab ich einen kleinen Anstoß, um ihr den Einstieg zu erleichtern.

Ihre blonden Löckchen wippten gleichmäßig im Takt, während sie mehrmals hintereinander mit den Schultern zuckte.

»Südvolk«, flüsterte sie, damit außer mir niemand sonst die Antwort hören konnte.

»Das ist richtig«, lobte ich und nickte ihr wohlwollend zu.

»Und warum nennt man uns so?«

Flo riskierte ein Blick über ihre Schulter. Unsere Mutter war jedoch ganz in ihrem Element, sie räumte das Arbeitszimmer auf und bezog die Betten, weshalb sie uns gar nicht beachtete.

»Das weiß ich nicht«, murmelte Flo mit zerknirschter Miene.

Oh je.

Wenn ich nicht den restlichen Tag zusammen mit meiner kleinen Schwester am Küchentisch verbringen wollte, musste ich ganz dringend meine Geschichtskenntnisse mit ihr teilen.

»Das Südvolk lebt, wie der Name schon sagt, im südlichen Teil des Landes«, begann ich. »Der Süden umfasst sehr viele Dörfer und natürlich eine größere Stadt, in der einst der König mit seiner Familie lebte.«

Flo nickte begeistert, scheinbar kam ihr etwas aus meiner Erzählung bekannt vor. »Die Prinzessin sollte den Prinzen des Nordens heiraten«, warf sie dazwischen.

Ich nickte zustimmend.

»Aber sie hat es nicht getan«, schob meine kleine Schwester nachdenklich hinterher. »Warum nicht, Lea? Wieso wollte die Prinzessin den Prinzen nicht heiraten?«

Darüber musste ich nicht lange nachdenken. »Der Prinz war arrogant und hochnäsig«, erklärte ich geduldig. »Und bestimmt war er auch furchtbar hässlich.«

Flo kicherte. »Woher willst du wissen, dass er hässlich war?«

»Das erzählt man sich«, merkte ich an. »Oder fällt dir noch ein anderer Grund ein, warum die Prinzessin ihn nicht heiraten wollte?«

Daraufhin runzelte meine kleine Schwester die Stirn und verengte ihre Augen – so sah sie immer aus, wenn sie angestrengt über etwas nachdachte.

»Vielleicht war sie ja in einen anderen Mann verliebt«, mutmaßte sie nach einer Weile und traf damit unbewusst ins Schwarze.

»Genau das war der Grund«, gab ich bekannt. »Die Prinzessin hatte sich in einen anderen Mann verliebt und weigerte sich deshalb den Prinzen des Nordens zu heiraten.«

»Und da wurde der Prinz böse«, hauchte Floh.

»Er wurde sehr böse.« Ich nickte bekräftigend. »Der Prinz griff das Südvolk an, er überfiel unsere Dörfer und tötete dabei viele unschuldige Frauen und Kinder. Damit wollte er die Prinzessin zwingen, ihr Versprechen einzuhalten.«

Nun wirkte meine Schwester hoch konzentriert. Mit großen Augen schaute sie mich aufmerksam an.

»Aber der Lichtgott hat ihn bestraft«, sagte sie und nickte dabei mehrmals, sie war von ihrer Antwort völlig überzeugt.

»Na ja, ganz so einfach war es nicht«, bremste ich ihre Euphorie ein wenig ab. »Der Lichtgott schloss einen Pakt mit der Göttin des Nordens«, erklärte ich. »Weißt du noch, wie die Göttin des Nordens heißt?«

Nachdenklich kaute Floh auf ihrem Stift herum.

»Göttin der Schatten?«

»Die Schattengöttin«, berichtigte ich sanft. »Oder auch Göttin der Dunkelheit. Jedenfalls sorgten beide Götter dafür, dass der Krieg ein abruptes Ende fand. Sie trennten unsere Völker, sodass sie niemals wieder aufeinandertreffen konnten. Von diesem Tag an gab es eine Grenze zwischen dem Norden und dem Süden, die von den Wölfen bewacht wird.«

»Das Nordvolk wurde bestraft«, wusste Floh zu erzählen. »Sie sind alle genauso böse wie der Prinz.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Das Nordvolk ist sehr unzivilisiert. Sie überfallen sich sogar gegenseitig und haben vor einander weder Achtung noch Respekt.«

Floh schaute mich erschrocken an. Sie war gerade neun Sommer alt und musste noch nicht die ganze Wahrheit erfahren. Sie brauchte noch nicht zu wissen, warum unser Vater und all die anderen Männer am Tag vor der Winterruhe tatsächlich unser Hab und Gut sicherten, die Ställe verbarrikadierten und die Fenster an den Häusern mit Brettern vernagelten. Warum unsere Mutter all unsere Lebensmittel versteckte und mehrere Schlösser an unserer Schlafzimmertür anbrachte. Sicherlich hatte Flo das ein oder andere aufgeschnappt, sie ahnte vielleicht, was dahintersteckte. Dennoch würde ich es dabei belassen. Die Träume meiner Schwester sollten auch weiterhin kindlich bleiben, unbeschwert und leicht – zumindest eine Weile noch. War sie erst älter, würde sie noch früh genug erfahren, dass die Winterruhe eine sehr gefährliche Zeit war.

In der Dunkelheit lauerte das Böse.

»Lea, Schatz, könntest du mir noch ein paar Nägel bringen?«, rief meine Mutter aus dem Arbeitszimmer und schreckte mich damit aus meinen Gedanken auf.

»Natürlich.«

Eilig erhob ich mich vom Tisch, angelte einige Nägel aus der Kiste neben der Haustür und reichte sie an meine Mutter weiter.

»Wie weit ist Flo mit ihrer Wochenarbeit?«, wollte sie wissen.

Ich blieb im Türrahmen stehen und schaute dabei zu, wie sie den Wäscheschrank im Schlafzimmer verbarrikadierte.

»Wir kommen gut voran«, sagte ich, mit einem Blick über meine Schulter.

Flo hockte, vornübergebeugt am Tisch und schrieb voller Eifer auf ihr Blatt.

»Sehr schön«, gab Mutter zurück. »Wenn ihr fertig seid, kannst du mir beim Mittagessen helfen.«

Ohne zu antworten, ging ich zu meiner Schwester zurück.

War irgendjemand in diesem Haus auch nur ein einziges Mal auf die wahnwitzige Idee gekommen, dass ich vielleicht, aber nur vielleicht, auch noch ein eigenes Leben hatte? Okay, ich war erst vor einigen Monaten siebzehn Sommer alt geworden, aber rechtfertigte das meinen Status als Magd und Kindermädchen?

»Kann ich nach dem Essen zu Natea rüber?«, fragte ich laut genug, damit mich meine Mutter hören konnte. »Wir wollten uns vor der Winterruhe noch einmal treffen.«

Meine beste Freundin wartete schon auf mich, weil ich tatsächlich gehofft hatte, ich würde hier früher wegkommen.

Von wegen!

»Muss das sein?«, durchdrang die Stimme meiner Mutter kurz darauf das Schweigen. »Ihr seht euch doch in sechs vollen Monden schon wieder, wo ist das Problem?«

Das Problem bist du!

Ich war so wütend über ihre Antwort und hatte keine Lust mehr, mir ständig vorschreiben zu lassen, was ich ihrer Meinung nach zu tun hatte. Verdammt noch mal, ich war eine junge Frau, ich wollte endlich meine eigenen Entscheidungen treffen!

Nur am Rande bekam ich mit, dass mich meine Schwester beobachtete. Also riss ich mich zusammen, tat so, als wäre alles in Ordnung und versuchte mich wieder auf ihre Wochenarbeit zu konzentrieren.

»Sag mal, seit wann weißt du denn von dieser Aufgabe?«, hakte ich plötzlich skeptisch geworden nach, weil ich einen solchen Bericht etwas zu aufwendig fand, für einen einzigen Tag.

Flo zog den Kopf ein, während sie antwortete: »Schon ziemlich lange«, gab sie kleinlaut zu.

Mit zusammengepressten Lippen zischte ich: »Und dann kommst du erst jetzt damit? Am letzten Tag?«

Da es sowieso keinen Sinn machte, meiner Schwester dafür den Kopf zu waschen – nun war das Kind ohnehin schon in den Brunnen gefallen – tat ich ihre Antwort mit einer lässigen Handbewegung ab und deutete stattdessen mit dem Zeigefinger auf das Blatt Papier.

»Wie lange dauert die Winterruhe?«, nahm ich unsere Arbeit wieder auf.

Flo war nicht blöd, sie hatte das Gespräch zwischen Mutter und mir natürlich mitbekommen.

»Sechs volle Monde«, gab sie grinsend zum Besten.

»Dann schreib das so auf«, kommandierte ich. »Und schreib am besten noch dazu, von wann bis wann.«

Flo ließ den Stift sinken und schaute mich ratlos an. Meine mäßig gute Laune sackte endgültig ab. Das hier würde noch viel länger dauern als befürchtet.

»Vom Herbst bis zum Frühling«, grummelte ich. »Deswegen nennt man es auch Winterruhe.«

Warum, überlegte ich zerknirscht, schreibe ich den ganzen Mist nicht gleich selbst auf, das würde mir zumindest eine Menge Zeit und vor allem auch Nerven ersparen.

Während meine kleine Schwester meine Antwort notierte, hing ich weiter meinen Gedanken nach.

Wenn man meiner besten Freundin Natea glauben konnte, hatte ich das beste Leben von allen, weil meine Mutter etwas ganz Besonderes war. Schon seit unzähligen Generationen wurden die jeweiligen Dörfer im Süden des Landes von Frauen angeführt. In jedem Ort gab es eine sogenannte Vorsteherin. Sie hatte das Sagen und kümmerte sich um die Belange der Anwohner. Dieses Privileg wurde von Generation zu Generation weitervererbt und immer an die Erstgeborene abgegeben. Und tatsächlich bekamen die Vorsteherinnen auch stets zuerst eine Tochter, ehe weitere Kinder geboren wurden, was die Sache natürlich enorm vereinfachte.

Wahrscheinlich hatte der Lichtgott seine Finger im Spiel, anders konnte ich mir die Tatsache nicht erklären, warum jeder Familie, in jeder Generation, immer erst eine Tochter geboren wurde, die später den Posten der Vorsteherin übernahm.

Jedenfalls wurde ich von all meinen Freunden darum beneidet, weil ich eben genau diese Tochter war.

Meine Familie lebte in Wohlstand. Wir wohnten im größten Haus, welches etwas außerhalb auf einer kleinen Anhöhe stand. Wir besaßen die schönste Pferdekutsche und die meisten Tiere. Wo meine Mutter auch auftauchte, wurde sie herzlich willkommen geheißen, unsere ganze Familie war im Dorf hoch angesehen und jeder wollte mit mir befreundet sein.

Die Schattenseiten konnte oder wollte dabei niemand sehen.

Auf mir als Erstgeborene lastete ein enormer Druck. Von klein auf hatte ich meinen Freunden gegenüber ein Vorbild sein müssen. Nie hatte ich mit den anderen Kindern draußen spielen dürfen, weil meine exquisiten Kleider nicht schmutzig werden sollten. Meine langen blonden Haare waren immer korrekt frisiert, das Gesicht sauber, meine Haltung aufrecht gewesen. Beständig ein Lächeln auf den Lippen, sobald wir das Haus verließen.

Ich habe es gehasst – und hasste es noch immer.

Doch so sehr ich mich auch dagegen auflehnte, ich konnte meinem Schicksal nicht entkommen.

Das würde meine Mutter nicht zulassen. Weil ich in ihre Fußstapfen treten musste. Auch wenn ich das gar nicht wollte.

Während Flo weiter ihre Notizen zu Papier brachte, sinnierte ich darüber nach, inwiefern andere Details aus unserer Geschichte für ihre Aufzeichnungen wichtig sein könnten.

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass die Kinder unseres Volkes nur in den Sommermonaten geboren wurden, unabhängig davon, wann eine Zeugung stattfand. Sobald bei der werdenden Mutter die Winterruhe einsetzte, verlangsamte sich ganz automatisch auch die Entwicklung ihres Babys im Mutterleib.

Wurde ein Kind etwa im Frühling gezeugt, kam es nicht im Winter zur Welt, sondern erst nach der Winterruhe.

Ebenso verhielt es sich mit unseren Tieren. Sie begaben sich, wie wir, pünktlich in der letzten Herbstnacht in die Winterruhe. Die gesamte südliche Natur verfiel dann in diesen Schlaf. Hasen gruben sich eine Höhle, Vögel suchten nach einer geeigneten Behausung zum Überwintern.

Für Kranke war die Winterruhe manchmal ein wahrer Segen. Unsere Körper nutzten die Auszeit zur Regeneration, was dazu führte, dass man sich beim Aufwachen wie neugeboren fühlte.

Aber eben nur manchmal.

Für unheilbar Kranke, genauso wie für alte und schwache Bewohner, bedeutete die Winterruhe der Antritt einer letzten Reise. Einige von ihnen würden im nächsten Frühjahr nicht mehr aufwachen. Das war immer ein ganz furchtbarer Moment für die Angehörigen.

Ich für meinen Teil empfand diese Art des Dahinscheidens als wahrer Akt der Güte. Im Schlaf zu sterben, ganz friedlich und ohne Schmerzen, wer wollte nicht so aus dem Leben scheiden?

Nach einiger Überlegung entschied ich mich dagegen und behielt meine Gedanken für mich. Solche Details musste Flo nicht aufschreiben. Die Notizen, die sie bis jetzt gesammelt hatte, genügten völlig.

»Fast fertig«, teilte mir Flo kurz darauf voller Begeisterung mit.

Flüchtig überflog ich das Geschriebene.

»Du könntest zum Schluss noch erwähnen, dass es nach der Winterruhe immer ein großes Wiedersehen am Götterhain gibt«, schlug ich vor.

Flo nickte hastig und kritzelte drauflos.

Der nächste Sommer wird mein Untergang sein, dachte ich über das Unvermeidbare nach, während ich meine kleine Schwester beobachtete.

Mein Magen zog sich zusammen.

Wann immer die Tochter einer Vorsteherin ihren achtzehnten Sommer erreichte, gab es ein riesiges Fest, zudem alle umliegenden Dörfer eingeladen wurden.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Das war kein Fest, sondern ein verdammter Heiratsmarkt!

Das Geburtstagskind sollte sich auf diesem Fest nämlich ihren zukünftigen Ehemann aussuchen, aus all den Familien, die aus den umliegenden Dörfern angereist waren.

Alle Jungs führten sich dabei auf wie liebestolle Idioten. Jeder wollte unbedingt der Auserwählte sein, weil es selbstredend eine große Ehre war, wurde man der Gemahl einer Vorsteherin. Immerhin führte besagter Mann ein sehr privilegiertes Leben, genoss alle Annehmlichkeiten und das hohe Ansehen in der Gemeinde.

Nachdem die Tochter der Vorsteherin ihre Wahl getroffen hatte, gab es eine Zeit des Kennenlernens, die ungefähr drei Sommerphasen andauerte. In besagter Zeit durfte sich das zukünftige Paar immer wieder treffen, um herauszufinden, ob eine Ehe auch wirklich funktionieren würde.

Der Auserkorene würde in dieser Zeit natürlich alles tun, um das Mädchen von der Richtigkeit ihrer Entscheidung zu überzeugen. Er würde sie umgarnen, ihr Blumen schicken und kostspielige Geschenke machen. Das volle Programm eben.

Bevor dann in ihrem einundzwanzigsten Sommer die imaginären Handschellen klickten und schlussendlich die große Hochzeit stattfand.

Ich schloss meine Augen und atmete kurz durch.

Im nächsten Sommer wurde ich achtzehn.

Meine Mutter konnte es scheinbar kaum erwarten, mich unter die Haube zu bringen, schon in diesem Sommer hatte sie mit den Vorbereitungen für meine Geburtstagsfeier begonnen. Und all meine Freunde, inklusive meiner besten Freundin Natea, beneideten mich darum.

In Wirklichkeit war ich diejenige, die alle anderen Mädchen beneidete. Weil sie so leben konnten, wie sie wollten – weil sie heiraten konnten, wann und wen sie wollten.

Meine Freundin wurde nicht dazu gezwungen, sich an ihrem achtzehnten Geburtstag einen Mann auszusuchen. Dieses Privileg galt nur der Tochter einer Vorsteherin.

»Fertig«, jauchzte Flo und riss mich damit endgültig aus meinen trüben Gedanken.

»Danke, Lea. Ohne dich hätte ich das nicht so schnell geschafft.«

Meine kleine Schwester fiel mir um den Hals und ich lächelte still in mich hinein.

Sie war noch so unschuldig. Süß und voller Träume. Und weil ich die Lasten der Erstgeborenen trug, durfte sie später all ihre Träume ausleben. Die Glückliche.

Mit einem Blick aus dem Fenster wandte ich mich an meine Mutter. »Wenn ich dir beim Mittagessen helfe, darf ich dann danach bitte zu Natea?«

Schon sehr früh hatte ich gelernt, mich lieber nicht mit meiner Mutter anzulegen. Sie war eine sehr starke Persönlichkeit und es durch ihre Stellung gewohnt Entscheidungen zu treffen und auch durchzusetzen. Wenn ich von meiner Mutter etwas wollte, funktionierte das am besten durch liebevolles Betteln. Damit kam ich bei ihr viel weiter als mit einem Wutanfall.

Meine Mutter unterbrach ihre Arbeit und richtete sich auf.

»Hast du den Geschirrschrank eingeräumt?«

»Ja, Mutter.«

»Der Fußboden im Arbeitszimmer muss noch gewischt werden«, gab sie bekannt.

»Sobald du mit den Betten fertig bist, kann ich wischen«, ergab ich mich ihrem Willen. »Und heute Abend, sobald ich zurück bin, werde ich auch noch meine restlichen Sachen aufräumen.«

In meiner Position war es immer gut noch mehr anzubieten, als von mir gefordert wurde. Das brachte zusätzliche Pluspunkte.

»In Ordnung«, gab Mutter schließlich nach. »Aber bei Einbruch der Dunkelheit bist du Zuhause, haben wir uns verstanden?«

»Natürlich.«

So kurz vor der Winterruhe wollte niemand mehr in der Dämmerung draußen sein. Was immer es noch zu erledigen gab, es musste fertig sein, ehe die Sonne am Horizont verschwand.

»Das hat ja ewig gedauert«, begrüßte mich meine Freundin an ihrer Haustür. »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«

Mit ihren hübschen blauen Augen betrachtete sie mich vorwurfsvoll.

»Hausarbeit«, entschuldigte ich mich. »Du kennst das ja.«

»Wem sagst du das«, stöhnte Natea, fasste dabei nach meiner Hand und zusammen rannten wir die Straße entlang.

»Ich durfte heute schon beim Stall ausmisten helfen«, verkündete sie mit kraus gezogener Nase. »Und weißt du was? Meine Stute bekommt im nächsten Frühling ihr erstes Fohlen.«

Ich wusste, wie sehr Natea an ihrem Pferd hing. Die Stute war ihr ein und alles.

Meine Mutter wollte nicht, dass ich mich im Stall aufhielt, denn ich sollte als Vorzeigetochter nicht nach Dung riechen.

»Das ist schön«, sagte ich, mit meinen Gedanken meilenweit weg.

»Die anderen warten schon«, teilte mir meine Freundin mit, kaum dass wir das Dorf hinter uns gelassen hatten.

Die anderen waren Delia, Amina, Merrick, Karan und noch ein paar andere Jugendliche, deren Namen ich mir nicht merken konnte, weil wir außerhalb der Lehrzeit kaum Kontakt hatten. Nur an diesem einen besonderen Abend versammelten sich alle Jugendlichen der umliegenden Dörfer, um gemeinsam, ohne elterliche Aufpasser, ein bisschen zu feiern. Dann saßen wir alle zusammen um ein Lagerfeuer, ließen Wein herumgehen und einige Jungs erzählten Gruselgeschichten.

Ich liebte diesen einen unbeschwerten Abend und freute mich jeden Sommer wie verrückt darauf.

Kaum hatten wir die Lichtung erreicht, machte sich in mir stille Vorfreude breit. Mit angehaltenem Atem ging ich weiter, meine Augen streng nach vorne auf das Lagerfeuer gerichtet.

»Merrick ist auch schon da«, flüsterte mir Natea zu und winkte einer Gruppe Jungs, die im lockeren Halbkreis um das Feuer herumstanden und sich unterhielten.

»Sei still«, flüsterte ich zurück und drückte zur Warnung ihre Hand.

Natea kicherte. »Was ist denn? Inzwischen weiß doch sowieso jeder, dass er was von dir will.«

Deswegen musste sie es trotzdem nicht über die ganze Lichtung rufen.

Delia und Amina begrüßten uns mit einer innigen Umarmung. »Das ist alles so aufregend«, quietschte Delia. Ihre dunkelblonden Zöpfe wirkten im Schein des Feuers wie lodernde Flammen.

»Oh ja, das ist es«, pflichtete Amina ihr bei.

Ehe ich auch etwas dazu sagen konnte, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie Merrick und ein weiterer Junge in unsere Richtung kamen. Alles in mir versteifte sich augenblicklich.

Der große blonde Junge mit den strahlend blauen Augen blieb unmittelbar vor mir stehen.

»Hallo, Solea«, richtete er sogleich das Wort an mich. »Es ist schön, dich zu sehen.«

Dabei hatten wir uns gerade erst gestern während des Unterrichts getroffen.

»Hallo«, brachte ich mühsam hervor. Meine Stimme zitterte, worüber ich mich ein wenig ärgerte.

»Das ist Nicos«, stellte er seinen Begleiter vor. »Mein Cousin.«

Mir fiel sofort auf, dass sich meine beste Freundin augenblicklich versteifte. Offenbar gefiel ihr, was sie sah. Sehr sogar. Ihre Wangen röteten sich verräterisch, während sie den fremden Jungen mit großen Augen anstarrte.

Da boxte mich Delia ungeduldig in die Seite.

»Kommt ihr? Sonst sind die guten Plätze alle weg.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, packte sie meinen Arm und schleifte mich hinter sich her. Ich schaffte es gerade noch Natea mitzuziehen.

»Ich dachte, du magst Merrick«, fragte Amina, die uns folgte. »Oder irre ich mich?«

»Ich mag ihn ja auch«, gab ich schulterzuckend zu. »Aber was spielt das schon für eine Rolle, er hat sowieso keine Chance.«

Amina warf mir einen fragenden Blick zu, während wir uns durch die Menge schlängelten, auf der Suche nach einem geeigneten Platz, möglichst nah am Feuer.

»Solea wird nächsten Sommer achtzehn«, führte Natea meine Antwort weiter aus. Sie hatte sich endlich wieder gefasst, nachdem der fremde Junge aus unserem Sichtfeld verschwunden war. »Und Merricks Familie verfügt leider nicht über das nötige Vermögen.«

Was mir völlig egal ist, nur meiner Mutter nicht, fügte ich in Gedanken hinzu.

»Oh«, machte Amina und schaute mich mit großen Augen an.

Ich hasste diese Blicke und tat mein Möglichstes, ihnen keine Beachtung zu schenken. Eine Mischung aus Ehrfurcht, Neugierde und Mitleid – darauf konnte ich gut verzichten.

Nachdem Natea endlich einen geeigneten Platz gefunden hatte, machten wir es uns am Lagerfeuer bequem, begrüßten nebenbei noch ein paar Freunde und warteten ungeduldig darauf, dass die Jungs mit ihren Erzählungen loslegten.

Delia reichte mir einen Krug mit Wein, den sie bei ihrem Vater aus dem Keller stibitzt hatte. Ich nahm einen kräftigen Schluck gegen die Kälte. Und noch einen, um mich besser zu fühlen. Merrick und sein Cousin standen unmittelbar neben uns, was mir erst auffiel, als ich mich suchend nach ihm umschaute.

Er reagierte auf meinen Blick mit einem Lächeln und ich erwiderte es scheu. Warum war die Welt nur so ungerecht, fuhr es mir durch den Kopf. Ich mochte Merrick. Ich mochte ihn wirklich. Doch die Lage war aussichtslos. Seine Familie verfügte nicht über die nötigen Mittel, um eine Brautwerbung stemmen zu können. Wenn ich ihn trotzdem wählte, das wusste ich von meiner Mutter, die mich auf solche Fälle vorbereitet hatte, würde ich ihn und seine Familie in den Ruin treiben.

Deshalb, und nur deshalb, musste ich mich von ihm fernhalten, ob ich dazu bereit war oder nicht.

»Es geht los«, raunte mir Natea zu.

Einer der älteren Jungs stand auf und stellte sich in die Mitte, mit dem Feuer im Rücken, was den gewollt unheimlichen Effekt verstärkte.

»Die Dunkelheit naht«, begann der Junge zu erzählen. »Und mit ihr kommt das Böse in unsere Reihen. Verschließt eure Türen und betet zum Lichtgott, dass ihr verschont bleibt ...«

Aufmerksam lauschte ich seinen Worten und hatte Mühe, meine Anspannung in Zaum zu halten. Genau diese Art von Geschichten waren der Grund dafür, weshalb ich nicht wollte, dass meine kleine Schwester etwas von alledem mitbekam. Weil es nicht nur eine Geschichte war, ausgedacht von irgendeinem Jungen, der uns damit Angst einjagen wollte. Sondern die reine unverblümte Wahrheit.

Zuerst kam die Dunkelheit in unser Dorf. Wie ein Leichentuch legte sich die Nacht über den Süden, schlängelte sich durch sämtliche Straßen und verschluckte jedes einzelne Haus, bis man nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen konnte.

Dann kamen die Wölfe.

Riesige schwarzgraue Tiere, beinahe doppelt so groß wie die Wölfe, die sonst durch unsere Wälder streiften, so erzählte man sich. Mit tiefschwarzen Augen patrouillierten sie durch jedes Dorf, durchwanderten jede Straße, um sich davon zu überzeugen, dass niemand mehr draußen unterwegs war. Man munkelte, die Wölfe würden so lange bleiben, bis auch der Letzte von uns eingeschlafen war. Dann zogen sie sich in die umliegenden Wälder zurück, um dort die nördliche Grenze zu bewachen.

Manchmal, wenn ich als kleines Kind nicht gleich hatte einschlafen können, hatte ich sie draußen um unser Haus herumschleichen hören. Wie sie an der Tür schnüffelten, unter jedem Fenster kurz stehenblieben. Dann hatte ich mir schnell die Bettdecke über den Kopf gezogen und auf den Schlaf gewartet.

Die Wölfe waren die ersten Vorboten der dunklen Jahreszeit. Sie erreichten unser Dorf, welches sich von allen südlichen Gemeinden am nächsten zur nördlichen Grenze befand, immer als erstes – lange, bevor die anderen Dörfer von ihnen heimgesucht wurden.

Unmittelbar nach Ankunft der Wölfe setzte die Kälte ein. Schon bald darauf fiel der erste Schnee, das wusste ich aus den Geschichtsbüchern. Zu diesem Zeitpunkt schliefen alle Dorfbewohner tief und fest – anders konnte ich mir nicht erklären, warum ich bis heute noch nie einer Person begegnet war, die mir erzählen konnte, wie echter Schnee aussah.

Natürlich gab es immer mal wieder ein paar waghalsige Jungs, die laut damit prahlten, sie würden einfach wachbleiben, um sich dem Bösen zu stellen und es aus ihrem Dorf zu verjagen. Allerdings mussten sie im nächsten Frühjahr einsehen, was wir anderen ohnehin schon wussten: Es gab keine Möglichkeit, wachzubleiben, selbst ich hatte das schon versucht.

Die bleierne Müdigkeit setzte ein sobald es Nacht wurde, und selten schaffte man es danach, noch länger als eine kleine Weile durchzuhalten.

Doch das Böse gab es wirklich und damit waren nicht die Wölfe gemeint, die sicherlich der Schattengöttin gehörten und ihre Regentschaft ankündigten. Vielmehr waren damit die Angehörigen des Nordvolkes gemeint, die immer wieder in unsere Dörfer kamen, unsere Speicher aufbrachen, Vorräte plünderten und unser schlafendes Vieh töteten oder verschleppten.

Dabei gingen sie nicht gerade zimperlich vor. Oftmals verwüsteten sie auf ihren Streifzügen ganze Häuser und hinterließen das pure Chaos.

Zum Glück waren sie noch nie in unserem Haus gewesen. Doch ich hatte das Unaussprechliche schon mit meinen eigenen Augen gesehen.

Im letzten Winter hatte es unseren Nachbarn besonders hart getroffen. Sie hatten den Großteil seines Viehs an Ort und Stelle getötet, ausgeweidet und dabei ein wahres Blutbad angerichtet.

Das waren Monster.

So etwas Grauenvolles, davon war ich fest überzeugt, konnte nur von einem Scheusal angerichtet werden.

Wir waren ein friedliebendes Volk. Man kannte sich, konnte nachts die Türen unverschlossen lassen, niemand hatte etwas zu befürchten.

Die Winterruhe war die einzige Zeit, in der wir die Schlösser an unseren Türen benutzten.

Niemand wusste so genau, warum das Nordvolk Winter für Winter unsere Dörfer entlang der Grenze überfiel und uns ausraubte, während wir wehrlos in unseren Betten lagen. Schon oft hatte ich mich gefragt, wie sie die Grenze passieren konnten, wenn dort die Wölfe Wache hielten. Nur wahren Ungeheuern konnte so etwas gelingen, davon war ich überzeugt.

Bis jetzt hatte es zum Glück nur materielle Schäden gegeben. Doch allein die Angst, es könnte eines Tages etwas Schlimmes passieren, beherrschte in jeder Nacht vor der langen Winterruhe mein gesamtes Denken.

Teilweise lähmte mich die Angst um mein Leben, um das Leben aller Bewohner in unserem Dorf, schon Tage vorher. Manchmal wurde es so schlimm, dass ich mich regelrecht zusammenreißen musste, um die Zeit unmittelbar vor der Dämmerung ohne einen hysterischen Anfall zu überstehen.

Dabei nützte es leider auch nicht viel, wenn mich mein Vater zu beruhigen versuchte, indem er mir versicherte, dass die Schlösser an unserer Tür ganz sicher halten würden.

Ich hatte trotzdem furchtbare Angst.

Von der langen Winterruhe selbst bekam ich nicht viel mit, ehe ich mich versah, gefühlt nur einen Wimpernschlag später, hatte mich das Leben wieder.

Allerdings beharrte meine Mutter darauf, dass wir in den letzten Wochen vor der Winterruhe sehr viel mehr essen mussten, um ein Polster anzulegen, damit unser Körper über eine Reserve verfügte, von der er zehren konnte, während wir schliefen. In dieser Zeit wurde mir regelmäßig schlecht, weil ich einfach nicht so viel essen konnte, wie von mir verlangt wurde. Was meine Mutter jedoch nicht daran hinderte, mich weiterhin sinnlos vollzustopfen.

Unser Treffen endete viel schneller, als mir lieb war – und schon standen wir wieder vor dem Haus meiner Freundin.

Der Abschied nahte.

Dennoch fühlte ich mich leicht beschwingt, was eindeutig an dem Wein lag. Um meine Angst niederzukämpfen, hatte ich wohl den einen oder andern Schluck zu viel genommen.

Natea drückte mich fest an sich.

»Wir sehen uns bald wieder«, sagte sie lächelnd. »Ich vermisse dich jetzt schon.«

»Du wirst nicht einmal merken, dass ich weg bin«, witzelte ich. »Weil du tief und fest schläfst. Genau wie ich.«

Sie grinste schief. »Du weißt, was ich meine«, winkte sie ab. »Richte deiner Familie liebe Grüße aus.«

Schmunzelnd erwiderte ich ihre Umarmung. »Mache ich. Bis später«, verabschiedete ich mich von ihr, winkte noch einmal kurz und machte mich auf den Weg.

Die Fackeln an den Häusern brannten bereits, als ich endlich Zuhause ankam.

Vater empfing mich an der Haustür.

»Du kommst spät«, tadelte er mich. Als ich nichts erwiderte, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. »Wie war dein Abend?«

Schulterzuckend folgte ich ihm ins Haus. »Ganz nett. Natea lässt schön grüßen.«

Mein Vater verriegelte die Tür hinter uns, kaum, dass wir unser Haus betreten hatten.

Ich mochte das Geräusch der einzelnen Schlösser nicht, wenn sie einrasteten. Ein Gefühl von Platzangst überkam mich.

»Das wurde aber auch Zeit«, erreichte mich die wütende Stimme meiner Mutter hinter mir.

Erschrocken wirbelte ich herum, murmelte eine Entschuldigung und machte mich sogleich daran, den Tisch für das Abendessen zu decken, um sie zu beschwichtigen.

Niemand sagte etwas, die letzte üppige Mahlzeit wurde größtenteils schweigend eingenommen. Nur Flo plapperte hin und wieder etwas Belangloses, was mich jedoch kaum interessierte, weil ich mit meinen Gedanken schon längst woanders war.

»Du hast schon wieder kaum etwas gegessen«, warf mir meine Mutter vor.

»Kein Hunger«, gab ich ohne Blickkontakt zurück.

Es machte ohnehin keinen Sinn, mit meiner Mutter darüber zu diskutieren. Ganz egal, wie viel ich in mich hineinstopfen würde, für sie wäre es noch immer zu wenig.

»Du weißt einfach nicht zu schätzen, wie gut du es hast«, stieß Mutter mit einem Seufzer hervor. »Du solltest wirklich glücklich sein, weil du ein solch privilegiertes Leben führst.«

Von wegen. Mein Leben war vielleicht privilegiert, aber alles andere als glücklich. Das schien außer mir nur niemandem aufzufallen.

Um meine Mutter nicht noch mehr zu provozieren, tat ich einfach so, als hätte ich sie nicht gehört.

Während der Lehrzeit hatten wir das Thema Ernährung vor der Winterruhe zu Genüge ausdiskutiert, deshalb wusste ich auch, was passieren konnte, wenn ich nicht genug Nahrung zu mir nahm.

Unser Körper folgte einem inneren Zeitgefühl, das dafür sorgte, dass wir zu Beginn des Frühlings wach wurden. Allem Anschein nach bestand durchaus die Gefahr etwas früher wach zu werden, wenn dem Körper die Energiereserven ausgingen. In diesem Fall gab es nur zwei Möglichkeiten: etwas Essbares auftreiben oder den Hungertod sterben – so stand es zumindest in den Büchern.

So ein Schwachsinn.

Auf die Tiere im Wald mochte das eventuell zutreffen, aber doch nicht auf uns. Im eigenen Haus aufzuwachen, vor der Zeit, was sollte da schon passieren, schließlich gab es reichlich Nahrung. Außerdem hatte ich noch nie von jemandem gehört, der tatsächlich zu früh aufgewacht war.

Vielleicht, grübelte ich weiter, war das auch wieder nur so eine Geschichte, die man den Kindern erzählte, um sie folgsam zu machen.

Meine Mutter ließ jedenfalls keine Gelegenheit aus, um mich daran zu erinnern, wie wichtig es war, vor der Winterruhe reichlich zu essen.

Flo hatte bereits ihr Nachthemd angezogen und lag im Bett, als ich mit meiner Arbeit endlich fertig wurde.

»Ich muss mal«, erklärte sie kurz darauf und warf die Bettdecke zur Seite.

»Vorhin habe ich dich dreimal gefragt«, schimpfte Mutter mit erhobenem Zeigefinger.

Flo rannte an ihr vorbei. »Da musste ich aber noch nicht.«

Schnurstracks schlug sie den Weg zum Abort ein.

Ich schaute ihr hinterher und lächelte über ihre Unbeschwertheit.

Und während sich Flo wenige Augenblicke später wieder in ihr Bett kuschelte, beobachtete ich in Gedanken versunken das prasselnde Feuer in unserem Kamin.

Unser Haus verfügte über zwei Stockwerke. Unten befand sich die Küche, mit dem Essplatz, der aus einem großen Tisch und vier Stühlen bestand. Dann gab es noch eine große Wohnstube mit einem wunderschönen Kamin und einer Leseecke, die ich abends sehr gerne für mich beanspruchte. Zwischen der Abstellkammer und einem Raum, der von meinem Vater vorwiegend für geschäftliche Arbeiten genutzt wurde, befanden sich die Badestube, in der eine große Holzwanne stand und ein kleiner Raum für den Abort.

Außer unserer Familie gab es noch nicht sehr viele Leute im Dorf, die schon einen Abort im Haus ihr Eigen nennen durften. Die meisten mussten noch immer nach draußen auf den Hof gehen, wenn sie ihre Notdurft verrichten wollten. Für uns brachte es natürlich einige Annehmlichkeiten mit sich, ihn direkt im Haus zu haben, wenn es in Strömen regnete. Dafür musste Vater zwar täglich mehrere Eimer Wasser ins Haus tragen, zum Nachspülen, aber das war allemal besser als nachts in die Dunkelheit hinaus zu müssen.

In der oberen Etage befanden sich unsere Schlafräume. Helle, große Zimmer mit allen Bequemlichkeiten, die man sich vorstellen konnte: Jeder Raum verfügte über einen eigenen Kamin, ein großes weiches Bett, einen geräumigen Kleiderschrank und für uns Frauen gab es Frisierkommoden. Wir hatten sogar Vorhänge an den Fenstern und dicke Teppiche in jedem Schlafzimmer. Eine sehr kostspielige Annehmlichkeit.

Doch heute, in der Nacht vor der großen Winterruhe, standen vier provisorische Betten bei Vater im Arbeitsraum. Auf diese Weise blieb die Familie zusammen und ich fühlte mich in der Nähe meiner Eltern wesentlich wohler – in dem Wissen, für die nächsten sechs vollen Monde die Winterruhe nicht ganz allein in meinem eigenen Zimmer verbringen zu müssen.

Später, nachdem wir schon längst in unseren Betten lagen und die Tür von innen fest verriegelt worden war, starrte ich pausenlos an die Decke und wartete darauf, dass mich der Schlaf übermannte und damit endlich meine innere Unruhe auslöschte.

Mutter hatte bereits die letzte Kerze gelöscht, sie schlummerte friedlich neben meinem Vater. Selbst Flo war inzwischen eingeschlafen.

Während ich noch darüber nachdachte, ob ich wohl auch diesmal hören würde, wenn die Wölfe kamen, fielen mir die Augen zu ...

2

Ich erwachte, riss die Augen auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Mein Atem, der stoßweise kam, bildete kleine dichte Wölkchen in der Luft. Im Zimmer war es zu kalt.

Vater wurde immer zuerst wach, also hätte er bereits Feuer gemacht.

Am ganzen Leib zitternd, setzte ich mich vorsichtig auf.

Meine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander – anscheinend, hatte sich meine Körpertemperatur noch nicht wieder reguliert.

»Mutter? Vater?«

Keine Reaktion.

»Flo, bist du wach?«

Eine unheimliche Stille umgab mich. Mit angehaltenem Atem lauschte ich auf irgendein Geräusch, bis mir schlagartig bewusst wurde, dass außer mir noch niemand bei Bewusstsein war.

»Zu früh«, murmelte ich schlotternd und schaute mich dabei im Zimmer um.

Meine Familie schlief tief und fest. Ganz offensichtlich war es noch nicht an der Zeit, aufzuwachen.

Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, lehnte ich mich zurück, kniff die Augen fest zusammen und wartete darauf, dass ich wieder einschlief.

Doch nichts dergleichen geschah.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der die nagende Kälte von meinem schlotternden Körper immer mehr Besitz ergriff, entschloss ich mich dazu, kurz aufzustehen, um mir etwas Wärmeres anzuziehen.

Zur Winterruhe trug ich über meiner Unterwäsche ein weißes, langes Beinkleid, dazu einen langärmligen weißen Überwurf aus Wolle und warme Socken. Dennoch überkam mich gerade das Gefühl, ich würde splitterfasernackt in der eisigen Kälte stehen. Mir wollte einfach nicht warm werden.

Zögernd erhob ich mich, schlich auf leisen Sohlen um mein Bett herum und visierte den Kleiderschrank an – der Dank meiner Mutter fest verschlossen war.

So ein Ärgernis.

Noch immer vor Kälte zitternd, versuchte ich mich zu konzentrieren, um einen klaren Gedanken zu fassen. Dabei fiel mein Blick auf die Zimmertür.

In der Wohnstube lag meine Lieblingsstrickjacke, ordentlich zusammengelegt in einer Truhe, neben den anderen warmen Sachen. Die brauchten wir, um die Aufwachphase zu überbrücken, da der Körper eine Weile benötigte, um wieder auf seine normale Temperatur zu kommen. Für kühle Frühlingstage genau die richtigen Kleidungsstücke.

Der Gedanke an meine kuschelige Jacke war wirklich verlockend. Mit einem flüchtigen Blick auf meine schlafende Familie, die ich im Halbdunkel kaum erkennen konnte, schnappte ich mir den Schlüssel, der neben meinem Vater auf einem kleinen Hocker lag.

Das Metall quietschte verräterisch, als ich den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Erschrocken zuckte ich zusammen.

Doch es blieb still, niemand wachte auf.

Voller Erleichterung schob ich den dritten und letzten Riegel zur Seite, drückte die Türklinke hinunter und schlüpfte durch einen schmalen Spalt hinaus in die Küche. Auch hier war es stockdunkel.

Nachdem sich meine Augen einigermaßen an die Finsternis gewöhnt hatten, zog ich die Tür leise hinter mir ins Schloss und tastete mich entlang der Wand bis zum ersten Küchenschrank vor, dort bewahrte Mutter die Kerzen auf. Gleich daneben lag ein Bündel Zündhölzer mit dem dazugehörigen Zunderstein. Behutsam entzündete ich eines der Hölzchen und hielt anschließend den Docht der Kerze ins Feuer.

Eine wohlige Wärme breitete sich direkt vor meinem Gesicht aus, weshalb ich einen Atemzug lang innehielt und die Augen schloss. Noch nie in meinem bisherigen Leben war mir derart kalt gewesen. Ob das nun an den eisigen Temperaturen im Haus lag oder eher daran, dass sich mein Körper noch halb in der Schlafphase befand, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich wusste nur eins: Mir war furchtbar kalt und diesen Zustand wollte ich so schnell wie möglich beheben.

Mit routinierten Handgriffen stellte ich die Kerze in die dafür vorgesehene Halterung, schob das Glas darüber und nahm die Lampe in die rechte Hand.

Viel besser.

Zwar schenkte die kleine Kerze nur unzureichend Licht, doch ich wagte es nicht, den großen Leuchter über dem Esstisch anzuzünden. Mutter würde mich umbringen, wenn sie davon erfuhr. Auf keinen Fall durfte sie mitbekommen, dass ich vor der Zeit aufgewacht war. Sie würde fürchterlich schimpfen, weil ich nicht auf sie gehört hatte und vor der Winterruhe zu wenig gegessen hatte.

Wie zur Bestätigung rumorte es heftig in meinem Magen und kurz darauf wurde mir übel.

So was aber auch.

Zähneknirschend musste ich meiner Mutter recht geben, denn allem Anschein nach war ich zu früh aufgewacht, weil mein Körper tatsächlich seine Reserven verbraucht hatte.

Nur sollte ich nicht so einfach an etwas Essbares herankommen, wie mir schmerzhaft bewusst wurde. Jedenfalls nicht, ohne mächtig Krach zu machen. Mutter hatte sämtliche Vorratsschränke verriegelt und verrammelt – wie immer.

Sämtliche Schlüssel, mit Ausnahme von denen für Stall und Haustür, lagerten im Schlafraum unter dem Kopfkissen meiner Mutter. Hilfesuchend schaute ich mich in der Küche um, bis mir das Geheimversteck meiner kleinen Schwester einfiel. Flo hortete gerne Süßigkeiten, für schlechte Zeiten, wie sie sagte.

Hastig ging ich in die Hocke und suchte unter dem Schrank nach besagter kleiner Schachtel, die dort von meiner Schwester deponiert worden war.

Volltreffer.

Ich stellte die Lampe auf dem Schrank ab und schob den Deckel vom Karton. Einige Honigpastillen kamen zum Vorschein, eine Handvoll Plätzchen lag obenauf. Gierig griff ich danach und schob sie mir allesamt in den Mund. Noch nie hatten vertrocknete Plätzchen so himmlisch geschmeckt.

Während ich genüsslich kaute, fiel mein Blick auf die Truhe im Wohnraum, die dort stand und auf ihren Einsatz wartete.

Mutter überließ nichts dem Zufall, das tat niemand in unserem Dorf.

Doch die Truhe war natürlich, wie sollte es auch anders sein, verschlossen.

Selbst die Tür, die im zweiten Stock zu unseren Zimmern führte, war versperrt, weshalb ich auch nicht an meine anderen Sachen oben in meinem Kleiderschrank herankommen würde.

Da ich dort ohnehin nur Sommerkleider und leichte Blusen aufbewahrte, machte es für mich jedoch keinen Sinn, das Schloss an der Tür aufbrechen zu wollen.

Die richtig interessanten Kleidungsstücke lagen in der Truhe.

Wild entschlossen stopfte ich mir noch eine Honigpastille in den Mund, behielt ein paar für später zurück, schob den Deckel auf die Schachtel und stellte die kleine Kiste zurück in ihr Versteck. Bewaffnet mit einem Messer aus der Küche und meiner Lampe, die meinen Pfad nur spärlich ausleuchtete, machte ich mich auf den Weg in die Wohnstube.

Dort stellte ich die Lampe auf den Kamin, kniete mich vor die Truhe und inspizierte genauestens das alte, leicht verrostete Schloss. Vorsichtig setzte ich das Messer an und drückte die Klinge in den Spalt, der für den Schlüssel bestimmt war. Nach einigen Schwierigkeiten, ich wollte schon aufgeben, klickte es plötzlich und das Schloss sprang auf.

Erfreut jauchzte ich. Dann zuckte ich zusammen, weil ich befürchtete, ich könnte meine Eltern geweckt haben.

Doch es blieb still im Haus.

Eilig hob ich den Deckel an. Obenauf lagen die Sachen meines Vaters. Eine Hose, zwei paar warme Socken, sein dicker Stricküberwurf und robuste Schuhe. Darunter entdeckte ich die Garderobe meiner Mutter. Das grüne, lange Baumwollkleid, ein roter Überwurf aus Wolle, die braune Strickjacke, das Beinkleid und ihre Halbschuhe.

Endlich ertasteten meine Hände den Stapel mit meinen Sachen. Noch immer am ganzen Leib zitternd, förderte ich meine kuschelige Strickjacke zutage und schlüpfte, kaum, dass ich sie aus der Truhe befreit hatte, hinein.

Mein blaues langärmeliges Kleid und das wollene Beinkleid ließ ich liegen, schließlich wollte ich mich wieder in mein Bett verkriechen, sobald mir etwas wärmer wurde.

Zur Sicherheit schlüpfte ich noch in meine weißen Halbschuhe, um meine eiskalten Füße ein wenig aufzuwärmen.

Viel besser.

Ganz allmählich regulierte sich meine Temperatur nach oben, was mich etwas verunsicherte.

Konnte ich überhaupt wieder einschlafen, wenn sich mein Körper schon auf das Wachbleiben einstellte?

Während ich gründlich darüber nachdachte, stopfte ich die übrig gebliebenen Honigpastillen in meine Jackentasche, dabei wanderten meine Augen zur Haustür.

Ob draußen noch Schnee lag?

Bis jetzt hatte ich noch nie echten Schnee gesehen, kannte ihn nur von Erzählungen und aus den Geschichtsbüchern in unseren Lehrräumen. Normalerweise würde ich auch niemals echten Schnee zu Gesicht bekommen.

Normalerweise ...

Meinen Blick streng auf die Tür gerichtet, schnappte ich mir die Kerze vom Kamin. Meine Füße bewegten sich wie von selbst zur Haustür.

Das ist eine einmalige Chance, versuchte ich meine nagende Neugierde zu rechtfertigen und schob die Kerze auf den Esstisch. So eine Möglichkeit bekommst du nie wieder.

Doch was ist mit den Wölfen, fuhr es mir durch den Kopf. Sie waren dort draußen irgendwo. Auf keinen Fall wollte ich sie auf mich aufmerksam machen. Womöglich, grübelte ich darüber nach, stimmte es, was man sich erzählte, und die Wölfe waren längst aus unserem Dorf verschwunden, um die nördliche Grenze zu bewachen.

Zögerlich griff ich nach dem ersten von drei großen Riegeln an unserer Haustür. Nur einen kurzen Blick riskieren, beruhigte ich mein vor Aufregung rasendes Herz. Danach würde ich mich sofort und auf der Stelle in mein Bett verkriechen!

Schlussendlich siegte die Neugierde über meine Angst vor dem Unbekannten. Der Gedanke, ich würde zum ersten Mal in meinem Leben echten Schnee sehen, überlagerte jegliche Panikgefühle.

Als der letzte Riegel den Weg freigab, zitterten meine Hände unaufhörlich – diesmal jedoch nicht vor Kälte. Ich konnte es kaum erwarten die Tür zu öffnen.

Keine Wölfe, redete ich mir ununterbrochen ein. Daran musste ich nur fest genug glauben.

Es klickte kurz und das Türschloss gab nach.

So leise wie möglich drückte ich die Türklinke nach unten, dabei schaute ich immer wieder hinter mich, um mich zu vergewissern, dass niemand aufwachte. Meine Finger umfassten den Holzrahmen. Mit aller Kraft schob ich die schwere Tür einen winzigen Spalt breit auf.

Das Erste, was ich bemerkte, war die eisige, klare Luft, die mir sogleich entgegenschlug. Voller Erwartung steckte ich meinen Kopf durch den Türspalt.

Der Anblick versetzte mich in staunen. Vergessen waren die Wölfe.

Unsere Straße war kaum wiederzuerkennen. Es musste kurz vor Tagesanbruch sein, der Mond stand nicht mehr ganz so hoch am Himmel, weiter hinten konnte ich bereits die aufgehende Sonne erkennen.

Das Weiß hatte sich wie eine flauschige Decke über allem ausgebreitet – es lag mindestens kniehoch. Unaufhörlich rieselten dicke Flocken vom Himmel. Es war still im Dorf, der Schnee schien sämtliche Geräusche zu verschlucken. Eine friedliche Stille, die mich tief beeindruckte.

Meine Faszination übermannte mich endgültig.

Vorsichtig streckte ich einen Arm durch den schmalen Türspalt und öffnete meine Hand.

Als die erste Flocke auf meine Haut traf und ich mich vorbeugte, um sie mir genauer anzusehen, bemerkte ich die winzigen filigran geformten Eiskristalle, ehe die Schneeflocke in meiner Handfläche zu einer kleinen Pfütze zerschmolz. Ungeduldig wartete ich auf das nächste Flöckchen, das nicht sehr lange auf sich warten ließ.

Jede wies ein anderes Muster auf. Wunderschön gearbeitete kleine Kunstwerke der Natur. Funkelnde, weiße Kristalle, so wunderschön.

Ich konnte gar nicht genug bekommen. Meine Handfläche war inzwischen pitschnass, was mich jedoch wenig störte, genauso wenig wie die Kälte, die mit den Schneeflocken einherging. Voller Bewunderung fing ich immer wieder welche auf und betrachtete sie mit Staunen, ehe sie wenige Augenblicke später schmolzen.

Inzwischen stand ich ganz und gar auf der Türschwelle, beide Arme nach vorn ausgestreckt, und war ganz versunken in diesen faszinierenden Anblick. Unser Dorf war wunderschön.

Die Dächer der umliegenden Häuser lagen unter einer dicken Schneedecke. Dichter Nebel war an den Bäumen und Sträuchern festgefroren, er ließ Äste und Zweige im sanften Mondlicht funkeln wie tausend winzige Diamanten. Es wirkte alles wie ein verwunschener Ort aus einem fernen Wintermärchen.

Voller Wehmut dachte ich darüber nach, weshalb es mir nicht vergönnt war, auch im Winter ein waches Leben zu führen.

Wieso musste ich schlafen, während die Natur eine solche atemberaubend schöne Kulisse herbeizauberte – das war ungerecht.

Während ich so dastand, mit dem Rücken am Türrahmen lehnend, und mich selbst bemitleidete, schaute ich gedankenverloren zum Himmel hinauf. Sonne und Mond standen nun nah nebeneinander. Ein Schauspiel von beeindruckender Schönheit, welches ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Nicht mehr lange, überlegte ich, dann würde ein neuer Tag anbrechen.

Wie mochte unser Dorf wohl am helllichten Tag aussehen, inmitten dieser weißen Pracht?

Der Schnee würde im Sonnenlicht noch mehr glitzern, davon war ich überzeugt. Einzelne Strahlen würden sich in den winzigen Kristallen brechen und alles zum Funkeln bringen.

Oh, ich wünschte, ich könnte es sehen!

Die Versuchung wurde immer größer.

Just in dem Moment hörte ich gedämpft ein paar Stimmen, die langsam aber beharrlich näherkamen. Mit angehaltenem Atem lauschte in die verschneite Stille.

War noch jemand außer mir aufgewacht?

Neugierig geworden, machte ich einen Schritt nach vorn über die Schwelle und sah mich um. Augenblicklich schoss mein Puls nach oben.

Das konnte niemand aus unserem Dorf sein, dessen war ich mir plötzlich sicher. Selbst wenn noch jemand außer mir aufgewacht war, so würde derjenige ganz sicher nicht bei dieser Kälte durchs Dorf laufen, sondern im Haus bleiben und versuchen sich warm zu halten.

Das konnte nur bedeuten ...

Mit einem Satz sprang ich ins Haus zurück, drückte die Tür ins Schloss und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Mein Herz schlug so laut, dass ich Mühe hatte richtig zu atmen.

Das Böse war in unserem Dorf.

Meine Gedanken überschlugen sich, während ich inständig darauf hoffte, dass sich die Stimmen, die zweifellos zu Männern gehörten, wieder von mir entfernen würden.

Was sollte ich tun?

Doch sie kamen näher, ich erkannte, dass es sich um mindestens zwei Männer handeln musste. Fast konnte ich verstehen, worüber sie sprachen. Dann entfernte sich plötzlich einer von ihnen, als wäre er an der nächsten Ecke abgebogen.

»Halt, warte«, hörte ich den Zweiten etwas lauter rufen.

»Ich glaube, dort oben in dem Haus brennt Licht.«

Ich riss den Kopf herum und starrte die Kerze an, die noch immer auf unserem Esstisch stand. Offensichtlich konnte man den sanften Schein der Flamme von außen durch die Fensterläden erkennen, was mich nervös zusammenzucken ließ.

Schnell hastete ich zum Esstisch, schob das Glas nach oben und pustete die Kerze aus. Dann hielt ich die Luft an und lauschte auf eine Reaktion.

»Ich sehe nichts«, kam prompt die Antwort von seinem Kumpan. »Du siehst Gespenster. Hier ist niemand wach.«

Erleichtert atmete ich aus. Das war knapp gewesen.

»Ich gehe trotzdem nachsehen.« Ich hörte, wie der erste Sprecher auf mich zukam. »Das Haus ist riesig und bestimmt voller Vorräte.«

Mir wurde flau im Magen. Mit rasendem Puls verharrte ich hinter der unverschlossenen Tür, die ich nun nicht mehr zusperren konnte, weil mich der Krach verraten würde. Warum hatte ich die Tür nicht schon vorhin verriegelt – wie hatte ich das vergessen können? Nun war es dafür zu spät. Wenn der Mann bereits unmittelbar vor unserem Haus stand, und davon musste ich ausgehen, da ich ihn nun laut und deutlich verstehen konnte, würde er es sicherlich mitbekommen, sollten die Schlösser einrasten. Das wollte ich auf keinen Fall riskieren.

»Dieses Haus nicht«, rief ihm der andere Mann nach. »Dort wohnt die Vorsteherin. Beiße niemals die Hand, die dich füttert.«

Seine gedämpften Schritte verstummten kurz darauf direkt vor unserer Tür und mein Herzschlag verdoppelte sich beinahe.

»Geh du schon voraus«, rief er dem anderen Mann hinterher.

»Ich komme gleich nach.«

Ehrwürdiger Lichtgott, bitte nicht!

So schnell ich konnte, rannte ich durch die Küche und spurtete zum Eckschrank, dort versteckte ich mich rechts neben dem Waschplatz. Im Haus war es stockdunkel, mit etwas Glück würde er mich in der Nische nicht sehen.

Die Haustür wurde aufgeschoben, ganz langsam. Ich konnte spüren, dass mir alle Farbe aus dem Gesicht wich.

»Nicht abgeschlossen«, murmelte der fremde Mann, ehe er den Kopf zur Tür hereinsteckte. Seine gedämpfte Stimme klang in höchstem Maße erstaunt.

Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich einen Nordmann sehen, einen jener brutalen Monster, die unser Dorf überfielen und teilweise sogar unser Vieh gleich an Ort und Stelle abschlachteten.

Er war dabei in das Haus einzutreten. Und weil ich die Schlösser geöffnet hatte, ohne sie danach gleich wieder zu schließen, würde er damit auch keinerlei Schwierigkeiten haben. Nun gab es nichts mehr, was ihn aufhalten konnte.

Ich war einer Ohnmacht nahe. Was hatte ich nur getan?

Das Holz knarrte leise, als er die Haustür noch ein Stück weiter öffnete, bis er schließlich in voller Größe auf der Schwelle stand.

Schnee wehte herein, ein Schwall eisiger Kälte erreichte mich und ließ mich frösteln. In geduckter Haltung harrte ich in meinem Versteck aus, am ganzen Leib zitternd, und hoffte inständig darauf nicht entdeckt zu werden.

Der Mann blieb auf der Türschwelle stehen, seine aufrechte Körperhaltung wirkte angespannt wachsam. Bewaffnet mit einem Messer, das er in der rechten Hand trug, inspizierte er schweigend unsere Küche.

Trotz meiner übermächtigen Angst riskierte ich einen kurzen Blick in seine Richtung. Ich wollte ihn im Auge behalten.

Er war von Kopf bis Fuß in grauen Pelz eingehüllt und hatte eine Kapuze über den Kopf geschoben, sodass ich lediglich ein paar dunkle, stechende Augen erkennen konnte. Der Rest seines Gesichtes wurde von einem schwarzen Tuch verdeckt.

Die Farbe seiner Garderobe war gut gewählt, das musste ich zugeben.

Eine Mischung aus melierten Grautönen, durchzogen mit sehr viel Weiß und Schwarz. Dadurch wurde er in der eisigen Winterlandschaft, vor allem in den umliegenden Wäldern, beinahe unsichtbar.

Sollte ich das hier überleben, fuhr es mir schlagartig durch den Kopf, würde ich die Erste und Einzige in unserem Dorf sein, die jemals einen echten Nordmann gesehen hatte.

»Zeig dich«, forderte der Mann mit rauer Stimme. »Ich weiß, dass du hier bist. Komm raus.«

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der dünne Lichtkegel, den die aufgehende Sonne durch die geöffnete Haustür in unsere Wohnküche schickte, direkt bis zu der Ecke reichte, in der ich kauerte. Ich hätte mich zusammenrollen können wie ein Igel und wäre dennoch von ihm gesehen worden. Meine Gedanken überschlugen sich mehrfach.

Was sollte ich nur tun?

Vater hätte sicherlich gewusst, was in dieser Situation richtig gewesen wäre. Doch der schlummerte nebenan friedlich, er konnte mir nicht helfen.

Meine ganze Familie lag schlafend im Nebenzimmer, schoss mir durch den Kopf. Dem Monster hilflos ausgeliefert. Das alles nur, weil ich unbedingt diesen dämlichen Schnee hatte sehen wollen. Durch meine Schuld würde das Scheusal meine Familie abschlachten, genauso wie sie es mit unserem Vieh machten.

Vor lauter Panik war ich kaum noch in der Lage richtig zu atmen. Ich stand kurz vor einem Schock.

»Soll ich dich holen?«, fragte die finstere Stimme und man konnte deutlich die unterschwellige Drohung heraushören, die in seinen Worten mitschwang.

Mein Herz sackte in meine Magengrube, ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Wie in Zeitlupe richtete ich mich auf und kam aus meinem Versteck hervor.

Vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit, das Unvermeidliche abzuwenden. Womöglich zeigte das Monster Mitleid, wenn ich ihn anflehte, mich und meine Familie in Ruhe zu lassen.

Der Mann war gut einen Kopf größer als ich, seine dunklen Augen fixierten mich unentwegt, während ich neben dem Esstisch stehen blieb und unsicher zu ihm aufschaute.

»Was machst du hier?«, fragte er barsch.

Zögernd öffnete ich meine Lippen.

»Bitte«, flehte ich. »Tu mir nichts.«

»Warum schläfst du nicht?«

»Ich bin aufgewacht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber ich weiß nicht warum.«

Seine rechte Hand umklammerte das Messer noch fester. »Einfach so?«

Ich nickte hastig.

»Und deine Familie?«, hakte er misstrauisch nach. Dabei wanderte sein Blick erneut durch unser Haus, scheinbar auf der Suche nach weiteren Bewohnern.

»Sie schlafen tief und fest«, versuchte ich die Situation zu entschärfen. »Ich bin die Einzige, die wach ist.«

Ob er mir tatsächlich glaubte, konnte ich anhand seines finsteren Blickes leider nicht einschätzen. Seine dunklen Augen wanderten wieder zu mir. Er betrachtete mich mit offensichtlicher Ablehnung, sagte jedoch nichts.

»Wo bist du?«, erscholl die aufgeregte Stimme seines Partners plötzlich unmittelbar vor dem Haus.

Ruckartig drehte er den Kopf zur Haustür.

Beinahe zeitgleich lief es mir eiskalt den Rücken runter. Wenn er dem anderen Mann verraten würde, was er in diesem Haus gefunden hatte, dann sank meine Hoffnung rapide, lebend aus dieser misslichen Lage herauszukommen, dessen war ich mir sicher.

»Bitte«, flehte ich erneut.

Sofort wandte er sich wieder mir zu und starrte mich an.

»Sag ihm nichts«, setzte ich verzweifelt nach. »Du kannst mitnehmen, was immer du willst, aber bitte, verrate mich nicht.«

Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.

Für wenige Augenblicke schöpfte ich Hoffnung. Vielleicht würde die aufwallende Gier in seinem Blick die Oberhand gewinnen. Er würde ein paar Schränke aufbrechen, und all das mitnehmen, was man leicht ersetzten konnte. Danach würde er unser Haus verlassen. Ganz bestimmt.

Doch er drehte den Kopf wieder Richtung Tür.

»Ich bin hier. Sieh dir an, was ich gefunden habe.«

Alles in mir erstarrte, als kurz darauf ein zweites Ungeheuer in unser Haus eindrang.

»Verdammt noch mal, Boran. Ich hatte gesagt, nicht dieses Haus.«

Der andere Mann war hörbar sauer.

»Warum fällt es dir so schwer, meine Anweisungen zu befolgen?«, setzte er nach. »Was habe ich dir immer und immer wieder eingeschärft? Warum kannst du nicht das tun, was ich ...«

Er unterbrach seine Schimpftirade, als er mich erblickte. Seine dunklen Augen wurden riesengroß, während er mich unaufhörlich anstarrte.

»Na, was haben wir denn da?«

Meine Knie wurden weich, ich taumelte.

»Hab sie so gefunden«, gab der Erste zu Protokoll. »Weiß die Schattengöttin, was die hier verloren hat.«

Der zweite Nordmann musterte mich ausgiebig. Auch er trug eine Kapuze und ein Tuch vor dem Mund. Anhand der kleinen Fältchen, die sich um seine Augen bildeten, während er mich betrachtete, konnte ich davon ausgehen, dass er einige Sommer älter war als sein Begleiter.

»Was sollen wir mit ihr machen?«, fragte der Jüngere.

»Sie könnte uns verraten«, gab er zu bedenken, als der zweite Nordmann nicht gleich antwortete. Hastig schüttelte ich den Kopf.

»Ich verrate niemandem etwas, darauf gebe ich euch mein Wort.«