Tom Clancy's Splinter Cell: Die Firewall - James Swallow - E-Book

Tom Clancy's Splinter Cell: Die Firewall E-Book

James Swallow

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Beschreibung

Der legendäre Agent Sam Fisher tut sich mit einer neuen NSA-Rekrutin – seiner eigenen Tochter – zusammen, um die Welt zu retten – ein fesselnder Thriller aus dem bekannten Tom Clancy's Splinter Cell-Universum.   Der altgediente Fourth-Echelon-Agent Sam Fisher hat einen neuen Auftrag: Er soll die nächste Generation von Splinter-Cell-Agenten für die NSA-Abteilung für verdeckte Operationen rekrutieren und ausbilden, darunter auch seine Tochter Sarah. Doch als ein tödlicher Attentäter aus Fishers Vergangenheit von den Toten zurückkehrt und einen Mord begeht, beginnt für Vater und Tochter ein Wettlauf mit der Zeit, während eine finstere Bedrohung für die globale Sicherheit aufgedeckt wird. Eine gefährliche Cyber-Warfare-Technologie namens Gordian Sword – die in der Lage ist, Flugzeuge zum Absturz zu bringen, Computernetzwerke zu zerstören und ganze Städte in Dunkelheit zu hüllen – soll an den höchstbietenden Schurkenstaat versteigert werden. Sam und Sarah müssen ihre ganz eigenen Fähigkeiten einsetzen, um Gordian Sword zu neutralisieren und zu verhindern, dass die Waffe in die falschen Hände gerät – koste es, was es wolle …

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FIREWALL

JAMES SWALLOW

Ins Deutsche übertragen von

Helga Parmiter

Die deutsche Ausgabe von TOM CLANCY’S SPLINTER CELL®: FIREWALLwird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Inhaber: Andreas Mergenthaler; Verlagsleitung: Luciana Bawidamann;

Übersetzung: Helga Parmiter; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;

Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Layout: Cross Cult;

Cover-Illustration: Larry Rostant and Shutterstock,

Printausgabe gedruckt von CPI book GmbH, Leck. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

TOM CLANCY’S SPLINTER CELL®: FIREWALL

First published by Aconyte Books in 2022

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2022 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved.

Tom Clancy’s Splinter Cell, Ubisoft and the Ubisoft logo are registered or unregistered trademarks of Ubisoft Entertainment in the U.S. and/or other countries.

German translation copyright © 2022 by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-670-2 (Oktober 2022)

E-Book ISBN 978-3-96658-671-9 (Oktober 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für Rich Dansky,Gentleman, Gelehrter & Werbigfoot

Inhalt

Anmerkung des Autors

KAPITEL 1: Gunterfabrik – Kreuzberg – Berlin

KAPITEL 2: Gunterfabrik – Kreuzberg – Berlin

KAPITEL 3: GreenSea Incorporated – Canary Wharf – London

KAPITEL 4: GreenSea Incorporated – Canary Wharf – London

KAPITEL 5: Air Base Ramstein – Kaiserslautern – Deutschland

KAPITEL 6: 1984 Französische Botschaft – Tiflis – Sozialistische Sowjetrepublik Georgien

KAPITEL 7: Air Base Ramstein – Kaiserslautern – Deutschland

KAPITEL 8: Waterloo – London – England

KAPITEL 9: Rabat-Salé-Zemmour-Zaër – Rabat – Marokko

KAPITEL 10: Rabat-Salé-Zemmour-Zaër – Rabat – Marokko

KAPITEL 11: Nationalstraße 1 – Skhirat – Marokko

KAPITEL 12: T-Tec-Europazentrale – Lissabon – Portugal

KAPITEL 13: T-Tec-Europazentrale – Lissabon – Portugal

KAPITEL 14: Luftwaffenstützpunkt Montijo – Lissabon – Portugal

KAPITEL 15: T-Tec-Europazentrale – Lissabon – Portugal

KAPITEL 16: T-Tec-Europazentrale – Lissabon – Portugal

KAPITEL 17: Corinthia Hotel – Lissabon – Portugal

KAPITEL 18: Luftwaffenstützpunkt Montijo – Lissabon – Portugal

KAPITEL 19: Luftwaffenstützpunkt Montijo – Lissabon – Portugal

KAPITEL 20: Domazan – Kanton Redessan – Frankreich

KAPITEL 21: Privatzug – Unterwegs – Frankreich

KAPITEL 22: Standort Fünf – Nyx-Ölplattform – Nordsee

KAPITEL 23: Privatzug – Unterwegs – Kurz vor der französisch-schweizerischen Grenze

KAPITEL 24: Standort Fünf – Nyx-Ölplattform – Nordsee

KAPITEL 25: Privatzug – Kanton Wallis – Schweiz

KAPITEL 26: Luftwaffenstützpunkt RAF Lossiemouth – Moray – Schottland

DANKSAGUNGEN

Anmerkung des Autors

Firewall spielt im Jahr 2015, zwei Jahre nach den Ereignissen aus Splinter Cell: Blacklist und vier Jahre vor der Mission Operation Watchman in Bolivien (zu finden in Ghost Recon: Wildlands).

KAPITEL 1

Gunterfabrik – Kreuzberg – Berlin

Es dauerte vier Tage, bis sie die Suche eingrenzen konnten.

Vier kalte Tage auf den Straßen einer grauen Stadt, in der der Frühling scheinbar nicht Einzug halten konnte. Die Jahreszeit versuchte immer noch, sich gegen die letzten wolkenverhangenen Reste eines hartnäckigen Winters durchzusetzen.

Am zweiten Abend war es ihnen gelungen, sich dem Ziel zu nähern und eine Übergabe in der U-Bahn am Alexanderplatz zu beobachten. Doch eine wilde Verfolgungsjagd durch verschiedene Züge und über regennasse Bahnsteige hatte ihnen außer Unmut nichts eingebracht. Ihre Beute mit dem Codenamen Treble war dem Team mit einer Leichtigkeit ausgewichen, die an Beleidigung grenzte.

Später hatte Lynx sich böse Blicke eingehandelt, als sie angedeutet hatte, dass die Zielperson sie absichtlich angelockt hatte, um die Stärken der Agenten, die auf sie angesetzt waren, auszuloten.

Die Reaktion ihrer Mitstreiter war vorhersehbar gewesen. Gator, der stämmige Ex-Ranger, betrachtete es als persönliches Versagen, starrte stundenlang in seinen Kaffee und überprüfte seine Ausrüstung, um seinen Frust zu verbergen. Buzzard, der ständig vor nervöser Energie strotzende, drahtige New Yorker, spielte mit seinem Messer und brütete über einem Stadtplan. Keiner der beiden Männer schien viel zu schlafen. Beide waren immer bereits wach, wenn Lynx morgens in ihrem schäbigen Versteck in der Nähe der Karl-Marx-Straße aufstand.

Lynx war nicht wie die anderen. Mit ihrer durchschnittlichen Größe und den dunkelbraunen, schulterlangen Haaren hätte sie problemlos in jeder Touristenmenge untertauchen können. Aber bei einem zweiten Blick in ihre durchdringenden grünen Augen konnte man etwas von dem eisernen Willen spüren, der sich dahinter verbarg.

Die anderen konnten bei ihrer Rekrutierung bereits auf eine Militärkarriere zurückblicken, obwohl Buzzard nicht damit herausrückte, in welchem Bereich. Lynx vermutete, es war die Navy, aber er wollte das weder bestätigen noch bestreiten. Als er ihr umgekehrt dieselbe Frage gestellt hatte, war sie genauso wortkarg gewesen. Gator war sich sicher, dass sie früher bei der Polizei gewesen war, und sie ließ ihn in dem Glauben. Die Wahrheit war etwas komplizierter.

Diese Geheimniskrämerei – auch untereinander – gehörte zum Programm. Manchmal musste man bei aktiven Missionen mit Leuten zusammenarbeiten, von denen man so gut wie nichts wusste. Gleichzeitig musste man aber einen Weg finden, auf die Schnelle eine einsatzfähige Einheit zu bilden – deswegen die Codenamen und möglichst wenig persönlicher Small Talk. Den Verantwortlichen ging es bei dieser Operation darum, jemanden auszuschalten, und nicht um ein Teambuilding der Agenten im Einsatz.

Lynx war das nur recht. Nachdem sie Gator und Buzzard in den letzten Tagen beobachtet hatte, bezweifelte sie, dass die beiden die richtige Einstellung für eine Zusammenarbeit mitbrachten.

Trotzdem war es ihnen gelungen, Trebles Aufenthaltsort aufzuspüren. Immerhin. Lynx musterte das verfallene Gebäude auf der anderen Straßenseite durch die Windschutzscheibe ihres gemieteten VW Golf. Der brutalistische fünfstöckige Betonblock, dessen Fenster mit Graffiti besprüht waren, ragte hinter einem Wellblechzaun auf.

In dem Sprühregen, der aus tief hängenden Wolken am Nachthimmel fiel, wirkte das Gebäude unansehnlich. Es hatte die typische Silhouette zweckmäßiger, ostdeutscher Architektur. Das Schild über dem Eingang war verwittert, aber noch lesbar. Früher war es eine Textilfabrik gewesen, die Sporttrikots für Kinderfußballmannschaften der Deutschen Demokratischen Republik hergestellt hatte. Doch das war vor dem Fall der Berliner Mauer gewesen, der »Wende«, wie die Deutschen es nannten.

Lynx überprüfte ihren Sektor auf Verkehr und fand nichts. Dieser ganze Bereich des Spreeufers hatte im Kalten Krieg direkt hinter der Mauer gelegen, was den Gebäuden deutlich anzusehen war. Wie viele Berliner Immobilien, die am Flussufer lagen, würde auch diese Fabrik von irgendeinem Immobilienhai aufgekauft und dann dem Erdboden gleichgemacht werden, damit an ihrer Stelle ein neues, modernes Gebäude hochgezogen werden konnte. Oder vielleicht würde man das Äußere erhalten, um sich den Retro-Chic der kommunistischen Ära zunutze zu machen. Sie fragte sich, was die DDR-Urgesteine davon gehalten hätten. Für sie selbst war all das Teil der Geschichte, etwas, das es nur in Filmen und Dokumentationen gab.

»Kein Sichtkontakt«, murmelte Gator, der zusammengesunken auf dem Beifahrersitz saß und sich ein Nachtsichtgerät vors Gesicht hielt. Er spähte die dunklen Fenster der Fabrik aus. »Treble könnte seine Signatur verschleiern.«

»Er ist schlau«, merkte Buzzard an und beugte sich auf der Rückbank des VW vor. Sorgfältig schraubte er einen langen Schalldämpfer an den Lauf einer Glock-17-Pistole. Dann lud er diese mit einem Magazin blauer Patronen.

»Mehr, als du ahnst«, stellte Lynx fest. »Er hat praktisch das Lehrbuch für das hier geschrieben.«

»Bist du ein Fan?« Gator schnaubte spöttisch und warf ihr einen vielsagenden Blick zu, dann sprach er weiter: »Er ist allein. Du musst nur dafür sorgen, dass sich der Schlamassel von der U-Bahn nicht wiederholt.«

»Schieb das nicht mir in die Schuhe«, sagte sie. »Du hast ihn doch aufgeschreckt.«

»Und du hättest ihn im Visier haben sollen.« Gator überprüfte seine Waffe, bevor er sie in seine Jacke steckte.

»Er ist uns allen durch die Lappen gegangen«, schnauzte Lynx. »Ich hab ja gesagt, er ist ein Vollprofi.«

Buzzard trommelte mit den Fingern am Türrahmen. »Wir machen das hier jetzt anders«, erklärte er. »Der Fehler war, ihm in der Station nicht alle Fluchtwege abzuschneiden. Dieses Mal teilen wir uns auf und versperren alle Ausgänge.«

Lynx schüttelte ihren Kopf. »Falsch. Wir müssen mit gebündelter Kraft gegen Treble vorgehen. Das ist die einzige Chance, ihn auszuschalten. Denk an das Briefing.« Die dünne Akte vom Operationskommando hatte ihnen unmissverständlich deutlich gemacht, dass die überragenden Fähigkeiten der Zielperson den besten Leuten der Spetsnas, des SAS oder der SEALs in nichts nachstanden.

»Ich habe meine Verstärkung genau hier.« Gator grinste und tätschelte seine Waffe.

Lynx verzog das Gesicht, aber die beiden anderen hatten sich offensichtlich schon entschieden. Sie wusste, der Versuch, sie umzustimmen, wäre reine Zeitverschwendung. Buzzard wollte an der Regenrinne auf der Westseite der Fabrik hochklettern und sich dann vom Dach aus nach unten vorarbeiten. Gator sollte von der Flussseite her hineingehen. Für Lynx blieb also der Vordereingang. Ihr Blick wurde noch finsterer.

Buzzard krempelte seinen Jackenärmel hoch. Darunter kam ein Gerät zum Vorschein, das einem Smartphone ähnelte und an der Innenseite seines Unterarms befestigt war. Der Bildschirm wurde hell und er tippte probehalber darauf. »Na dann. OPSATs synchronisieren.«

»Verstanden.« Lynx und Gator besaßen die gleichen Geräte. Sie gehörten zu einem verdeckten Netzwerk, das eine nahezu sofortige Kommunikation mit den Sesselfurzern in der Zentrale ermöglichte. Der Operational Satellite Uplink – so der vollständige Name – konnte mit dem strategischen Missionsinterface (SMI) verbunden werden, um in Echtzeit Daten auszutauschen. Aber für die Dauer dieser Aktion waren die meisten Funktionen ausgeschaltet.

Die drei Agenten tippten ihre Identitätscodes ein und ihre OPSATs vibrierten. Als Nächstes gab Buzzard ihnen die letzten Ausrüstungsstücke: flexible Gesichtsmasken aus schusssicherem Material und Monokel mit Restlichtverstärker. Jetzt war das Trio gut ausgerüstet, zog die Kapuzen über und wurde gesichtslos.

Lynx überprüfte ihre Pistole ein letztes Mal, während Gator in den Regen hinausschlüpfte. Sie folgte ihm nach draußen und achtete darauf, die Tür leise zu schließen. Buzzard war einen Schritt hinter ihr, eine graue Gestalt im Dauerregen.

»Funkcheck.« Gators schroffer Tonfall wurde über einen winzigen Funkknopf in ihrem Ohr übertragen.

»Lynx«, antwortete sie. Ihre Stimme wurde über ein Mikrofon, das an ihrer Kehle befestigt war, übertragen.

»Buzzard.« Er folgte dem Protokoll. Aus dem Augenwinkel sah Lynx, wie er über die leere Straße huschte und hinter einer Mauer verschwand.

»Guter Empfang.« Gator zögerte am anderen Ende des Blocks und warf Lynx einen Blick zu. Im fahlen Schein einer Straßenlaterne deutete er einen Salut an und verschwand in den Schatten.

Lynx ging mit schnellen Schritten zum Vordereingang. Dabei umging sie sorgfältig tiefe Regenpfützen. Sie zog ihre Waffe und quetschte sich durch eine enge Lücke zwischen zwei Metallzaunelementen. Ein Lastwagen rumpelte vorbei. Die Scheinwerfer warfen kurz ein helles Licht auf die verfallene Fassade des Gebäudes. Sie erstarrte und ließ ihn vorbeifahren, bevor sie weiterging.

Sie überprüfte die Kanten der Tür und fand keine Anzeichen von Sensoren oder Sprengfallen. Das bedeutete, Treble hatte entweder versäumt, welche aufzustellen – was angesichts dessen, was sie über ihn wusste, unwahrscheinlich war –, oder er hatte sie so gut platziert, dass sie sie auf Anhieb nicht finden konnte.

Lynx klappte ihr Nachtsichtmonokel herunter und sah sich den Eingang genauer an. Buzzard brummte etwas in ihr Ohr.

»Klettere hoch.«

»Verstanden«, antwortete Gator. »Bin am Hintereingang. Stolperdraht. Entschärft.«

Noch während er sprach, entdeckte Lynx ebenfalls einen. Ein fast unsichtbarer Draht verlief in Knöchelhöhe quer durch die Eingangshalle. Sie folgte ihm zu einer scharfgemachten Betäubungsgranate, die geschickt unter einigen Trümmern versteckt war.

»Hier auch«, flüsterte sie. Lynx beschloss, die Falle nicht zu beseitigen, und stieg mit der Leichtigkeit einer Turnerin darüber hinweg.

Sie bewegte sich langsam und verteilte ihr Gewicht bei jedem Schritt gleichmäßig. Die Eingangshalle war schmal und hoch mit einer zentralen Treppe, die mit Schutt und zerbrochenen Möbeln übersät war. Hoch oben regnete es durch ein zerborstenes Oberlicht herein. Rinnsale ergossen sich spritzend auf den gefliesten Boden.

Lynx huschte geduckt von Deckung zu Deckung und hielt immer wieder an, um ihre Umgebung zu prüfen. Der Blick durch das Monokel ließ alles in unscharfen Schattierungen von Meergrün bis leichenartig Weiß erscheinen. Es war, als befände sie sich auf dem Grund eines Sees.

Sie hielt den Atem an. In der Ferne, irgendwo in der Richtung des Engelbecken Parks, heulten Polizeisirenen und entfernten sich dann.

Lynx ging auf der Suche nach allem, was auf Trebles Anwesenheit hindeuten könnte, so schnell wie möglich von Raum zu Raum. Sie fand nichts. »Erdgeschoss, kein Kontakt«, meldete sie.

»Keller, kein Kontakt«, sagte Gator. »Bin unterwegs ins Erdgeschoss.«

»Dach, kein Kontakt.« Buzzard schien außer Atem zu sein, dann verbesserte er sich. »Besser gesagt, ich habe hier oben einen Beobachtungsposten gefunden, aber keinen Beobachter.« Er seufzte. »Steige zum vierten Stock runter.«

»Verstanden.« Lynx dachte einen Moment nach. War Treble da oben gewesen und hatte sie beobachtet, bevor sie sich Zutritt verschafft hatten? Sie atmete in der muffigen Luft einmal tief durch und machte sich dann auf den Weg zum Treppenhaus am Ende des Flurs. »Ich gehe in den ersten Stock.«

Buzzard kletterte durch eine Lücke, in der sich früher ein Oberlicht befunden hatte, ins Gebäude. Das aufgequollene und rissige Holz hielt seinem Gewicht stand, dann ließ er sich leise wie eine Katze auf den feuchten, vom Schimmel geschwärzten Teppich fallen. Der Büroraum, in den er hinuntersprang, war leer. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, war längst verschwunden, es gab nur noch blanke, mit Schmutz und Graffiti bedeckte Wände. Der Betonboden unter dem vergammelten Teppich bedeutete, dass es keine knarrenden Dielen gab, die seine Bewegungen hätten verraten können. Nur der Regen war zu hören.

Oder etwa nicht?

Buzzard drehte seinen Kopf in die Richtung des geisterhaften Geräuschs. Er hörte Gemurmel, das wie bei einem schlecht eingestellten Radio von Rauschen überlagert war. Es war frustrierend undeutlich, aber er wagte nicht, es zu ignorieren. Das Geräusch war ein Lebenszeichen, und das bedeutete, sie hatten recht – Treble versteckte sich hier.

Buzzard wurde eins mit den Schatten und schlich aus dem Büro auf einen lang gezogenen Flur. Der vermoderte Bodenbelag schmatzte unter seinen Stiefeln, die Ränder des verschimmelten Teppichs bogen sich wie welke Blütenblätter. Er richtete seinen Blick auf die Quelle des Geräuschs, brachte seine Pistole in Anschlag und legte den Finger an den Abzug.

Durch sein Nachtsichtmonokel erkannte er einen scharfen Lichtstrahl, der einige Meter entfernt unter einer halb geschlossenen Tür hindurchfiel. Das Geräusch wiederholte sich, diesmal deutlicher. Eine murmelnde Stimme am anderen Ende eines Telefons.

Also war Treble da drin und sprach mit jemandem. Das bedeutete, er war abgelenkt. Angreifbar.

Buzzard zögerte und tippte dreimal auf sein Kehlkopfmikrofon. Das war der Code für Ziel gesichtet.

»Kannst du das bestätigen?«, flüsterte Lynx in seinem Ohrhörer.

Er runzelte die Stirn. Das konnte er nur, wenn er die Tür eintrat und Treble eine Kugel in die Brust jagte. Buzzard antwortete nicht. Er musste schnell und leise sein, sonst war das Überraschungsmoment verloren.

Er hatte sich der halb offenen Tür bis auf Armeslänge genähert, da löste ein Bewegungsmelder ein unter dem Teppich verstecktes Gerät aus. Mit einem zischenden Knall entlud der versteckte Elektroschocker seine gespeicherte Betäubungsladung und traf den Agenten mit voller Wucht.

Qualvolle Muskelkrämpfe ließen Buzzard wie einen gefällten Baum nach vorn kippen. Sein ganzer Körper war ein einziger Schmerz, als hätte man ihn in Brand gesetzt. Seine zitternden Hände tasteten ziellos durch die Luft und sein Mund blieb offen stehen.

In seinem Ohr hörte er Gator, der einen Statusbericht verlangte, aber Buzzard lag nur wie ein zitternder Haufen da und stieß einen stummen Schrei aus, während Elektrizität durch ihn hindurchraste.

»Buzzard, antworte!« Gator blieb zögernd am Rande der Eingangshalle im Erdgeschoss stehen und wartete auf eine Antwort, die nicht kam. »Buzzard, tipp auf dein Mikro, wenn du kannst.«

»Glaubst du, Treble hat ihn erwischt?« Lynx wagte es, die Frage auszusprechen, die sie beide beschäftigte.

»Möglich.« Gator holte tief Luft. »Ich werde ihn rauslocken.«

»Keine gute Idee.«

»Ich hab dich nicht nach deiner Meinung gefragt.« Er hielt die Glock dicht vor seiner Brust, entschied sich für eine Richtung und ging den rechten Flur hinunter.

Dieser endete in einem Großraumbüro, dessen Holztrennwände zerfallen waren. Es gab hohe Decken und tiefe Schatten. Gator suchte mit Blicken nach Bewegungen zwischen den herabhängenden Rohren und kaputten Leitungen. Hier waren wohl Gelegenheitsdiebe durchgekommen und hatten Wände und Böden aufgerissen, um an die Kupferleitungen des Gebäudes zu kommen. Die Schuttberge machten es schwer, sich geräuschlos zu bewegen. Gator strengte sich an, um über das ständige Regenprasseln an den schmutzigen Fenstern hinweg etwas zu hören.

Er hätte sie nur schwer in Worte fassen können, aber Gator hatte eine Ahnung. Ein sechster Sinn, den man ihm in seiner Ranger-Ausbildung antrainiert hatte, warnte ihn, dass er nicht allein war. Treble war mit ihm hier drin, er konnte es spüren, wie ein Jucken zwischen seinen Schulterblättern.

Und das bedeutete, eine Falle wartete nur auf einen falschen Schritt von ihm. Er verzog die Lippen. Wahrscheinlich war Buzzard in sie hineingetappt. Ihre Zielperson musste einen Hinterhalt gelegt haben, um die Reihen der Verfolger zu lichten.

Eine Stimme in Gators Hinterkopf fragte, ob Lynx vielleicht die ganze Zeit recht gehabt hatte. Wenn Treble sie nacheinander ausschalten wollte, hatten sie dem Mann genau in die Hände gespielt.

Gator trat langsam den Rückzug an, um den Weg zurückzugehen, den er gekommen war. In dem Moment raste unten auf der Straße ein weiterer Lastwagen vorbei. Die Scheinwerfer des Fahrzeugs warfen einen Lichtschein durch die Fenster und für einen Moment nahmen die zuckenden Schatten die Gestalt eines Mannes an. Gator drückte ab, ohne nachzudenken, und gab zwei Schüsse auf die dunkle Gestalt ab. Die gedämpften Schüsse der Glock hallten durch den offenen Raum und ausgeworfene Patronenhülsen prallten von den Holzwänden ab. Er traf nichts.

Der Schatten war nur eine verschwommene schwarze Form, die sich auflöste, als der Lastwagen seine Fahrt fortsetzte. Gator fluchte innerlich und war wütend auf sich selbst, weil er zugelassen hatte, dass sein Eifer ihm in die Quere kam.

Er verlor die Geduld und beschloss, seine Chancen zu verbessern. Der Ranger steckte seine Hand in die Innentasche seiner Jacke, in der er eine zylindrische Blendgranate mit einem Clip befestigt hatte. Wenn Treble wirklich im Raum war, war das die beste Möglichkeit, ihn aufzuscheuchen.

Er tastete nach der Granate, da ertönte über ihm ein leiser Pfiff. Gator verrenkte sich den Hals, wirbelte herum und versuchte, die Waffe hochzureißen. Ihm war so, als baumele eine Gestalt in der Dunkelheit von einem der Rohre.

Bevor er einen Schuss abfeuern konnte, kam der Mann ihm schon entgegen. Die Schwerkraft ließ die beiden mit solcher Wucht zusammenprallen, dass der stämmige Ranger zu Boden ging.

Gator bemühte sich, seine Pistole nicht zu verlieren, aber sein Angreifer schlang einen sehnigen, muskulösen Arm um seinen Hals und drückte zu. Gator konnte Lynx keine Warnung zurufen, weil ihm die Luft wegblieb. Alles verschwamm vor seinen Augen, als der Schwitzkasten Wirkung zeigte.

Er zog den Abzug der Glock durch. Ein ungezielter Schuss löste sich und prallte vom Boden ab. Nur vage konnte er seinen schwarz gekleideten Verfolger und den rasselnden Atem dicht an seinem Ohr wahrnehmen. In einem letzten verbissenen Versuch, sich zu befreien, trat und schlug Gator um sich und spürte, wie seine Schläge auf Körperpanzerung trafen.

Das Blut rauschte in seinen Ohren, er versuchte verzweifelt, zu verhindern, dass die Farben aus seiner Welt wichen und die Schatten näher kamen. In einer letzten Trotzreaktion zog er den Stift der Blendgranate. Doch als der Zylinder von ihm weg über den Boden rollte, hatte er bereits das Bewusstsein verloren.

Lynx hörte, wie die Betäubungsgranate im Stockwerk unter ihr explodierte und sah das kurze, grelle Aufblitzen durch die Risse im Beton.

Nach dem Knall hörte sie das Knirschen von Stiefeln, die sich entfernten, und nahm die Verfolgung auf.

Er hat Gator ausgeschaltet.

Sie hinterfragte den Gedanken nicht weiter und übersah dabei, dass sie jetzt als einzige der Verfolger übrig geblieben war. Ihr Ziel war unterwegs in die nordwestliche Ecke des Gebäudes, in Richtung des Flusses. Sie erinnerte sich, dass es dort eine Brücke gab. Wenn Treble es nach draußen und ans andere Ufer schaffte, würde er untertauchen. Die Stadt wurde da drüben zum Labyrinth und allein hatte sie keine Chance, ihn zu verfolgen.

Wenn es ihr nicht gelang, ihn hier in der Fabrik aufzuhalten, war er so gut wie weg.

Ein paar Meter weiter war ein Teil des Gebäudes eingestürzt. Dort hatte sich ein scharfkantiges Loch im Boden gebildet, eine schwarze Leere, die in die darunterliegende Ebene führte. Lynx zögerte nicht und ließ sich mit einer geschmeidigen Bewegung über den Rand in die Finsternis fallen.

Es war ein waghalsiges Unterfangen, sich ins Ungewisse zu stürzen, aber sie ging das Risiko ein. Sie würde schon nicht mit den Füßen voran auf einem Haufen rostiger Bewehrungsstäbe oder einer Sprengfalle landen. Der Sturz dauerte länger, als sie erwartet hatte. Lynx landete unsanft und taumelte, während sie versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.

Sie tastete im Stockdunkeln nach ihrem Nachtsichtmonokel, um es einzustellen. Jetzt sah sie alles mit ihrem rechten Auge in Grün und Weiß. Jeder Stützpfeiler, jede umgestürzte Mauer stach hervor, was es nicht einfach für sie machte, etwas zu erkennen.

Treble konnte ihre Ankunft nicht entgangen sein, prompt hörte Lynx irgendwo auf der anderen Seite des offenen Raums ein schwaches Klicken und kurz darauf ein hohes Surren, als würde ein Kamerablitz aufgeladen.

Sie schoss in die Richtung des Geräuschs – weniger um etwas zu treffen, sondern eher um eine Reaktion zu provozieren. Die Kugeln prallten funkensprühend von der Wand ab und ein Teil des Schattens löste sich von ihr und ging in Deckung.

Geht doch!

Mit neuem Schwung zog Lynx sich halb rollend, halb fallend mit der Waffe im Anschlag über eine der niedrigen Trennwände. Diesmal landete sie trittsicher und feuerte zwei weitere Schüsse in den Raum, in den Treble verschwunden war. Aber er hatte sich in Luft aufgelöst.

Sie machte auf dem Absatz kehrt, denn ihr Instinkt riet ihr, auf der Hut zu sein.

Treble hatte die drei Agenten am Alexanderplatz in eine Falle gelockt und jetzt hatte er es wieder getan. Die Zielperson hatte erkannt, wie die Dynamik innerhalb des Teams funktionierte, und nutzte das gegen sie. Isolieren und neutralisieren. Eine gute Taktik.

Lynx duckte sich unter dem schnellen, harten Schlag weg, der direkt auf sie zukam, und wich zurück, aber nicht schnell genug, um ihn sauber abzuwehren. Trebles behandschuhte Fingerknöchel streiften ihren Wangenknochen und rissen ihr das Monokel aus dem maskierten Gesicht.

Sie duckte sich und brachte die Waffe in Anschlag, aber Treble schlug ihr mit dem Handballen gegen den Solarplexus, sodass ihr mit einem schmerzhaften Ruck die Luft aus den Lungen getrieben wurde. Lynx taumelte einen Schritt zurück. Trebles schattenhafte Gestalt kam immer näher und trat aus der Dunkelheit ins Zwielicht. Er griff nach ihrem Handgelenk und verbog es. Sie zischte vor Schmerz und die Glock entglitt ihren Fingern.

Die Waffe fiel ihr vor die Füße, aber Lynx hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Treble griff sie wieder an und deckte sie aus der Dunkelheit heraus mit schnellen Schlägen ein. Sie wehrte die Schläge eher ab, weil sie sie kommen hörte, und nicht, weil sie sie sah.

Sie versuchte, den Abstand zu vergrößern, aber er ließ es nicht zu. Er hielt den Druck aufrecht und zwang sie, nach seiner Pfeife zu tanzen.

Wut flammte in Lynx auf und sie nutzte diese als Ansporn. Sie wich einem auf ihre Kehle gerichteten Hieb nach rechts aus, bedrängte Treble, durchbrach seine Deckung und landete Gegentreffer an seinem Bauch, seiner Brust und seinem Hals.

Ihr Angreifer knurrte und geriet ins Stolpern, während er die Schläge einsteckte. Dabei durchquerte er den Mondschein, der durch ein zerborstenes Fenster hereinfiel. Lynx erhaschte einen Blick auf ein zerfurchtes, unrasiertes Gesicht, das hinter einem insektenartigen Nachtsichtgerät verborgen war, und auf eine weite Jacke über mattschwarzer, taktischer Ausrüstung.

Sie behielt den Schwung bei und nutzte ihre größere Schnelligkeit und Beweglichkeit. Treble war bestimmt doppelt so schwer wie sie, ein gut platzierter Schlag von ihm könnte sie niederstrecken. Aber jeder ihrer Treffer entsprang reiner Spekulation und ihrem Instinkt. In der Dunkelheit zu kämpfen war wie Boxen im Nebel und sie war nicht sicher, ob sie sich würde behaupten können.

»Lynx …?« Buzzards Stimme erklang hinter ihr. Ohne nachzudenken, drehte sie sich um und ließ sich ablenken. »Bist du das?«

Der drahtige junge Mann stand benebelt im Türdurchgang und stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab. Im Dämmerlicht wirkte er blass und unsicher. Egal womit Treble ihn niedergestreckt hatte, er spürte immer noch die Nachwirkungen.

Die Zielperson schnalzte missbilligend mit der Zunge und handelte blitzschnell. Sie packte den Saum von Lynx’ Kapuzenpulli, zog sie zu sich heran und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Der Mann drückte ihren Rücken an seine Brust, legte einen Arm um ihren Hals und begann, sie zu würgen.

Ein Teil von Lynx erkannte, dass Treble sich bei dem Schlagabtausch mit ihr Zeit gelassen und ihn in die Länge gezogen hatte. Mit der anderen Hand zog er jetzt eine Waffe, die er auf Buzzard richtete.

Lynx wollte eine Warnung rufen, aber über ihre Lippen kam nur ein ersticktes Keuchen.

Trebles schallgedämpfte Pistole ploppte und ein blauer Funke sprühte auf Buzzards Brust. Er schrie auf und fiel außer Sichtweite um.

Lynx’ Instinkt sagte ihr, die Hand des Mannes von ihrem Hals wegzuziehen und verzweifelt nach Luft zu schnappen, bevor sie ohnmächtig wurde. Aber sie kämpfte die Panik nieder, die in ihr aufstieg, und tastete nach ihrer einzigen verbliebenen Waffe.

Ihre Finger berührten das schwarze Polymer-Kampfmesser, das in einem Futteral an ihrem Oberschenkel steckte, und zog es heraus. Dann drehte sie es in ihrem Griff um. Das Blut rauschte laut in ihren Ohren, während sie mit letzter Kraft das Messer nach oben und hinten stieß, bis die Spitze sich in das weiche Fleisch an Trebles Kehle grub.

Lynx übte stetigen Druck auf seinen Adamsapfel aus und spürte, wie ihr Gegner erstarrte. Die kleinste Bewegung ihrer Hand würde ihm die Kehle aufschlitzen.

Trebles Griff lockerte sich und Lynx widerstand dem Drang, davonzustolpern und nach Luft zu schnappen. Sie hielt das Messer in Position und machte deutlich, wie die Kräfteverteilung in diesem Kampf nun aussah.

Treble steckte langsam seine Waffe weg und sprach mit leiser, rauer Stimme. »Okay«, gab er klein bei. Dann drückte er auf das Mikrofonpad an seinem Hals und wiederholte dasselbe Wort dreimal. »Endex. Endex. Endex.«

KAPITEL 2

Gunterfabrik – Kreuzberg – Berlin

»Also schön, ihr habt den Mann gehört. Die Übung ist beendet.« Anna Grímsdóttir setzte das drahtlose Headset ab, mit dem sie den Funkkanal überwacht hatte. Dann trat sie von der Reihe der Überwachungsmonitore im hinteren Teil des unauffälligen Renault-Transporters zurück. Ihr Blick schweifte über die Technikergruppe, die auf ihr Kommando wartete. Ohne ihren Befehl würde sich keiner von ihnen rühren.

Grim – wie sie von den meisten ihrer Kollegen genannt wurde – flößte ihren Untergebenen Gehorsam ein. Die groß gewachsene und pragmatische Frau mit den hennaroten Haaren trug offiziell den Titel »technische Einsatzleiterin«. Dieser absichtlich vage Euphemismus konnte für eine Vielzahl von Geheimaufträgen verwendet werden. In der realen Welt bedeutete er, dass sie das Kommando über eins der bestgehüteten Geheimnisse des Planeten hatte – Fourth Echelon, eine Antiterror- und Spionageabwehreinheit, die im Verborgenen operierte.

»Ich will, dass dieser Ort in fünfzehn Minuten blitzsauber ist«, sagte Grim zu den Technikern. »Bewegung.«

Die Teammitglieder, die alle bewusst unauffällige Straßenkleidung trugen, beeilten sich zu gehorchen. Sie stiegen hinten aus dem Transporter aus und machten sich auf den Weg zur verfallenen Gunterfabrik. Grim folgte ihnen in gemächlichem Tempo und suchte die Straße mit erfahrenen, scharfen Blicken ab.

Keine Polizei, keine Beobachter. Alles sauber … Für den Moment.

Sie musste den Technikern nicht sagen, dass sie ohne den Segen der deutschen Regierung oder ihrer Nachrichtendienste in diesem Land operierten. Wenn der Bundesnachrichtendienst – der BND – wüsste, dass eine Splinter Cell von Fourth Echelon direkt vor seiner Haustür operierte, wäre seine Reaktion, gelinde gesagt, unangenehm. Deshalb war es von entscheidender Bedeutung, hinter sich aufzuräumen und keine Spuren zu hinterlassen, die darauf hindeuteten, dass sie jemals hier gewesen waren. Splinter Cells waren Schatten, das Messer in der Dunkelheit, das niemand kommen sah.

Das ist praktisch das Motto der 4E, dachte Grim mit einem seltenen Lächeln.

Dieser Einsatz, jemanden aufzustöbern und gefangen zu nehmen, diente zum Teil der Leistungsbewertung, zum Teil war er eine Übung mit scharfer Munition. Die zusätzliche Schwierigkeit, in einer Umgebung ohne Befugnisse zu arbeiten, war ein weiterer Test für Grims neueste Rekruten von der Farm, der Ausbildungsstätte für die Central Intelligence Agency und anderer Abteilungen der amerikanischen Geheimdienste.

Gator, Lynx und Buzzard waren die einzigen drei Kandidaten, die es in das harte Trainingsprogramm von Fourth Echelon geschafft hatten, und alle drei drohten durchzufallen.

Grim betrat die Fabrik durch die Vordertür, ging an einem der Techniker vorbei, der gerade einen Stolperdraht sicherte, und fand den leitenden Ausbilder des Abends, der in der Eingangshalle auf sie wartete. Er massierte sich mit nachdenklichem Gesichtsausdruck eine schmerzende Stelle am Hals.

»Sam.« Sie nickte ihm zu.

»Grim.« Sam Fisher nickte zurück, nahm das markante Trifokal-Sichtgerät ab und verstaute es in seiner Jacke. »Hast du die Show gesehen?«

»Du kennst mich«, antwortete sie. »Ich sehe immer zu.«

Grim nickte dorthin, wo einer der Techniker eine von Dutzenden drahtlosen Kamerakapseln barg, die im Gebäude der Gunterfabrik versteckt worden waren, um die Ereignisse der Nacht zu überwachen.

»Zweifellos«, sagte Fisher mit dem kurzen Anflug eines schiefen Lächelns.

Fisher war recht groß und unter der dicken Jacke verbarg sich eine schlanke Statur, für die andere Männer seines Alters gemordet hätten. Mit seinem gestutzten Bart und dem kurzen Haar, das sich von schwarz zu dunkelgrau verfärbte, hätte er zwischen fünfzig und sechzig sein können. Die harten Augen und die Falten um sie herum zeugten von einem Leben im Kampf und dem Willen, bis zum bitteren Ende durchzuhalten.

Fisher war Navy SEAL gewesen, bevor er paramilitärischer Offizier der CIA geworden war. Anfang der Achtzigerjahre war er einer der ersten Rekruten für die spätere Fourth Echelon gewesen. In dieser Zeit hatte er sich einen Ruf erarbeitet, den nur wenige kannten, aber diese wenigen hatten großen Respekt vor ihm. In vielerlei Hinsicht, so überlegte Grim, war er der Maßstab für jeden Splinter-Cell-Agenten, der nach ihm gekommen war. Es zeugte von Fishers Hartnäckigkeit und Widerstandskraft, dass die Arbeit ihn noch nicht unter die Erde gebracht hatte.

»Und?« Sie machte eine Kreisbewegung mit der Hand. »Hast du gute Nachrichten für mich?«

»Mir scheint immer die Sonne aus dem Arsch, Grim.«

»Ist klar.« Ihr sarkastischer Unterton war nicht zu überhören. Fisher war einer der erfahrensten Feldagenten. Seine Beurteilung der Auszubildenden konnte über deren Bestehen oder Scheitern entscheiden. Mit einem einzigen Wort hatte er mehr potenzielle neue Agenten durchfallen lassen als jeder andere Ausbilder.

Doch gerade diese hohen Standards machten Fourth Echelon zu einer vorbildlichen Einheit. Die Gruppe unterstand einzig dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, bezog Informationen und Ressourcen aus der obersten Ebene der National Security Agency und operierte in den höchsten Kreisen der Spionagewelt. Es mochte ein Klischee sein, aber die Splinter Cells waren wirklich die Besten der Besten in dem, was sie taten.

»Der dürre Kerl«, begann Fisher und nickte in Buzzards Richtung, dem ein Sanitäter wieder auf die Beine half, »hat einige Nehmerqualitäten bewiesen, indem er einen solchen Elektroschock abgeschüttelt hat. Aber ihm fehlt noch etwas Reife.«

Grim seufzte und rief dem jungen Mann zu: »Rybicki, Sie sind bei dieser Beurteilung durchgefallen.« Buzzard brachte nicht mehr als ein zittriges Kopfnicken zustande und war fast dankbar dafür, dass er gehen durfte. Der Treffer mit der Übungsmunition, den Fisher ihm an der Brust verpasst hatte, hatte ihn seiner Stimme beraubt.

Gator – dessen richtiger Name Michaels war – wurde von zwei Technikern bewusstlos an ihnen vorbei hinausgetragen. Grim musste gar nicht erst fragen. Sein Zögern war ihn im entscheidenden Moment teuer zu stehen gekommen. Der Ranger würde Rybicki auf dem nächsten Transportflug zurück nach Amerika begleiten. Fisher zuckte mit den Schultern und schwieg.

Die beiden jungen Männer würden nie erfahren, für wen oder was genau sie an einem Aufnahmeverfahren teilgenommen hatten. Die Begriffe »Fourth Echelon« und »Splinter Cell« wurden in Gegenwart dieser Auszubildenden nicht ausgesprochen. Sie kehrten zu ihren Einheiten mit einer Story über einen zwielichtigen Rekrutierer zurück, der sie eines Tages für eine unerklärliche Trainingsmission in Deutschland abgezogen hatte, für die es keine Erklärung gab.

Lynx war das einzige Mitglied der drei, das noch aus eigener Kraft stehen konnte. Doch auch sie humpelte deutlich, als sie in die Eingangshalle kam. Sie drückte eine Hand an ihr maskiertes Gesicht. Ihr dunkles Haar lugte im Nacken unter der Maske hervor. Das Messer, das sie Fisher an die Kehle gesetzt hatte, war nirgendwo zu sehen.

»Was ist mit ihr?« Grim musterte ihn. »Sie hätte dir fast ein neues Lächeln geschnitzt, Sam.«

»Fix«, gab Fisher zu. »Gute Instinkte. Auf jeden Fall die beste von den dreien.« Er seufzte. »Grünes Licht.«

Grim zog eine Augenbraue hoch. »Du lässt sie bestehen?«

»Hältst du das für einen Fehler?«

»Nein. Eigentlich stimme ich dir voll und ganz zu, das kommt eben nur selten vor.« Grim verschränkte die Arme. »Zwei sind durchgefallen, eine hat bestanden. Du wirst auf deine alten Tage doch nicht weich, hm?«

»Du solltest mich besser kennen.«

Grim runzelte die Stirn. »Tue ich auch. Aber es ist mir wichtig, mich zu vergewissern, dass deine Einschätzung richtig ist. Besonders in diesem Fall.« Sie hob die Hand und winkte Lynx heran.

Fisher kniff die Augen zusammen. »Was soll das denn heißen?« Er kannte Grim gut genug, um zu spüren, wenn sie etwas verbarg.

»Werd jetzt nicht sauer«, erwiderte sie. »Und glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich das hier zum Besten der Agentur tue.« Lynx kam zögernd näher und Grim deutete auf das Gesicht der jungen Frau. »Bitte nimm deine Maske ab.«

Widerwillig zog Lynx die Sturmhaube ab und zeigte sich zum ersten Mal. Sie brachte ein verlegenes Lächeln in Fishers Richtung zustande.

»Hey, Dad«, sagte sie.

»Sarah.« Fisher erstarrte und sein Blick wurde hart. Auf dem Gesicht seiner Tochter war eine frische Prellung zu sehen, die er ihr erst vor wenigen Augenblicken verpasst hatte, ohne zu wissen, dass die Frau, die ihn bei dem vorgetäuschten Angriff beinahe umgebracht hätte, sein einziges Kind war. »Was zum Teufel ist hier los?«

»Das ist Trainee Lynx, alias Sarah Burns, alias Sarah Fisher.« Grim wappnete sich und wartete auf den Sturm, der jetzt unweigerlich auf sie zukommen würde. »Jetzt weißt du, warum ich darauf bestanden habe, die Daten der Rekruten für diese Übung zu anonymisieren.«

»Lasst uns allein.« Fisher richtete den Befehl an die Techniker, die immer noch in der Eingangshalle arbeiteten. Als diese zögerten und Grim ansahen, um eine Bestätigung zu erhalten, knurrte er: »Habe ich mich unklar ausgedrückt?«

Eilig verschwanden die Techniker, ohne ihre Ausrüstung mitzunehmen, und ließen Grim, Sam und Sarah in dem hallenden, regenfeuchten Raum zurück. Fishers Tochter seufzte und atmete tief ein. »Dad, kann ich es dir erklären?«

»Warte, bis du dran bist.« Fisher richtete seinen Zorn auf Grim. »Du hast sie in eine Übung mit scharfer Munition geschickt. Und du hast es mir verheimlicht? Was hast du dir nur dabei gedacht?« Er sprach nicht lauter. Sein kalter Zorn reichte aus.

»Ich kann nicht zulassen, dass Potenzial vergeudet wird, Sam«, antwortete Grim.

»Ich wusste doch, dass mir diese Kampfbewegungen bekannt vorkommen«, murmelte Fisher und warf Sarah noch einen Blick zu. »Die habe ich dir beigebracht, nachdem …« Er brach ab.

Nachdem man sie entführt hatte, dachte Grim, und zwar zweimal in zwei Jahren. Trotz der Versuche ihres Vaters, Sarah vor der harten Realität seiner geheimen Karriere abzuschirmen, war seine finstere Welt in ihr Leben eingedrungen und hatte es getrübt.

Fisher ordnete seine Gedanken neu. »Als ich zugestimmt habe, dass Sarah eine Rolle bei Fourth Echelon übernehmen kann, wollte ich, dass sie Analystin wird.« Er betonte das Wort nachdrücklich.

»Mag ja sein, dass du dir das so vorgestellt hast«, sagte Sarah leise. »Ich nicht. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen.« Bevor ihr Vater antworten konnte, fuhr sie fort: »Tritt- und Schlagtechniken sind nicht das Einzige, das du mir beigebracht hast, Dad. Ich habe gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe Pflichtbewusstsein gelernt. Du hast mir beigebracht, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und keine Angst vor ihnen zu haben.«

Fisher machte ein finsteres Gesicht. »Ich wollte, dass du in Sicherheit bist!«

»Wie ich schon sagte, meine Entscheidung.« Sarah hielt dem Blick ihres Vaters stand.

Fisher wandte sich wieder an Grim: »Wenn ich gewusst hätte, dass sie …«

»Wenn du gewusst hättest, dass Lynx Sarah ist, hättest du sie nicht unvoreingenommen bewertet«, fiel Grim ihm ins Wort. Ihre Stimme war wie ein Peitschenknall. »Ich habe ihre Identität vor dir geheim gehalten, damit du sie genau wie Michaels und Rybicki ohne Rücksicht auf die Probe stellst.« Sie breitete die Hände aus. »Und du hast sie gerade bestehen lassen.«

»Ach, wirklich?« Trotz ihrer Erschöpfung leuchteten Sarahs Augen auf.

»Zurückgezogen«, sagte Fisher. »Rotes Licht.«

»Dafür ist es zu spät«, erwiderte Grim entschieden. »Sarahs Beurteilungsergebnisse sind überdurchschnittlich. Sie hat sich in allen Bereichen bestens geschlagen.«

»In Simulationen«, beharrte er.

»Stimmt«, räumte Grim ein. »Aber sie war die Einzige, die dir nah genug kommen konnte, um dich unter Druck zu setzen. Und jetzt sag mal, Sam, wie oft ist das schon vorgekommen?«

Fisher sagte nichts und presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.

Grim lenkte ein. »Tut mir leid, dass ich dir nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Aber Sarah besitzt die Fähigkeiten, die wir brauchen. Und du willst mir doch wohl nicht das Gegenteil erzählen.«

Fishers Schweigen zog sich in die Länge. Er konnte nicht auf Grims Feststellung antworten, weil er wusste, dass sie recht hatte. Sarah war keine unerfahrene Studentin mehr, die ständig die Nase in die Bücher steckte. Sie war jetzt eine fähige junge Frau, der offensichtlich die Instinkte, die eine verdeckte Agentin brauchte, in die Wiege gelegt worden waren. Schließlich fragte er nur: »Bist du ganz sicher, Kleines?«

»Ich will mehr tun.« Sarah sah eine Gelegenheit und packte sie beim Schopf. »So wie du und Onkel Vic. Ich kann mich nützlich machen.«

»Wir sind ganz anders als Vics Organisation«, sagte Fisher zu ihr. Sams alter Freund und Sarahs Ersatzonkel Victor Coste leitete Paladin Nine Security, ein privates Militärunternehmen, das alles von hochkarätigen Leibwächterdiensten bis hin zu Entführungs- und Bergungsaktionen übernahm. »Gegen das, was wir tun, sieht PNS wie eine Hinterwäldlertruppe aus.«

Sarah zögerte und eine Sekunde lang dachte Grim, sie würde einknicken. Dann richtete Fishers Tochter sich kerzengerade auf. »Du willst mich instinktiv beschützen, und dafür liebe ich dich. Du bist dir nicht sicher, ob ich das hier kann, das verstehe ich. Aber es gibt nur einen Weg, das rauszufinden.«

Fisher schüttelte den Kopf und warf Grim einen Blick zu. »Du hast gern recht, oder?«

»Auf jeden Fall«, gab sie zu.

»Dann sorg dafür, dass ich das hier nicht bereue.« Deutlicher würde Sam Fisher sein Einverständnis nicht äußern und Grim beschloss, das so hinzunehmen.

Er würde sich schon damit abfinden. Und wenn nicht … Dann musste er damit leben. Grims Ziel war es, Fourth Echelon mit maximaler Effizienz zu leiten, und nicht, Sam Fisher zufriedenzustellen.

Drew, einer der Techniker, kam in die Eingangshalle und wedelte mit einem verschlüsselten Satellitenfunkgerät herum. »Anruf vom Vogel«, erklärte er. »Es ist dringend.«

Grim nahm das Funkgerät und hielt es an ihr Ohr. »Grímsdóttir, ich höre.«

»Ma’am, hier ist Kade. Wie sieht es bei Ihnen aus?« Lea Kade war Mitglied der operativen Besatzung an Bord der C-147B Paladin, dem fliegenden Missionszentrum von Fourth Echelon. Zurzeit parkte der schwarze Jet einige Kilometer entfernt in einem abgelegenen Hangar auf der Luftwaffenbasis Ramstein. Die Besatzung der Paladin war in die Übung eingebunden, genau wie Grim und ihre Techniker.

»Wir packen hier gerade zusammen. Gibt es ein Problem?«

»Sie und Treble müssen so schnell wie möglich herkommen«, antwortete Kade. »Wir haben eine dringende Mitteilung, die nur für Sie beide bestimmt ist.«

Grim runzelte die Stirn. Fisher kannte den Ausdruck in ihren Augen von früher und deutete ihn richtig: Irgendetwas war im Busch.

»Herkunft?« Grim stellte zwar die Frage, aber sie kannte die Antwort bereits.

»Die Black Box«, sagte Kade und ließ es dabei bewenden. Der Spitzname hatte in diesem Zusammenhang nur eine Bedeutung – die dringende Mitteilung stammte direkt vom NSA-Hauptquartier in Fort Meade in Maryland.

KAPITEL 3

GreenSea Incorporated – Canary Wharf – London

Charlie Cole ließ den Stift zwischen seinen Fingern immer schneller herumwirbeln, bis nur noch ein silberner, verschwommener Fleck zu sehen war.

»Du kennst mein Problem, Jan«, sagte er vor sich hin, während er mit einer Hand auf der beleuchteten Tastatur vor ihm tippte. »Ich bin zu sehr Hacker. Ich kann nicht auf vorgezeichneten Wegen bleiben.«

Der Stift erreichte Fluchtgeschwindigkeit, flog ihm aus der Hand und rutschte über den Schreibtisch hinweg in die Schatten. Charlie beachtete es nicht. Das einzige Licht in dem abgedunkelten Büro stammte von den gläsernen Wolkenkratzern in der Nachbarschaft und dem sanften Leuchten eines Computerbildschirms. Dort scrollten endlose Zeilen aus blauen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund vorbei, während Charlie immer tiefer in die Schichten gesicherter Daten vordrang.

Er beugte sich vor, ließ beide Hände auf der Tastatur ruhen und sprach weiter: »Ob ich es entdeckt hätte, wenn du damit nicht zu mir gekommen wärst? Ja, wahrscheinlich. Ich meine, ich stecke meine Nase ja immer in Dinge, die mich nichts angehen.« Er hämmerte mit einer weiteren Befehlsfolge auf die Tastatur ein, ohne Luft zu holen. »Ich bin das Kind, das Zauberern immer auf den Wecker geht, damit sie ihre Tricks erklären, stimmt’s? Ich will hinter den Vorhang spähen, einen Blick in die Kiste werfen. So bin ich schon auf die Welt gekommen.«

Charlie drehte sich auf seinem Stuhl zu einem Smartphone um, das auf einem Bücherstapel in der Nähe lag. Die Anzeige blinkte und zeigte eine offene Leitung an. Jan war immer noch nicht drangegangen. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Normalerweise antwortete sie bei jedem Anruf nach dem dritten Klingeln. Dies war das erste Mal, dass Charlie auf ihre Mailbox gesprochen hatte, und es fiel ihm schwer, zum Ende zu kommen.

»Hör zu«, sagte er und sein Ton wurde ernst. »Ich glaube, das hier ist schlimm, sogar noch schlimmer, als du gesagt hast. Hier geht es um mehr als ein paar Routing-Fehler und merkwürdige E-Mail-Verläufe. Ich muss die Sache an Borden weiterleiten.« Er nahm Jans Reaktion vorweg und warf die Hände hoch, als stünde sie bei ihm im Zimmer. »Ich weiß, ich weiß, du sagst immer, der Typ ist ein Volltrottel.« Er gluckste. Jans Lieblingsausdruck für den Sicherheitschef des Unternehmens klang mit Charlies amerikanischem Ostküstenakzent merkwürdig. Jans glasklare hochenglische Aussprache ließ die Beleidigung immer perfekt klingen. »Aber ich muss. Es geht nicht anders«, sagte er. »Ich kann das nicht einfach für mich behalten. Ich meine, dafür haben sie uns schließlich eingestellt, stimmt’s?« Er machte eine Pause und runzelte besorgt die Stirn. Sie antwortete immer noch nicht. Er wollte nicht zugeben, wie sehr ihn das beunruhigte. »Okay, du rufst mich an, sobald du das hier hörst. Stimmt’s? Stimmt.«

Charlie beugte sich vor, tippte auf ANRUF BEENDEN und die Anzeige wurde dunkel. In der folgenden Stille atmete er tief ein, hob dann den Kopf und sah aus dem Fenster.

Die meisten anderen Bürogebäude in diesem Viertel der Londoner Docklands waren am späten Abend verlassen. Nur wenige Stockwerke waren belebt. Dort wickelten internationale Handels- und Bankkonzerne ihre Geschäfte mit Moskau, Mumbai, Tokio und Peking ab. Die Büroräume von GreenSea waren immer nur schwach beleuchtet, da das Unternehmen auf Umweltschutz, Energieeffizienz und erneuerbare Energiequellen setzte. Charlie und die anderen Angestellten in ihren gläsernen Arbeitsräumen spiegelten sich in den dunklen Fenstern.

Sein Gesicht, das trotz seines Alters von über dreißig noch jugendlich wirkte, war von der Sorge um seine Freundin gezeichnet. Ein juckendes Kribbeln breitete sich auf seinem Rücken aus – ein sicheres Zeichen dafür, dass seine Angst wuchs.

Das letzte Mal, als es mir so ging …

Charlie brachte den Gedanken nicht zu Ende. Er wollte nicht über diese Tage nachdenken, in denen man ihn bombardiert und auf ihn geschossen hatte. Sie gehörten zu einem Leben, das er hinter sich gelassen hatte.

Jan Freling war etwa zur gleichen Zeit wie Charlie von GreenSea angeworben worden. Sie war von einer großen Bankengruppe in Dubai gekommen. Ihn hatte man von einer gewissen US-Regierungsabteilung mit drei Buchstaben geholt, als sein Vertrag ausgelaufen war. So wie er es verstanden hatte, war Jan die missratene Tochter stinkreicher britischer Blaublüter und hatte im Internat eine Begabung für Computerspielereien entdeckt. Die hatte sie dann in eine Karriere in der Informationssicherheit umgemünzt. Charlie war ebenfalls mit »Computerspielereien« aufgewachsen, allerdings vor dem Hintergrund der kaputten Rädchen des amerikanischen Sozialsystems und einer Kindheit, in der er von Familien adoptiert worden war, die ihn nie richtig verstanden hatten. Nur wenige Menschen verstanden ihn, doch Jan gehörte dazu.

Sie bezeichnete ihre Arbeitsbeziehung als »den krassen Yankee und die aalglatte Britin«. Gemeinsam bildeten sie ein ausgezeichnetes Team, das für die Sicherheit der digitalen Netzwerke von GreenSea sorgte. GreenSea war eins der drei größten Öko-Technologieunternehmen der Welt und war auf den Bau hocheffizienter Windmühlen und Wellenkraftwerke spezialisiert. Ihre Patente waren Milliarden Dollar wert. Der CEO des Unternehmens, Edward Morant, wollte dieses geistige Eigentum geschützt wissen und bezahlte Cole und Freling sehr gut für ihr Fachwissen in seiner Sicherheitsabteilung. Für Jan war der Job eine Möglichkeit gewesen, sich zu beweisen, für Charlie war er ein Ausweg aus der Heimlichtuerei zurück zu etwas Bodenständigerem. Etwas, das mehr Sicherheit bot.

Er stieß den Atem aus und übertrug seine gesammelten Daten an ein gesichertes Tablet. Während der Fortschrittsbalken sich füllte, stand er auf. Charlie sah nach oben, in Richtung des Flurs, der direkt zu Gary Bordens geräumigem Eckbüro führte. Wenn er das hier tat, gab es kein Zurück mehr. Leute würden wütend werden. Leute würden ihren Job verlieren. Leute würden ins Gefängnis gehen.

Charlie wusste das wegen dem, was Jan beim Aufräumen in der Netzinfrastruktur des Unternehmens entdeckt hatte. Jemand innerhalb der GreenSea Corporation hatte heimlich Geld und Vermögenswerte in ein anderes Unternehmen verschoben, und das schon seit geraumer Zeit. Egal wer dahintersteckte, er verbarg es gut vor den Augen der Vorstandsmitglieder und der externen Finanzaufsichtsbehörden. Millionen virtueller Dollar verschwanden ungesehen im digitalen Äther. Die Transaktionen waren so tief vergraben, dass nur jemand mit dem scharfen Blick eines Besessenen – zum Beispiel zwei äußerst gewiefte Technikfreaks – sie aufspüren konnte.

Das Tablet signalisierte mit einem Piepton, dass der Datentransfer abgeschlossen war. Charlie richtete sich auf, nahm das Gerät von der Ladestation und klemmte es sich unter den Arm. Dann marschierte er den Flur entlang zu Bordens Büro.

Unterwegs fiel Charlie auf, dass auf der Etage mehr los zu sein schien als sonst. Er sah Gesichter aus anderen Abteilungen und hörte Getuschel. Irgendetwas Wichtiges ging hier vor und ihm dämmerte, dass er nicht eingeweiht war. Er fragte sich, was er verpasst hatte.

Er klopfte an Bordens Tür, spähte durch das Milchglas und erhaschte einen Blick auf seinen Boss, der sich gegen den Rand seines Schreibtischs lehnte. Borden hatte ein Bluetooth-Headset über eins seiner unförmigen, tief sitzenden Ohren geschlungen. Seine Lippen verzogen sich, als er Charlies Gesicht entdeckte. Er hob einen einzelnen Finger in einer »nur eine Minute«-Geste. Nur mit Mühe gelang es Charlie, nicht den Kopf zu schütteln.

Borden ließ seine Untergebenen gern warten. Charlie vermutete, dass er das für eine Art Machtdemonstration hielt. In Wirklichkeit zeigte er damit nur, was für ein unausstehlicher Mensch er war.

Endlich beendete Borden sein Gespräch und Charlie durfte eintreten. »Cole«, begann Borden und legte die Bedingungen für das Gespräch fest, bevor Charlie überhaupt zu Wort gekommen war. »Ich habe nicht viel Zeit, wir haben alle Hände voll zu tun. Was wollen Sie?« Seine näselnde Stimme ließ alles, was er sagte, abweisend klingen.

Charlie hielt das Tablet hoch. »Ich habe etwas, das Sie sich ansehen sollten.«

»Kann das nicht warten?« Borden deutete auf einen Monitor auf seinem Tisch, auf dem eine Liveübertragung aus dem Konferenzbereich in der Haupthalle zu sehen war. In der Mitte des Bildschirms stand ein leeres Rednerpult auf dem Podium vor dem GreenSea-Logo. Aus dieser Kameraeinstellung konnte Charlie erkennen, dass der Raum sich mit Menschen füllte. Sie trugen Besucherausweise und warteten geduldig darauf, dass etwas passierte.

»Gibt es eine Presseveranstaltung?« Für einen Moment vergaß Charlie, warum er hier war.

Borden verdrehte die Augen. »Lesen Sie eigentlich die Memos, die man Ihnen schickt, Cole? Oder sitzen Sie den ganzen Tag da hinten, holen sich einen runter und spielen Videospiele?« Er nickte in Richtung von Charlies Arbeitsbereich. »Verdammt noch mal, Sie müssen der Welt da draußen mehr Aufmerksamkeit schenken!«

»Wie unhöflich«, brachte Charlie hervor.

»Wo ist Ihre bessere Hälfte, Freling, hm?« Borden warf einen suchenden Blick in den Flur. »Normalerweise ist sie als Verstärkung dabei, wenn Sie herkommen, um mich zu nerven.«

»Ich habe keine Ahnung«, gab Charlie zu. »Sie ist heute nicht aufgetaucht. Ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Sie macht hoffentlich nicht blau«, sagte der andere Mann. Er seufzte. »Hören Sie, schreiben Sie ein Memo und schicken Sie es an mein Postfach. Ich werde es morgen lesen.«

Charlie schüttelte den Kopf. »Das kann wirklich nicht warten.«

Borden warf ihm einen finsteren Blick zu. Er hatte keinen Hehl aus seiner Missbilligung darüber gemacht, dass Morant Cole und Freling zur Verstärkung von GreenSeas IT-Sicherheit eingestellt hatte. Für Borden waren sie Dilettanten, kaum besser als die Hacker, die sie vom Netzwerk fernhalten sollten. Obwohl sie seit mehr als einem Jahr hier waren und großartige Arbeit geleistet hatten, weigerte sich der Mann, seine Meinung zu ändern.

»Dann spucken Sie’s aus.« Borden verschränkte die Arme mit hochmütigem Ausdruck vor der Brust. »Sie haben eine Minute.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ticktack.«

Charlie holte tief Luft und begann zu erzählen. »Jan hat eine Sicherheitsüberprüfung unserer redundanten Server durchgeführt und etwas Merkwürdiges gefunden.«

»Ich habe keine Überprüfung genehmigt«, schnauzte Borden. »So etwas muss über mich laufen.«

»Darum geht es ja gerade«, konterte Charlie. »Sie genehmigen es und das wird im System protokolliert. Falls Außenstehende also Software in unser System eingeschleust haben, wissen auch sie von der Überprüfung.«

Borden sagte nichts, akzeptierte widerwillig die Logik dieser Feststellung und bedeutete Charlie, weiterzureden.

»Die Suche hat also eine Anomalie im redundanten Speicher der Finanzdatenbank des Unternehmens zutage gefördert.« Charlie gestikulierte mit dem Tablet in seiner Hand. »Jan ist damit zu mir gekommen und wir haben weitergegraben. Obwohl die Transaktionen im Nachhinein gelöscht wurden, haben wir einige Spuren gefunden. In den Kopfzeilen gab es noch Datenfragmente. Die reichten aus, um sie zu rekonstruieren.«

»Wollen Sie mir erzählen, dass jemand unser Geld stiehlt?« Borden schnaubte spöttisch.

»Nicht nur Geld. Hardware und einen Haufen anderer Dinge, sogar einige Grundbucheinträge. Das alles wird aus dem Netz abgezweigt.«

»Keine Chance. Dieses Netzwerk ist hermetisch abgeriegelt.«

»Nichts ist hermetisch abgeriegelt«, sagte Charlie nachdrücklich, denn er sprach aus bitterer Erfahrung. »Glauben Sie mir.«

Borden riss ihm das Tablet aus der Hand und überflog die dargestellten Daten, wobei er kaum las, was dort stand. »Wenn sich jemand Vermögenswerte von GreenSea unter den Nagel gerissen hätte, wäre das schon längst aufgefallen …«

»Nicht wenn man es so aussehen lässt, als würde nichts fehlen«, beharrte Charlie. »Die Einträge wurden gefälscht.«

Borden gab einen desinteressierten Laut von sich, sah an Charlie vorbei und beobachtete durch sein Bürofenster einige seiner Kollegen. Die Ereignisse des heutigen Abends schienen sich ihrem Höhepunkt zu nähern und Charlie bemerkte Bewegung auf dem Bildschirm. Unten im Konferenzraum hatte Edward Morant sich ans Rednerpult begeben und sprach gestenreich zu den Pressevertretern.

»Wissen Sie, was Ihr Problem ist?«, fuhr Borden fort.

Charlie richtete sich auf. »Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«

»Sie finden gern Komplikationen, wo keine sind. Sie denken in Verschwörungstheorien, zählen zwei und zwei zusammen und heraus kommt … ein Einhorn!« Borden wackelte mit dem Finger. »Wir sind hier nicht im Land der Spione, Cole. Sie arbeiten nicht mehr für die CIA, es gibt keine Kommunisten unterm Bett.«

»NSA«, murmelte Charlie. »Ich habe nie für die CIA gearbeitet.« Aber Borden hörte nicht zu.

»Wenn Sie so sicher sind, dass es hier ein Problem gibt, dann erklären Sie mir etwas.« Borden legte das Tablet auf seinen Schreibtisch und sah Charlie an. »Wer steckt dahinter? Wenn es strafbare Handlungen gibt, muss jemand sie verdammt noch mal begangen haben.«

Charlie verstummte. Vor dieser Frage hatte er sich gefürchtet, nicht nur, weil seine Antwort darauf lückenhaft war, sondern auch wegen der weitreichenden Konsequenzen, falls diese Antwort sich als richtig erwies.

Den Daten zufolge, die Charlie und Jan zusammengetragen hatten, waren die illegalen Überweisungen durch ein Netz von Briefkastenfirmen und verstecken Servern letztlich nur an einen Ort geflossen: einen hochmodernen Technologiekonzern am anderen Ende der Welt, der für seine mangelnde Bereitschaft, sich an Regeln zu halten, berüchtigt war.

»Teague.« Charlie sprach den Namen aus. Die Teague Technical Group – besser bekannt als T-Tec – war das größte der neuen Ungeheuer in der Welt der Next-Gen-Technologie und Computer. Momentan waren sie damit beschäftigt, die meisten ihrer Konkurrenten zu schlucken, um sich den Weg zur weltweiten Dominanz über die Datensphäre der sozialen Medien zu ebnen. Wenn die halb gelöschten Dateien, die Jan entdeckt hatte, authentisch waren, bedeutete das, dass T-Tec nicht nur die üblichen schmutzigen Geschäftstricks anwendete, sondern auch aktiv kriminelle Handlungen beging.

»Und da ist er schon«, sagte Borden grinsend. Er zeigte auf den Monitor, wo ein frisch aussehender, braun gebrannter junger Mann im Designerjackett ins Bild trat.

Brody Teague. Gründer, CEO und Wunderknabe von T-Tec. Der Mann, der das Unternehmen leitete, das GreenSea bestahl, war genau dort auf dem Bildschirm zu sehen. Er befand sich in diesem Gebäude, und zwar fünf Stockwerke unter ihnen.

Charlie starrte mit offenem Mund und eine Sekunde lang schien es, als würde seine Welt Kopf stehen. Wie war es möglich, dass er Teagues Namen aussprach und dieser dann wie ein heraufbeschworenes Monster auftauchte?

Borden sah Charlie höhnisch an. »Was ist los, Cole? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Schlaganfall!«

»Was …?« Charlie zwang sich, sich zu konzentrieren. »Was ist hier los?«

»Ich kann mich nur wiederholen, Sie müssen Ihre verdammten Memos lesen!« Borden tippte auf eine Taste an der Seite des Monitors und drehte die Lautstärke hoch.

»… eine fantastische Entwicklung für GreenSea!« Edward Morant war mitten im Satz, gestikulierte mit beiden Händen und lächelte breit. »Heute wird durch die Partnerschaft unseres Unternehmens mit der Teague Technical Group ein neuer Schritt in unserer Evolution vollzogen, der Beginn einer Synergie, die für unsere Vision von umweltfreundlicher Technologie vollkommen neue Dimensionen erschließen wird.« Er schien die Worte von einem Teleprompter abzulesen und das aufgesetzte Lächeln erreichte seine Augen nicht.

»Partnerschaft?«, wiederholte Charlie skeptisch. Schlagartig wurde ihm der Grund für die hektische Aktivität im Büro klar. Er hinkte in dieser Sache wirklich