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Das literarische Schaffen von Leo Tolstoi kreist immer wieder um die Frage nach dem rechten Leben. In seinen Geschichten ebenso wie seinen Romanen sind Menschen auf Abwegen unterwegs oder auf dem Pfad der Erkenntnis. Sie reißen das Ruder ihres Schicksals noch einmal herum oder gehen unerbittlich ihrem Unglück entgegen, kunstvoll gelenkt von dem großen und eigensinnigen russischen Literaten. Dieser Band versammelt Tolstois berühmteste Erzählungen, unter ihnen 'Herr und Knecht', 'Hadschi Murat', 'Der Tod des Iwan Iljitsch' und 'Die Kreutzersonate'.
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Seitenzahl: 1257
Leo TolstoiGesammelte Werke
GESAMMELTE WERKE
Die Erzählungen
Anaconda
Textvorlage für Hadschi Murat ist die Ausgabe München: Heyne 1962 (dort: Chadshi Murat), Die Kreutzersonate wurde der Ausgabe Gesammelte Novellen. Band 3. Jena: Eugen Diederichs 1924 entnommen, der Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch liegt die Ausgabe Wien, Leipzig: Wiener Verlag 1904 zugrunde.Alle anderen Übersetzungen folgen der vierbändigen Edition Erzählungen. Leipzig: Insel o. J. [1924].
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2016 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Leo Tolstoi (1890), Photo © Tallandier / Bridgeman ImagesUmschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, BonnISBN 978-3-7306-0341-3eISBN [email protected]
I
Fürst Nechljudoff war neunzehn Jahre alt und besuchte den dritten Universitätskurs, als er für die Sommerferien auf sein Dorf zog und dort allein den ganzen Sommer verbrachte. Im Herbst schrieb er dann mit seiner noch nicht fest gewordenen, kindlichen Handschrift seiner Tante, der Gräfin Bjelorjezky, die, wie er glaubte, sein bester Freund und das genialste Weib auf der ganzen Welt sei, folgenden, hier in der Übersetzung wiedergegebenen französischen Brief:
»Mein liebes Tantchen! Ich habe einen Entschluß gefaßt, von dem das Schicksal meines ganzen Lebens abhängen muß. Ich will die Universität verlassen, um mich dem Leben auf dem Dorf zu widmen, weil ich fühle, daß ich dazu geboren bin. Um Gottes willen, liebe Tante, lachen Sie nicht über mich! Sie werden sagen, ich sei jung, vielleicht ist das auch so, ich bin noch ein Kind. Das hindert mich indes keineswegs, zu wünschen, das Gute zu tun und zu lieben.
Wie ich Ihnen bereits schrieb, fand ich meine Angelegenheiten in unbeschreiblicher Verwirrung vor. Als ich sie in Ordnung zu bringen gedachte und mich hinein vertiefte, entdeckte ich, daß das Hauptübel in der über alle Begriffe erbärmlichen, ärmlichen Lage der Bauern beruht, und daß das ein solches Übel ist, daß man es nur durch Arbeit und Geduld zu beseitigen vermag. Wenn Sie nur zwei von meinen Bauern sehen könnten, David und Iwan, und wüßten, was für ein Leben sie mit ihren Familien führen, so bin ich überzeugt, daß schon allein der Anblick dieser beiden Unglücklichen Ihnen mehr als alles das, was ich Ihnen sagen kann, meinen Entschluß erklären würde. Ist es denn nicht meine heilige und unmittelbare Verpflichtung, mich um das Schicksal dieser siebenhundert Menschen zu kümmern, für die ich Gott werde Rechenschaft ablegen müssen? Ist es denn nicht Sünde, sie der Willkür der rohen Ältesten und Verwalter zu überlassen und selber dem Genuß oder dem Ehrgeiz zu frönen? Und warum soll ich denn in einer anderen Sphäre die Möglichkeit suchen, nützlich zu sein und Gutes zu tun, wenn sich mir eine so vornehme, glänzende und naheliegende Pflicht eröffnet? Ich fühle mich imstande, ein guter Landwirt zu sein; um aber das zu sein, was ich unter diesem Wort verstehe, dafür bedarf ich weder des Kandidatendiploms noch eines Dienstranges, die Sie so für mich wünschen. Liebes Tantchen, schmieden Sie keine ehrgeizigen Pläne für mich. Gewöhnen Sie sich an den Gedanken, daß ich einen ganz besonderen Weg gehe, der aber schön ist und, ich fühle das, mich zum Glück führen wird. Ich habe sehr viel nachgedacht über meine zukünftigen Pflichten, ich habe mir Regeln zum Handeln aufgeschrieben, und wenn mir nur Gott Leben und Kräfte geben wird, so werde ich in meinem Unternehmen Erfolg haben.
Zeigen Sie diesen Brief nicht meinem Bruder Wasja: Ich fürchte seinen Spott. Er ist gewöhnt, mich zu beherrschen, und ich gewöhnte mich, mich ihm zu fügen. Was Wanja anbetrifft, so wird er meinen Entschluß begreifen, wenn er ihn auch nicht billigen wird.«
Die Gräfin sandte ihm folgendes Antwortschreiben, das hier ebenfalls aus dem Französischen übersetzt ist:
»Dein Brief, lieber Dmitri, hat mir nichts bewiesen, als daß Du ein gutes Herz hast, woran ich niemals zweifelte. Indes, lieber Freund: Unsere guten Eigenschaften schaden uns mehr im Leben als unsere schlechten. Ich werde nicht sagen, daß Du eine Dummheit machst, daß Dein Betragen mich bekümmert, ich will Dich vielmehr nur zu überzeugen suchen. Laßt uns einmal überlegen, mein Freund. Du sagst, Du fühlst Dich zum Landleben berufen, Du willst Deine Bauern glücklich machen, und Du hoffst, ein guter Landwirt zu sein. 1. Ich muß Dir sagen, daß wir unsere Berufung erst dann fühlen, wenn wir uns schon einmal in ihr irrten. 2. Daß es leichter ist, sich selber glücklich zu machen, als andere zu beglücken, und 3. daß, um ein guter Landwirt zu sein, man ein kalter und strenger Mensch sein muß, was Du kaum jemals werden wirst, wenn Du Dir auch alle Mühe gibst, Dich für einen solchen auszugeben.
Du hältst Deine Erwägungen für unerschütterlich und sogar als Regeln im Leben; in meinem Alter aber, mein Freund, glaubt man nicht an Erwägungen und Regeln, vielmehr nur an die Erfahrung; die aber sagt mir, daß Deine Pläne – Kinderei sind. Ich bin schon fast fünfzig Jahre alt und ich habe viele würdige Menschen gekannt, niemals habe ich aber gehört, daß ein junger Mann mit Namen und Fähigkeiten sich unter dem Vorwand, Gutes zu tun, auf dem Land vergraben habe. Du wolltest immer als ein Original erscheinen. Deine Originalität ist aber gar nichts anderes als übermäßige Selbstliebe. Und, mein Freund, wähle lieber geebnete Pfade: Sie führen näher zum Erfolg; wenn Du den aber auch schon nicht für Dich selber nötig hast, so ist er doch unerläßlich dafür, das Gute tun zu können, das Du liebst.
Die Armut einiger Bauern ist entweder ein unvermeidliches Übel oder ein solches, dem man abhelfen kann, ohne alle seine Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft, seinen Verwandten und sich selber zu vergessen. Bei Deinem Verstand, Deinem Herzen und Deiner Liebe zur Tugend gibt es gar keine Karriere, in der Du nicht Erfolg hättest. Wähle aber wenigstens eine solche, die Deiner würdig ist und Dir Ehre einträgt.
Ich glaube an Deine Aufrichtigkeit, wenn Du sagst, Du hättest keinen Ehrgeiz; Du betrügst Dich indes selber. Ehrgeiz ist eine Tugend in Deinen Jahren und bei Deinen Mitteln. Sie wird erst zu einem Mangel und einer Gemeinheit, wenn der Mensch schon nicht mehr imstande ist, diese Leidenschaft zu befriedigen. Auch Du wirst das erfahren, wenn Du Deinen Entschluß nicht änderst. Leb wohl, lieber Mitja! Mir scheint es, ich liebe Dich noch mehr wegen Deines albernen, aber edlen und großherzigen Planes. Handle so, wie Du willst; ich gestehe aber, ich kann nicht einverstanden sein mit Dir.«
Als der junge Mann diesen Brief erhielt, hatte er lange Zeit über ihn nachgedacht, endlich aber entschieden, daß auch ein geniales Weib sich irren könne. Darauf hatte er dann sein Entlassungsgesuch bei der Universität eingereicht und war – für immer – auf dem Land geblieben.
II
Wie seiner Tante mitgeteilt, hatte sich der junge Mann Verhaltensmaßregeln für sein Wirtschaften aufgeschrieben, und sein ganzes Leben und alle seine Beschäftigungen waren eingeteilt nach Stunden, Tagen und Monaten. Der Sonntag war bestimmt zum Empfang von Bittstellern, Hofleibeigenen und Bauern, zum Besuch der Wirtschaften armer Bauern und zur Gewährung von Hilfe mit Zustimmung der Bauerngemeinde, die sich jeden Sonntag abends versammelte und entscheiden mußte, wem Hilfe zu erweisen nötig sei, und was für eine. Unter solchen Beschäftigungen war schon ein Jahr vergangen, und der junge Mann war schon nicht mehr völlig Neuling, weder in praktischer noch in theoretischer Kenntnis der Landwirtschaft.
Es war an einem klaren Junisonntag. Nechljudoff hatte eben Kaffee getrunken und ein Kapitel des »Maison rustique« durchlaufen. Nunmehr verließ er, sein Notizbuch und einen Packen Banknoten in der Tasche seines leichten Mantels, das große Landhaus mit seinen Terrassen und Säulenhallen, in dessen Erdgeschoß er ein einziges kleines Zimmerchen bewohnte, und wandelte auf den ungepflegten, verwachsenen Wegen des alten englischen Gartens dem Dorf zu, das zu beiden Seiten der Chaussee lag. Nechljudoff war ein hochgewachsener, gutgebauter junger Mann mit langen, dichten, lockigen, dunkelrotbraunen Haaren, mit lichtem Glanz in den schwarzen Augen, mit frischen Backen und roten Lippen, über denen sich eben der erste Flaum der Jugend zeigte. In allen seinen Bewegungen wie auch in seinem Gang offenbarten sich Kraft, Energie und die gutmütige Selbstzufriedenheit der Jugend. Das Bauernvolk kehrte gerade in bunten Haufen aus der Kirche zurück: Greise, junge Mädchen, Kinder, Weiber mit Brustkindern schritten in Feiertagskleidern ihren Hütten zu. Alle verneigten sich tief vor dem gnädigen Herrn und machten ihm ehrerbietig Platz. Auf der Chaussee blieb Nechljudoff stehen, nahm sein Notizbüchelchen aus der Tasche und las auf der letzten, mit kindlicher Handschrift beschriebenen Seite einige Bauernnamen, denen Bemerkungen beigefügt waren. »Iwan Tschurisenok – bat um Stangen«, las er und ging zum Tor der zweiten Hütte rechts.
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