Tom Sawyers Abenteuer - Mark Twain - E-Book

Tom Sawyers Abenteuer E-Book

Mark Twain

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Beschreibung

Tom Sawyer wurde zu einem der beliebtesten Kinderbücher, aber sowohl Twains ironische Anspielungen wie auch die Gestalt des gegen die spießbürgerliche Gesellschaft rebellierenden Huck lassen erkennen, dass die Sozialkritik des Autors an den erwachsenen Leser seiner Zeit gerichtet war.

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Seitenzahl: 368

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Mark Twain

Tom Sawyers Abenteuer

Roman

Aus dem Amerikanischen von Lore Krüger

Mit einem Nachwort von Jack D. Zipes

Diogenes

Vorwort

Die meisten der in diesem Buch festgehaltenen Abenteuer sind wirklich geschehen; ein oder zwei erlebte ich selbst, die übrigen begegneten Jungen, die mit mir in die Schule gingen. Huck Finn ist nach dem Leben gezeichnet. Tom Sawyer ebenfalls, jedoch nicht nach einem einzelnen; er ist die Verbindung der Charaktereigentümlichkeiten dreier Jungen, die ich kannte, und gehört deshalb zur architektonischen Säulenordnung mit Kompositkapitell.

Die beiläufig erwähnten, eigenartigen abergläubischen Vorstellungen herrschten sämtlich zur Zeit dieser Begebenheiten, das heißt vor dreißig, vierzig Jahren, bei Kindern und Sklaven im Westen.

Obgleich mein Buch vor allem für die Unterhaltung von Jungen und Mädchen bestimmt ist, hoffe ich doch, daß Männer und Frauen es deshalb nicht meiden werden, denn meine Absicht war zum Teil, Erwachsene auf angenehme Weise daran zu erinnern, wie sie einst selbst waren, wie sie empfanden, dachten und redeten und in was für seltsame Unternehmungen sie sich zuweilen einließen.

 

Hartford, 1876

Der Verfasser

ERSTES KAPITELToms Spiele, Kämpfe und Verstecke

»Tom!«

Keine Antwort.

»Tom!«

Keine Antwort.

»Was ist bloß wieder los mit dem Jungen, möcht ich wissen! Hallo Tom!«

Die alte Dame schob ihre Brille hinunter und blickte über sie hinweg durchs Zimmer; dann schob sie sie hinauf und blickte unter ihr hervor. Selten oder nie blickte sie hindurch, um nach einem so kleinen Gegenstand wie einem Jungen Ausschau zu halten, denn es war ihre Staatsbrille, der Stolz ihres Herzens, geschaffen, um »elegant« zu wirken, und nicht, um zu nützen; ebensogut hätte sie auch durch ein Paar Herdringe blicken können. Einen Augenblick schien sie verblüfft, dann sagte sie, nicht gerade zornig, aber doch laut genug, daß es die Möbel hören konnten: »Na warte, wenn ich dich erwische, dann …«

Sie beendete den Satz nicht, denn sie hatte sich bereits gebückt und stieß mit einem Besen unter dem Bett herum – daher brauchte sie ihren Atem, um den Stößen Nachdruck zu verleihen. Doch sie beförderte nur die Katze ans Licht.

»So was wie diesen Bengel hab ich noch nicht gesehn!«

Sie trat an die offene Haustür, blieb stehen und ließ den Blick über die Tomatenstöcke und Stechapfelbüsche schweifen, aus denen der Garten bestand. Weit und breit kein Tom. Sie hob daher die Stimme zu einer für die Ferne berechneten Lautstärke und rief: »Hallooo Tom!«

Hinter ihr war ein leises Geräusch zu vernehmen, und sie wandte sich um, gerade noch rechtzeitig, um einen kleinen Jungen beim Jackenzipfel zu erwischen und seine Flucht zu vereiteln. »Da bist du ja! An den Wandschrank hätt ich auch denken können! Was hast du denn da drin getan?«

»Nichts.«

»Nichts! Schau dir doch deine Hände an, und schau dir deinen Mund an. Was ist das für Zeug?«

»Weiß ich doch nicht, Tante.«

»Na, ich weiß es aber. Marmelade ist’s! Hundertmal hab ich dir gesagt, bleib mir von der Marmelade, sonst gerb ich dir das Fell. Reich mir mal die Rute her.«

Die Rute schwebte in der Luft. Es bestand höchste Gefahr.

»Vorsicht, Tante!«

Die alte Dame fuhr herum und raffte mit einem Griff ihre Röcke hoch, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen; im gleichen Augenblick entfloh der Junge, erkletterte den hohen Bretterzaun und verschwand. Tante Polly stand einen Augenblick verdutzt da und brach dann in leises Lachen aus.

»Zum Kuckuck mit dem Bengel! Werd ich’s denn nie lernen? Hat er mir nicht genug solche Streiche gespielt, daß ich mich endlich vor ihm in acht nehmen könnte? Aber die alten Narren sind die schlimmsten. Ein alter Pudel lernt keine neuen Kunststücke mehr, sagt das Sprichwort. Aber, du liebe Güte, keine zweimal spielt er sie mir auf die gleiche Art, und woher soll ein Mensch wissen, was das nächstemal kommt? Anscheinend weiß er genau, wie weit er’s mit mir treiben kann, bis mich der Zorn packt, und er weiß, wenn er mich auch nur einen Augenblick irre machen oder mich zum Lachen bringen kann, dann ist’s wieder vorbei, und ich kann ihm nicht einen einzigen Schlag verabreichen. Ich tu meine Pflicht nicht an dem Jungen, wahrhaftig nicht, das weiß der liebe Himmel. ›Wer sein Kind liebt, der züchtigt es‹, so steht’s in der Heiligen Schrift. Sünde und Leid bring ich über uns beide, das weiß ich. Er steckt voller Teufeleien, aber du lieber Gott! Er ist ja schließlich der Junge meiner eigenen verstorbenen Schwester, der Ärmsten, und irgendwie hab ich nicht das Herz, ihn zu prügeln. Jedesmal, wenn ich ihn so davonkommen lasse, setzt mir das Gewissen arg zu, und jedesmal, wenn ich ihn schlage, bricht mir fast das alte Herz. Ach ja, der Mensch, der vom Weibe geboren ist, hat nur eine kurze Zeit, und die ist voller Sorgen, wie die Bibel sagt, und so ist’s wohl. Heut nachmittag wird er die Schule schwänzen, und da bin ich einfach gezwungen, ihm zur Strafe morgen eine Arbeit aufzubrummen. Es fällt mir mächtig schwer, ihn sonnabends an die Arbeit zu setzen, wenn alle Jungen ihren freien Tag haben, aber Arbeit haßt er mehr als alles andere, und ich muß ja wenigstens einigermaßen meine Pflicht an ihm tun, sonst bin ich das Verderben des Kindes.«

Tom schwänzte tatsächlich die Schule, und er verbrachte die Zeit auf sehr angenehme Weise. Er kam noch gerade rechtzeitig nach Hause, um Jim, dem kleinen Negerjungen, vor dem Abendbrot das Feuerholz für den nächsten Tag sägen und spalten zu helfen – zumindest war er noch früh genug da, um Jim seine Abenteuer zu berichten, während dieser dreiviertel der Arbeit tat. Toms jüngerer Bruder (oder vielmehr Halbbruder) Sid war mit seinem Teil (dem Aufsammeln der Späne) bereits fertig; er war ein stiller Junge und hatte nichts Abenteuerliches, Unruhe Stiftendes an sich. Während Tom sein Abendbrot aß und, sobald sich die Gelegenheit bot, Zuckerstückchen stibitzte, stellte ihm Tante Polly sehr arglistige, verfängliche Fragen – denn sie wollte, daß er in die Falle ginge und belastende Enthüllungen mache. Wie manch andere arglose Seele wiegte sie sich voller Eitelkeit in dem Glauben, sie habe ein besonderes Talent für die dunkle und geheimnisvolle Kunst der Diplomatie, und es bereitete ihr Freude, ihre durchsichtigsten Finten als Wunder an Tücke und Verschlagenheit zu betrachten. Sie sagte also: »Tom, es war warm in der Schule, nicht?«

»Freilich, Tante.«

»Sehr warm, was?«

»Freilich, Tante.«

»Hast du nicht Lust gehabt, schwimmen zu gehn, Tom?«

Ein leichter Schreck durchzuckte ihn – ein leiser unbehaglicher Verdacht. Er forschte in Tante Pollys Gesicht, aber es verriet nichts. Deshalb sagte er: »Nein, Tante – wenigstens nicht allzu große.«

Die alte Dame streckte die Hand aus und befühlte Toms Hemd, dann sagte sie: »Jetzt ist dir aber nicht allzu heiß.«

Es schmeichelte ihrem Stolz, entdeckt zu haben, daß das Hemd trocken war, ohne daß irgend jemand ahnte, worauf sie hinauswollte. Trotz ihrer List wußte Tom aber nun, woher der Wind wehte. Darum kam er einem Schachzug zuvor, der womöglich ihr nächster sein mochte: »Ein paar von uns haben sich Wasser über den Kopf gepumpt – meiner ist noch feucht. Siehst du?«

Tante Polly ärgerte sich bei dem Gedanken, daß sie diesen Indizienbeweis übersehen und sich so einen Schlich hatte entgehen lassen. Dann kam ihr eine neue Eingebung: »Tom, du hast dir doch den Kragen nicht aufmachen müssen, wo ich ihn angenäht hab, um dir Wasser über den Kopf zu pumpen, wie? Knöpf dir mal den Rock auf.«

Aus Toms Gesicht schwand alle Unruhe. Er öffnete den Rock. Sein Hemdkragen war fest angenäht.

»Verflixt noch mal! Na, geh schon. Ich war sicher, daß du die Schule geschwänzt hattest und schwimmen gegangen warst. Aber lassen wir’s gut sein. Dir geht’s wohl so ähnlich wie einer Katze, die zu nah ans Feuer geraten ist, Tom, wie man so sagt – du bist besser, als du aussiehst. Diesmal wenigstens.«

Halb tat es ihr leid, daß ihr Scharfsinn versagt hatte, und halb freute es sie, daß Tom wenigstens dieses eine Mal auf den Weg des Gehorsams gestolpert war.

Sidney aber sagte: »Komisch, ich dachte, du hättst seinen Kragen mit weißem Garn genäht, aber der ist schwarz.«

»Freilich hab ich ihn mit weißem genäht. Tom!«

Tom wartete jedoch nicht weiter ab. Als er zur Tür hinauslief, rief er: »Siddy, dafür kriegst du eine Tracht!«

Nachdem Tom an einem sicheren Ort angelangt war, besah er sich zwei große Nähnadeln, die in seinen Rockaufschlägen steckten und mit Faden umwickelt waren – die eine mit schwarzem, die andere mit weißem. Er sagte: »Nie hätt sie’s gemerkt, wenn Sid nicht gewesen wär. Verdammt noch mal, manchmal näht sie’s mit Schwarz und manchmal mit Weiß. Ich wünschte, sie würde zum Kuckuck bei einer Sorte bleiben – wie soll ich das denn behalten. Den Sid verdresch ich aber dafür, da kannst du Gift drauf nehmen, oder ich freß einen Besen.«

Er war durchaus nicht der Musterknabe des Ortes. Den Musterknaben kannte er aber recht gut und mochte ihn nicht ausstehen.

Zwei Minuten darauf oder noch schneller hatte er bereits alle seine Sorgen vergessen. Nicht deshalb, weil sie für ihn auch nur ein bißchen leichter und weniger quälend gewesen wären als die Sorgen eines Erwachsenen, sondern weil ein neues, starkes Interesse die Oberhand gewann und sie vorübergehend aus seinen Gedanken verdrängte, genau wie es Erwachsenen geht, die in der Erregung über ein neues Unternehmen ihre Nöte vergessen. Dieses neue Interesse bestand in einer reizvollen, bisher unbekannten Art des Pfeifens, die er soeben einem Neger abgesehen hatte, und er brannte darauf, sie ungestört auszuprobieren. Es war ein eigenartiger, vogelähnlicher Laut, eine Art schmelzender Triller, der hervorgerufen wurde, indem man während des Pfeifens in kurzen Abständen mit der Zunge den Gaumen berührte. Wenn der Leser jemals ein Junge war, erinnert er sich wahrscheinlich, wie man das zustande bringt. Fleiß und Aufmerksamkeit lehrten Tom bald den Trick, und er schlenderte die Straße hinunter, den Mund voll tönender Harmonie und die Seele voller Dankbarkeit. Ihm war ähnlich zumute wie einem Astronomen, der einen neuen Planeten entdeckt hat. Was die Stärke, Tiefe und Reinheit der Freude betrifft, so war zweifellos der Junge und nicht der Astronom im Vorteil.

Die Sommerabende waren lang. Noch war es nicht dunkel. Auf einmal hörte Tom auf zu pfeifen. Vor ihm stand ein Fremder, ein Junge, der eine Spur größer war als er selbst. Für die armselige kleine Stadt St. Petersburg war ein Neuankömmling jeden Alters und Geschlechts eine eindrucksvolle Kuriosität. Dieser Junge war noch dazu gut gekleidet – an einem Wochentag gut gekleidet! Das war einfach erstaunlich. Seine Mütze war ein zierliches Ding, seine fest zugeknöpfte blaue Tuchjacke neu und schmuck, ebenso auch seine Hose. Er hatte Schuhe an, und dabei war erst Freitag. Sogar eine Krawatte trug er, ein farbiges Stück Band. Es lag etwas Städtisches in seinem Aussehen, was Tom bis ins Innerste reizte. Je länger er das prächtige Wunder anstarrte, um so mehr rümpfte er die Nase über dessen Putz und um so schäbiger und schäbiger kam ihm seine eigene Kleidung vor. Keiner der beiden Jungen sprach. Sobald sich der eine bewegte, bewegte sich auch der andere – jedoch nur seitwärts, im Kreise herum. Sie hielten ohne Unterlaß das Gesicht einander zugewendet und maßen sich mit Blicken.

Endlich sagte Tom: »Dich kann ich verdreschen!«

»Versuch’s doch – das möchte ich sehn.«

»Kann ich, ganz klar.«

»Nein, das kannst du nicht.«

»Doch, kann ich schon.«

»Nein, kannst du nicht.«

»Kann ich wohl.«

»Kannst du nicht.«

»Kann ich.«

»Nicht.«

Eine unbehagliche Pause. Dann sagte Tom: »Wie heißt du?«

»Geht dich nichts an, du.«

»Ich werd dir schon zeigen, daß es mich was angeht.«

»Na, warum tust du’s denn nicht?«

»Wenn du noch viel sagst, werd ich’s.«

»Viel – viel – viel! Bitte!«

»Hältst dich wohl für besonders schlau, was? Wenn ich wollte, könnt ich dich mit einer Hand runterkriegen.«

»Warum machst du’s denn nicht? Du sagst doch, du kannst’s.«

»Wenn du mich noch lange anödest, mach ich’s.«

»Mensch – da sind mir schon ganz andere untergekommen!«

»Kommst dir wer weiß wie vor, was? Und erst der Deckel, den du aufhast!«

»Wenn er dir nicht gefällt, mußt du dich eben dran gewöhnen. Versuch’s nur und schlag ihn runter; jeder, der das versucht, kann aber vorher seine Knochen numerieren.«

»Du Lügenmaul.«

»Selber eins.«

»Du bist ein Großmaul und feige!«

»Ach, Mensch, hau ab.«

»Du, wenn du mir noch lange frech kommst, dann nehm ich einen Stein und knall ihn dir gegen die Birne!«

»Na, bestimmt tust du das!«

»Tu ich auch.«

»Na, warum machst du’s denn nicht, wozu erzählst du denn bloß, du willst’s machen? Warum machst du’s denn nicht? Bloß, weil du Angst hast!«

»Hab keine Angst.«

»Doch!«

»Nein!«

»Doch!«

Wieder eine Pause, wieder gegenseitiges Anstarren und seitliches Umkreisen. Auf einmal standen sie Schulter an Schulter.

Tom sagte: »Weg hier!«

»Selber weg hier!«

»Denk gar nicht dran.«

»Ich erst recht nicht.«

Sie standen da, jeder als Stütze einen Fuß zur Seite gestemmt, beide aus Leibeskräften schiebend und einander haßerfüllt anstarrend. Keiner vermochte jedoch die Oberhand zu gewinnen. Nachdem sie gekämpft hatten, bis sie heiß und hochrot waren, ließen beide voll vorsichtiger Wachsamkeit in ihren Anstrengungen nach, und Tom sagte: »Ein Feigling bist du und ein Fatzke. Ich sag’s meinem großen Bruder, der kann dich um den kleinen Finger wickeln, und ich sag’s ihm, daß er’s auch machen soll.«

»Auf deinen großen Bruder pfeif ich. Ich hab einen Bruder, der noch viel größer ist, der wirft ihn wie nichts über den Zaun da.« (Beide Brüder existierten nur in der Einbildung.)

»Du lügst.«

»Wenn du’s sagst, noch lange nicht.«

Tom zog mit dem großen Zeh einen Strich in den Staub und sagte: »Einen Schritt da drüber, und ich verdresche dich, bis du nicht mehr stehen kannst. Wer’s wagt, ist ein toter Mann.«

Sofort trat der Neue über den Strich und sagte: »Du hast gesagt, du machst’s, jetzt wolln wir mal sehn, wie du’s machst.«

»Komm mir nicht zu nahe, paß ja auf, du!«

»Du hast doch gesagt, du machst’s, warum machst du’s denn nicht?«

»Donnerwetter, für zwei Cent mach ich’s wirklich.«

Der Neue nahm zwei große Kupfermünzen aus der Tasche und hielt sie ihm verächtlich hin.

Tom schlug sie ihm aus der Hand.

Im nächsten Augenblick wälzten sich die beiden Jungen im Dreck, kollerten, wie zwei Katzen ineinander verkrallt, umher, rissen sich gegenseitig am Haar, zerrten sich an den Kleidern, zerbleuten und zerkratzten einander die Nase und bedeckten sich mit Schmutz und Ruhm. Nach einiger Zeit nahm der verschlungene Klumpen Form an, und durch den von der Schlacht aufgewirbelten Staub wurde Tom sichtbar, der rittlings auf dem Neuen saß und ihn mit den Fäusten bearbeitete.

»Sag: genug!« rief er.

Der Junge rang nur, um sich zu befreien. Er weinte, hauptsächlich vor Wut.

»Sag: genug!« Toms Fäuste trommelten weiter. Endlich ließ der Fremde ein ersticktes »Genug« vernehmen; Tom erlaubte ihm aufzustehen und sagte: »Dir werd ich das schon lernen. Das nächste Mal paß lieber auf, wen du anödest.«

Der Neue lief davon, klopfte sich schluchzend und schnüffelnd den Staub von der Kleidung, blickte sich gelegentlich um, schüttelte den Kopf und drohte, was er mit Tom tun wolle, wenn er ihn »das nächste Mal erwische«. Darauf antwortete Tom mit Hohngelächter und machte sich prächtig gelaunt auf den Heimweg; kaum hatte er sich jedoch umgewandt, als der Neue einen Stein ergriff, ihn auf Tom schleuderte und diesen zwischen die Schulterblätter traf; dann gab er Fersengeld und rannte so schnell wie ein Wiesel davon. Tom setzte dem Verräter nach und verfolgte ihn bis zu dessen Haus, wodurch er erfuhr, wo der Bursche wohnte. Eine Zeitlang bezog er Posten vor dem Zaun und forderte den Feind heraus, nach draußen zu kommen; der aber schnitt ihm nur durch das Fenster Grimassen und lehnte die Einladung ab. Schließlich erschien die Mutter des Feindes, nannte Tom einen ungezogenen, bösartigen, ordinären Jungen und befahl ihm, sich davonzuscheren. So trollte er sich von dannen, äußerte jedoch, diesen Bengel werde er sich schon noch vorknöpfen.

Er kam an dem Abend ziemlich spät nach Hause, und als er vorsichtig zum Fenster hineinkletterte, stieß er auf einen Hinterhalt in Person seiner Tante; als sie sah, in welchem Zustand sich seine Kleidung befand, gewann ihr Beschluß, seinen freien Samstag in einen Tag der Gefangenschaft bei Zwangsarbeit zu verwandeln, eiserne Festigkeit.

ZWEITES KAPITELDer kluge Anstreicher

Der Samstagmorgen war gekommen; die ganze sommerliche Welt war strahlend frisch und bis zum Überströmen vom Leben erfüllt. In jedem Herzen erklang ein Lied, und war das Herz jung, dann drang die Melodie auch über die Lippen. In jedem Gesicht lag Fröhlichkeit und in jedem Schritt federnde Kraft. Die Robinien standen in voller Blüte, und ihr Duft erfüllte die Luft.

Der Cardiff-Hügel, der sich auf der anderen Seite über die kleine Stadt erhob, war mit üppigem Grün bedeckt, und er lag gerade fern genug, um als ein »Gelobtes Land« zu scheinen, träumerisch, ruhevoll und einladend.

Auf dem Bürgersteig erschien Tom mit einem Eimer Weißkalk und einem langstieligen Pinsel. Er besah sich den Zaun, und die Natur verlor ihren frohen Glanz; tiefe Schwermut senkte sich auf sein Gemüt. Ein dreißig Yard langer, drei Yard hoher Zaun! Das Leben schien ihm hohl und leer und das Dasein nichts als eine Last. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und ließ ihn über die oberste Planke gleiten; er wiederholte das Verfahren, und dann noch ein zweites Mal, verglich den unbedeutenden Streifen Tünche mit dem sich weithin erstreckenden Kontinent ungeweißten Zauns und setzte sich entmutigt auf die Verschalung eines Baumes. Aus dem Tor kam mit einem Blecheimer in der Hand Jim herausgehüpft; er sang »Die Frauen von Buffalo«. Bisher war es in Toms Augen immer eine scheußliche Arbeit gewesen, Wasser von der Gemeindepumpe zu holen, jetzt aber kam es ihm nicht so vor. Er dachte daran, daß es an der Pumpe ja Gesellschaft gab. Dort warteten ständig Jungen und Mädchen, Neger und Mulatten, bis sie an der Reihe waren, ruhten sich währenddessen aus, tauschten Spielsachen miteinander, zankten sich, prügelten sich und tollten herum. Er dachte auch daran, daß Jim, obgleich die Pumpe nur hundertfünfzig Yard entfernt stand, nie vor einer Stunde mit einem Eimer Wasser zurückkehrte, und selbst dann mußte ihn gewöhnlich jemand holen gehen. Tom sagte: »Hör mal, Jim, ich hol das Wasser, wenn du ein bißchen streichst.«

Jim schüttelte den Kopf und antwortete: »Geht nicht, Master Tom. Die alte Missis, die hat gesagt, ich soll Wasser holen gehn und nicht stehnbleiben und mit niemand keine Dummheiten nicht machen. Hat erklärt, sie nimmt an, Master Tom würd mir auftragen, ich soll Zaun streichen, und sie hat gesagt, ich soll weitergehn und mich um meine eignen Angelegenheiten kümmern – um das Streichen würd sie sich kümmern.«

»Ach, scher dich doch nicht um das, was sie gesagt hat, Jim. So redet sie doch immer. Gib mir mal den Eimer – ich bleib nicht mal ’ne Minute weg. Sie wird’s doch nicht merken.«

»Oh, ich trau mich nicht, Master Tom. Die alte Missis, die nimmt mich bestimmt und reißt mir den Kopf ab. Das macht sie, ganz sicher.«

»Die! Die haut doch nie jemand – bumst einen ein bißchen mit dem Fingerhut auf den Kopf, und wen stört das, möcht ich wissen? Sie schimpft ja schrecklich, aber Schimpfen tut nicht weh – wenigstens nicht, wenn sie nicht weint. Jim, ich geb dir eine Murmel. Eine weiße Glaskugel geb ich dir!«

Jim wurde schwankend.

»Eine weiße Glaskugel, Jim, und die läuft scharf!«

»Ach, ist das eine prima Murmel, muß ich sagen. Aber, Master Tom, ich hab Angst vor der alten Missis.«

Jim war jedoch nur ein Mensch – die Anziehungskraft dieses Stücks war zu groß. Er setzte den Eimer ab und nahm die weiße Glaskugel. In der nächsten Minute flog er mit dem Eimer und einem prickelnden Hintern die Straße hinunter; Tom strich, was das Zeug hielt, und Tante Polly zog sich, einen Pantoffel in der Hand und Triumph im Blick, vom Felde zurück.

Toms Energie hielt jedoch nicht an. Ihm fielen die vergnüglichen Dinge ein, die er für heute geplant hatte, und sein Kummer vervielfachte sich. Bald mußten die Jungen, die frei waren, auf allen möglichen herrlichen Expeditionen hier vorbeigesprungen kommen, und sie würden ihn furchtbar auslachen, weil er arbeiten mußte – schon der Gedanke daran brannte wie Feuer. Er holte seine weltlichen Schätze hervor und betrachtete sie – Teile von Spielsachen, Murmeln und allerlei Plunder, genug, um vielleicht einen Arbeitstausch zu erkaufen, aber nicht genug, um auch nur eine halbe Stunde wahrer Freiheit zu erhandeln. So steckte er seine beschränkten Mittel wieder in die Tasche und gab den Gedanken an den Versuch auf, die Jungen zu kaufen. In diesem düsteren, hoffnungslosen Augenblick durchfuhr ihn eine Eingebung. Nicht mehr und nicht weniger als eine grandiose, fabelhafte Eingebung. Er nahm seinen Pinsel zur Hand und begab sich ruhig an die Arbeit. Kurze Zeit darauf kam Ben Rogers in Sicht, genau der Junge, vor dessen Spott er sich am meisten gefürchtet hatte. Bens Gang war ein einziges Hüpfen, Tanzen und Springen – Beweis genug, daß sein Herz leicht und voll hochgespannter Erwartungen war. Er aß einen Apfel und stieß in regelmäßigen Abständen ein langes, melodisches Heulen aus, dem ein tieftönendes Bim-bam-bam, Bim-bam-bam folgte, denn er stellte einen Dampfer dar. Als er heranzog, drosselte er die Geschwindigkeit, hielt sich in der Straßenmitte, lehnte sich weit nach steuerbord über und drehte gemessen, umständlich und mit großem Aufwand bei, denn er verkörperte den Dampfer »Big Missouri« und war sich bewußt, neun Fuß Tiefgang zu haben. Er war Dampfer, Kapitän und Schiffsglocke in einem, und so mußte er sich einbilden, er stehe auf seinem eigenen Hurrikandeck, erteile Befehle und führe sie auch aus.

»Stop, Sir! Bim-bim-bim.« Die Vorwärtsbewegung hörte fast gänzlich auf, und er steuerte langsam den Bürgersteig an. »Maschine volle Kraft rückwärts! Bim-bim-bim!« Er streckte die Arme steif an den Seiten hinab. »Steuerbord achteraus! Bim-bim-bim! Tschuk-tsch-tschuk-tschuk-tschuk!« Seine rechte Hand beschrieb stattliche Kreise, denn sie stellte ein vierzig Fuß hohes Schaufelrad dar. »Backbord achteraus! Bim-bim-bim! Tschuk-tsch-tschuk-tschuk!« Nun begann die linke Hand, Kreise zu beschreiben.

»Steuerbord stop! Bim-bim-bim! Backbord stop! Steuerbord langsame Fahrt voraus! Stop! Das äußere Rad langsame Fahrt! Bim-bim-bim! Tschuk-uk-uk! Bugleine heraus! Los jetzt! Kommt – raus mit dem Spanntau – was macht ihr denn da? Vertäut doch das Doppelpart über den Poller. Ran an die Landungsbrücke jetzt – los! Alle Maschinen stop jetzt, Sir! Bim-bim-bim!«

»Scht! Scht! Scht!« (Ausprobieren der Dampfhähne.)

Tom tünchte weiter – er kümmerte sich nicht um den Dampfer. Ben starrte ihn einen Augenblick an und sagte dann:

»Heda! Du steckst in der Patsche, was?«

Keine Antwort. Mit dem Auge des Künstlers begutachtete Tom seinen letzten Strich; dann fuhr sein Pinsel noch einmal mit leichtem Schwung darüber hinweg, und er begutachtete das Ergebnis von neuem. Ben bezog neben ihm Stellung. Beim Anblick des Apfels lief Tom das Wasser im Munde zusammen, er blieb jedoch bei seiner Arbeit. Da sagte Ben: »Hallo, alter Junge; mußt arbeiten, was?«

»Ach, du bist’s, Ben. Hab’s gar nicht gemerkt.«

»Ich geh schwimmen, hörst du? Würdest du nicht auch lieber mitkommen? Aber natürlich, du möchtest lieber schuften, nicht wahr?«

Tom betrachtete den Jungen ein Weilchen und fragte dann: »Was nennst du denn Arbeit?«

»Na, ist das vielleicht keine Arbeit?«

Tom machte sich wieder ans Tünchen und meinte gleichgültig: »Na, vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich weiß nur eins: Tom Sawyer gefällt’s.«

»Ach, geh doch, du willst mir doch nicht etwa einreden, daß es dir Spaß macht?«

Der Pinsel fuhr weiter.

»Ob’s mir Spaß macht? Na, ich wüßte nicht, weshalb es mir keinen Spaß machen sollte. Bekommt ein Junge vielleicht jeden Tag einen Zaun zu streichen?«

Das ließ die Sache in neuem Licht erscheinen. Ben hörte auf, an seinem Apfel zu knabbern. Tom schwang seinen Pinsel mit behutsamer Eleganz hin und her – trat dann zurück, um die Wirkung festzustellen – setzte hier und da noch einen Tupfer hinzu – kritisierte die Wirkung von neuem, während Ben jede seiner Bewegungen beobachtete und ihn die Sache immer mehr interessierte, immer stärker fesselte. Nach einer Weile sagte er: »Du, Tom, laß mich auch mal ein bißchen streichen.«

Tom dachte nach, war schon drauf und dran zuzustimmen, überlegte sich’s dann aber wieder anders: »Nein, nein, geht nicht, Ben. Schau, Tante Polly nimmt’s arg genau mit dem Zaun hier, er steht ja direkt an der Straße –, wenn’s der hinten wär, mir würde es nicht drauf ankommen und ihr auch nicht. Ja, arg genau nimmt sie’s mit dem Zaun hier, ganz sorgfältig muß der gestrichen werden; ich glaube, kaum einer von tausend Jungen ist imstande, es so zu machen, wie es sich gehört – vielleicht nicht mal einer von zweitausend.«

»Tatsächlich? Ach, komm schon! Laß mich bloß mal versuchen, bloß ein kleines bißchen. An deiner Stelle würd ich dich lassen, Tom.«

»Ben, ich würd’s ja gerne tun, aber Tante Polly – weißt du, Jim wollte, und sie hat ihn nicht gelassen. Sid wollte auch, und sie hat ihn auch nicht gelassen. Siehst du nicht, wie ich in der Klemme sitze? Wenn du dich dranmachst und es passiert was damit …«

»Ach, Quatsch; ich mach’s genauso vorsichtig. Komm, laß mich mal versuchen. Ich geb dir ein Stück von meinem Apfel, ja?«

»Nun – ach, Ben, lieber nicht, ich hab Angst …«

»Ich laß dir den ganzen!«

Tom gab den Pinsel her, Widerstreben im Antlitz, aber frohe Bereitwilligkeit im Herzen. Und während der vormalige Dampfer »Big Missouri« in der Sonne arbeitete und schwitzte, ließ sich der in den Ruhestand getretene Künstler daneben im Schatten auf einem Faß nieder, baumelte mit den Beinen, verdrückte den Apfel und schmiedete Pläne, wie er noch weitere Unschuldige zur Strecke bringen könnte. An Material mangelte es nicht, immer wieder schlenderten Jungen vorbei; sie kamen, um zu spotten, und blieben, um zu weißeln. Als Ben abgekämpft war, hatte Tom bereits die nächste Gelegenheit, sich zu beteiligen, für einen gut erhaltenen Drachen an Billy Fisher verhandelt, und als der verschnaufen mußte, kaufte sich Johnny Miller ein mit einer toten Ratte samt einer Schnur, mit der man sie herumschwingen konnte; so ging es weiter und immer weiter, Stunde um Stunde. Und als der Nachmittag zur Hälfte vorüber war, da war aus dem am Morgen noch armen Tom ein Junge geworden, der sich buchstäblich in Reichtum wälzte. Neben den Dingen, die ich bereits erwähnt habe, besaß er zwölf Murmeln, ein Stück von einer Mundharmonika, einen Scherben blaues Flaschenglas, durch den man hindurchschauen konnte, einen Revolver, einen Schlüssel, der nichts aufschloß, ein Stück Kreide, einen Glasstöpsel von einer Karaffe, einen Zinnsoldaten, zwei Kaulquappen, sechs Knallfrösche, ein einäugiges Kätzchen, einen Türgriff aus Messing, ein Hundehalsband – aber keinen Hund –, einen Messergriff, vier Orangenschalen und einen verrotteten alten Fensterrahmen. Die ganze Zeit über hatte er hübsch behaglich gefaulenzt und eine Menge Gesellschaft gehabt – und den Zaun bedeckte eine dreifache Schicht Farbe! Wäre Tom nicht der Weißkalk ausgegangen, so hätte er sämtliche Jungen des Ortes bankrott gemacht.

Tom sagte sich, die Welt sei doch nicht so hohl und leer. Er hatte, ohne es zu wissen, ein wichtiges Gesetz entdeckt, welches das menschliche Handeln bestimmt: daß nämlich, um das Begehren eines Mannes oder eines Jungen nach etwas zu wecken, weiter nichts nötig ist, als die Sache schwer erreichbar zu machen. Wäre er ein großer und weiser Philosoph gewesen wie der Schreiber dieses Buches, dann hätte er jetzt verstanden, daß Arbeit in dem besteht, was man zu tun verpflichtet ist, und daß Spiel in dem besteht, was man nicht zu tun verpflichtet ist. Das hätte ihm begreifbar gemacht, weshalb es Arbeit ist, künstliche Blumen herzustellen oder in einer Tretmühle tätig zu sein, während es ein Vergnügen ist, Kegel zu schieben oder auf den Montblanc zu klettern. Es gibt in England reiche Herren, die im Sommer täglich verkehrende vierspännige Reisekutschen zwanzig oder dreißig Meilen weit lenken, weil dieses Vorrecht sie ziemlich viel Geld kostet; böte man ihnen aber Lohn für diesen Dienst, so würde er zur Arbeit, und dann gäben sie ihn auf.

DRITTES KAPITELKampf und Liebe

Tom erschien vor Tante Polly, die am offenen Fenster einer gemütlichen, nach hinten gelegenen Stube saß, die Schlafzimmer, Frühstückszimmer, Speisezimmer und Bibliothek in einem war. Die linde Sommerluft, die friedliche Ruhe, der Duft der Blumen und das einschläfernde Summen der Bienen hatten ihre Wirkung getan, und sie war über ihrem Strickzeug eingenickt. Ihre einzige Gesellschaft war die Katze, und die lag schlafend auf ihrem Schoß. Die Brille hatte sie sicherheitshalber auf ihren grauen Scheitel geschoben. Tante Polly hatte geglaubt, Tom sei natürlich schon lange auf und davon; daher war sie erstaunt, als er sich jetzt auf so unerschrockene Weise wieder in ihre Macht begab. Er sagte: »Kann ich nun spielen gehen, Tante?«

»Was, schon? Wieviel hast du denn geschafft?«

»Alles fertig, Tante.«

»Tom, lüg mich nicht an. Das kann ich nicht vertragen.«

»Tu ich ja gar nicht, Tante, es ist wirklich alles fertig.«

Tante Polly hatte wenig Vertrauen zu solchen Versicherungen. Sie ging hinaus, um selber nachzusehen, und wäre zufrieden gewesen, hätte sie auch nur zwanzig Prozent von Toms Behauptung bestätigt gefunden. Als sie den ganzen Zaun geweißt fand, und nicht nur einfach geweißt, sondern kunstvoll mit mehreren Anstrichen versehen und sogar die Erde mit einem Streifen verziert, da war ihr Erstaunen fast unbeschreiblich. Sie sagte: »Nein, so was! Das muß man dir lassen, wenn du willst, kannst du arbeiten, Tom.« Dann verwässerte sie das Kompliment, indem sie hinzusetzte: »Aber du willst nur höchst selten, muß ich sagen. Na, lauf schon und spiel, aber sieh zu, daß du noch vor einer Woche wiederkommst, sonst gerb ich dir das Fell.«

So überwältigt war sie vom Glanz seiner Leistung, daß sie ihn mit in die Speisekammer nahm, dort einen prächtigen Apfel aussuchte und ihm diesen überreichte, wobei sie ihm eine erbauliche Lektion darüber hielt, wie sehr es den Wert einer Gabe und den Genuß, den sie bereitet, steigert, wenn man sie ohne Sünde, nur durch tugendhaftes Streben erworben hat. Und während sie mit einem üppigen Schwall biblischer Worte schloß, ließ er einen Pfannkuchen mitgehen.

Dann schlüpfte er hinaus und sah, wie Sid eben die Außentreppe hinaufstieg, die zu den hinteren Räumen des oberen Stocks führte. Erdklumpen lagen genug herum, und im Nu war die Luft von ihnen erfüllt. Sie prasselten rings um Sid nieder wie ein Hagelsturm, und bevor Tante Polly ihre von Überraschung benommenen Sinne zusammenraffen und Sid zu Hilfe eilen konnte, hatten bereits sechs oder sieben Erdklumpen ihr Ziel getroffen, und Tom war über den Zaun und verschwunden. Zwar gab es eine Pforte, im allgemeinen aber hatte er es zu eilig, um sie zu benutzen. In seiner Seele herrschte Frieden, da er nun mit Sid abgerechnet hatte, weil er die Aufmerksamkeit auf den schwarzen Zwirn gelenkt und ihm Unannehmlichkeiten gemacht hatte.

Tom lief um den Häuserblock und gelangte auf einen schmutzigen Weg, der hinter dem Kuhstall seiner Tante vorbeiführte. Nun war er außer Gefahr, eingefangen und bestraft zu werden, und er begab sich zum Marktplatz der kleinen Stadt, wo sich einer Verabredung gemäß zwei »militärische Formationen« der Jungen getroffen hatten, um sich eine Schlacht zu liefern. Tom war General der einen Armee, Joe Harper, ein Busenfreund von ihm, General der anderen. Diese beiden großen Heerführer ließen sich nicht etwa herab, persönlich am Kampf teilzunehmen – das kam vielmehr der unbedeutenderen Menge zu –, sondern sie saßen zusammen auf einer Bodenerhebung und leiteten die Operationen auf dem Schlachtfeld durch Befehle, die von Adjutanten überbracht wurden. Nach langem, harten Kampf errang Toms Armee einen großen Sieg. Nun wurden die Toten gezählt, die Gefangenen ausgetauscht, über die Bedingungen der nächsten Kämpfe Einstimmigkeit erzielt und der Tag für die notwendige Schlacht festgelegt; danach formierten sich die Armeen und marschierten davon, während Tom sich allein heimwärts wandte.

Als er an dem Haus vorbeikam, in dem Jeff Thatcher wohnte, sah er im Garten ein fremdes Mädchen stehen, ein reizendes, blauäugiges kleines Ding mit blondem Haar, das in zwei lange Zöpfe geflochten war, in einem weißen Sommerkleid und bestickten langen Hosen. Der mit frischem Ruhm bekränzte Held kapitulierte ohne einen Schuß abgefeuert zu haben. Eine gewisse Amy Lawrence entschwand aus seinem Herzen und ließ nicht mal eine Erinnerung darin zurück. Er hatte geglaubt, er liebe sie wahnsinnig, er hatte seine Leidenschaft für Anbetung gehalten, aber siehe da, es war nichts weiter als eine armselige, flüchtige kleine Zuneigung gewesen. Monate hatte er damit verbracht, das Mädchen zu gewinnen; kaum eine Woche war es her, seit sie ihm ihre Liebe gestanden hatte; sieben kurze Tage lang war er der glücklichste und stolzeste Junge der Welt gewesen, und nun war sie in einem einzigen Augenblick aus seinem Herzen entschwunden, als sei sie eine zufällig vorbeigekommene Fremde, deren Besuch beendet ist.

Verstohlen bewunderte er diesen neuerschienenen Engel, bis er sah, daß auch sie ihn entdeckt hatte; dann tat er, als wisse er nichts von ihrer Anwesenheit, und begann, auf alle mögliche verdrehte, jungenhafte Weise anzugeben, um ihre Bewunderung zu erringen. Ein Weilchen trieb er seine närrischen Possen, dann aber, mitten in einer gefährlichen gymnastischen Übung, schielte er zur Seite und sah, daß die Kleine auf das Haus zu ging. Tom trat an den Zaun und lehnte sich darauf, bekümmert und voller Hoffnung, sie werde sich noch ein Weilchen Zeit lassen. Auf der Treppe blieb sie einen Moment stehen und trat dann auf die Tür zu. Als sie den Fuß auf die Schwelle setzte, stieß Tom einen schweren Seufzer aus; sein Gesicht erhellte sich jedoch sogleich, denn in dem Augenblick, bevor sie verschwand, warf sie ein Stiefmütterchen über den Zaun. Der Junge rannte zu der Blume hin und blieb einen oder zwei Schritt vor ihr stehen, beschattete die Augen mit der Hand und blickte die Straße hinunter, als habe er dort unten etwas Interessantes entdeckt. Dann hob er einen Strohhalm auf und versuchte, ihn mit weit zurückgeworfenem Kopf auf der Nase zu balancieren, und während er sich dabei hin und her bewegte, rückte er dem Stiefmütterchen immer näher; schließlich ruhte sein nackter Fuß darauf, seine biegsamen Zehen schlossen sich darum, er hüpfte mit seinem Schatz davon und verschwand um die Ecke. Dort blieb er aber nur eine Minute lang, nur bis er die Blume in seiner Jacke über dem Herzen geborgen hatte – vielleicht aber auch über dem Magen, denn er war in der Anatomie nicht allzu bewandert und auf jeden Fall nicht übermäßig kritisch.

Nun kehrte Tom zurück und trieb sich, bis es Abend wurde, in der Nähe des Zaunes herum; er gab an, wie zuvor, das Mädchen ließ sich jedoch nicht mehr blicken. Tom tröstete sich aber ein wenig mit der Hoffnung, sie sei inzwischen an ein Fenster gekommen und habe seine Aufmerksamkeiten bemerkt.

Schließlich ging er widerstrebend heim, den armen Kopf voll Phantasiegebilde.

Während des ganzen Abendessens war er so guter Stimmung, daß sich seine Tante verwundert fragte, »was wohl in den Jungen gefahren« sei. Er erhielt tüchtig Schelte, weil er Sid mit Erdklumpen beworfen hatte; es schien ihm jedoch nicht das mindeste auszumachen. Er versuchte, direkt vor der Nase der Tante ein Stück Zucker zu stibitzen, und bekam dafür eins auf die Finger. Da meinte er: »Tante, Sid haust du nicht, wenn er eins nimmt.«

»Na, der quält einen auch nicht so wie du. Wenn ich nicht auf dich aufpaßte, würdest du immerzu an den Zucker rangehen.«

Kurz darauf ging sie in die Küche, und im Vollgefühl seiner Straffreiheit langte Sid nach der Zuckerdose, mit einem Ausdruck des Triumphes über Tom, der fast unerträglich war. Sids Finger glitten jedoch ab, die Zuckerdose fiel zu Boden und zerbrach. Tom war von Wonne berauscht – so sehr berauscht, daß er sogar seine Zunge im Zaum hielt und schwieg. Er beschloß im stillen, er werde kein Wort sagen, nicht mal, wenn seine Tante hereinkäme, sondern er werde mucksmäuschenstill dasitzen, bis sie fragte, wer das angerichtet habe, und dann wollte er es sagen, und nichts in der Welt wäre herrlicher, als zusehen zu können, wie dieser Musterknabe es kriegte. Er war so voller Frohlocken, daß er kaum an sich halten konnte, als die alte Dame hereinkam, vor den Scherben stand und über ihre Brille hinweg Zornesblitze schleuderte. Er sagte sich: ›Jetzt kommt’s!‹ Im nächsten Augenblick aber lag er auf dem Boden! Schon hatte sich die kräftige Handfläche zu einem neuen Schlag erhoben, da schrie Tom: »Halt, warum verdrischst du denn mich? Sid hat sie doch kaputtgeschmissen!«

Verdutzt hielt Tante Polly inne, und Tom erwartete linderndes Mitleid. Als sie die Sprache wiederfand, sagte sie jedoch nur: »Hm, na, bestimmt hast du nicht umsonst Prügel gekriegt. Höchstwahrscheinlich hast du irgendwelchen anderen frechen Unfug angestellt, während ich nicht da war.«

Dann setzte ihr das Gewissen zu, und es drängte sie, irgend etwas Freundliches, Liebevolles zu sagen; sie fand jedoch, es werde als Eingeständnis ausgelegt werden, daß sie im Unrecht war, und dies ließ die Disziplin nicht zu. So schwieg sie und ging bekümmerten Herzens ihrer Beschäftigung nach. Tom saß schmollend in einer Ecke und steigerte sich in seinen Schmerz hinein. Er wußte, daß seine Tante im innersten Herzen Abbitte tat, und dieses Bewußtsein gab ihm eine finstere Befriedigung. Er wollte kein Zeichen des Entgegenkommens zeigen, er wollte niemanden beachten. Er wußte, daß hin und wieder durch einen Tränenschleier ein sehnsuchtsvoller Blick auf ihn fiel, aber er weigerte sich, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Er malte sich aus, daß er todkrank daläge, während seine Tante sich über ihn beugte und ihn um ein einziges kleines Wort der Vergebung anflehte, er aber das Gesicht zur Wand wendete und stürbe, ohne dieses Wort ausgesprochen zu haben. Ha, was empfände sie dann? Und er malte sich aus, daß man ihn vom Fluß heimbrächte, tot, mit triefenden Locken, die armen Hände für immer reglos, das wunde Herz zur Ruhe gekommen. Wie würde sie sich dann über ihn werfen; wie Regen würden ihre Tränen fließen und ihre Lippen würden zu Gott beten, er möge ihr den Jungen zurückgeben, sie wolle ihn auch nie, nie mehr mißhandeln. Er aber läge kalt und bleich da und gäbe kein Zeichen mehr von sich – ein armer kleiner Dulder, der ausgelitten hatte. Mit diesen tragischen Vorstellungen steigerte er seine Gefühle dermaßen, daß er immerzu schlucken mußte, so sehr war ihm, als ersticke er; vor seinen Augen verschwamm alles hinter einem wäßrigen Schleier, der, als er zwinkerte, überlief, hinunterrann und ihm von der Nasenspitze tropfte. Er schwelgte derart in seinem Kummer, daß er nicht ertragen konnte, sich durch irgendwelche weltliche Fröhlichkeit oder irgendein ablenkendes Vergnügen darin stören zu lassen; sein Schmerz war ihm zu heilig für eine solche Berührung, und als daher kurz darauf seine Kusine Mary hereingetanzt kam, übersprudelnd vor Freude, wieder daheim zu sein, nachdem sie zu einem ewig langen Besuch eine Woche auf dem Lande gewesen war, stand er auf und begab sich, in eine Wolke von Düsterkeit gehüllt, zur einen Tür hinaus, während sie Gesang und Sonnenschein zur anderen hereinbrachte. Er wanderte weit fort von den Plätzen, an denen sich die Jungen gewöhnlich herumtrieben, und suchte einsame Orte, die mit seiner Stimmung im Einklang standen. Ein im Fluß schwimmendes Floß lud ihn ein; er setzte sich auf das äußerste Ende und blickte über die eintönige Weite des Stromes; dabei wünschte er, er könne sofort ertrinken, ohne es zu merken und ohne erst die unangenehme Prozedur durchzumachen, welche die Natur dafür ersonnen hat. Dann fiel ihm seine Blume ein. Er zog sie hervor; sie war zerknittert und verwelkt, und ihr Anblick verstärkte machtvoll seine wohlige Wehmut. Er fragte sich, ob sie wohl Mitleid mit ihm hätte, wenn sie wüßte? Ob sie dann wohl weinte und wünschte, sie dürfe ihm die Arme um den Hals legen und ihn trösten? Oder wendete sie sich kalt ab wie die übrige schnöde Welt? Diese Vorstellung brachte ihm ein solches Übermaß angenehmen Schmerzes, daß er sich das Bild in Gedanken immer wieder ausmalte und in neuem, stets verschiedenem Licht erscheinen ließ, bis es seinen Reiz einbüßte. Endlich erhob er sich seufzend und ging in die Dunkelheit hinein. Gegen halb zehn, zehn Uhr kam er durch die einsame Straße, in der die angebetete Unbekannte wohnte; er blieb einen Augenblick stehen – kein Laut traf sein lauschendes Ohr; eine Kerze warf ihren matten Schein auf den Vorhang eines Fensters im zweiten Stock. War dort ihr geheiligtes Gemach? Er kletterte über den Zaun und schlich sich durch die Pflanzen, bis er unter jenem Fenster stand. Lange blickte er bewegt hinauf, dann legte er sich darunter auf den Boden, streckte sich auf dem Rücken aus und hielt über der Brust in den gefalteten Handen die arme, verwelkte Blume. So wollte er sterben – draußen in der kalten Welt, ohne ein Dach über dem heimatlosen Kopf, ohne eine Freundeshand, die ihm den Todesschweiß von der Stirn wischte, ohne ein liebevolles Gesicht, das sich mitleidsvoll über ihn beugte, wenn der große Todeskampf begänne. So sollte sie ihn erblicken, wenn sie hinaussah in den heiteren Morgen – und ach, ließe sie wohl eine Träne auf seinen armen, leblosen Körper fallen, stieße sie wohl auch nur einen einzigen kleinen Seufzer aus, ein strahlendes junges Leben so jäh erloschen, so unzeitig dahingemäht zu sehen?

Das Fenster öffnete sich; die mißtönende Stimme eines Hausmädchens entheiligte die geweihte Stille, und ein Wasserguß durchtränkte die sterblichen Überreste des dahingestreckten Märtyrers.

Mit einem erleichternden Prusten sprang der dem Ersticken nahe Held auf die Beine; ein Wurfgeschoß sauste durch die Luft, begleitet von einem leisen Fluch; danach folgte das Klirren splitternden Glases, und eine kleine, undeutlich sichtbare Gestalt schwang sich über den Zaun und schoß in die Dunkelheit davon.

Als Tom kurz darauf, bereits zum Schlafen ausgekleidet, beim Schein eines Talglichts seine durchnäßten Sachen besichtigte, erwachte Sid; falls dieser aber die geringste Absicht gehabt hatte, auch nur die geringste Anspielung zu machen, so überlegte er sich’s und hielt Frieden – denn aus Toms Augen blitzte Gefahr. Dieser legte sich hin, ohne sich noch der zusätzlichen Plage zu unterziehen, sein Gebet zu sprechen, und Sid notierte im Geiste diese Unterlassungssünde.

VIERTES KAPITELToms Auftritt in der Sonntagsschule

Die Sonne ging auf über einer friedvollen Welt und strahlte hernieder, als fiele ein Segen auf das stille kleine Dorf. Nach dem Frühstück hielt Tante Polly die Familienandacht ab; diese begann mit einem Gebet, das von Grund auf aus soliden Schichten von Bibelzitaten gebaut war, die von einem dünnen Mörtel eigener Worte zusammengehalten wurden, und von der Höhe dieses Gebäudes, wie vom Berge Sinai herab, verkündete sie ein grimmiges Kapitel des mosaischen Gesetzes.

Danach gürtete Tom gewissermaßen seine Lenden und machte sich an die Arbeit, um »seine Verse zu bewältigen«. Sid hatte seine Lektion bereits vor Tagen gelernt. Tom spannte seine ganze Energie an, um sich fünf Bibelverse einzuprägen; er wählte sie aus der Bergpredigt, weil er keine kürzeren finden konnte.

Nach Ablauf einer halben Stunde hatte Tom einen unbestimmten allgemeinen Begriff von seiner Lektion, mehr aber nicht, denn sein Geist durchschweifte das ganze Gebiet menschlichen Denkens, und seine Hände waren mit ablenkenden, unterhaltsamen Dingen beschäftigt. Mary nahm sein Buch, um ihn abzufragen, und er versuchte, seinen Weg durch den Nebel zu finden.

»Selig sind, die da … äh … äh«

»Geistlich …«

»Ach ja, geistlich; selig sind, die da geistlich … äh … äh«

»Arm …«

»Arm … Selig sind, die da geistlich arm sind, denn, denn …«

»Das Himmelreich …«

»Das Himmelreich. Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie … sie …«

»S– …«

»Denn sie … äh …«

»So– …«

»Denn sie so … Ach, ich weiß nicht, wie es heißt!«

»Sollen!«

»Ach ja, sollen! Denn sie sollen … denn sie sollen … äh … äh … sollen Leid tragen … äh … äh … selig sind, die da … die … äh … die da Leid tragen, denn sie sollen … äh … was sollen sie? Warum sagst du’s mir nicht, Mary? Warum bist du so gemein?«

»Aber Tom, du armer Dummkopf, ich will dich doch nicht ärgern. Das würde ich nie tun. Du mußt dich hinsetzen und es noch mal lernen. Verlier nicht den Mut, Tom, du wirst’s schon schaffen – und wenn du’s geschafft hast, dann gebe ich dir was ganz Feines! Sei lieb und geh.«

»Na schön. Was ist’s denn, Mary? Sag mir doch, was es ist.«

»Laß nur, Tom. Du weißt ja, wenn ich sage, es ist was Feines, dann ist’s auch was Feines.«

»Klar, Mary, das steht fest. Na schön, ich mach mich noch mal dran.«

Und er »machte sich dran«, und unter dem doppelten Antrieb der Neugier und der Aussicht auf Gewinn tat er es mit solchem Schwung, daß er einen glänzenden Sieg davontrug.