Tom Sawyers Abenteuer und Streiche - Mark Twain - E-Book

Tom Sawyers Abenteuer und Streiche E-Book

Mark Twain

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Beschreibung

Die abenteuerlichen Erlebnisse von Tom Sawyer und seinem Freund Huckleberry Finn haben ganze Generationen von jungen Lesern begeistert: Der lebenslustige Waisenjunge Tom Sawyer, der immer einen Streich im Schilde führt, lebt mit seinem Halbbruder Sid bei seiner Tante Polly in der fiktiven Stadt St. Petersburg am Ufer des Mississippi. Anstatt die Schulbank zu drücken, geht er lieber schwimmen oder stromert mit seinem wohnungslosen Kumpel Huckleberry Finn durch die Gegend. Dabei machen sie so allerhand spannende Entdeckungen!-

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Mark Twain

Tom Sawyers Abenteuer und Streiche

(S. L. Clemens)

Deutsche Übersetzung von Margarete Jacobi

Mit zweiundzwanzig Federzeichnungen von Max Kellerer

Saga

Tom Sawyers Abenteuer und StreicheCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1876, 2020 Mark Twain und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642728

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Die meisten der im Tom Sawyer erzählten Abenteuer sind wirklich vorgekommen. Eines oder zwei habe ich selbst erlebt, die anderen meine Schulkameraden. Huck Finn ist nach dem Leben gezeichnet, Tom Sawyer ebenfalls, jedoch mit dem Unterschied, dass in ihm die Charaktereigenschaften mehrerer Knaben vereinigt sind.

 

Hartfort 1876

Der Verfasser

Erstes Kapitel

„Tom!“

Keine Antwort.

„Tom!“

Tiefes Schweigen.

„Wo der Junge nun wieder stedt, möcht’ ich wissen. Du — Tom!“

Die alte Dame zog ihre Brille gegen die Nasenspitze herunter und starrte drüber weg im Zimmer herum, dann schob sie sie rasch wieder empor und spähte drunter her nach allen Seiten aus. Nun und nimmer würde sie die Brille so entweiht haben, dass sie durch die geheiligten Gläser hindurch nach solchem geringfügigen Gegenstand geschaut hätte, wie ein kleiner Junge einer ist. War es doch ihre Staatsbrille, der Stolz ihres Herzens, die sie sich nur der Zierde und Würde halber zugelegt, keineswegs zur Benutzung, — ebenso gut hätte sie durch ein paar Kochherdringe sehen können. Einen Moment lang schien sie verblüfft, da sie nichts entdecken konnte, dann ertönte wiederum ihre Stimme, nicht gerade ärgerlich, aber doch laut genug, um von der Umgebung, dem Zimmergerät nämlich, gehört zu werden: „Wart, wenn ich dich kriege, ich — —“

Sie beendete den Satz nicht, denn sie war inzwischen ans Bett heran getreten, unter welchem sie energisch mit dem Besen herumstöberte, was ihre ganze Kraft, all ihren Atem in Anspruch nahm. Trotz der Anstrengung förderte sie jedoch nichts zu Tage, als die alte Katze, die ob der Störung sehr entrüstet schien.

„So was wie den Jungen gibt’s nicht wieder!“

Sie trat unter die offene Haustüre und liess den Blick über die Tomaten und Kartoffeln schweifen, welche den Garten vorstellten! Kein Tom zu sehen! Jetzt erhob sich ihre Stimme zu einem Schall, der für eine ziemlich beträchtliche Entfernung berechnet war:

„Holla — du — To—om!“

Ein schwaches Geräusch hinter ihr veranlasste sie sich umzudrehen und zwar eben noch zu rechter Zeit, um einen kleinen, schmächtigen Jungen mit raschem Griff am Zipfel seiner Jacke zu erwischen und eine offenbar geplante Flucht zu verhindern.

„Na, natürlich! An die Speisekammer hätte ich denken müssen! Was hast du drinnen wieder angestellt?“

„Nichts.“

Nichts? Na, seh’ mal einer! Betracht’ mal deine Hände, he, und was klebt denn da um deinen Mund?“

„Das weiss ich doch nicht, Tante!“

„So, aber ich weiss es. Marmelade ist’s, du Schlingel, und gar nichts anderes. Hab’ ich dir nicht schon hundertmal gesagt, wenn du mir die nicht in Ruhe liessest, wollt’ ich dich ordentlich gerben? Was? Hast du’s vergessen? Reich’ mir mal das Stöckchen da!“

Schon schwebte die Gerte in der Luft, die Gefahr war dringend.

„Himmel, sieh doch mal hinter dich, Tante!“

Die alte Dame fuhr herum, wie von der Tarantel gestochen und packte instinktiv ihre Röcke, um sie in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig war der Junge mit einem Satz aus ihrem Bereich, kletterte wie ein Eichkätzchen über den hohen Bretterzaun und war im nächsten Moment verschwunden. Tante Polly sah ihm einen Augenblick verdutzt, wortlos nach, dann brach sie in leises Lachen aus.

„Hol’ den Jungen der und jener! Kann ich denn nie gescheit werden? Hat er mir nicht schon Streiche genug gespielt, dass ich mich endlich einmal vor ihm in acht nehmen könnte! Aber, wahr ist’s, alte Narren sind die schlimmsten die’s gibt, und ein alter Pudel lernt keine neuen Kunststückchen mehr, heisst’s schon im Sprichwort. Wie soll man aber auch wissen, was der Junge im Schild führt, wenn’s jeden Tag was andres ist! Weiss der Bengel doch genau, wie weit er bei mir gehen kann, bis ich wild werde, und ebenso gut weiss er, dass, wenn er mich durch irgend einen Kniff dazu bringen kann, eine Minute zu zögern, ehe ich zuhaue, oder wenn ich gar lachen muss, es aus und vorbei ist mit den Prügeln. Weiss Gott, ich tu’ meine Pflicht nicht an dem Jungen. ,Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es’, heisst’s in der Bibel. Ich aber, ich — Sünde und Schande wird über uns kommen, über meinen Tom und mich, ich seh’s voraus, Herr, du mein Gott, ich seh’s kommen! Er steckt voller Satanspossen, aber, lieber Gott, er ist meiner toten Schwester einziger Junge und ich hab‘ nicht das Herz ihn zu Hauen. Jedesmal, wenn ich ihn durchlasse, zwickt mich mein Gewissen ganz grimmig und hab’ ich ihn einmal tüchtig vorgenommen, dann — ja dann will mir das alte, dumme Herz beinahe brechen. Ja, ja, der vom Weibe geborene Mensch ist arm und schwach, kurz nur währen seine Tage und sind voll Mühe und Trübsal, so sagt die hl. Schrift und wahrhaftig, es ist so! Heut’ wird sich der Bengel nun wohl nicht mehr blicken lassen, wird die Schule schwänzen, denk’ ich, und ich wird’ ihm wohl für morgen irgend eine Strafarbeit geben müssen. Ihn am Sonnabend, 1 wenn alle Jungen frei haben, arbeiten zu lassen, ist fürchterlich hart, namentlich für Tom, der die Arbeit mehr scheut, als irgend was sonst, aber ich muss meine Pflicht tun an dem Jungen, wenigstens einigermassen, ich muss, sonst bin ich sein Verderben!“

Tom, der, wie Tante Polly sehr richtig geraten, die Schule schwänzte, liess sich am Nachmittag nicht mehr blicken, sondern trieb sich draussen herum und vergnügte sich königlich dabei. Gegen Abend erschien er dann wieder, kaum zur rechten Zeit vor dem Abendessen, um Jim, dem kleinen Niggerjungen, helfen zu können das nötige Holz für den nächsten Tag klein zu machen. Dabei blieb ihm aber Zeit genug, Jim sein Abenteuer zu erzählen, während dieser neun Zehntel der Arbeit tat. Toms jüngerer Bruder, oder besser Halbbruder, Sidney, hatte seinen Teil am Werke, das Zusammenlesen der Holzspäne, schon besorgt. Er war ein fleissiger, ruhiger Junge, nicht so unbändig und abenteuerlustig wie Tom. Während dieser sich das Abendessen schmecken liess und dazwischen bei günstiger Gelegenheit Zuckerstückchen stibitzte, stellte Tante Polly ein, wie sie glaubte, äusserst schlaues und scharfes Kreuzverhör mit ihm an, um ihn zu verderbenbringenden Geständnissen zu verlocken. Wie so manche andere arglos-schlichte Seele glaubte sie an ihr Talent für die schwarze, geheimnispolle Kunst der Diplomatie. Es war der stolzeste Traum ihres kindlichen Herzens, und die allerdurchsichtigsten kleinen Kniffe, deren sie sich bediente, schienen ihr wahre Wunder an Schlauheit und List. So fragte sie jetzt:

„Tom, es war wohl ziemlich warm in der Schule?“

„Ja, Tante.“

„Sehr warm, nicht?“

„Ja, Tante.“

„Hast du nicht Lust gehabt schwimmen zu gehen?“

Wie ein warnender Blitz durchzuckte es Tom, — hatte sie Verdacht? Er suchte in ihrem Gesichte zu lesen, das verriet nichts. So sagte er:

„N—ein, Tante, — das heisst nicht viel.“

Die alte Dame streckte die Hand nach Toms Hemdkragen aus, befühlte den und meinte:

„Jetzt ist dir’s doch nicht mehr zu warm, oder?“

Und dabei bildete sie sich ein, bildete sich wirklich und wahrhaftig ein, sie habe den trockenen Zustand besagten Hemdes entdeckt, ohne dass eine menschliche Seele ahne, worauf sie ziele. Tom aber wusste genau, woher der Wind wehte, so kam er der mutmasslich nächsten Wendung zuvor.

„Ein paar von uns haben die Köpfe unter die Pumpe gehalten — meiner ist noch nass, sieh!“

Tante Polly empfand es sehr unangenehm, dass sie diesen belastenden Beweis übersehen und sich so im voraus aus dem Felde hatte schlagen lassen. Ihr kam eine neue Eingebung.

„Tom, du hast doch wohl nicht deinen Hemdkragen abnehmen müssen, den ich dir angenäht habe, um dir auf den Kopf pumpen zu lassen, oder? Knöpf doch mal deine Jacke auf!“

Aus Toms Antlitz war jede Spur von Sorge verschwunden. Er öffnete die Jacke, der Kragen war fest und sicher angenäht.

„Dass dich! Na, mach’ dich fort. Ich hätte Gift drauf genommen, dass du heut’ mittag schwimmen gegangen bist. Wollens gut sein lassen. Dir geht’s diesmal wie der verbrühten Katze, du bist besser, als du aussiehst — aber nur diesmal, Tom, nur diesmal!“

Halb war’s ihr leid, dass alle ihre angewandte Schlauheit so ganz umsonst gewesen, und halb freute sie sich, dass Tom doch einmal wenigstens, gleichsam unversehens, in den Gehorsam hinein gestolpert war.

Da sagte Sidney:

„Ja aber, Tante, hast du denn den Kragen mit schwarzem Zwirn aufgenäht?“

„Schwarz? Nein, er war weiss, so viel ich mich erinnere, Tom!“

Tom aber wartete das Ende der Unterredung nicht ab. Wie der Wind war er an der Türe, rief beim Abgeben. Sid noch ein freundschaftliches „wart‘, das sollst du mir büssen“ zu und war verschwunden.

An sicherem Orte untersuchte er drauf zwei eingefädelte Nähnadeln, die er in das Futter seiner Jacke gesteckt trug, die eine mit weissem, die andre mit schwarzem Zwirn, und brummte vor sich hin:

„Sie hätt’s nie gemerkt, wenn’s der dumme Kerl, der Sid, nicht verraten hätte. Zum Kuckuck! Einmal nimmt sie weissen und einmal schwarzen Zwirn, wer kann das behalten. Aber Sid soll seine Keile schon kriegen; der soll mir nur kommen!“

Tom war mit nichten der Musterjunge seines Heimatortes, — es gab aber einen solchen und Tom kannte und verabscheute ihn rechtschaffen.

Zwei Minuten später, oder in noch kürzerer Zeit, hatte er alle seine Sorgen vergessen. Nicht, dass sie weniger schwer waren oder weniger auf ihm lasteten, wie eines Mannes Sorgen auf eines Mannes Schultern, nein durchaus nicht, aber ein neues mächtiges Interesse zog seine Gedanken ab, gerade wie ein Mann die alte Last und Not in der Erregung eines neuen Unternehmens vergessen kann. Dieses starke und mächtige Interesse war eine eben errungene, neue Methode im Pfeifen, die ihm ein befreundeter Nigger kürzlich beigebracht hatte, und die er nun ungestört üben wollte. Die Kunst bestand darin, dass man einen hellen, schmetternden Vogeltriller hervorzubringen sucht, indem man in kurzen Zwischenpausen während des Pfeifens mit der Zunge den Gaumen berührt. Wer von den Lesern jemals ein Junge gewesen ist, wird genau wissen, was ich meine. Tom hatte sich mit Fleiss und Aufmerksamkeit das Ding baldigst zu eigen gemacht und schritt nun die Hauptstrasse hinunter, den Mund volt tönenden Wohllauts, die Seele voll stolzer Genugtuung. Ihm war ungefähr zu Mute, wie einem Astronomen, der einen neuen Stern entdeckt hat, doch glaube ich kaum, dass die Freude des glücklichen Entdeckers der seinen an Grösse, Tiefe und ungetrübter Reinheit gleich kommt.

Die Sommerabende waren lang. Noch war’s nicht dunkel geworden. Toms Pfeifen verstummte plötzlich. Ein Fremder stand vor ihm, ein Junge, nur vielleicht einen Zoll grösser als er selbst. Die Erscheinung eines Fremden irgend welchen Alters oder Geschlechtes war ein Ereignis in dem armen, kleinen Städtchen St. Petersburg. Und dieser Junge war noch dazu sauber gekleidet, — sauber gekleidet an einem Wochentage! Das war einfach geradezu unfasslich, überwältigend! Seine Mütze war ein niedliches, zierliches Ding, seine dunkelblaue, dicht zugeknöpfte Tuchjacke nett und tadellos; auch die Hosen waren ohne Flecken. Schuhe hatte er an, Schuhe, und es war doch heute erst Freitag, noch zwei ganze Tage bis zum Sonntag! Um den Hals trug er ein seidenes Tuch geschlungen. Er hatte so etwas Zivilisiertes, so etwas Städtisches an sich, das Tom in die innerste Seele schnitt. Je mehr er dieses Wunder von Eleganz anstarrte, je mehr er die Nase rümpfte über den „erbärmlichen Schwindel’, wie er sich innerlich ausdrückte, desto schäbiger und ruppiger dünkte ihm seine eigene Ausstattung. Keiner der Jungen sprach. Wenn der eine sich bewegte, bewegte sich auch der andere, aber immer nur seitwärts im Kreise herum. So standen sie einander gegenüber, Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge. Schliesslich sagt Tom:

„Ich kann dich unter kriegen!“

„Probier’s einmal!“

„N — ja, ich kann.“

„Nein, du kannst nicht.“

„Und doch!“

„Und doch nicht!“

„Ich kann’s.“

„Du kannst’s nicht.“

„Kann’s.“

„Kannst’s nicht.“

Ungemütliche Pause. Dann fängt Tom wieder an:

„Wie heisst du?“

„Geht dich nichts an.“

„Will dir schon zeigen, dass mich’s angeht.“

„Nun, so zeig’s doch.“

„Wenn du noch viel sagst, tu’ ich’s.“

„Viel — viel — viel! Da! Nun komm ’ran!“

„Ach, du hälst dich wohl für furchtbar gescheit, gelt du? Du Putzaff’! Ich könnt’ dich ja unterkriegen mit einer Hand, auf den Rücken gebunden, — wenn ich nur wollt’!“

„Na, warum tust du’s denn nicht? Da sagst’s doch immer nur!“

„Wart, ich tu’s, wenn du dich mausig machst!“

„Ja, sagen kann das jeder, aber tun — tun ist was andres.“

„Aff’ du! Gelt du meinst, du seist was Rechtes? — Puh, was für ein Hut!“

„Guck’ wo anders hin, wenn er dir nicht gefällt. Schlag’ ihn doch runter! Der aber, der ’s tut, wird den Himmel für ’ne Bassgeig’ ansehen!“

„Lügner, Prahlhans!“

„Selber!“

„Maulheld! Gelt du willst dir die Hände schonen?“

„Oh — geh’ heim!“

„Wart, wenn du noch mehr von deinem Blödsinn verzapfft, so nehm’ ich einen Stein und schmeiss ihn dir an deinem Kopf entzwei.“

„Ei, natürlich, — schmeiss nur!“

“Ja, ich tu’s!“

„Na, warum denn nicht gleich? Warum wartest du denn noch? Warum tust du ’s nicht? Ätsch, du hast Angst!“

„Ich hab’ keine Angst.“

„Doch, doch!“

„Nein, ich hab’ keine.“

„Du hast welche!“

Erneute Pause; verstärktes Anstarten und langsames Umkreisen. Plötzlich stehen sie Schulter an Schulter. Tom sagt:

„Mach’ dich weg von hier!“

„Mach’ dich selber weg!“

„Ich nicht!“

„Ich gewiss nicht!“

So stehen sie nun fest gegeneinander gepresst, jeder als Stütze ein Bein im Winkel vor sich gegen den Boden stemmend, und schieben, stossen und drängen sich gegenseitig mit aller Gewalt, einander mit wutschnaubenden, hasserfüllten Augen anstarrend. Keiner aber vermag dem andern einen Vorteil abzugewinnen. Nachdem sie so schweigend gerungen, bis beide ganz heiss und glühendrot geworden, lassen sie wie auf Verabredung langsam und vorsichtig nach und Tom sagt:

„Du bist ein Feigling und ein Aff’ dazu. Ich sag’s meinem grossen Bruder, der haut dich mit seinem kleinen Finger krumm und lahm, wart nur!“

„Was liegt mir an deinem grossen Bruder! Meiner ist noch viel grösser, wenn der ihn nur anbläst, fliegt er über den Zaun, ohne dass er weiss wiel“ (Beide Brüder existierten nur in der Einbildung.)

„Das ist gelogen!“

„Was weisst denn du?“

Tom zieht nun mit seiner grossen Zehe eine Linie in den Staub und sagt:

„Da spring’ rüber und ich hau dich, dass du deinen Vater nicht von einem Kirchturm unterscheiden kannst!“

Der neue Junge springt sofort, ohne sich zu besinnen, hinüber und ruft:

„Jetzt komm endlich ‘ran und tu’s und hau, aber prahl nicht länger!“

„Reiz’ mich nicht, nimm dich in acht!“

„Na, nun mach aber, jetzt bin ich’s müde! Warum kommst du nicht!“

„Weiss Gott, jetzt tu’ ich’s für zwei Pfennig!“

Flink zieht der fremde Junge zwei Pfennig aus der Tasche und hält sie Tom herausfordernd unter die Nase.

Tom schlägt sie zu Boden.

Im nächsten Moment wälzen sich die Jungen fest umschlungen im Staube, trallen einander wie Katzen, reissen und zerren sich an den Haaren und Kleidern, bläuen und zerkratzen sich die Gesichter und Nasen und bedecken sich mit Schmutz und Ruhm. Nach ein paar Minuten etwa nimmt der sich wälzende. Klumpen Gestalt an und in dem Staub des Kampfes wird Tom sichtbar, der rittlings auf dem neuen Jungen sitzt und denselben mit den Fäusten bearbeitet.

„Schrei ,genug‘,“ mahnt er.

Der Junge ringt nur stumm, sich zu befreien, er weint vor Zorn und Wut.

„Schrei ,genugʻ,“ mahnt Tom noch einmal und drischt lustig weiter.

Endlich stösst der Fremde ein halb ersticktes genug’ hervor, Tom lässt ihn alsbald los und sagt: „Jetzt hast du’s, das nächstemal pass‘ auf, mit wem du anbindest!“

Der fremde Junge rannte heulend davon, sich den Staub von den Kleidern klopfend. Gelegentlich sah er sich um, ballte wütend die Fäuste und drohte, was er Tom alles tun wolle, „wenn er ihn wieder erwische.“ Tom antwortet darauf nur mit Hohngelächter und machte sich, wonnetrunken ob der vollbrachten Heldentat, in entgegengesetzter Richtung auf. Sobald er aber den Rücken gewandt hatte, hob der besiegte Junge einen Stein, schleuderte ihn Tom nach und traf ihn gerade zwischen den Schultern, dann gab er schleunigst Fersensgeld und lief davon wie ein Hase. Tom wandte sich und setzte hinter dem Verräter her, bis zu dessen Hause, wodurch er herausfand, wo dieser wohnte. Er pflanzte sich vor das Gitter hin und forderte den Feind auf, heraus zu kommen und den Streit aufzunehmen, der aber weigerte sich und schnitt ihm nur Grimassen durch das Fenster. Endlich kam die Mutter des Feindes zum Vorschein, schalt Tom einen bösen, ungezogenen, gemeinen Buben und hiess ihn sich fort machen. Tom trollte sich also, brummte aber, er wollte es dem Affen schon noch zeigen.

Erst sehr spät kam er nach Hause und als er vorsichtig zum Fenster hinein klettern wollte, stiess er auf einen Hinterhalt in Gestalt der Tante. Als diese dann den Zustand seiner Kleider gewahrte, gedieh ihr Entschluss, seinen freien Sonnabend in einen Sträflingstag bei harter Arbeit zu verwandeln, zu eiserner Festigkeit.

Zweites Kapitel

Der Sonnabend-Morgen tagte, die ganze sommerliche Welt draussen war sonnig und klar, sprudelnd von Leben und Bewegung. In jedem Herzen schien’s zu tlingen und zu singen und wenn das Herz jung war, trat der Klang unversehens auf die Lippen. Freude und Lust malte sich in jedem Antlitz, jeder Schritt war beflügelt. Die Akazien blühten und erfüllten mit ihrem köstlichen Duft rings alle Lüfte.

Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Tünche und einem langstieligen Pinsel. Er stand vor dem Zaun, besah sich das zukünftige Feld seiner Tätigkeit und es war ihm, als schwände mit einem Schlage alle Freude aus der Natur. Eine tiefe Schwermut bemächtigte sich seines ahnungsvollen Geistes. Dreissig Meter lang und neun Fuss hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und fuhr damit über die oberste Planke, wiederholte das Manöver einmal und noch einmal. Dann verglich er die unbedeutende übertünchte Strecke mit der Riesenausdehnung des noch ungetünchten Zaunes und liess sich entmutigt auf ein paar knorrigen Baumwurzeln nieder. Jim, der kleine Nigger, trat singend und springend aus dem Hoftor mit einem Holzeimer in der Hand. Wasser an der Dorfpumpe holen zu müssen, war Tom bis jetzt immer gründlich verhasst gewesen, in diesem Augenblick dünkte es ihm die höchste Wonne. Er erinnerte sich, dass man dort immer Gesellschaft traf; Weisse, Mulatten und Nigger-Jungen und Mädchen waren da stets zu finden, die warteten, bis die Reihe an sie kam und sich inzwischen ausruhten, mit allerlei handelten oder tauschten, sich zankten, rauften, prügelten und dergleichen Kurzweil trieben. Auch durfte man Jim mit seinem Eimer Wasser nie vor Ablauf einer Stunde zurück erwarten, obgleich die Pumpe kaum einige hundert Schritte vom Haus entfernt war und selbst dann musste gewöhnlich noch nach ihm geschickt werden. Ruft also Tom:

„Hör’, Jim, ich wilt das Wasser holen, streich‘ du hier ein bisschen an.“

Jim schüttelte den Dickkopf und sagte:

„Nir das können, junge Herr Tom. Alte Tante sagen, Jim sollen nix tun andres als Wasser holen, sollen ja nix anstreichen. Sie sagen, junge Herr Tom wohl werden fragen Jim, ob er wollen anstreichen, aber er nix sollen es tun — ja nix sollen es tun.“

„Ach was, Jim, lass dir nichts weiss machen, so redet sie immer. Her mit dem Eimer, ich bin gleich wieder da. Sie merkt’s noch gar nicht.“

„Jim sein so bange, er’s nix wollen tun. Alte Tante sagen, sie ihm reissen Kopf ab, wenn er’s tun.“

„Sie! O Herr Jemine, die kann ja gar niemand ordentlich durchhauen, — die fährt einem ja nur mit der Hand über den Kopf, als ob sie streicheln wollte, und ich möchte‘ wissen, wer sich daraus was macht. Ja, schwatzen tut sie von durchhauen und allem, aber schwatzen tut nicht weh, — das heisst, so lang sie nicht weint dazu. Jim, da, ich schenk dir auch ‘ne grosse Murmel, — da und noch ‘nen Gummi dazu!“

Jim schwankte.

„‘nen Gummi, Jim, und was für ein Stück, sieh mal her!“

„O, du meine alles! Sein das prachtvoll Stück Gummi. Aber, junge Herr Tom, Jim sein so ganz furchtbar bange vor alte Tante!“

Jim aber war auch nur ein schwacher Mensch, — diese Versuchung erwies sich als zu stark für ihn. Er stellte seinen Eimer hin und streckte die Hand nach dem verlockenden Gummi aus. Im nächsten Moment flog er jedoch, laut aufheulend, samt seinem Eimer die Strasse hinunter, Tom tünchte mit Todesverachtung drauf los und Tante Polly zog sich stolz vom Schlachtfeld zurück, Pantoffel in der Hand, Triumph im Auge.

Toms Eifer hielt nicht lange an. Ihm fiel all das Schöne ein, das er für diesen Tag geplant und sein Kummer wuchs immer mehr. Bald würden sie vorüber schwärmen, die glücklichen Jungen, die heute frei waren, auf die Berge, in den Wald, zum Fluss, überall hin, wo’s schön und herrlich war. Und wie würden sie ihn höhnen und auslachen und verspotten, dass er dableiben und arbeiten musste, — schon der Gedanke allein brannte ihn wie Feuer. Er leerte seine Taschen und musterte seine weltlichen Güter, — alte Federn, Glas- und Steinkugeln, Marken und sonst allerlei Kram. Da war wohl genug, um sich dafür einen Arbeitstausch zu verschaffen, aber keineswegs genug, um sich auch nur eine knappe halbe Stunde voller Freiheit zu erkaufen. Seufzend wanderten die beschränkten Mittel wieder in die Tasche zurück und Tom musste wohl oder übel die Idee fahren lassen, einen oder den anderen der Jungen zur Beihilfe zu bestechen. In diesem dunklen hoffnungslosen Moment kam ihm eine Eingebung! Eine grosse, eine herrliche Eingebung! Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich still und emsig an die Arbeit. Da tauchte Ben Rogers in der Entfernung auf, Ben Rogers, dessen Spott er von allen gerade am meisten gefürchtet hatte. Ben’s Gang, als er so daher kam, war ein springender, hüpfender kurzer Trab, Beweis genug, dass sein Herz leicht und seine Erwartungen hoch gespannt waren. Er biss lustig in einen Apfel und liess dazu in kurzen Zwischenpausen ein langes, melodisches Geheul ertönen, dem allemal ein tiefes gezogenes ding—dong—dang, ding—dong—dang folgte. Er stellte nämlich einen Dampfer vor. Als er sich Tom näherte, gab er Halb-Dampf, hielt sich in der Mitte der Strasse, wandte sich stark nach Steuerbord und glitt drauf in stolzem Bogen dem Ufer zu, mit allem Aufwand von Pomp und Umständlichkeit, denn er stellte nichts Geringeres vor als den ,Grossen Missouri‘ mit neun Fuss Tiefgang. Er war Schiff, Kapitän, Mannschaft, Dampfmaschine, Glocke, alles in allem, stand also auf seiner eigenen Schiffsbrücke, erteilte Befehle und führte sie aus.

„Halt, stoppen! Klinge—linge—ling.“ Der Hauptweg war zu Ende und der Dampfer wandte sich langsam dem Seitenweg zu. „Wenden! Klingelingeling!“ Steif liess er die Arme an den Seiten niederfallen. „Wenden Steuerbord! Klingelingeling! Tschu! tsch—tch—u—tschu!“

Nun beschrieb der rechte Arm grosse Kreise, denn er stellte ein vierzig Fuss grosses Rad vor. „Zurück, Badbord! Klingelingeling! Tschu—tsch—tschu—u—sch!“ Der linke Arm begann nun Kreise zu beschreiben.

„Steuerbord stoppen! Lustig, Jungens! Anker auf — nieder! Klingeling! Tsch—tschuu—tschtu! Los! Maschine stoppen! He, Sie da! Scht—sch—tscht!“ (Ausströmen des Dampfes.)

Tom tűnchte währenddessen und liess den Dampfer, Dampfer sein. Ben starrte ihn einen Augenblick an und grinste dann:

„Hi—hi! Festgenagelt — äh?“

Keine Antwort. Tom schien seinen letzten Strich mit dem Auge eines Künstlers zu prüfen, dann fuhr er zart mit dem Pinsel noch einmal drüber und übersah das Resultat in derselben kritischen Weise wie zuvor. Ben marschierte nun neben ihm auf. Toms Mund wässerte nach dem Apfel, er hielt sich aber tapfer an die Arbeit. Sagt Ben:

„Hallo, alter Junge, Strafarbeit, ja?“

„Ach, du bist’s, Ben, ich hab’ gar nicht aufgepasst!“

„Hör du, ich geh schwimmen, willst du vielleicht mit? Aber gelt, du arbeitst lieber, natürlich, du bleibst viel lieber dagelt?“

Tom mass ihn erstaunt von oben bis unten.

„Was nennst du eigentlich arbeiten?“

„W—was? Ist das keine Arbeit?“

Tom tauchte seinen Pinsel wieder ein und bemerkte gleichgültig:

„Vielleicht — vielleicht auch nicht! Ich weiss nur soviel, dass das dem Tom Sawyer passt.“

„Na, du willst mir doch nicht weiss machen, dass du’s zum Vergnügen tust?“

Der Pinsel ftrich und strich.

„Zum Vergnügen? Na, seh’ nicht ein, warum nicht. Kann unser einer denn alle Tag ‘nen Zaun anstreichen?“

Das warf nun ein neues Licht auf die Sache. Ben überlegte und knupperte an seinem Apfel. Tom fuhr sachte mit seinem Pinsel hin und her, trat dann zurück, um die Wirkung zu prüfen, besserte hie und da noch etwas nach, prüfte wieder, alles ohne sich im geringsten um Ben zu kümmern. Dieser verfolgte jede Bewegung, eifriger und eifriger mit steigendem Interesse. Sagt er plötzlich:

„Du, Tom, lass mich ein bisschen streichen!“

Tom überlegte, schien nachgeben zu wollen, gab aber diese Absicht wieder auf: „Nein, nein, das würde nicht gehen, Ben, wahrhaftig nicht. Weisst du, Tante Polly nimmt’s besonders genau mit diesem Zaun, so dicht bei der Strasse, siehst du. Ja, wenns irgendwo dahinten wär’, da läg nichts dran, — mir nicht und ihr nicht — so aber! Ja, sie nimmt’s ganz ungeheuer genau mit diesem Zaun, der muss ganz besonders vorsichtig gestrichen werden, — einer von hundert Jungen vielleicht, oder noch weniger, kann’s so machen, wie’s gemacht werden muss.“

„Nein, wirklich? Na, komm, Tom, lass mich’s probieren, nur ein ganz klein bisschen. Ich liess dich auch dran, Tom, wenn ich’s zu tun hätte!“

„Ben, wahrhaftig, ich tät’s ja gern, aber Tante Polly — Jim hat’s tun wollen und Sid, aber die haben’s beide nicht gedurft. Siehst du nicht, wie ich in der Klemme stecke? Wenn du nun anstreichst und ‘s passiert was und der Zaun ist verdorben, dann —“

„Ach, Unsinn, ich will’s schon recht machen. Na, gib her, — wart‘, du kriegst auch den Rest von meinem Apfel; ‘s ist freilich nur noch der Butzen, aber etwas Fleisch sitzt doch noch drum.“

„Na, denn los! Nein, Ben, doch nicht, ich hab’ Angst, du —“

„Da hast du noch ‘nen ganzen Apfel dazu!“

Tom gab nun den Pinsel ab, Widerstreben im Antlitz, Freude im Herzen. Und während der frühere Dampfer Grosser Missouri‘ im Schweisse seines Angesichts drauf los strich, sass der zurückgetretene Künstler auf einem Fässchen im Schatten dicht dabei, baumelte mit den Beinen, verschlang seinen Apfel und brütete über dem Gedanken, wie er noch mehr Opfer in sein Netz zöge. An Material dazu war kein Mangel. Jungen kamen in Menge vorüber. Sie kamen um zu spotten und blieben um zu tünchen! Als Ben müde war, hatte Tom schon Kontrakt gemacht mit Billy Fischer, der ihm einen fast neuen, nur wenig geflickten Drachen bot. Dann trat Johnny Miller gegen eine tote Ratte ein, die an einer Schnur zum Hin- und Herschwingen befestigt war und so weiter und so weiter, Stunde um Stunde. Und als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen, war aus Tom, dem mit Armut geschlagenen Jungen mit leeren Taschen und leeren Händen, ein im Reichtum förmlich schwelgender Glücklicher geworden. Er besass ausser den Dingen, die ich oben angeführt, noch zwölf Steinkugeln, eine freilich schon etwas stark beschädigte Mundharmonika, ein Stück blaues Glas, um die Welt dadurch zu betrachten, ein halbes Blasrohr, einen alten Schlüssel und nichts damit aufzuschliessen, ein Stück Kreide, einen halb zerbrochenen Glasstöpsel von einer Wasserflasche, einen Bleisoldaten, ein Stück Seil, sechs Zündhütchen, ein junges Kätzchen mit nur einem Auge, einen alten messingnen Türgriff, ein Hundehalsband ohne Hund, eine Messerklinge, vier Orangenschalen und ein altes, wackeliges Stück Fensterrahmen. Dazu war er lustig und guter Dinge, brauchte sich gar nicht weiter anzustrengen die ganze Zeit über und hatte mehr Gesellschaft beinahe, als ihm lieb war. Der Zaun wurde nicht weniger als dreimal vollständig überpinselt und wenn die Tünche im Eimer nicht ausgegangen wäre, hätte er zum Schluss noch jeden einzelnen Jungen des Städtchens bankerott gemacht.

Unserm Tom kam die Welt gar nicht mehr so traurig und öde vor. Ohne es zu wissen hatte er ein tief in der menschlichen Natur wurzelndes Gesetz entdeckt, die Triebfeder zu vielen, vielen Handlungen. Um das Begehren eines Menschen, sei er nun erwachsen oder nicht, — das Alter macht in dem Fall keinen Unterschied — also, um eines Menschen Begehren nach irgend etwas zu erwecken, braucht man ihm nur das Erlangen dieses ,etwas‘ schwierig erscheinen zu lassen. Wäre Tom ein gewiegter, ein grosser Philosoph gewesen, wie zum Beispiel der Schreiber dieses Buches, er hätte daraus gelernt, wie der Begriff von Arbeit einfach darin besteht, dass man etwas tun muss, dass dagegen Vergnügen das ist, was man freiwillig tut. Er würde verstanden haben, warum künstliche Blumen machen oder in einer Tretmühle gehen ,Arbeit‘ heisst, während Kegel schieben im Schweisse des Angesichts oder den Mont-Blanc erklettern lediglich als Vergnügen gilt. Ja, ja, wer erklärt diese Widersprüche in der menschlichen Natur! —

Drittes Kapitel

Tom erschien vor Tante Polly, die am offenen Fenster eines Hinterzimmers sass, das Schlaf-, Wohn-, Esszimmer, Bibliothek, alles in sich vereinigte. Die balsamische Sommerluft, die friedliche Ruhe, der Blumenduft, das einschläfernde Summen der Bienen, alles hatte seine Wirkung auf sie ausgeübt, — sie war über ihrem Stridstrumpf eingenickt in Gesellschaft der Katze, die auf ihrem Schosse friedlich schlummerte. Die Brille war zur Sicherheit ganz auf den alten, grauen Kopf geschoben. Sie war fest überzeugt gewesen, dass Tom längst durchgebrannt sei und wunderte sich nun nicht wenig, als er sich jetzt so furchtlos ihrer Macht überlieferte:

„Darf ich jetzt gehen und spielen, Tante?“ fragte er.

„Was — schon? Ei, wie weit bist du denn?“

„Fertig, Tante.“

„Tom, schwindle nicht, du weisst, das kann ich nicht vertragen.“

„Gewiss und wahrhaftig, Tante, ich bin fertig.“

Tante Polly schien nur wenig Zutrauen zu der Angabe zu hegen, denn sie erhob sich, um selbst nachzusehen; sie wäre froh und dankbar gewesen, hätte sie nur zwanzig Prozent von Toms Aussage bestätigt gefunden. Als sie aber nun den ganzen Zaun getüncht fand und nicht nur so einmal leicht überstrichen, sondern sorgsam mit einer festen, tadellosen Lage Tünche versehen, da kannte ihr Erstaunen, ihre freudige Verund Bewunderung keine Grenzen.

„Na, so was!“ stiess sie fast atemlos hervor. „Arbeiten kannst du, wenn du willst, Tom, das muss dir dein Feind lassen. Selten genug freilich willst du einmal,“ schwächte sie ihr Kompliment ab. „Aber nun geh’ und spiel’, mach’ dich flink fort. Dass du mir aber vor Ablauf einer Woche wieder kommst, hörst du, sonst gerb’ ich dir das Fell doch noch durch!“

Sie war aber so gerührt von seiner Heldentat, dass sie ihn zuerst noch mit in die Speisekammer nahm und einen herrlichen, dicken, rotbackigen Apfel auslas, den sie ihm einhändigte, daran den salbungsvollen Hinweis knüpfend, wie Verdienst und ehrliche Anstrengung den Genuss einer Gabe erhöht, die man als Lohn der Tugend erworben, nicht durch sündige Tücke. Und während sie die Predigt mit einer ebenso passend als glücklich gewählten Schriftstelle schloss, hatte Tom hinterrücks ein Stückchen Kuchen stibitzt, um sich den Lohn der Tugend wie die Errungenschaft fündiger Tücke ganz gleich gut schmecken zu lassen.

Dann schlüpfte er hinaus und sah gerade, wie Sid die Aussentreppe, die zu dem Hinterzimmer des zweiten Stocks führte, hinauf huschte. Erdklumpen waren zur Hand und im Moment war die Luft voll davon. Sie flogen um Sid wie ein Hagelwetter, und ehe noch Tante Polly ihre überraschten Lebensgeister sammelte oder zu Hilfe kommen konnte, hatten sechs oder sieben ihr Ziel getroffen, Sid brüllte und Tom war über den Zaun gesetzt und verschwunden. Es gab freilich auch ein Tor, aber für gewöhnlich konnte es Tom aus Mangel an Zeit nicht benutzen. Nun hatte seine Seele Ruhe, jetzt hatte er abgerechnet mit Sid und ihm die Verräterei mit dem schwarzen Zwirn heimgezahlt. Der würde ihn nicht so bald wieder in Ungelegenheiten zu bringen wagen!

Tom schlich auf Umwegen hinter dem Stalle, um Haus und Hof herum, bis er ausser dem Bereich der Gefangennahme und Abstrafung war, dann setzte er sich eiligst nach dem Hauptplatz des Städtchens in Trab, wo der Verabredung gemäss zwei feindliche Heere sich eine Schlacht liefern sollten. Tom war General der einen Armee, Joe Harper, sein Busenfreund, General der zweiten. Die beiden ruhmgekrönten, grossen Anführer liessen sich aber nicht zum Fechten sahen sie nur von ferne zu, von irgend einer Erhöhung herab, und leiteten die Bewegungen der kämpfenden Heere durch Befehle, welche Adjuanten überbringen mussten. Nach Lngwm, heissem Kampfe trug Toms Schar den Sieg davon. Nun wurden die Toten gezählt, Gefangene ausgetauscht, die Bedingungen zum nächsten Streit vereinbart und der Tag für die daraus notwendig sich ergebende Schlacht festgesetzt, die Armen lösten sich aug und Tom marschierte allein heimwärts.

Als er am Hause des Bürgermeisters vorüber kam, sah er ein fremdes kleines Mädchen im Garten, ein liebliches, zartes, blauäugiges Geschöpf mit langen gelben, in zwei dicke Schwänze geflochtenen Haaren, weissem Sommerkleid und gestickten Höschen. Der ruhmgerkrönte Held fiel ohne Schuss und Strich. Eine gweisse Anny Lorenz verschwand aus seinem Herzen, ohne auch nur einen Schatten ihrer selbst zurück zu lassen. Tom hatte seine Liebe zu besagter Anny für verzehrende Feuersglut gehalten und nun war es nur noch ein liese flackerndes, verlöschendes Flämmchen. Monate lang hatte er um sie gewerben, vor einer Woche erst hatte sie ihm ihre Gegenliebe gestanden, sieben Tage lang war er der stolzeste, glücklichste Junge des Städtchens gewesen und jetzt — im Umdrehen hatte sie sich empfohlen aus seindm Herzen, wie irgend ein fremder Besycg, dessen zeit um ist.

Mit verstohlenen Blicken verfolgte Tom den neu auftauchenden Engel, bis bemerkte, dass sie ihn entdeckt hatte. Jetzt tat er, als ob er sie gar nicht sähe und begann nach echter Jungenart, sich zu zeigen’, in der Absicht, ihre Bemunderung zu erringen. Eine Zeitlang trieb er es so fort, aber mitten in irgend einer halsbrecherischen, gymnastischen Leistung schielte er seitwärts und bemerkte, dass die Holde sich dem Hause zuwandte. Er brach ab und sprang auf den Zaun zu, voller Besauern und in Hoffnung, dass sie doch noch ein wenig länger verweilen werde. Einen Moment blieb sie auf den Stufen stehen, näherte sich dann aber schnell der Türe. Tom stiess einen schweren, schallenden Seufzer aus, als ihr Fuss die Schwelle berührte, im selben Moment aber erhellte sich sein melancholisches Antlitz, — sie hatte ein Stiefmütterchen über den Zaun geworfen im Augenblick, da sie verschwand. Der Junge rannte drauf los, blieb aber einen oder zwei Fuss von der Blume entfernt stehen, beschattete die Augen mit der Hand und tat, als habe er, weit da unten in der Strasse, etwas von grossem Interesse entdeckt. Gleich danach raffte er einen Strohhalm vom Boden auf, um ihn auf der Nase zu balancieren, indem er den Kopf weit zurück warf, und als er sich dabei hin und her bewegte, rückte er der Blume immer näher. Schliesslich berührte er sie mit seinem nackten Fusse, seine geschmeidigen Zehen umschlossen sie, auf einem Bein hüpfte er fort mit dem eroberten Schatze und verschwand um die nächste Ecke. Aber nur für eine Minute, — nur bis er die Blume an seinem Herzen geborgen hatte oder auch an seinem Magen vielleicht, — Tom war nicht sehr bewandert in der Anatomie und jedenfalls nicht allzu kritisch.

Jetzt kehrte er zu seinem früheren Standorte zurück und trieb sich am Zaun herum, bis die Nacht hereinbrach, immer von Zeit zu Zeit seine Kunststücke loslassend. Die blonde Schöne aber zeigte sich nicht wieder und Tom tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie sicher hinter irgend einem der Fenster gestanden habe und seine Aufmerksamkeiten also nicht auf dürren Boden gefallen seien. Endlich bequemte er sich widerstrebend zum Abzug, Kopf und Sinn voll wunderbarer Visionen.

Während des ganzen Abendessens war er in solch gehobener Stimmung, dass seine Tante nicht klug draus wurde, „was zum Kuckuck in den Jungen gefahren sei!“ Den Ausputzer, den er für Sids Beschiessung mit Erdklumpen erhielt, nahm er mit Lammesgeduld entgegen und schüttelte ihn ebenso schnell wieder ab. Er probierte, der Tante vor der Nase weg Zucker zu stibitzen, und kriegte dafür ordentlich auf die Pfoten. Vorwurfsvoll meinte er:

„Tante, du klopfst doch den Sid nicht, wenn er Zucker nascht.“

„Der quält mich auch nicht so wie du. Was, ei wenn ich dir nicht aufpasste, du stecktest den ganzen Tag in der Zuckerdose!“

Gleich danach wollte sie in der Küche etwas holen und ging hinaus. Sid, im Gefühl seiner Unstrafbarkeit, langte nach der Zuckerdose mit einer Überhebung, die Tom unerträglich dünkte. Aber weh! — Sids Hand zitterte, die Dose entglitt den haltenden Fingern, fiel zu Boden und zerbrach. Tom triumphierte, —triumphierte so, dass er sich bezwang, seine Zunge im Zaum hielt und atemlos, erwartungsvoll schwieg. Er gelobte sich innerlich, kein Wort zu sagen, selbst wenn die Tante wieder herein käme, sondern sich ganz stille zu verhalten, bis sie frage, wer das Unheil angestellt, dann würde er berichten und welche Wonne, wenn der geliebte ,Musterjunge’ auch einmal was Ordentliches abkriegte. Er platzte beinahe vor Ungeduld und konnte sich kaum auf dem Stuhl halten, als nun die alte Dame hereintrat und sprachlos, Wutblitze unter ihrer Brille hervorschleudernd, vor den Trümmern stand. „Jetzt kommt’s, jett geht’s los,“ frohlockte er. Im nächsten Moment fühlte er sich gepackt, zu Boden geworfen und schon hob sich die strafende Faust zum zweitenund drittenmal über seinem südlichen Rückenende, ehe er, sprachlos vor Überraschung und Entrüstung, Worte fand:

„Lass los, Tante, was haust du mich denn? Sid hat’s ja getan!“

Tante Pollys erhobene Faust sank noch einmal mechanisch mit klatschendem Schlag, dann hielt sie ein, erstaunt, verwirrt, während Tom, eines Ausbruchs tröstenden, selbstanklagenden Mitleids gewärtig, vorwurfsvoll zu ihr emporstarrte. Aber alles, was sie sagte, als sie zu Atem kam, war:

„Na, Gott weiss, an dir ist kein Schlag verloren, das ist mein Trost. Nimm’s einstweilen als Abschlagszahlung, hörst du!“

Danach aber empfand sie doch Gewissensbisse und ihr gutes, weiches Herz sehnte sich, dem armen, unschuldig Gezüchtigten ein liebevolles Wort zu sagen. Aus Rücksichten der Disziplin aber enthielt sie sich jeder Zusprache, die ihr doch nur als ein Eingeständnis des Unrechts ausgelegt worden wäre. So schwieg sie denn und ging bekümmerten Herzens ihrer Arbeit nach. Tom schmollte in einem Winkel und steigerte seine Leiden ins Unendliche. Er wusste, dass die Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag und dies Bewusstsein tat ihm wohl bis in die kleine Zehe. Er wollte sich um niemanden, niemanden mehr kümmern. Er fühlte, wie ihn von Zeit zu Zeit ein sehnsüchtiger, tränenverschleierter Blick traf, er aber tat, als merke er nichts und brüte nur stumm vor sich hin. Er sah sich krank, sterbend auf seinem Bette hingestreckt. Die Tante beugte sich über ihn und flehte händeringend, um ein einziges, kleines, armes Wort der Vergebung. Er aber wandte das Gesicht ab, stumm, tränenlos und starb, — starb und das Wort der Vergebung blieb ungesagt. Was würde sie dann tun? — Oder er sah sich, wie man ihn vom Fluss zurück brachte, tot, mit triefenden Haaren, blassem, stillem Antlitz, endlich Ruhe und Frieden im armen, gequälten Herzen — für immer. Wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen stromweise fliessen und sie Gott anrufen, ihren armen Jungen wieder lebendig zu machen, den sie auch nie, nie wieder misshandeln wolle. Er aber läge da, talt und still, ein armer Märtyrer, dessen Leiden zu Ende. — So arbeitete er sich dermassen in Jammer und Elend hinein, dass er beinahe in Schluchzen ausgebrochen wäre und am Zurückdrängen desselben fast erstickte. Tränen standen in seinen Augen und alles erschien ihm in einem wässerigen Nebel. Wenn er mit den Augen zwinkerte, kamen die Tropfen langsam die Nase herab und träufelten von der Spitze hernieder. Dabei fühlte er sich so wohl in seinem Schmerz, dass er ihn ängstlich vor der profanen Lust, dem lärmenden Getriebe der Welt da draussen behütete. Als sein Bäschen Mary, die acht Tage auf dem Lande zu Besuch gewesen war, glückselig nach der ,langen Abwesenheit’ zur einen Tür herein tanzte, wie lauter Licht und Sonnenschein, entschlüpfte Tom in Nebel und Wolken gehüllt durch die andere. Weit in die Einsamkeit wanderte er hinweg. Ein Floss lockte ihn; er setzte sich darauf und starrte in die Wellen des Stromes. Wenn er nur auf einmal tot und ertrunken sein könnte, ohne etwas davon zu wissen, ohne erst all das viele Wasser zu schlucken! Dann dachte er an seine Blume, entnahm sie seinem Busen, ver welkt, zerknittert und ihr Anblick erhöhte noch sein wonniges Schmerzgefühl. Ob sie ihn wohl bemitleiden würde, wenn sie es wüsste? Oder würde auch sie sich abwenden wie die übrige schnöde Welt? Wieder verlor er sich in einem Labyrinth von Träumen und erhob sich zuletzt seufzend, um in die Dunkelheit hinein zu wandern. Um zehn, halb elf schlich er die stille Strasse hinunter, in der die vergötterte Unbekannte wohnte. An ihrer Türe hielt er an. Kein Laut traf sein lauschendes Ohr, nur aus einem Fenster des zweiten Stockes kam der trübe Schein eines einsamen Talglichts. War dort der geheiligte Raum, der sie umschloss? Er kletterte über den Zaun und stahl sich lautlos bis unter jenes Fenster. Voll Rührung schaute er hinan, dann streckte er sich der Länge lang auf den Boden aus, die Hände, welche die verwelkte Blume umschlossen, auf der Brust faltend. So wollte er sterben, — draussen in der kalten Welt, kein Dach über seinem heimatlosen Haupte, keine Freundeshand, die ihm den Todesschweiss von der Stirne wischte, kein liebendes Antlitz, das sich mitleidsvoll über ihn beugte, wenn der letzte, grosse Kampf nahte. So sollte sie ihn sehen, wenn sie das Fenster öffnete, um dem jungen Morgen zuzulächeln und ach — würde sie wohl dem Toten eine Träne weihen, einen Seufzer hauchen über den leblosen stillen Rest, der alles war, was von dem frohen, jugendfrischen, vor der Zeit in der Wurzel geknickten, jungen Leben geblieben?

Das Fenster öffnete sich. Die schrille Stimme einer Magd entweihte die geheiligte Stille und eine Sündflut von Wasser durchtränkte die Gebeine des dahingestreckten Märtyrers.

Prustend und keuchend sprang unser Held auf und schüttelte sich heftig. Ein Wurfgeschoss durchschwirrte die Luft, untermischt mit einem halblauten Fluche, worauf ein klirrendes Splittern von Glas folgte. Eine kleine, undeutliche Gestalt kletterte eiligst über den Zaun und schoss in die Dunkelheit hinein.

Nicht lange danach, als Tom beim Schein eines Lichtstümpchens seine durchnässten Kleider besichtigte, erwachte Sid. Wenn der nun vorher die Absicht gehabt hatte, allerlei unliebsame Anspielungen zu machen, so besann er sich jetzt wohlweislich eines besseren und hielt Frieden, — es blitzte Gefahr in Toms Auge. Dieser aber troch ins Bett ohne weitere unangenehme Förmlichkeiten wie Waschen oder Beten, wovon sich Sid im Geiste getreulich Notiz machte, und die Stille der Nacht umfing das Brüderpaar.

Viertes Kapitel

Die Sonne ging auf über der sonntäglich ruhigen Welt und strahlte nieder auf das friedliche Städtchen, wie ein Segen von oben. Als das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familienandacht. Sie begann mit einem Gebete, das sich ganz und gar aus festen Schichten biblischer Kraftstellen auferbaute, die nur durch einen dünnen, spärlichen Mörtel eigener Gedanken zusammen gehalten wurden. Auf den Zinnen dieses stolzen Baues angelangt, krönte sie das Ganze mit einem dräuenden Kapitel des Mosaischen Gesetzes, als stünde sie auf dem Berge Sinai selber.

Danach gürtete Tom seine Lenden sozusagen und ging ans Werk, sich die Bibelsprüche ,einzupauken’, Sid, der Musterknabe, hatte seine Lektion schon vor mehreren Tagen gelernt. Tom warf sich mit ganzer Energie auf die Erlernung von fünf Versen und wählte diese aus der Bergpredigt, da er keine kürzeren finden konnte.