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Arm gegen reich, Großstadt gegen Landleben, Gesetzestreue gegen Selbstjustiz. Franz Dobler erzählt von einem, der aus den Verhältnissen herausfällt, sich wütend aufmacht, die Dinge zurechtzurücken und dabei vom Jäger zum Gejagten wird. Franz Doblers Debütroman verhandelt die alte Geschichte vom Kampf ums Dasein – angesiedelt im Bayern des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Es ist das Jahr der Axt, und die schlägt das Leben von Matthias in zwei Teile. Sein Zuhause, der kleine Bauernhof seiner Eltern in einem toten Winkel zwischen München und Dachau, wird zwangsversteigert. Sie konnten nicht mehr mithalten, und Matthias, halb Bauer, halb Tagedieb, kriegt die Tollwut. Er verjagt den neuen Besitzer mit dem Gewehr und wird schließlich selbst zum Gejagten. Die Flucht zwingt ihn in die verhasste Großstadt, doch dort erwartet ihn nichts außer einer offenen Rechnung, die es zu begleichen gilt.
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Franz Dobler
TOLLWUT
Roman
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Tropen
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Die Erstausgabe erschien 1991 bei Edition Nautilus, Hamburg© 1991 by Franz DoblerNeuausgabe © 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehaltenCover: Klett-Cotta Designunter Verwendung eines Fotos von © Suricoma / shutterstock.comDatenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, LeipzigISBN 978-3-608-11053-1
Denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Matthäus 5,45
Die Stahltür schnappte, der Schlüssel sperrte, das Pack war drin. Wir zogen uns die Masken vom Kopf, mir war zum Kotzen, zitternde Beine, nassgeschwitzt. Erst später merkte ich, dass ich mich sogar vollgeschifft hatte, aber den Preis zahlte ich gern und lachte mit.
Wir gingen wieder nach oben, drehten die Musikanlage auf und machten uns über die Einrichtung her. So ein umfallender Wohnzimmerschrank, das ist kein hässlicher Anblick. Keine Zuckerdose wurde verschont. Als wir davonfuhren, war gerade eine halbe Stunde vergangen. Vier arbeitswillige junge Menschen, die schaffen schon was.
„Nie wieder“, sagte der Rote.
„Ach was“, sagte ich und verteilte Zigaretten.
Dann tauten wir langsam auf und ein erlösendes Geschnatter fing an, das war wie früher, wenn ich eine kleine Ratte erschossen hatte, und wenn ich es dann der Mutter erzählte, wurde sie immer größer und größer, und dass ich meine Beute nicht auch noch gegen einen tollwütigen Fuchs hatte verteidigen müssen, war alles.
„Diese eine Frau im weißen Hosenanzug“, lachte Regina, „hier der Ring, der Ring noch, hat sie immer gesagt, aber ich wollte doch ihren blöden Ring nicht, und immer wieder der Ring, der Ring!“
So fuhren wir in die lebhafteren Stadtteile zurück. Hier war kein Mensch auf der Straße, die hockten alle vor ihrem Kostbarsten mit Handgranaten in der Faust, die zählten die Perlen an den Ketten. Georg aber fuhr mit äußerster Disziplin und kümmerte sich nicht um unser Geschwätz. Ich sah ihm an, was er nicht sagte, das sind die Minuten, in denen die Amateure die entscheidenden Fehler machen. Zum Glück hatten wir ihn dabei. Er sah auch nicht gut aus.
Dass ich es doch noch geschafft hatte, obwohl ich schon wie ein dreckiger Lumpen in der Ecke lag, das baute mich auf, das sprengte mich in die Luft. Ich hatte nicht verloren.
Ich hatte nicht gewonnen, weil es nichts mehr zu gewinnen gab, doch einen Teil der Schuld hatte ich einkassiert, und die Bahn war jetzt frei, aber keine Woche verging, da steckte ich wieder im Loch und wusste, dass die einzig freie Bahn die nach Hause war. Heilige Scheiße, heim, heim zu Mama. Was mich beruhigte, war, dass ich nicht als Verlierer heimkehren würde; was mich ärgerte war, dass es so aussah, als würde mir nichts anderes übrigbleiben. Ich hatte mir sowieso schon vorgenommen, in ihre Nähe zu kommen, aber jetzt ärgerte es mich, weil es nach Verpflichtung roch, es ist deine verdammtes Sohnpflicht, sagte da jemand, und ich hätte mir den Bauch aufschneiden müssen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Womöglich wollte sie, dass ich bei ihr wohnen sollte. Sie kennt sich aus mit den fiesen Muttertricks. Sogar ich will dir nichts dreinreden, hatte sie zuletzt gesagt, nach der Beerdigung, und kein Wort, weil ich nicht am Grab gestanden war, und auch keins wegen der Polizei. Je elendiger alles wurde, desto ruhiger schien sie zu werden, gottergeben, dass es nicht zum Aushalten war.
Aber die würden uns nicht kleinkriegen, meine alte Mutter und mich.
Aber sollte ich bleiben, oder sollte ich gehen. Ich wollte nur meine Ruhe haben. Auf den Mond also.
Seit über drei Monaten war ich in der Stadt. In der Nacht war endlich der erste Schnee runtergekommen, ein Tag vor Weihnachten, dicke Flocken, dass es eine Freude war, aber am frühen Nachmittag war er schon wieder zu dreckigem Matsch geworden, ekelhaft, nicht wie bei uns draußen, wo der Schnee eine saubere Zudecke ist.
Ich ging in die erstbeste Imbissstube. Es stank nach Bratenfett, abgestandenem Rauch und Bier; dafür war es dumpf und still und halbdunkel in dem kleinen Raum, genau richtig, um mich hängen zu lassen und was aufzuschwemmen. Am einzigen Fenstertisch saß schon einer, aber ich setzte mich dazu, weil ich das Fenster auch brauchte. Als ich das Schnapsglas auf den Tisch zurückstellte, fing er an.
„Fürchterliches Wetter!“
„Ich geb einen aus, wenn du mich mit deiner Geschichte oder sonst was verschonst“, sagte ich gutmütig, und das war ihm auch recht, und ich konnte ungestört aus dem Fenster schauen, und weil er sich standhaft an unsere Abmachung hielt, was ich ihm nicht zugetraut hätte, spendierte ich ihm mehr, wahrscheinlich mehr als irgendjemand in den letzten fünfzig Jahren. Geld war für mich nie ein Problem und jetzt zweimal nicht, und ich hatte zwar schon einiges gemacht, jedoch die Heilsarmee nie.
Je länger ich aus dem Fenster sah, desto klarer blickte ich in mich hinein, bis ich schließlich reif und alles in Ordnung war. Ich zahlte unsere Zeche, stand auf, streckte ihm meine Hand hin und wünschte viel Glück. Fast hätte ich ihm einen Schein geschenkt. Mir fiel noch rechtzeitig ein, dass mit so was nicht zu spaßen ist
„Und weißt du was“, sagte ich, weil ich es sofort jemandem sagen musste, „jetzt fahr ich heim, dahin, wo ich her bin, und wenn mich dort der Teufel holt, dann solls mir auch recht sein, aber viel Freude wird er nicht mit mir haben, das kannst du mir glauben.“
Er erhob sich umständlich, bevor er mir die Hand drückte und sagte behüt dich Gott, und als ich die Tür aufmachte, sagte er es noch mal. Den Gruß hatte ich lange nicht gehört, und so klar ausgesprochen.
Wie der Schritt gleich schneller wurde, wie es den Körper durchwehte, wie es sich gut anfühlte, eine Entscheidung zu haben, und selbst als ich den Polizeiwagen sah, in der Einfahrt vor unserem Haus mit Beamten drin, die bei eingeschalteter Innenbeleuchtung warteten, ging ich einfach nur weiter, denn ich war schon immer ein sturer Hund, wie alle Männer in unserer Familie, sogar der sturste war ich, obwohl der Vater meinte, sein Vater, der wäre der allersturste gewesen, der allerkatholischste Sturschädel weit und breit, und immer hieß es gleich: der wenn dich noch erlebt hätte, kannst du dich erinnern, der wenn dich noch erlebt hätte!, das klang, als hätte er einen wegen jeder Kleinigkeit halbtot geschlagen; aber wenn überhaupt einer mit meiner Sturheit mithalten konnte, dann doch mein Bruderherz … Ich ging einfach nur weiter und hörte die mahnende Stimme der Mutter, mein Glück nicht herauszufordern, denn es war besser, wenn sie mich erst draußen in die Finger bekamen. Ich musste rauskommen. Andererseits hatte ich ja schon lange kein Glück mehr, außer das im Unglück, und also fauchte ich sie an, dass sie den Mund halten sollte, bevor ich es mir wieder anders überlegte.
Die interessierten sich weder für mich noch für das Hoftor, die machten Pause, und ich nahm das als gutes Zeichen für die Zukunft, auch wenn dort jedem Einzelnen mein Gesicht bekannt war und ein Haufen Ärger für mich bereitlag. Die Frage war nur, ob der Haufen groß oder klein war.
Ich wechselte in den blauen Anzug, packte meine paar Sachen in die Reisetasche und zog den Mantel an. Als ich wieder in den Flur kam, hörte ich sie in ihrem Zimmer. Es wäre mir lieber gewesen, ohne Abschied zu verschwinden.
Die beiden lagen im Bett und strahlten mich an. Die hatten ein Leben, diese Musiker, wenigstens das musste ich nicht mehr mit ansehen. Dann sah Regina das Gewehr in meiner rechten Hand und fing zu jammern an. Oh nein, nicht schon wieder, ich flehe dich an, ich koch dir sofort alles, was du willst, und wenns sein muss, tanz ich auf dem Tisch dazu, aber tu dieses Drecksding weg. Der Rote und ich grinsten uns an, aber das Grinsen verging ihm, als ich sagte, ich hab nichts mehr damit zu tun, es gehört jetzt ihm.
„Bist du wahnsinnig! Erst setzt du Himmel und Hölle in Bewegung wegen deinem heiligen Stück und jetzt willst du es einfach verschenken!“
„Ja“, sagte ich, jetzt ist es Zeit, jetzt bist du an der Reihe. Mein Großvater, mein Vater, mein Bruder, ich und jetzt du.“
„Ich nehm das nicht an.“
„Du musst, bei uns draußen ist das so, alte Hillbillytradition1, verstehst du, und wenns einer verweigert, dann muss man ihn sofort damit erschießen, so wars und so bleibts.“
„Ihr habt so Vorstellungen vom Leben.“
„Ich kanns nicht ändern“
Ich legte es ihm zu seinen Füßen aufs Bett Vielleicht hätte Vollmond sein müssen; man solls nicht übertreiben.
„Hast du wirklich keine bessere Idee, als nach Hause zu fahren?“ fragte Regina.
„Nein“
Ich holte die Taschenuhr aus der Jackentasche und warf sie ihr auf die Bettdecke und sagte ihr das, was mein Vater mir gesagt hatte, er hatte entschieden, dass das dazugehörte, also sagte ich es dazu, dass sie die Uhr, wenn sie eines Tages ein Kind hätte, ihrem Kind geben sollte, wenn es das Alter dafür hatte, und dass sie zu dem Kind dasselbe sagen sollte. Sie nickte nur und sagte nichts, hatte schon gemerkt, dass es sinnlos war, mich aufhalten zu wollen. Das hatten schon ganz andere merken müssen.
Mehr hatte ich nicht zu verschenken, sonst hätte ich es ihnen geschenkt.
„Wenn wir irgendwas für dich tun können.“
„Ich weiß. Ich lass es euch wissen, wenns losgeht. Und zieht euch warm an, wenn ihr rauskommt, bei uns draußen weht ein anderer Wind“, sagte ich, während ich schon rückwärtsging.
„Halt, komm her und gib mir einen Kuss.“
Und ich kam her und wir küssten uns auf den Mund, und ich hatte die Tür schon fast zu, als mich der Rote noch mal rief. Die Losung hieß: Lass dir kein schlechtes Bier verkaufen.
Ich rannte die Treppen runter ‒ wenn sie mir sonst nichts andrehten ‒ der Polizeiwagen war weg, und mir fiel ein, dass ich ihm nichts wegen der Munition erklärt hatte, aber das war gut so, denn er war ja auch einer, der leicht in jeden Scheißhaufen tappte und sich auch für einen ausgekochten Schlaukopf hielt, aber für das alte Ding was Brauchbares aufzutreiben, da musste er sich schon viel Mühe geben. Sollte er es an die Wand hängen, das war das Beste, und das hatte es verdient.
Racktacktackrack machte der Zug.
Wie das Gewehr beim Durchladen.
Racktacktackrack.
Und ich sah uns wieder, wie wir am Sonntagnachmittag zum Waldrand gingen, um das Schießen und Treffen zu üben. Der Vater, mein Bruder und ich. Und wie es mich beim allerersten Schuss auf den Hosenboden setzte, und wie ich heulte vor Wut, weil sie mich auslachten.
Ein Bauer, der so weit draußen wohnt, muss eine Waffe haben.
Und was hilft einem ein Gewehr, wenn man nicht damit umgehen kann.
Er war kein Bauer mehr, und ich war nicht mal mehr ein halber. Aber genaugenommen, vielleicht stimmte es, dass man immer einer blieb, wenn man einer gewesen war, und weit draußen wohnten wir immer noch …
Der Zug fuhr aus der Stadt raus, es schneite wieder die fetten Flocken. Eine Dreiviertelstunde bis zum Ende der Welt. Warum hatte der Alte nicht die paar Tage durchgehalten, bis er von mir was zu hören bekommen hätte. Aber so war er, den konnten sie alle kreuzweise, und mich konnten sie auch alle kreuzweise… ihr habt gedacht, dass ihr mich los seid, aber ich piss euch in die Schuhe. Es war ein wunderbares Gefühl, Heimkommen.
Frohe Weihnachten.
Racktacktackrack ‒
Kurz vor dem Ende vom Ende wurde das Gewehr mein dritter Arm, ist an mich hingewachsen. Ich dachte mir nichts dabei, merkte es kaum, denn schließlich trug ich es schon seit Jahren so viel mit mir herum, natürlich nur auf unserem eigenen Land, da verstand der Alte keinen Spaß. Die Leute im Dorf drüben glaubten schon lange nicht mehr, dass ich alle Tassen im Schrank hatte, und so dachten sie von allen Kindern aus unserem Weiler, blöd oder taugt nichts, was dasselbe war. Doch bei der Elterngeneration von unseren drei Höfen machten sie eine Ausnahme, und die war meine Mutter, so gnädig war dieses schöne Dorf, aber Vaterunserbeten, wenn irgendwo im Umkreis von zehn Kilometern ein Pfarrer einen fahren ließ. Georg und ich waren uns einig, dass dieses Dorf eines Tages einen Tritt in die Eier bekommen musste. Wenn die gewusst hätten, dass ich jetzt so weit war, dass ich das Gewehr mit ins Bett nahm, dann hätten sie das auch schon immer gewusst. Und wenn ich mich zum Essen an den Tisch setzte, dann stellte ich es so, dass ich den Lauf am rechten Oberschenkel spürte.
„Jetzt tu das alte Glump weg“, sagte dann die Mutter, aber es war nur noch halbherzig, und ich habe sie nicht beachtet, und der Vater, der sah, hörte und sagte schon nichts mehr; der war schon im Himmel oder zumindest an einem Ort, wo man sich nicht darum kümmert, ob der Sohn zum Essen sein Gewehr mitbringt, und wo man kaum noch was isst.
Tagelang marschierte ich das Land ab, mit einem Schritt, als hätte ich dreißig Kilo auf dem Buckel und hinter mir einen Schinder, der mich antreibt; die Feldränder entlang, über Wiesen, durch Moor und Sumpf, durch den Wald, durch zugewuchertes Unterholz, wo vielleicht jahrzehntelang niemand mehr gewesen ist. Als hätte es was helfen können, marschierte ich wie der letzte Depp. Dann saß ich wieder stundenlang am See und stierte hinein, konnte den Gedanken nicht mehr loswerden, dass ich eine Mitschuld hatte und dass die groß war. Denn ich wäre schon lange alt genug gewesen, alles zu übernehmen und die Karre aus dem Dreck zu ziehen, aber ich hatte mich rausgehalten; so war es, und so war es nicht. Jetzt war es zu spät.
Der Baumriese war gestorben, war abgebrochen, und hatte alles zusammengeschlagen. Seid froh, dass er euch nicht auch noch erwischt hat, ihr habt was zu fressen und seid gesund, sagte ich mir vor. Aber wenn welche an den See zum Schwimmen kamen, musste ich sofort weg, denn ich hatte Angst vor mir selber und wollte nicht in die Lage kommen, dumm angeredet zu werden, mit dem Gewehr in der Hand.
Abends um neun hockte ich am Bahndamm und wartete auf den letzten Personenzug nach Hauptstadt. Von weit her sieht man die Lichter kommen und hört das Rauschen, und wenn das so laut geworden ist, dass man zwei Meter neben dem Gleis meint, gleich zerrissen zu werden, dann sieht man das schwach beleuchtete Führerhaus ‒ ich zielte, ein wenig Glück und der Zug würde führerlos in den Sackgassenhauptbahnhof hineinrasen, tonnenweise Metall fliegt herum, einer der Waggons durchstößt das Glasdach ‒ der Zug preschte vorbei, dass ich die Augen nicht offen halten konnte, der Körper gebannt von Lärm und Geschwindigkeit, mittendurch fährt der Stahl, rein beim Arschloch und beim Schwanz wieder raus, alles zerrissen, alles blutig … und in ein paar Zehntelsekunden dann Stille und Leere und zwei lächerliche rote Lämpchen.
Mit dem alten Schießprügel, das wäre nicht anders gewesen, als hätte ich eine Wäscheleine über die Gleise gespannt, um den Zug aufzuhalten. Und schließlich war der Zug nur voll unschuldiger Menschen, wie es so schön heißt. Andererseits fährt der Zug auf einem Bahndamm, der von den Kazetthäftlingen gebaut worden ist, die nur eine gute Stunde Fußmarsch bis zu uns herüber hatten, was den Zugfahrern sicher egal war, und also hätten sie einen Denkzettel verdient gehabt; alles ein Aufwasch; sie fuhren durch feindliches Gebiet. Der Hauptgrund, nicht auf den Lokführer zu schießen, aber war, dass ich selber von dem Spektakel im Hauptbahnhof nichts mitbekommen hätte.
Vom Bahndamm aus konnte ich das Licht in unserer Küche sehen. Wir saßen nur noch in der Küche, denn die anderen Zimmer waren schon für den Auszug hergerichtet. Ich musste reingehen und ihnen eine gute Nacht wünschen; das musste sein, mehr schaffte ich nicht Georg ließ mich nicht hängen. Er kam jeden Abend zum Saufen.
Fast am Ende vom Ende bin ich wie ein Irrer durch die Nacht getappt, konnte nirgendwo mehr sitzen oder ruhig stehen, musste gehen oder was schlagen, musste dauernd irgendwas, musste dringend scheißen, obwohl ich seit Tagen nichts gegessen hatte, ein ständiges Gefühl von Scheißen- und Speibenmüssen. Überall wollte es raus, nichts kam mehr hinein, kaum dass ich einen Schluck Schnaps hinunterbrachte, und hätte am liebsten eine ganze Flasche getrunken, um ein paar Stunden schlafen zu können.
Irgendwann schaffte ich es, in meinen Hühnerstall zu gehen und mich ans Fenster zu stellen. Hatte keine Musik mehr, war schon alles verpackt, das meiste aber lag draußen und konnte angezündet werden. Jetzt hatten wir es endlich fast überstanden … vielleicht ist es doch nicht so schlecht, dass es so gekommen ist, denn sonst hätte ja ich den Hof übernehmen müssen, und ich wäre sicher auch abgehauen oder hätte alles verkommen lassen, und das wäre dann noch schlimmer für sie gewesen. Jetzt haben sie von allem ihre Ruhe. Vielleicht ist es besser so …
Als es schon eine Weile dämmerte, kamen die Eltern aus dem Haus. Sie hatten ihre Sonntagskleidung angezogen. Eingegraben wird man auch im Anzug, wenn man einen hat. Sie hielten sich an der Hand. Langsam und verbogen machten sie sich auf den Weg, ihr ehemaliges Anwesen ein letztes Mal abzugehen, und ich lief hinaus, um sie zu begleiten, nahm die Mutter bei der anderen Hand. „Wie schaust du denn aus“, sagte sie erschrocken. Schweigend gingen wir ums Haus und schauten alles noch mal an … Dann überquerten wir den weiten Hofplatz bis zum Feldrand und sahen auf den Acker hinaus, den der Vater mehr als fünfzig Jahre bearbeitet hatte. Wir standen und standen und sahen uns das an, und wenn der Vater allein gewesen wäre, der wäre hinausgegangen, hätte sich in eine Furche gelegt und wäre liegen geblieben.
Die Mutter war es, die sich endlich rührte und uns wieder wegbrachte. „Ich mach einen Kaffee“, sagte sie.
Es war halb sieben. Um acht sollte der Lastwagen kommen, um die Eltern und die letzten Möbel abzutransportieren. Wir setzten uns um den Tisch, um ein letztes Mal in unserer Küche Kaffee zu trinken. Alles war schon in Kisten verpackt, aber die Mutter hatte natürlich so gepackt, dass die Kaffeeutensilien oben lagen, und ich bekam wie immer meine Tasse mit dem abgerissenen Henkel; was hätte passieren müssen, dass sie nicht an alles dachte.
So hockten wir da und starrten den Kaffee an, und jeder Sekundenschlag schlug uns ein Stück aus dem Kopf raus. Die Mutter war ein bisschen unruhig, der Vater völlig reglos, hatte sich wohl in die weite Vergangenheit zurückgezogen. Ich hätte gern was zu ihm gesagt. Vergeh doch endlich, du Scheißzeit, heulte es durch meinen Kopf, und wenn ich einen kleinen Vogel in der Hand gehabt hätte, ich hätte den zerquetscht. Aber ich war es ihnen schuldig, dabei zu sein und auszuhalten, mitgefangen mitgehangen. Nur einer fehlte. Der hatte sich schon lange abgeseilt. An den dachten wir alle … wo war der Kerl, warum kam er nicht und half uns … und ich war so durchgedreht, dass ich das Gefühl bekam, mein Bruder, der kommt jetzt jeden Moment zur Haustür herein, der grinst uns blöd an und sagt, dass er es war, der den Hof über einen Strohmann ersteigert hat. Wollte uns ein bisschen hängen lassen und den Alten ein großes Ding über den Schädel ziehen, für alles was war. Nichts anderes hatten sie verdient … aber du Dreckhund hockst irgendwo blöd herum und weißt nichts und kümmerst dich um nichts und lässt Gott einen guten Mann sein. Du täuschst dich. Der spielt nicht den guten Mann, der tritt uns in den Arsch, und ich wünsch dir, dass du eines Tages ganz elend verreckst
Am Ende vom Ende sind wir zwei Stunden in der Küche gesessen, und diese zwei Stunden waren schlimmer als alles, was vorher und nachher passiert ist.
Dann hörten wir den Lastwagen zum Hof hereinfahren. „Also“, seufzte die Mutter und fing an, die Hand des Vaters zu tätscheln, auf der sie ihre die ganze Zeit liegen gehabt hatte. Ich nahm meine Tasse und schleuderte sie mit aller Kraft auf den Boden.
„Matthias!“
Ich hatte den Mund schon offen, um sie anzuschreien, und konnte mich doch noch zusammenreißen. Sie wusste es eben nicht besser. Sie legte das bisschen Geschirr in eine der Schachteln, dann umarmte sie von hinten den Vater, der sich immer noch nicht rührte, legte ihre Wange an seine und sagte komm Jakob, wir müssen gehen, wir lassen uns von keinem sagen, dass wir gehen sollen.
Langsam gingen sie vor mir her durch den Hausgang auf die Haustür zu, von der es hell hereinschien. Die Mutter legte die Hand auf die Klinke und zögerte. Ich wartete darauf, dass sie sich umdrehen würde. Sie drehte sich nicht um. Zaghaft drückte sie die Klinke herunter, und ich fing wieder an, sie lautlos zu beschimpfen, und als die Klinke endlich unten war, zögerte sie wieder, als wollte sie Gott eine letzte Chance geben, etwas für uns zu tun, wo sie ihr Leben lang immer so gläubig gewesen ist, Millionen von Rosenkränzen gebetet hat, heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns, jetzt, und in der Stunde unseres Todes. Aber die hübsche Marie kriegte ihren Arsch auch nicht hoch, und dann machte sie die Tür auf, und wir stiegen zum letzten Mal die drei Treppenstufen runter.
Wir waren draußen.
Die Sonne schien, aber nicht für uns.
Kein Henker denkt sich, dass er das tut, was er tut. Alle denken sie, dass sie nichts mit dem zu tun haben, was sie tun. Sind auch nur arme Hunde, die für ein paar Mark die Stunde Möbel herumschleppen, um sie dann in einen Lastwagen zu stopfen. Sie fingen unten an, und wir setzten uns auf die Sonnenbank neben der Haustür. Ich legte mir das Gewehr über die Knie, mit dem Lauf berührte es den Vater, mit dem Schaft die Mutter.
„Jetzt tu doch endlich einmal dein Gewehr weg“, sagte sie, „du machst ja den Leuten Angst.“
Die ging mir vielleicht auf die Nerven, aber ich sagte nur mir egal. Wenn der Vater sich eingemischt hätte, dann hätte ich es unter die Bank gelegt, um ihm einen Gefallen zu tun. Die Warterei ging also wieder weiter, als sollte uns das Fleisch von den Knochen faulen, und ich merkte, dass es auch für die Mutter langsam unerträglich wurde. Dauernd zupfte sie an ihrem Kleid herum und schaute in die Gegend.
„Was schaust du denn immer?“, sagte ich ärgerlich. „Meinst du vielleicht, dass der liebe Gott doch noch vorbeikommt?“
„Dir täts bestimmt nichts schaden, wenn er bei dir einmal vorbeikommt.“
„Das tät keinem was schaden, soll er vorbeikommen und uns einen Sack voll Geld bringen.“
Sie sagte wieder meinen Namen. Ich hörte auch heraus, dass ich sie ein bisschen belustigt hatte, und sie hat eigentlich auch immer etwas übrig gehabt für solche Sachen, wenn auch weniger für Späße über den lieben Gott. Sie ist nie ein unfröhlicher Mensch gewesen und hat sich nie von der Arbeit niederdrücken lassen. Sie redete ganz gern, war gern unter Leuten, und oft, wenn sie kochte, sang sie alle Lieder vor sich hin, die ihr gerade in den Sinn kamen. Ihr Pech war, dass sie in einem Weiler gelandet war, dass sie als Bäuerin sowieso nicht die Zeit hatte, auf einen Ratsch irgendwohin zu gehen, und obendrein mit einem Mann verheiratet, der ein ziemlicher Griesgram war, maulfaul und ein Holzkopf, der wenig Spaß verstand.
Bald siebzig war sie schon, und seit über sechzig Jahren war das wahrscheinlich der erste Vormittag, an dem es für sie nichts zu tun gab. Und gleich wurde es ihr langweilig. Was musste passieren, dass sie in die Knie ging und man ihr das Rückgrat brechen konnte. Dafür bewunderte ich sie schon. Der kann eine Bombe das Dach über dem Kopf wegreißen und sie nimmt den Topf von der Herdplatte, damit nichts anbrennt. Hilft halt alles nichts sagt sie in solchen Fällen, und nach allem, was ich vom Hörensagen wusste, hat sie das von ihrem Vater, der kein Bauer, sondern Schreiner gewesen war und außerdem der Mann mit der Ziehharmonika. Als solcher war er an den Wochenenden unterwegs gewesen und natürlich kein Kind von Traurigkeit. Hatte ich einen Blödsinn gemacht, dann konnte es vorkommen, dass mein Alter verächtlich sagte wie der Opa, und seinen Vater konnte er damit nicht meinen, denn der hatte nie Blödsinn gemacht. Ich habe es immer bedauert, dass die beiden schon tot waren, als ich daherkam.
Wenn sie gelegentlich erzählte, wie sie als Kind und junges Mädchen mit ihrem Vater herumgekommen ist, dann freute sie die Erinnerung, und ich konnte mir gut vorstellen, dass sie sich manchmal wünschte, sie wäre in ein unterhaltsameres Leben hineingeraten. Aber jetzt saß sie auf der Bank vor dem Haus, in dem sie fast fünf Jahrzehnte gelebt hatte, und wartete darauf, dass der Lastwagen sie nach Kazettstadt fuhr, wo sie mit ihrem Mann an der Hand drei Treppen steigen musste, um in einer Schuhschachtel weiterzuleben, ohne Garten, ohne Hühner, dafür ein schöneres Bad.
Für sie war die Sache vielleicht weniger schlimm, weil sie dorthin zurückkehrte, wo sie geboren und aufgewachsen war; wegen ihr machte ich mir keine so großen Sorgen. Der Vater aber grub sich langsam in die Erde hinein und sah, wie sein Vater näher kam, mit einer Axt in der Hand.
„Was machen die denn da drin“, sagte sie, weil die Packer schon lange nichts mehr herausgetragen hatten, „in der Zeit bau ich ja ein ganzes Haus.“
Sie stand auf und ging zur Haustür und fragte einen der Arbeiter. Die hatten inzwischen gemerkt, dass die Treppe in den ersten Stock hinauf schmal und steil und das Treppenhaus niedrig war. Eine Zeitlang hatten sie versucht, den alten schweren Schlafzimmerschrank herunterzuzwängen, und jetzt wollten sie wieder retour, um ihn zuerst in seine Einzelteile zu zerlegen.
„Machts mir bloß meinen Schrank nicht hin!“, schrie sie hinein.
Der Schrank war ihr Ein und Alles. Als Mitgift hatte ihn ihr Vater in monatelanger Arbeit zusammengezimmert, mit tausend Verzierungen und Schnitzereien in den Türen, ein massives Stück, das uns alle überleben würde, wenn es diesen Umzug heil überstand. Sie setzte sich wieder zu uns und wollte zum hundertsten Mal wissen, ob ich auch richtig ausgemessen und der Schrank Platz in der neuen Wohnung hätte.
„Jetzt lass mich doch endlich mit deinem Schrank in Frieden“, fauchte ich und stand auf.
„Was machst du denn, Matthias?“
Und ich gab geduldig Antwort, braver Sohn, der ich seit Wochen war, um es ihnen nicht noch schwerer zu machen, aber als ich zum Hund rüberging, dachte ich, dass es auch sein Gutes hatte, dadurch mehr Ruhe vor ihnen zu haben, denn ich hatte keine Lust, mit ihnen in einer Kiste zu leben, und das wussten sie lang genug, um sich damit abgefunden zu haben, wie es so schön heißt. Ich nahm den Hund an die Leine und brüllte ihn an, nicht an mir hochzuspringen, und als er nicht hören wollte, gab ich ihm einen Tritt. Den Hund konnten sie auch nicht mitnehmen. So was war dort nicht erlaubt.
Wir gingen an der Hausrückseite entlang zum Holzschuppen. Ich schiffte an die Bretterwand. Drinnen lagen noch drei Ster aufgebeigtes Holz, die Anna bekommen sollte, und ich erinnerte mich, dass wir uns vor vielen Jahren in diesem Schuppen zum ersten Mal geküsst haben, wahrscheinlich das erste Mal überhaupt. Sie war elf und wusste nicht genau, warum man das machte. Ich war zwei Jahre älter und hatte einen Steifen und wusste, was das für einen Sinn hatte. Mehr wusste ich nicht. Als ich versuchte ihr die Unterhose herunterzuziehen, kam es zu einem kurzen Gerangel, weil ich nicht mit dem Spiel aufhören wollte, und dann lief sie weg, und ich hackte Holz, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Verraten hat sie mich nicht.
Ich sperrte den Hund wieder ein und ging zu den Eltern zurück, die beieinander saßen und sich an der Hand hielten. Ich setzte mich neben den Vater, nahm seine andere Hand und sagte es hat auch sein Gutes, jetzt könnt ihr euch endlich einmal ausruhen. Ja, sagte die Mutter, jetzt bleibt uns gar nichts anderes mehr übrig, und fing zu weinen an.
Die Freunde kamen endlich. Zuerst Georg mit dem Mercedes. Er blieb am anderen Ende vom Hof stehen und setzte sich auf die Mauer vor dem Schweinestall. Unser Georg, sagte die Mutter. Ich fragte mich, warum der Kerl mit seiner Sonnenbrille nicht zu uns herüberkam, aber eine Antwort darauf wollte ich auch nicht haben. Später erzählte er, dass wir so ausgesehen hätten, als könnten wir keinen anderen Menschen bei uns haben, wie wir so auf der Bank saßen, nicht mal ihn, obwohl er zur Familie gehörte.
Bald danach sah ich Luise am linken Eckbalken der Scheune auf dem Boden sitzen. Für uns fast verdeckt von der Hauswand und noch weiter weg, und ich sagte, dass sie da ist. Dass sie nicht herüberkam, das war keine Frage, denn in unserer Nähe waren viel zu viel Fremde, und das kann sie nicht haben, die Spinnerte, wie sie im Dorf geheißen wird. Sie stottert so stark, dass sie praktisch nicht mehr sprechen kann, ist extrem leutscheu und trägt acht Monate vom Jahr keine Schuhe. Jedes Dorf braucht seinen Deppen, und wenn es keinen richtigen hat, dann wird eben einer dazu bestimmt. Einer hinkt immer. Und wenn es einen Weiler gibt, der zum Dorf gehört, dann ist das dafür besonders günstig. Luise gehörte auch zur Familie. Sie und Georg waren schon immer mehr bei uns als bei sich daheim gewesen.
Als ihre jüngere Schwester Anna mit ihrer Tochter in den Hof hereinfuhr, war die Bande vollzählig. Anna setzte sich neben Georg auf die Mauer, die kleine Barbara lief zu ihrer Tante rüber. Die beiden gehörten nicht mehr zur engeren Familie, seit sie in Kazettstadt wohnten, aber sie kamen oft herausgefahren, und oft fuhren sie wieder heim, ohne im Haus von Annas Mutter vorbeigeschaut zu haben. Dort, auf der anderen Seite der Straße, war noch mehr kaputt als bei uns. Immerhin hat ihnen keiner den kleinen Hof wegnehmen können.
Die Warterei ging weiter, und die zwei auf der Mauer und wir auf der Bank, das sah aus wie ein Wettkampf, bloß dass keiner gewinnen konnte.
Ich hörte den kläffenden Hund und dann das Motorengeräusch und ging wieder meinem Bruderherz mit seinem Strohmann auf den Leim, ehe der Geländewagen hereinfuhr, so eine Maschine, mit der man Schneisen in den Wald fahren kann. Wir haben keine Bekannten, die einen Geländewagen fahren, obwohl einige von ihnen gut einen gebrauchen könnten. Diese Dinger sind häufig in unserer Gegend anzutreffen. Die meisten gehören Reitern, die im Laderaum ihre Stiefel unterbringen. Der hier parkte nicht irgendwo, sondern fast genau vor unserer Nase. Als Hund hätte ich die Zähne gebleckt und mich zum Angriff geduckt.
„Was will die Sau da“, sagte ich und hörte meine Knochen krachen.
„Jetzt sind die immer noch nicht fertig“, sagte er laut. Ging ins Haus, ohne sich um uns zu kümmern, und dann hörten wir ihn drinnen herumschreien. Der Mann, der ihn begleitete, ging währenddessen zum Gatter der hinteren Hofeinfahrt. Das musste der Co von Immobilien Resser und Co sein, auch so ein flotter Enddreißiger, die Typen, die ich am allerwenigsten ausstehen kann, geschickte Arschlöcher, die man so lange in den Arsch treten sollte, bis sie ihre Kontoauszüge fressen und in ihr Wohnzimmer scheißen.