Tortured - Carolin Held - E-Book

Tortured E-Book

Carolin Held

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Beschreibung

Cars Umzug ist drei Monate her. Und genauso lang hat sie schon denjenigen nicht mehr gesehen, der für den Vorfall verantwortlich ist, der ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat... zumindest im echten Leben. Doch dem Verfolger in ihrem Kopf kann sie nicht entfliehen. In der Geschichte begleitet man Car auf ihrer Reise von einem von psychischen Leiden geprägten Leben zurück zu dem Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 1

Die Tür fällt – nein, kracht – hinter mir ins Schloss und in einer einzigen Bewegung pfeffere ich meinen Rucksack in die nächste Ecke und lasse mich mit dem Rücken auf mein Bett fallen. Ich seufze. Atme. Einmal. Zweimal. Dann richte ich mich wieder auf. Schlüpfe aus meinen Schuhen, kicke sie in ihre Ecke und ziehe auch die Jacke aus. Dann lasse ich mich sofort wieder in die Kissen sinken und starre an die Decke.

Immer, wenn ich zur Ruhe komme, ist der Gedanke an dich sofort da. Selbst in dieser fremden Stadt, in der ich so weit weg von dir bin wie es mir möglich erscheint. Bielefeld. Ich schnaube leicht. Bielefeld gegen Bochum. Das ist nicht weit genug.

„Kuscheln?“ Ich weiß genau, dass du nicht wirklich da bist, und trotzdem drehe ich meinen Kopf nach rechts, um dem Klang deiner vermeintlichen Stimme zu folgen.

„Lass mich in Ruhe“, murmele ich.

„Du willst in meinen Arm“, antwortet die Halluzination, die ich in Gedanken immer „deinen Geist“ nenne. Dein Geist liegt seitlich, den Kopf auf der Hand abgestützt und sieht mich beinahe herausfordernd an.

Ich richte mich wieder auf. „Lass mich in Ruhe“, wiederhole ich und denke nicht zum ersten Mal, dass meine Nachbarn mich für bekloppt halten müssen. Was ich wahrscheinlich auch bin. Schließlich kann ich mich nicht dagegen wehren – ich rede mit der Luft.

Er – dein Geist – will gerade vorstürzen, einen kurzen Augenblick lang kann ich etwas in seiner Hand aufblitzen sehen, da rettet mich das Klingeln meines Handys und er verschwindet. Kurz bin ich zusammengezuckt, dann bin ich wieder allein in meiner 1-Zimmer-Wohnung. Schnell öffne ich die Nachricht auf meinem Handy, die den Gedanken an dich und damit auch deinen Geist vertrieben hat. Die Nachricht ist von Jonas – er ist der erste, der mich nach dir berühren durfte… so… richtig. „Training fällt aus. Bin heute Abend zu haben. Kommst du vorbei?“

Darauf konnte er aber Gift nehmen.

Der Wecker braucht nie lange, um mich wach zu bekommen. Ein Klirren und ich öffne die Augen. Jonas‘ Körper drückt sich von hinten gegen meinen, seine Arme sind fest um mich geschlungen. Ich winde mich leicht, strecke einen Arm aus, um nach meinem Handy zu greifen und den Wecker auszuschalten. 9:45 Uhr.

„Hmmmm“, gibt Jonas ein schwaches Lebenszeichen von sich, während ich mich schon aus seiner Umarmung schäle und im Bett aufsetze. „Guten Morgen“, sagt er schlaftrunken.

„Guten Morgen“, antworte ich, stehe auf, drehe mich zu ihm um und drücke ihm einen Kuss auf den Mund. „Ich muss zur Uni.“

Jonas öffnet die Augen und blinzelt mich ein paar Mal an. Dann greift er nach meinem Handgelenk und zieht mich zu sich. Ich lache kurz, bevor ich ihn noch einmal küsse. Noch einmal. Seine Lippen werden fordernder, während seine Hand von meinem Handgelenk in meinen Nacken wandert und mich dort so festhält, dass ich kaum zurückweichen kann. Kurz überkommt mich ein Schauer. Dann stemme ich mich gegen die Kraft, die er in seiner Hand aufwendet und schließe meinen Mund. „Ich muss zur Uni“, wiederhole ich.

Jonas lacht kurz, seine Stimme klingt tief und rau. „Nur kurz, Car“, haucht er und spätestens, als er meinen Namen sagt, mit dieser verdammt unwiderstehlichen Stimme, gebe ich nach.

Car – der Name, mit dem ich mich inzwischen vorstelle. Nicht mehr Ricarda. Du hast mich immer nur beim vollen Namen genannt. Und jetzt hasse ich es, wenn Leute das tun. Car – das klingt so viel schöner. So viel echter.

Innerhalb von einer Sekunde hat Jonas mich dazu gebracht, auf ihm zu knien, nur um mich dann mit einem Ruck auf den Rücken unter ihn zu befördern. Beide meine Handgelenke landen übereinander gekreuzt über meinem Kopf und in einer Schlinge, die am Kopfende befestigt wird. Die Bewegungen passieren schnell und eingeübt.

Genau das liebe ich so an Jonas. Ich liebe nicht ihn – nicht so, wie ich dich geliebt habe. Er ist nicht mein Freund. Ehrlich gesagt... ist er vielleicht nicht mal wirklich ein Freund. Er ist nur… dominant. Kräftig. Männlich. Jemand, dem man sich hingeben kann. Und jemand, der trotzdem aufpasst. Ein Wort von mir und meine Hände wären befreit und ich im Bett allein – oder in seinen Armen, je nachdem, was ich gerade benötigte. Nicht, dass es dazu schon einmal gekommen wäre. Mit mir kann er gnadenlos umgehen. Meine eigenen Grenzen sind schon vor langer Zeit hoffnungslos überschritten worden – da gibt es nichts mehr, was Jonas kaputter machen könnte, als es ohnehin schon ist.

Als Jonas die Schlinge um meine Hände wieder lockert und ich sie herausziehen kann, ist auf meinem Gesicht ein breites Lächeln. Wunderschön. Mit ihm ist es immer einfach nur wunderschön. Zwanglos und einfach. Und der Beweis dafür, dass mein Körper funktioniert, wie er soll.

Jonas liegt neben mir und will mich zu sich ziehen, aber ich winde mich aus der Umarmung. „Nee, kein Kuscheln mehr“, sage ich, „Uni. Echt jetzt. Ich bin eh schon zu spät.“

Jonas zieht einen Schmollmund, weshalb ich ihm noch einmal einen schnellen Kuss aufdrücke. „Nächstes Mal“, verspreche ich, springe vom Bett auf und sehe mich suchend um. „Hey, irgendeine Ahnung, wo mein Höschen hingekommen ist?“

Ich komme natürlich zu spät zu meinem Seminar, was in der Uni allerdings keinen interessiert. Immerhin wohnt Jonas direkt neben der Uni, sodass ich nicht mehr allzu weit laufen muss. Ihn habe ich übrigens genau hier kennengelernt, auf einer Party meiner Fachschaft. Ich lasse inzwischen keine Party mehr aus. Wieso auch, wenn die Alternative doch nur darin besteht, mit deinem Geist zu debattieren, ob du nun ein schlechter Mensch bist oder nicht? In der Bewegung ist dein Geist nicht da. Vielleicht ist mein Stundenplan deshalb auch in diesem Semester vollgestopfter als in jedem davor. Und vielleicht sind deshalb auch die Noten der Hausarbeiten und Klausuren am Ende des letzten Semesters trotz des doch sehr plötzlich kommenden Stadtwechels und des ständigen Ausgehens so gut ausgefallen. Lernen hält meine Gedanken auf Trab. Und jeder Gedanke, den dein Geist nicht infizieren kann, ist gut.

An diesem Tag habe ich drei Seminare, die sich alle hintereinander anreihen. Ich studiere Sozialwissenschaften und das inzwischen im vierten Semester, obwohl ich für die Fülle meines Stundenplans schon vorgesehene Inhalte des fünften Semesters vorgreife. Ich habe im letzten Monat meinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Natürlich groß mit allen Bekanntschaften, die ich in Hannover gemacht habe – inklusive Jonas. Jonas. Mein Mundwinkel zuckt leicht nach oben bei dem Gedanken an ihn. Er hat mich damals bei dieser Party ziemlich schnell überzeugen können, danach mit zu ihm zu gehen, statt mich noch in die Bahn zu setzen und zurück in meine eigene Wohnung zu fahren. Zugegebenermaßen hatte er es leicht – ich war gerade erst umgezogen – fort von dir. Dein Geist hatte so vehement auf mich eingeredet, dass du sowieso für immer der einzige für mich bleiben würdest, dass ich mehr aus Protest als aus eigenem Interesse an Jonas auf diesen einging.

„Das war zu früh“, sagt dein Geist, „du willst nur mich, gib es zu.“

Verschwinde, antworte ich in Gedanken, denn ich weigere mich, laut mit ihm zu reden, solange ich mich unter Menschen befinde. In der Uni kommt es sicher nicht gut, wenn man plötzlich anfängt, mit der Luft zu streiten. Ich bewege leicht den Kopf hin und her, als sein Atem über meinen Nacken streift. Ich hasse dieses Gefühl so sehr. Er ist nicht echt! Ich weiß es so genau und doch ist er… so real. Angestrengt lausche ich wieder meinem Dozenten, hebe die Hand und lege meine Meinung zu dem Text ab, den wir zur Sitzung vorbereiten sollten – was ich natürlich getan habe. Und mit dem Klang meiner eigenen Stimme kann ich der deines Geistes erneut entgehen.

„Kann ich vorbeikommen?“, schreibe ich Jonas nach dem letzten Seminar meines Tages. Es ist sechzehn Uhr und ich habe die jeweiligen halbstündigen Pausen zwischen den Veranstaltungen dafür genutzt, Texte für die Seminare des übernächsten Tages vorzubereiten. Die für den nächsten Tag sind bereits alle gelesen und somit bleibt mir keine Beschäftigung mehr übrig, die wertvolle Ablenkung bedeuten könnte.

„Bin noch arbeiten“, antwortet Jonas innerhalb von Sekunden. „Kannst du bis heute Abend warten?“ Dazu ein Kuss- und ein Auberginen-Emoji.

„Wann?“, antworte ich.

„19 bei dir?“

Ich seufze, dann stecke ich das Handy in die Tasche. Ich kann jetzt schon sagen, dass ich eine Panikattacke bekommen werde, die sich gewaschen hat, wenn ich es wage, die Uni zu verlassen. Noch halte ich mich in der Haupthalle auf.

„Car!“

Ich kann nicht sofort sehen, wer – ungefähr zehn Minuten später, in denen ich mich einfach nicht von der Stelle bewegt und beschäftigt wirkend auf den Sperrbildschirm meines Handys gestarrt habe – meinen „neuen“ Namen ruft, aber ich danke im Stillen Gott – oder an welche übermenschliche Macht auch immer ich glaube – dafür. Dann sehe ich suchend auf und registriere, dass Justin auf mich zukommt. Ihn kenne ich von einer Wohnheimparty in dem Gebäude, in dem auch Jonas wohnt. Mit Justin und ein paar anderen bin ich schon öfters zum Karaoke in die Stadt gefahren, Jonas selbst ist höchstens einmal dabei gewesen – er steht nicht wirklich auf diese Art von Veranstaltungen. Wenn ich so darüber nachdenke, steht er eigentlich gar nicht wirklich aufs Feiern gehen… auch die Fachschaftsparty damals ist eine Ausnahme gewesen. Vielleicht liegt das am Alter… Jonas studiert zwar noch, aber mit achtundzwanzig ist er doch ein paar Jährchen älter als ich.

„Car?“, diesmal ist Justins Aussage weniger ein fröhlicher Ausruf, sondern eher eine verwunderte Nachfrage. Kein Wunder – ich bin schließlich mal wieder total in meine Gedanken verfallen. „Hey!“, antworte ich jetzt fröhlich. „Na, hast du schon Feierabend?“

Justin wiegt den Kopf in einer Bewegung hin und her, die gleichzeitig Nicken und Kopfschütteln sein könnte. „Ich hatte gerade meine letzte Vorlesung für heute, aber Feierabend hab ich noch nicht. Ich wollte noch in die Bib gehen, ein paar Übungen aufarbeiten. Aber cool, dich mal wieder zu sehen. Was machst du so?“

„Dasselbe wie immer“, erwidere ich mit einem schiefen Grinsen und einem Schulterzucken. „Studieren, lernen, mehr studieren, Party und bei Jonas abhängen.“

„Ist das jetzt was Festes?“, fragt Justin.

„Nichts Festes“, antworte ich wahrheitsgemäß, „wird es auch nicht. Wir verstehen uns im Bett, aber Liebe wird das sicher nicht mehr.“

Womit ich recht habe. Ich bin mir nicht mal mehr sicher, ob ich das Wort „Liebe“ überhaupt jemals wieder verwenden werde. Denn für dich ist es im selben Moment gestorben, in dem das Messer an meiner Ader lag. Im selben Moment, in dem auch ich gestorben bin… Aber für jeden anderen außer dir ergibt es einfach keinen Sinn.

„Sollen wir uns mal wieder beim Karaoke treffen?“, wechsele ich ruckartig das Thema. Karaoke und Feiern – ganz mein Lebensstil, nach meinem neuen Motto: Selbst die Hölle kann Spaß machen.

„Gerne!“, antwortet Justin sofort. „Morgen ist doch wieder Karaoke im Irish Pub, oder? Ich frage Kathi und Luis, ob sie mitkommen wollen.“ Das sind seine zwei Mitbewohner.

„Abgemacht“, meine ich, dann stehe ich auf, damit wir uns zur Verabschiedung umarmen können. Als Justin in Richtung Bibliothek verschwindet, schaue ich ihm verdrossen hinterher. Mit seinem Fortgang steht dem Auftritt deines Geistes endgültig nichts mehr im Wege.

Kapitel 2

Der Schrei findet im selben Moment den lang ersehnten Weg aus meiner Kehle, in dem ich die Tür hinter mir zustoße. „Hau ab!“, brülle ich und der Klang meiner eigenen Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich beginne, in dem beengten Raum meiner Wohnung auf und ab zu laufen. Meine Schuhe bleiben dabei an… genau wie meine Jacke. Ich habe keine Zeit, anzukommen. Ich habe nicht mal Zeit, zu atmen. Der Atemhauch, den ich an meinem rechten Ohr spüre, ist nicht echt und doch fahre ich herum, schlage rudernd mit meinen Händen durch die Luft und schreie schrill und grell wie ein verängstigtes, geschlagenes Kind. „Du sollst weggehen!“

„Du weißt, dass ich gehen würde, wenn du es wirklich wolltest“, pfeift dein Geist, zuckt lässig mit den Schultern und sieht mich spitzbübisch an. „Du willst mich. Sonst wäre ich nicht hier.“

„Ich will nicht dich.“ Jedes einzelne dieser Worte klingt, als würde ich ihm damit ins Gesicht spucken wollen. „Ich will vielleicht Benno, aber ganz sicher nicht dich.“

„Ich bin das Beste, was du bekommen kannst.“

„Nicht gut genug!“, brülle ich.

„Ich bin nicht anders als er.“

„Das bist du sehr wohl! Du bist… du bist…“

„Ich bin was?“ Wieder zückt dein Geist sein geliebtes Messer und wirbelt es in seiner rechten Hand herum. „Ist es nicht das, womit ich dich verletzt habe?“, fragt er.

„Nicht du“, insistiere ich und höre endlich auf zu schreien. Meine Stimme bringt nur noch Flüstern hervor, sobald das Messer zu sehen ist. Als hätte ich zu viel Angst, laut zu sprechen. Als würde er mir sonst weh tun. Als könnte er das überhaupt. Hallo, er war verdammt nochmal nicht echt!

Im Gegensatz zu deinem Geist hast du mich nie mit einem Messer bedroht. Weil du kein schlechter Mensch bist. Du hast nur einen Unfall gebaut.

„Hm, er… ich“, dein Geist wiegt den Kopf hin und her. „Ricarda, ich verspreche dir – da gibt es keinerlei Unterschied.“

„Oh doch“, wispere ich.

Dein Geist breitet die Arme aus: „Ich kann dich auch in den Arm nehmen“, erklärt er, „ich kann für dich da sein. Du kannst alles haben, was du immer wolltest.“

Unwillkürlich weiche ich zurück, Tränen laufen jeder Kontrolle entzogen über mein Gesicht. „Nein“, wispere ich. „Du bist nicht er. Du bist schlecht. Er ist es nicht. Er ist nicht…“ Ohne es bewusst zu steuern streicht meine linke Hand über die dünne Narbe an meinem rechten Handgelenk. „Er ist nicht schlecht…“, flüstere ich weiter, obwohl die vernarbte Haut eine ganz andere Geschichte erzählt.

„Jetzt lass dich verdammt nochmal umarmen“, zischt dein Geist. Es klingt wie eine Drohung. Meine Hände sinken. Ich laufe noch einmal an der Küchenzeile auf und ab. Ich öffne Schubladen, schlage sie wieder zu. Laufe durch deinen Geist hindurch in der Hoffnung, ihn zu vertreiben. Aber er weicht aus, ist nicht erreichbar… er ist wie eine gottverdammte echte Person. Ich versuche mich daran zu erinnern, dass er mir nichts tun kann. Dass ich hier sicher bin, weil ich nicht einmal mehr in derselben Stadt bin wie du, aber nichts funktioniert.

„Genug!“, brüllt dein Geist, „dann lass dir halt nicht helfen, du bist meine Hilfe ohnehin nicht wert!“ Er stürzt auf mich zu, noch immer das verfluchte Messer in der Hand, die Miene wutverzerrt verzogen, mit noch irgendeiner anderen Emotion, die sich darunter verbirgt… Verzweiflung.

Wieder schreie ich. Keine Worte, sondern pure Angst. Und genauso abrupt, wie ich damit angefangen habe, höre ich damit auch wieder auf, weil etwas anderes meine volle Aufmerksamkeit auf sich zieht – scharfer Schmerz an meinem rechten Arm. Im selben Moment, in dem meine Augen die schmerzende Stelle fixieren, verschwindet dein Geist – löst sich einfach in Luft auf, als wäre er nie hier gewesen. „Oh, scheiße“, fluche ich leise. Ich habe ein Fleischmesser in der linken Hand. Es fällt genauso klirrend zu Boden wie dein Messer damals, ich zucke kurz zusammen, rufe mich dann zur Besinnung. Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen – ich blute. Die Wunde ist nicht tief – zum Glück. Sogar weniger tief als die ursprüngliche. Sie ist weder lebensbedrohlich noch wird sie eine tiefe Narbe hinterlassen und doch ist sie beängstigend genug. Ich reiße die Schublade auf, in der ich alles Medizinische aufbewahre, öffne eine Wundauflage, drücke sie auf den Schnitt an meinem Unterarm und beginne, einen Verband darum zu wickeln. Für den Moment bin ich allein. Die Beschäftigung sowie der Schmerz sind Freunde, die dafür sorgen. Und doch will ich nicht auffassen, was gerade passiert ist. „Er kann mir nicht weh tun“, murmele ich leise vor mich hin, was ich mir immer und immer wieder sage, wenn dein Geist auftaucht. „Von wegen.“ Er kann es zwar nicht, aber offensichtlich kann er mich dazu bringen. Ich habe bereitwillig seinen Job übernommen und es nicht einmal bemerkt. Verdammt, wann habe ich nach dem verfluchten Messer gegriffen?! Sobald mein Arm verbunden ist, greife ich nach dem Tablettenblister mit dem Neuroleptikum, das mein Hausarzt mir angedreht hat. Er möchte gerne, dass ich es jeden Tag nehme. „Ein ganz harmloses Mittel zur Beruhigung“, hat er gesagt, „so, wie Sie aussehen, mehr als angebracht.“

So, wie ich aussehe. Ich schnaube erneut leicht, als ich an meinen Arzttermin zurückdenke, der nur wenige Tage nach unserer letzten Begegnung stattgefunden hat. Ihr braucht nicht so zu tun, als würde ich mich ohne Medikamente gleich umbringen, hätte ich ihm am liebsten an den Kopf geworfen, ich will ja leben. Nur eben… nicht so. Aber ich bin stumm geblieben. Und nehme meine Medikamente so gut wie nie. Wenn ich sie nehme, habe ich das Gefühl, unter Wasser zu sein. Mir wird dann alles so… komplett egal und ganz ehrlich, da ist mir jede Diskussion mit deinem Geist lieber. Außerdem bin ich dann kaum mehr in der Lage, irgendwas zu tun… dieses verdammte Mittel macht so elendig müde. Doch jetzt spüle ich dennoch eine Tablette mit Wasser hinunter. Es geht nicht anders. Heute ist dein Geist einfach viel zu dominant. Ich bleibe noch einen Moment reglos stehen, bevor ich mich wieder zu Bewegung in der Lage fühle. Diese absolute Stille um mich herum fühlt sich befreiend und gleichzeitig tödlich an. Einen kurzen Augenblick denke ich an meine alte Wohnung in Bochum zurück. Die, die wir gemeinsam bewohnt haben. Die mir so viel mehr bedeutet hat als das schlichte einsame Ding, in dem ich jetzt hause. Wirklich viel Zeit verbringe ich ja ohnehin nicht hier. Ich schüttele den Kopf, um diese alten Bilder zu vertreiben und entsperre mein Handy. Inzwischen ist es immerhin schon 17 Uhr, ich muss also nicht mehr viel Zeit totschlagen, bis Jonas endlich auftauchen wird.

Ich entscheide mich als letzte Beschäftigung für Sport. Also zuallererst trinke ich natürlich einen halben Liter Cola, um der müde machenden Wirkung der Medizin entgegenzuwirken und dann gehe ich raus, um ein paar Kilometer zu joggen. Als wir uns noch kannten, hasste ich es, zu joggen. Jetzt ist das anders. Die Luft tut gut. Das schmerzende Seitenstechen tut gut. Genau wie die laute Metal-Musik, die ich dabei in meine Ohren dröhnen lasse. Ebenfalls kein Musikgeschmack, den du von mir kennst. Aber die einzige Musik, die auch nur die Chance hat, die Stimme deines Geistes zu übertönen. Ein Blick auf die Fitness-Uhr und ich stelle fest, dass ich doch tatsächlich ein wenig die Zeit vergessen habe. Jonas könnte jeden Augenblick auf den Vorhof meines Gebäudes biegen, besser ich beeile mich. Als ich um die letzte Straßenecke biege, pralle ich tatsächlich fast mit ihm zusammen. Ich stöpsele die Kopfhörer aus meinen Ohren und grinse den noch immer etwas erschrocken aussehenden Jonas breit an: „Hey, sorry, hab die Zeit vergessen!“

Jetzt lächelt Jonas endlich doch. „Schon gut, noch war ich ja nicht bei dir angekommen.“ Wir umarmen uns kurz und gehen dann das restliche Stück bis zu meiner Wohnung nebeneinanderher. Dabei sieht mich Jonas ein wenig misstrauisch von der Seite an: „Alles okay bei dir?“

„Bei mir?“, wiederhole ich etwas zu laut und etwas zu schrill. Ich räuspere mich: „Natürlich. Alles in Ordnung. Wie kommst du drauf?“

Er zuckt leichthin mit den Schultern: „Vielleicht werde ich einfach misstrauisch, sobald du freiwillig Sport machst.“

Ich pruste leicht und schubse ihn spielerisch. „Was soll denn das heißen?“

„Naja, ausgenommen Tischtennis natürlich. Aber joggen – du?“

Tischtennis ist mein Sport. Das ist er schon mit zwölf gewesen und das ist er Gott sei Dank auch über dich hinweg geblieben. Aber daneben ist so vieles dazugekommen – wie joggen. Es ist eigenartig, dass Jonas es mir nicht zutraut, eigentlich kennt er mich ja nur mit dem Joggen. Schließlich kennt er dich nicht. Und damit auch nicht mein altes Ich. Also ich meine, natürlich weiß er von dir. Jeder weiß von dir, weil mein Mund nicht anders kann, als die Worte immer wieder rauszubringen. Als müsse ich sie selbst hören, um zu wissen, dass es real ist. Jemand fragt: „Weshalb hast du die Stadt gewechselt?“ Und ich antworte vollkommen im Reflex und ohne jede Emotion: „Oh, meinem Ex ist das Küchenmesser ausgerutscht.“ Und dann lege ich immer meine Hand über die Narbe, als wäre die zu sehen für andere dann doch zu viel des Guten. Dennoch hat Jonas keine Ahnung davon, wer du für mich warst. Und dass du mehr warst als… das. Du wirst viel zu leicht abgestempelt, Benno. Sie halten dich für ein Arschloch. Und wahrscheinlich bist du das sogar, nicht wahr? Schließlich hast du nie wieder mit mir gesprochen… aber ich… ich kenne dich. Du bist gut. Doch ich habe inzwischen endgültig aufgegeben, das Menschen erklären zu wollen. Niemand versteht das… offensichtlich tue das nicht einmal ich selbst so wirklich.

Dennoch sieht Jonas vielleicht einfach mehr, als ich mir selbst eingestehen will. Oder vielleicht ist es selbst für Fremde offensichtlich, dass ich im Moment nicht ich bin – nicht das Original. Auch wenn ich das nicht hoffe. Meine Scharade gefällt mir eigentlich ganz gut.

Ich schüttele den Kopf, finde zurück in die Gegenwart. Jonas hat mir eine Frage gestellt, aber ich weiß nicht mehr so richtig, welche es war. Also greife ich statt einer Antwort nach seiner Hand und ziehe ihn hinter mir her in das Gebäude und in den ersten Stock hinauf, wo meine Wohnung ist. Dort lasse ich die Tür hinter uns zufallen und ziehe ihn zu mir, schlinge meine Arme um seinen Hals und fange an, ihn zu küssen, während ich noch damit beschäftigt bin, die Schuhe von meinen Füßen zu kicken und rückwärts in Richtung meines Bettes zu wandern. Damit scheine nicht nur ich Jonas‘ Frage vergessen zu haben, denn auch er stolpert hinter mir her, entledigt sich dabei Jacke und Schuhen und versetzt mir, beim Bett angekommen, den letzten Schubs, der mich lang auf den Rücken darauf befördert, bevor auch er sich auf mich stürzt. Sofort steigt ein stöhnendes Lachen in meiner Kehle auf. Es ist unglaublich, wie sehr dieser Mann mich dazu bringt, mich so vollkommen frei zu fühlen. Jetzt kann dein Geist mir nichts anhaben, es ist, als wäre er überhaupt nicht existent. Ich richte meinen Oberkörper auf und strecke die Arme nach oben, sodass Jonas mir das langärmlige Sportoberteil ausziehen kann. Dann hält er einen Moment inne. „Was ist?“, frage ich flüsternd, klammere mich mit den Händen in seinem Nacken fest und versuche, seine Lippen zu meinen zu ziehen. Er blinzelt kurz, fixiert mit seinen Augen schließlich wieder meine statt eines Punktes links davon, den ich in der kurzen Zeit nicht genau bestimmen konnte. „Nichts“, antwortet er und seine Lippen verziehen sich zu einem hämischen Grinsen, dann presst er in einer blitzschnellen Bewegung seine Hand gegen meinen Hals und drückt mich zurück ins Kissen. Ich stoße scharf die Luft aus und grinse ihn herausfordernd an. Dann senkt er endlich seinen Oberkörper und küsst mich mit einer Leidenschaft, die drohen würde, mir den Atem zu rauben – würde das sein Griff nicht schon längst auf die bestmögliche Art tun.

Jonas fällt keuchend neben mich aufs Bett, wir beide atmen schwer und es ist mir unmöglich, das Lächeln von meinem Gesicht zu wischen. „Hmmmm“, mache ich, drehe mich auf die Seite und küsse ihn, „schöööön.“