Die Legende des Geistes - Carolin Held - E-Book

Die Legende des Geistes E-Book

Carolin Held

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Beschreibung

Klappentext: Weit im Osten, dort, wo die Gebirge sich hoch erheben und Drachen als treue Gefährten der Menschen leben, wächst das Mädchen Tamia wohlbehütet auf. Sie liebt es, die alte Legende ihres Volkes zu hören und träumt sich oft in eine längst vergangene Zeit. Und obwohl sie ihre Heimat liebt, zieht es sie schon als Kind fort, um die Welt kennenzulernen. So reist sie im Alter von sechzehn Jahren mit dem Segen ihrer Eltern und ihrer treuen Gefährtin, der Drachendame Sahri, umher, um Antworten auf die Fragen zu finden, die in ihrem Inneren brennen: Wie lauten die Legenden der anderen Völker und was steckt wirklich hinter den Geschichten? Und wieso betiteln alle Sahri als Vogel der zwei Elemente? Tamia zieht immer weiter und versucht, längst vergessene Geheimnisse zu ergründen. Aber was, wenn ihr Wissensdrang etwas auslöst, was besser im Verborgenen geblieben wäre? Mehr zum Inhalt: Ein geheimnisvolles Buch stellt Tamias Verständnis der Legenden völlig auf den Kopf. Im Westen erzählt man sich vom Leben mit dem Wasser, im Osten, in Tamias Heimat, wiederum vom Leben mit der Luft. Doch wie es aussieht, steckt mehr hinter den Geschichten - ganz wie Tamia es sich immer erhofft hat. Doch nicht nur sie ist dazu in der Lage, ihre Legende zu erfüllen...

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Seitenzahl: 346

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Nach dem System von Tamias Welt nach dem Verlauf der Sonne ausgerichtet

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Die fünf Völker

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Teil 2: Dunkles Erwachen - 6 Wochen später

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Teil 1:

Die fünf Völker

Kapitel 1

Ich saß schweigend auf einem Felsen, spielte mit den Zehen im Sand unter meinen Füßen und starrte auf das Meer und seine peitschenden Wellen hinaus.

Ich lehnte mich an Sahri, die hinter mir lag und spürte ihre schuppige Haut durch mein Kleid hindurch an meinem Rücken.

Sie schnaubte und Rauch quoll dabei aus ihren Nüstern. Ihre Augen glitzerten ebenso dunkel wie klar durch die Abenddämmerung.

„Ist der Sonnenuntergang nicht wunderschön?“, flüsterte ich ehrfürchtig und sah dem roten Farbenspiel am Horizont entgegen.

„Tamia?“ Der Klang meines Namens kam aus weiter Ferne. Ich wollte nicht antworten. Nicht jetzt. Nicht, wenn ich den Abend mit Sahri verbrachte.

„Tamia?“ Erneut schallte der Ruf über die Sandlandschaft. Ruka hinterließ ihre Fußspuren am Strand und kam auf mich zu. Ich sah ihr nicht entgegen. Warum auch? Ich konnte sie oft genug sehen. Anders als diese Ansammlung und Konstellation von Farben am Himmel. Die gab es nur heute, nur genau jetzt.

Meine Freundin hatte durch die Sonne gebräunte Haut und glatte, pechschwarze Haare, die ihr gerade mal bis zum Kinn gingen. Meine Haut war blass, meine Haare ungebändigt lang und heller als die Marmorfelsen am Rande des Strandes. Meine Augen waren grau. Nicht braun wie die der meisten Leute hier. Das einzige, was mir ein wenig Farbe verlieh, waren die Sommersprossen quer über meiner Nase.

Ruka setzte sich neben mich und lehnte sich an Sahris Flügel. „Hallo, Sahri“, sagte sie dabei. „Ich darf doch, ja?“

Sahri schnaubte zur Bestätigung. Ruka hatte gelernt, meine Drachenfreundin zu respektieren und sich somit ihren Respekt zu verdienen.

„Weshalb antwortest du nicht?“, fragte sie dann mich.

„Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“, erwiderte ich, ohne meinen Blick auch nur eine Sekunde vom roten Himmel zu lösen.

Ruka folgte verwirrt meinem Blick. Dann sah sie wieder mich an. „Ja, der Sonnenuntergang ist schön“, sah sie ein.

„Aber das ist doch kein Grund, mir nicht zu antworten, wenn ich dich suche.“

„Siehst du sie nicht tanzen?“, fragte ich wie in Trance.

Ruka wiederholte ihren Blickwechsel zwischen mir und dem Himmel. Das Rot der Sonne verschmolz langsam mit dem Dunkelblau des Wassers.

Ruka griff nach meinem Arm ohne auf meine Frage einzugehen. „Kommst du jetzt bitte? Meine Familie wartet.“

Zum ersten Mal löste ich meinen Blick vom Horizont und sah Ruka ins Gesicht. Ihre braunen Augen glänzten mich ungeduldig an. „Ja“, sagte ich schnell und schüttelte den Kopf, um meine Gedanken zu klären. Ich stand auf und lief einen Meter, um Sahri in die Augen zu sehen. Ihre Nüstern weiteten sich, ihre Mundwinkel zogen sich unmerklich nach oben. Ihre sonst blaugrauen Schuppen wirkten silberschwarz im Abendlicht.

„Bis morgen“, flüsterte ich und drückte meine Hand gegen ihre Nase. Sahri schloss kurz die Augen und senkte den Kopf. Vier Hörner prangten an ihrem Schädel. Dann stand sie auf, breitete ihre mächtigen Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte, um ihren Schlafplatz auf der Höhe des Hügels gleich neben dem Strand aufzusuchen. Meine Haare flatterten in dem von ihr verursachten Wind.

Ruka hüstelte wegen des aufgewirbelten Sandes. „Komm jetzt“, bat sie erneut.

Ich grinste. „Ist gut“, erwiderte ich spöttisch. „Ich komme doch schon.“

Neben Ruka schlenderte ich über die Sanddünen auf das kleine Holzhaus zu, welches ihr Zuhause war.

Ich war woanders aufgewachsen. Bis vor zwei Jahren hatte ich noch nie ein anderes Dorf gesehen, als das hoch oben in den Gebirgen des Ostens. Konghi. Meine Heimat. Der Ort, an dem meine Eltern lebten. Als ich vierzehn Jahre alt geworden war, hatte ich es dort oben nicht mehr ausgehalten. Nicht, dass ich es in den Höhen nicht mochte. Nein, das sicher nicht. Die Berge waren die Heimat der Vögel und der Drachen und die Liebe zur Höhe und zum Himmel war mir in die Wiege gelegt worden. Aber ich hatte schon immer eine unglaubliche Sehnsucht nach der Außenwelt verspürt, den Wunsch, mehr zu sehen, kennen zu lernen und zu erkunden. Ich war damals zu jung gewesen, um allein wegzugehen, daher hatten meine Eltern mich auf Reisen in den Süden und in den Norden begleitet und ich hatte Dörfer im Schnee und in der Wüste kennen gelernt.

Nach meinem fünfzehnten Geburtstag hatte ich meine Eltern überredet, mich allein ziehen zu lassen. Ich musste meinen Weg finden. Fern der Berge. Aber ganz allein war ich ja nie – ich hatte immer Sahri bei mir, meine Vertraute und Verbindung zur Heimat. Zuvor hatte ich mich nie so weit von dort entfernt. Jetzt war ich im Westen. Im Dorf Haiyang am Strand. Schon seit mehreren Monaten lebte ich bei Rukas Familie. Ich hatte sogar meinen sechzehnten Geburtstag mit ihrer Familie verbracht.

„Meinst du, dein Großvater kann noch mal die alte Legende erzählen?“, fragte ich.

Ruka seufzte. „Ach, Tamia. Weshalb willst du das hören?

Kennst du sie nicht schon auswendig wie jeder, der im Westen aufwächst?“

Ich lächelte. „Doch. Natürlich. Aber… es hat etwas Magisches, wenn die Älteren Legenden erzählen. Findest du nicht?“

Ruka zuckte mit den Schultern und schmunzelte. Ich wusste, insgeheim gab sie mir recht. Aber wie so viele andere, dachte auch sie: Es waren doch nur alte Geschichten.

Nichts Besonderes.

Jede Region hatte ihre eigenen Geschichten.

Wir gingen auf die Terrasse und setzten uns ans Lagerfeuer, um mit der Familie, die sich schon wie meine eigene anfühlte, draußen gemütlich zu Abend zu essen. Rukas Eltern Hia und Saul, ihr kleiner Bruder Luiro und Großvater Lurai.

„Lurai, kannst du uns die Legende des Westens erzählen?“, fragte ich sofort.

Lurai lächelte. Gerade hier, in der Abenddämmerung am Lagerfeuer, passte es doch besonders gut, eine Geschichte, erzählt von einem der Älteren, zu hören.

„Ja, bitte!“, der zwölfjährige Luiro schloss sich mir an.

Hia und Saul reichten uns Teller mit über dem Feuer gegrillten Brot und Fisch.

Mit der Stimme des Alters fing Lurai an zu erzählen: „In einer Zeit, in der noch keine Siedlungen entstanden waren, lebten die Menschen im Einklang mit ihrer Umgebung.

Der Westen ist die Heimat der Meere und die Heimat unserer Vorfahren. Das war damals… alles eins. Unsere Vorfahren lebten am Meer – wie unsere Familie es heute noch tut, aber da war mehr. Sie lebten im Wasser und mit dem Wasser. Doch die Menschen entwickelten sich mehr dem Land entgegen. Sie fanden sich in Siedlungen zusammen und vergaßen mehr und mehr wie stark ihre Verbindung zum Meer sein konnte. Sie fanden andere Möglichkeiten des Überlebens. Den Zusammenhalt zu anderen Menschen, nicht mehr den zum Wasser.“ Lurai sah in die Runde und sein Blick blieb lächelnd an mir hängen. „Erzähl du uns doch, wie es dort ist, wo du herkommst. Im Osten.“

Ich lächelte zurück. Ich liebte es, wenn er mich dazu aufforderte und ich mich an die Geschichte meiner Vorfahren erinnern durfte. „Die Bewohner des Ostens hatten keine Verbindung zum Meer, denn das Meer kannten sie gar nicht. Sie kannten die Höhen der Berge, die dünne Luft in den höchsten Wipfeln. Meine Vorfahren hatten mehr von den Drachen als es heute möglich ist. Die Drachen waren nicht nur Flugtiere, wie Sahri es für mich sein sollte.“

„Sahri ist doch mehr als ein Flugtier, oder nicht?“, fragte Luiro.

Ich nickte lächelnd. „Ja. Viel mehr. Sahri ist meine älteste Freundin. Aber das geht nicht allen so, weißt du? Und selbst das. Diese Verbindung ist nicht zu vergleichen mit den Verbindungen aus vergangenen Zeiten. Die Drachen und Vögel waren unsere Lehrmeister. Die Lüfte und Winde waren unser Terrain, unsere Zuflucht. Wir konnten eins werden mit dem Wind. Ein Leben führen in den Lüften.

Ich habe mich immer gefragt… wie das wohl ist.“ Verträumt sah ich wieder in den Himmel. Sah die Sterne und den aufgegangenen Mond an.

Ich wusste, Ruka musterte mich mit einer Mischung aus Sehnsucht und fehlendem Verständnis. Sie verstand nie, wieso mein Drang nach Reisen und Geschichten so stark war. Wieso meine Fantasie so leicht mit mir durchging – wie sie es nennen würde. Aber irgendwo sah ich ihr immer wieder an, dass sie dieselbe Sehnsucht empfand wie ich.

Auch sie wollte von diesem Leben träumen. Sie traute sich nur nicht, es so offen in die Welt zu tragen. Sie hatte mir das nie erzählt, aber ich wusste es einfach.

Das Feuer knisterte leise vor sich hin. Ich hörte nichts anderes mehr. Die Flammen züngelten und wanden sich umeinander. Rauch und Funken sprangen aus ihnen hervor und schlängelten sich gen Himmel. In Richtung der Unendlichkeit.

„Tamia?“, fragte Lurai irgendwann.

Ich blinzelte kurz und sah dem alten Mann ins Gesicht.

Viele Falten hatten sich darin gebildet. Seine Haare waren voll und lang geblieben, aber sie waren von schwarz zu einem Grau erbleicht und er trug sie zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. „Träumst du?“, wollte er wissen und legte den Kopf lächelnd zur Seite.

Ich nickte kurz. „Ich werde jetzt ins Bett gehen“, beschloss ich dann und stand auf um das kleine, aber unglaublich gemütliche Haus zu betreten. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht!“, wünschte mir die ganze Familie, bevor ich die Treppe hinaufging. Ich lebte in einer Kammer auf dem Dachboden des Hauses. Eigentlich eine Abstellkammer, aber ich hatte es mir hier gemütlich gemacht. Ich hatte mir genau dieses Zimmer gewünscht. Ein Ort weit oben, von dem aus ich aus dem Fenster auf das Gebirge sehen konnte, das Sahri sich zur Heimat gemacht hatte.

Früh am Morgen stand ich auf und verließ das Haus. Ohne darüber nachzudenken, lief ich durch den von der Sonne noch nicht gewärmten Sand zum Fuße des Berges. Auf seinem Gipfel hörte ich Sahri brüllen, gleich darauf erkannte ich den Schatten ihrer gespreizten Flügel. Sie glitt durch die dunkle Luft und landete rasant auf dem Felsen, auf dem ich stand. Ich wich keinen Schritt zurück. Ich wusste, sie hatte ihren Anflug genau unter Kontrolle. Ihr Kopf kam einige Zentimeter vor mir zum Stillstand. Ich hob den Arm und tätschelte ihre Nüstern. „Guten Morgen, Sahri“, sagte ich und sah an ihr vorbei, weg vom Wasser. Sie drehte sich um, folgte meinem Blick und brüllte erneut. „Ich weiß“, sagte ich. „Zuhause geht die Sonne auf.“ Sahri drehte sich einmal um sich selbst und fegte mich dabei beinahe von dem Felsen, um sich dann hinzulegen und der Sonne entgegen zu sehen. Ich ließ mich langsam neben ihr nieder und lehnte meinen Rücken gegen ihren schuppigen Flügel, wie ich es schon am Tag zuvor getan hatte. Ich schloss die Augen und genoss die aufgehenden Sonnenstrahlen. Ich spürte wie die Wärme der Sonne an meinen Beinen empor immer höher in meinen Körper floss.

Ich öffnete die Augen erst wieder als jemand neben mir gähnte. „Guten Morgen, Tamia“, murmelte Lurai und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Lurai“, ich setzte mich automatisch aufrechter hin. „Ich habe dich gar nicht kommen gehört.“

Lurai setzte sich langsam und gemächlich neben mich.

Sahri schlug ungeduldig ihren Schwanz hin und her. „Ruhig Sahri“, flüsterte ich und rieb beruhigend über ihren Hals. „Er ist ein Freund.“

„Weshalb bist du schon so früh auf?“, fragte Lurai mit seiner krächzenden Stimme.

Ich wandte mein Gesicht wieder der Sonne zu und atmete seufzend aus. „Sahri und ich lieben Sonnenaufgänge“, meinte ich. Sahri schnaubte kurz. Ich lächelte verträumt.

„Ja, und Sonnenuntergänge, nicht zu vergessen.“

„Du hängst gerne deinen Gedanken nach, nicht wahr?“,

fragte Lurai und lehnte sich zurück. Sahri gestattete es ihm, nachdem ich erneut ihren Hals tätschelte.

Ich kniff nachdenklich die Augen zusammen. „So habe ich das noch nie betrachtet“, erwiderte ich dann. „Eigentlich… denke ich gar nicht großartig nach, wenn ich hier sitze. Ich genieße nur die Zeit.“

„Darf ich dich noch etwas fragen?“, bat Lurai.

„Hast du doch gerade“, murmelte ich.

Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Woher dieses Interesse an den alten Legenden?“

Ich legte die Stirn in Falten und kniff wieder die Augen zusammen. Nach einer Weile erwiderte ich: „Ist es die Art des westlichen Volkes sich so viele Gedanken über Eigenschaften und Vorlieben anderer zu machen?“

Lurai lehnte sich wieder vor und sah mich eindringlich an.

„Nein, Tamia. Das ist die Art der Menschen“, damit stand er auf und wandte sich zum Gehen.

„Lurai?“, rief ich noch. Er drehte sich langsam wieder um und stützte sich an einem Felsen ab. „Ja?“

„Denkst du nicht auch manchmal… dass mehr dahinter steckt – hinter den Legenden?“

In Lurais Augen trat ein sanftes Leuchten und ein Zucken umspielte seine Lippen. „Wer weiß“, meinte er.

„Was heißt das?“, bohrte ich nach.

„Tamia“, sagte er betont und ernst. „Für mich sind es nur Geschichten. Ich bin ein alter Mann und mein Leben liegt hinter mir. Aber es kommt doch immer auf den Standpunkt an, oder? Du bist jung und neugierig. Für dich könnten es mehr als Geschichten sein.“ Mit diesen Worten drehte sich Lurai endgültig um und ging langsam den Strand entlang auf die Hütte der Familie zu. Ich sah ihm noch lange nach, bevor ich mein Gesicht wieder der hoch am Himmel stehenden Sonne zuwandte.

Kapitel 2

Kurz entschlossen lief ich die Treppen nach oben und schmiss meine wenigen Sachen in meine Tasche. Die unordentlich gepackte Tasche ließ ich fürs Erste stehen, dann stieg ich die Treppe wieder hinunter.

„Guten Morgen, Tamia“, Ruka kam gerade aus ihrem Zimmer und streckte sich ausgiebig. Sie trug noch ihr leichtes, dünnes Nachthemd.

„Guten Morgen“, antwortete ich. „Gerade erst aufgestanden?“

Ruka nickte. „Wieso? Bist du schon länger wach?“

Ich überlegte kurz, dann schüttelte ich den Kopf. „Nein, nein. Nicht bedeutend länger. Komm, lass uns zum Frühstück gehen.“

Wir liefen gemeinsam in die Küche und setzten uns an den Tisch. „Guten Morgen“, begrüßte uns Hia mit ihrer gewohnten Leichtigkeit. Teller und Besteck standen bereits auf dem Tisch. Saul stieg die Treppen aus dem Keller hoch und stellte Aufstriche auf den Tisch. Im Keller lagerte die Familie Aufstriche, Fleisch und Milch, um sie möglichst kühl zu halten.

„Kann ich dir noch irgendwie helfen, Mama?“, fragte Ruka. Hia winkte lächelnd ab. „Nein, nein, es ist schon alles da. Setz dich.“

Wir setzten uns an den Tisch zu Lurai, der seine Nase gerade tief in ein altes Buch steckte.

„Wo ist Luiro?“, wollte Ruka wissen.

„Du kennst ihn doch“, erwiderte Saul. „Er braucht noch ein wenig mehr Schlaf.“

„Ihr verpasst so viele schöne Dinge, wenn ihr immer den ganzen Tag verschlaft“, die Worte rutschten mir heraus, bevor ich großartig darüber nachdenken konnte.

„Ey, was heißt denn hier ‚ihr’?“, Ruka schlug beleidigt ihre Arme übereinander. „Wir wollen frühstücken und ich bin pünktlich wach, nicht wahr?“

Ich rollte mit den Augen, sagte aber nichts mehr. Ruka war ein nettes, freundliches Mädchen und während meines Aufenthalts hier war sie diejenige gewesen, mit der ich im Meer schwimmen und durch die Straßen des Dorfes bummeln konnte. Aber sie lebte ein vollkommen anderes Leben als ich. Unsere Wunschvorstellungen der Zukunft gingen weit auseinander.

Wir saßen also am Tisch und aßen.

Irgendwann fasste ich mir ein Herz. „Ich… muss euch was sagen.“

Hia und Saul sahen auf, in beiden Augenpaaren stand Neugierde und Offenheit.

„Ich möchte weiterziehen“, erklärte ich hastig. „Meine Sachen sind schon gepackt und Sahri ist sowieso immer bereit.“

Ruka zog überrascht die Augenbrauen nach oben. „So plötzlich?“, fragte sie perplex.

Auch Hia schien ihr zuzustimmen: „Möchtest du nicht noch zwei oder drei Nächte bleiben und deine Abreise wenigstens ordentlich vorbereiten?“, schlug sie vorsichtig vor.

Ich schüttelte instinktiv den Kopf. „Nein, mich… mich hält hier nichts mehr.“

„Hast du Heimweh und möchtest zurück in den Osten?

Dann verstehe ich das“, sagte Hia sanft und legte ihre Hand mitfühlend auf meine. Doch ich schüttelte wieder den Kopf. „Ich glaube nicht, dass es das ist. Aber es zieht mich eben fort.“

„Bitte bleib hier!“, Ruka hörte sich an wie ein quängelndes Kleinkind. Und trotz der Albernheit musste ich lächeln. Es rührte mich, wie lieb sie mich anscheinend gewonnen hatte.

„Ruka“, tadelte ihr Großvater. „Tamia ist hierher gekommen, weil sie ihrem Bauchgefühl vertraut hat, also muss sie auch nun darauf hören, wenn es sie fortzieht.“

„Wenigstens noch eine Nacht drüber schlafen?“, schniefte das Mädchen.

Ich sah in ihr schmollendes Gesicht, seufzte und nickte dann. „Na gut, versprochen. Ich reise nicht heute ab, sondern morgen.“

Ruka lächelte sofort spöttisch. „Oder du überlegst es dir doch noch anders“, trällerte sie.

Nein, vergiss es, dachte ich, ohne etwas zu sagen, weil es eh verschwendete Mühe gewesen wäre. Das Meer ist schön, aber es hat mir seine Geschichte erzählt. Jetzt suche ich etwas anderes.

Nach dem Essen ging ich wieder zurück in meine Kammer auf dem Dachboden. Seufzend sah ich auf meine unordentlich gepackte Tasche. Ich kniete mich auf den Boden, schüttete sie aus und fing an, meine Kleidung ordentlich zusammen und zurück in die Tasche zu legen.

Nach einiger Zeit klopfte es an der Tür im Boden, die das Wohnhaus mit der Dachkammer verband. „Ja?“, rief ich irritiert. Normalerweise ließ mich die Familie hier oben in Ruhe.

Die Klappe öffnete sich und ächzend kam Lurai darunter zum Vorschein.

„Lurai!“, rief ich sofort aus. „Die Treppe ist steil, was machst du denn?“ Ich stürzte zu ihm und griff unter seine Arme um ihm nach oben auf den Boden meines Zimmers zu helfen. Zu allem Überfluss hatte er auch noch nur eine Hand frei. In der anderen hielt er das alte, zerfledderte Buch, in dem er am Frühstückstisch gelesen hatte.

„Lass nur“, krächzte Lurai und kämpfte sich hoch, um sich dann bequem auf mein Bett zu setzen.

„Was hast du da?“, wollte ich wissen und setzte mich neben ihn.

„Das möchte ich dir schenken“, erklärte Lurai und reichte mir das Buch.

Der Einband war aus braunem Leder. Das Buch sah edel aus, aber gleichzeitig war es total vergilbt. Es wirkte wertvoll und zerbrechlich. Vorsichtig streckte ich meine Finger aus. Ich hatte das Gefühl, das ganze Buch könnte mit einem Mal zerfallen, wenn ich es falsch anfasste. Zögernd nahm ich nach und nach das Buch in die Hand und strich über den goldenen, kaum lesbaren Schriftzug auf dem Einband.

Die fünf Völker.

„Osten, Westen, Süden, Norden…“, murmelte ich.

„… Und?“ Ich sah Lurai fragend an.

Er zuckte mit den Schultern und lächelte gleichzeitig. Du hast das Problem erkannt, sagte er mir dadurch stumm.

Welches ist das fünfte Volk?

Ich wandte meinen Blick wieder dem Buch zu, drehte es in meinen Händen und blätterte langsam und mit unbarmherziger Vorsicht ein paar Seiten durch. Diese wirkten abgenutzt. Als wäre Wasser auf sie getropft und wieder getrocknet. Sie waren rau und gelblich. Manche waren zum Teil herausgerissen, angebrannt oder mit Flecken beschmiert, die sie unleserlich machten.

„Wie alt ist es?“, flüsterte ich irgendwann ehrfürchtig.

„Und woher?“

„Mein Großvater war ein Reisender“, fing Lurai an. „Genau wie du. Ich weiß nicht, wo er dieses Buch her hat.

Aber er hat es meinem Vater gegeben, als er im Sterben lag. Er sagte, die Familie dürfe das fünfte Volk nie vergessen. Das erzählte mein Vater mir, als er mir das Buch gab, als ich einmal eine Urlaubsreise machen wollte. Mein Vater ist nie gereist, musst du wissen. Ich nur einmal – aus Neugierde – und mein Vater gab mir sofort das Buch, da er dachte, es hinge mit der Reiselust zusammen und deshalb wäre es bei mir besser aufgehoben. Aber nach dieser… Ausprobierreise, könnte man sagen, hat es mich nie wieder dazu gezogen, den Westen zu verlassen.“ Lurai schwieg einen Moment, schien seinen Erinnerungen nachzuhängen.

„Du kennst ja meinen Sohn Saul und meine Enkelkinder“, fuhr er dann fort. „Keinem von ihnen scheint es anders zu ergehen als mir. Wir sind an unsere Heimat gebunden. Wir haben kein Interesse an mehr. Das, was in dem Buch steht, ist nicht viel. Es ist dünn und erzählt die Legenden der vier Völker, wie man sie heute noch kennt. Eigentlich habe ich nie mehr als ein Märchenbuch darin gesehen. Den Rest wirst du selbst lesen, aber es sind nur wenige Seiten und es kommt mir unrealistisch und ausgedacht vor. Dennoch denke ich, du solltest es haben. Es lag lange in der hintersten Ecke meines Bücherregals und ich hatte es schon fast vergessen… Heute früh als du mich nach den Legenden gefragt hast… da habe ich mich wieder daran erinnert und es für dich gesucht.“

Ich strich erneut vorsichtig über den Einband des Buches.

„Irgendetwas an dem Buch…“, flüsterte ich dann, „… Wirkt magisch. Es ist wie das Auf – und Untergehen der Sonne. Es berührt mich.“ Ich sah auf und erwiderte Lurais warmherziges Lächeln. Ich lehnte mich vor und umarmte ihn. „Danke“, wisperte ich. „Vielen, vielen Dank. Du hättest mir kein schöneres Geschenk machen können.“

Kapitel 3

Ich gähnte ausgiebig als ich durch ein Kitzeln auf meiner Nase wach wurde. Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das Fenster in mein Zimmer und ich blinzelte ein paar Mal, bevor ich mich an das grelle Licht gewöhnen konnte. Der Sonnenaufgang. Er war heute früher wach als ich. Ich stand auf, nahm die letzten Sachen von meinem Nachttisch und packte sie in meine Tasche. Darunter natürlich auch das Buch, das ich ganz nach oben auf meine wenigen Kleidungsstücke bettete. Ich trug ein leichtes Kleid, eng anliegend am Oberkörper, am Hals zusammengebunden und ärmellos. Wenn mir kalt war, trug ich Stulpen über meinen Armen, wie auch an diesem Morgen.

Das Kleid ging mir bis über die Knie, war unten ein wenig zerfetzt und flatterte um meine Beine, wenn es windig war.

Es war in einem schlichten hellen Braunton. Es war ein typisches Kleid des Ostens.

Im Westen trugen Frauen blaue Kleider aus einem festeren Stoff, die ihnen kaum bis zum Knie reichten und eng anlagen. Auch so ein Kleid war in meiner Tasche vorhanden – immerhin hatte ich lange hier gelebt.

Ich öffnete die Klappe, zog meine Tasche hinter mir her und stieg die Treppe ins Wohnhaus hinunter. In der Küche traf ich nur auf Hia. Sie sah auf meine Tasche, dann in mein Gesicht. Sie nickte leicht. „Ich sehe, deine Meinung ist unverändert.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Hast du was anderes erwartet?“

Ein Lächeln umspielte ihr Gesicht und sie schüttelte den Kopf. „Nein. Du vertraust deinem Instinkt, das wissen wir alle. Wann willst du denn aufbrechen?“

„Möglichst bald.“

„Bitte warte ab, bis alle wach sind. Sie wären wirklich traurig, wenn sie sich nicht von dir verabschieden könnten.“

Ich nickte. Ja natürlich. Da ging es mir nicht anders.

„Du solltest sowieso erst in Ruhe frühstücken und etwas Proviant für die Reise einpacken“, redete Hia weiter. Sie stellte einen Korb mit Brötchen, Aufschnitt und Marmeladen auf den Tisch und reichte mir einen aufgefüllten Wasserschlauch und einen Apfel. „Vielen Dank, Hia“, sagte ich, setzte mich an den Tisch und fing an, mir Brötchen für jetzt und eins für später, für unterwegs zu schmieren.

Ich frühstückte schweigend. Ich fieberte meiner Abreise entgegen, aber gleichzeitig war ich nervös. Ich wusste nicht, wo es mich hinzog und was ich erleben würde. Ich wusste nicht, ob meine unglaubliche, plötzlich neu ausgebrochene Sehnsucht gestillt werden würde.

Hia überließ mich meinen Gedanken. Sie verließ irgendwann die Küche – vermutlich um die anderen zu wecken.

Als ich gerade den Wasserbeutel, den Apfel und das in eine Serviette gewickelte Brötchen in meine Tasche gepackt hatte, kam die gesamte Familie in die Küche geprescht.

Ich stand auf und hob die Tasche hoch.

„Oh nein, du gehst ja wirklich!“, rief Ruka schrill.

„Ach Ruka…“, murmelte ich mit einer Mischung von Gerührt- und Genervtheit. „Ist doch nicht so schlimm. Du hast doch vorher auch ohne mich gelebt.“

„Da kannte ich dich noch nicht“, erwiderte sie quängelnd.

„Lass sie, Ruka“, mischte sich Lurai ein. „Sie hat schon früh erkannt, dass sie ihren eigenen Weg gehen muss und wird jetzt nicht damit aufhören.“

Während Ruka die Arme überkreuzte und betrübt auf den Boden starrte, verstand ihr Bruder schneller, dass meine Abreise nichts Schlimmes war. Luiro kam als Erster auf mich zu, um mich zu umarmen. „Viel Spaß, Tamia“, wünschte er mir. „Ich hoffe du findest, was du suchst.“ In diesem Moment wirkte Luiro viel erwachsener als seine vier Jahre ältere Schwester. Auch Saul und Hia umarmten mich und wünschten mir eine gute Reise. „Eine letzte Bitte habe ich noch“, sagte ich, bevor ich mich auch von Ruka und Lurai verabschiedete – den Leuten, die mir hier wohl am Nächsten standen.

„Ja?“, fragten Hia und Saul gleichzeitig.

„Darf ich Gero zu meiner Familie schicken?“ Gero war die jüngere der beiden Botentauben, die die Familie besaß. Sie hatten nur Gero und Giselle, deshalb hatte ich immer verstanden, dass ich Gero nur, wenn es absolut notwendig war, in den Osten schicken durfte. Einen viel weiteren Weg konnte es kaum geben und jeder Flug barg Gefahren für die Tiere. Ich hatte Gero nur einmal, als ich angekommen war, verschickt und noch einmal zu meinem Geburtstag.

„Ja natürlich“, sagte Saul sofort. „Deine Eltern sollen natürlich wissen, dass deine Reise weitergeht“, schon verließ er die Küche, um die Taube zu holen. Hia kramte derweil in einer Schublade und reichte mir Stift und Papier.

„Danke“, sagte ich hastig, setzte mich an den Küchentisch und schrieb ein paar Zeilen auf:

Liebe Mama, lieber Papa,

Ich habe nicht viel Zeit, tut mir leid. Ihr kennt mich ja – immer in Eile. Das Leben im Westen war schön und ich habe mich hier lange aufgehalten, aber jetzt zieht es mich wieder woanders hin. Ich will in den Süden und in den Norden, so wie vor zwei Jahren mit euch. Sahri ist immer bei mir und passt auf mich auf. Mal sehen, wo ich lande!

Ich hoffe dort bekomme ich Gelegenheit euch noch einen Brief zu schicken!

Macht euch keine Sorgen.

Tamia

Ich wickelte das Stück Papier zusammen und brachte es nach draußen. Saul stand bereits vor der Tür mit Gero auf seinem Arm. Er nahm das Papier entgegen und befestigte es in einer Schlinge am Fuß des kleinen Vogels. „Danke Gero“, sagte ich schnell an die Taube gewandt. „In das Dorf Konghi, hoch oben im Gebirge Donga im Osten. Du kennst den Weg doch noch, nicht wahr?“ Es wirkte fast so, als würde die Taube nicken, bevor sie sich von Sauls Arm löste und sich in den Himmel erhob.

Als ich mich wieder umdrehen wollte, um meine Tasche aus dem Haus zu holen, kamen Lurai und Ruka mir bereits damit entgegen. Ruka reichte mir widerwillig und mit gesenktem Blick die Tasche. „Danke“, murmelte ich. Ihre schlechte Laune bereitete mir Unbehagen.

Lurai stieß Ruka mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Ruka!“, sagte er tadelnd. „Nun komm schon! Verabschiede dich wenigstens ordentlich. Es ist unfair, sie aufhalten zu wollen.“

Mit einem Mal fiel Ruka mir um den Hals. „Kommst du mal wieder?“, murmelte sie in mein Ohr. Ich schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich gehe dorthin, wohin es mich zieht.“ Langsam löste sich das Mädchen wieder von mir. „Du wirst mir fehlen“, meinte sie leise.

Ich antwortete nicht darauf. Ich verstand die starke Bindung nicht, die sie meinte, zu mir zu haben. Sicher mochte ich sie und verbrachte gerne Zeit mit ihr. Und ich fand es toll, wie sie mit meinem Drachen umging. Aber sie war nicht notwendig für mich. Sie hatte keine Bedeutung in meinem Leben. Vielleicht war ich das für sie, was das Reisen für mich war. Nur weshalb? Weil ich fremd war?

Ich lächelte vor mich hin, als meine Gedanken einen Sinn bekamen. Womöglich verspürte jeder Mensch die gleiche Sehnsucht nach der Ferne wie ich. Sie bemerkten sie nur nicht so deutlich. Durch mich wurde Rukas Sehnsucht gestillt. Und nun würde ihr Bedürfnis wieder wachsen und unbefriedigt bleiben.

„Tamia, träumst du schon wieder?“, fragte Lurai.

Ich sah auf und bemerkte, dass Ruka gegangen war und Lurai und ich allein auf dem Sand des Strandes standen.

Am Himmel entdeckte ich einen Schatten. Sahri hatte sich aus ihrem Schlafplatz erhoben und machte sich auf den Weg, mich abzuholen.

„Ich habe nur über Ruka nachgedacht, das ist alles“, erklärte ich.

„Du warst ihr sehr wichtig.“

„Ich?“, hakte ich nach. „Oder meine Herkunft?“

Lurai kniff die Augen zusammen. „Interessanter Punkt“, meinte er nach kurzer Zeit. „Ja, vielleicht hat dich gerade das in ihren Augen so interessant gemacht.“

In dem Moment stürzte Sahri vor uns auf den Boden und wirbelte Sand auf. Während Lurai den Arm hob, um seine Augen zu schützen, trat ich einen Schritt auf das riesige Tier zu und tätschelte die Schuppen zwischen seinen Augen. „Hallo, meine Schöne.“

„Sie spürt, dass es wieder los geht, nicht wahr?“, Lurai machte vorsichtig einen Schritt auf uns zu.

Ich nickte. „Sie weiß immer, was ich vorhabe. Sie kennt mich.“

Ich lief an Sahris Seite entlang und fuhr mit der Hand über ihren Nacken, ihren Hals, ihre Schulter. Sie legte sich lang hin, streckte Hals und Kopf auf den Boden und stieß ein Schnauben aus. Sie forderte mich auf, aufzusteigen.

Ich drehte mich ein letztes Mal zu Lurai um, sah ihn mir zunicken und kletterte auf Sahris Rücken. Sie erhob sich sofort wieder.

„Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“, verabschiedete sich letztlich auch Lurai. „Es war mir eine große Freude dich kennen gelernt zu haben, Tamia.“

Bevor ich noch ein Wort sagen konnte, erhob Sahri sich bereits in die Lüfte.

Kapitel 4

Ich genoss die warme Luft auf meiner Haut. Den Wind, der in meinen Haaren wehte und an meinem Kleid zerrte.

Sahri stieß ein zufriedenes Schnauben aus. Ich hatte zu lange nicht mehr auf ihrem Rücken gesessen. Ich schloss die Augen. Ich musste sie nicht geöffnet halten. Meine beste Freundin passte ja auf mich auf. Ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlte. Und ich wusste, meine Entscheidung, zu gehen, war absolut richtig gewesen. Dort unten hatte ich mich inzwischen nur noch gefangen gefühlt. Die Freiheit, die mir an diesem Ort zur Verfügung stand, war ausgeschöpft. Dort konnte ich nichts mehr lernen. Ich suchte nach mehr, nach viel mehr.

Es konnten Stunden vergangen sein, in denen ich nur auf Sahris Rücken saß und mein angeborenes Terrain – die Luft, die Höhe – genoss. In Wahrheit hatte ich jedes Zeitgefühl verloren.

Erst als ich meinen Magen knurren hörte, öffnete ich wieder die Augen. Ich beugte mich nach vorne und streckte den Oberkörper, um möglichst nah an Sahris Ohren zu kommen, sie waren von ihrem Kranz aus vier kleinen Hörnern umgeben. „Wohin sind wir geflogen?“, rief ich. Sahri riss ihr Maul auf und hob den Kopf hoch. Ich folgte ihrem Blick. Sie sah direkt in die Sonne. Diese war riesig. Süden, schoss es mir durch den Kopf. Dort, wo man der Sonne am nächsten ist.

Wieder reckte ich mich nach vorne. „Hast du Hunger?“,

fragte ich laut. „Zeit für eine Pause, oder?“ Sahri schnaubte zustimmend und setzte sogleich zur Landung an. Unter uns befand sich eine riesige Wiese. Ein kleiner Fluss plätscherte am Rande entlang. Ich kannte sein Ziel. Er würde dorthin fließen, wo wir herkamen – zum Meer.

Auf der anderen Seite der Wiese war ein Feldweg. Ein Stück hinter uns konnte man die Umrisse eines Dorfes erkennen, sicher lag vor uns noch ein Dorf und wir machten Rast in der kleinen Ebene zwischen den bewohnten Plätzen.

Sahri bediente sich an dem Gras der Wiese, während ich den Apfel aus meiner Tasche kramte.

Ich ließ mich mit einem Mal in das weiche Gras fallen.

Reste von Tau klebten noch an den Halmen. Das kühle Wasser an meinen Beinen und in meinem Nacken tat gut und erfrischte mich. Sahri stöberte währenddessen herum und schlenderte Richtung Fluss. Ich ließ sie unbeobachtet.

Niemand war in der Nähe, der sich vor ihr fürchten könnte und ich nahm an, dass ihr das trockene Gras einfach nicht genügte und sie sich an den Fischen im Fluss bedienen wollte.

Die Sonne schien brütend heiß auf mich herab. Das war etwas ganz anderes als im Westen an der Küste oder auf den hohen Gipfeln im Osten. Aber ich wusste von einer vergangenen kürzeren Reise, dass es noch viel wärmer werden konnte. Nachdem ich meinen Apfel und das Stück Brot aufgegessen hatte, stand ich wieder auf und folgte Sahri ans Flussufer. Diese hatte sich anscheinend in der Zwischenzeit satt gefressen, denn sie lag einfach nur lang im Wasser und rührte sich kein Stück.

„Eine gute Abkühlung, was?“, lachte ich. Sahri hob schleppend ihren Kopf, als sie meine Stimme hörte, sah mich einen Augenblick irritiert an und ließ ihren Kopf dann wieder ins Wasser platschen.

Ich nahm meinen noch halb vollen Trinkschlauch aus meiner Tasche und bückte mich, um die Gelegenheit zu nutzen, ihn wieder ganz zu füllen. Erst probierte ich vom Flusswasser. Ja, es war süß und erfrischend. Salzig würde es erst im Meer werden, wenn es seinen Weg hinter sich ließ.

„Ich warne dich, es wird noch viel wärmer. Die Sonne ist noch ein Stück entfernt“, sagte ich währenddessen. Sahri sah mich nur kurz aus den Augenwinkeln an und wollte sie sofort wieder schließen, doch ich stand schwungvoll auf und fuhr laut fort: „Na komm. Lass uns weiter.“

Sahri sprang auf, als hätte ich sie eher erschreckt als zum Weiterfliegen motiviert. Das Wasser perlte sofort von ihren seidigen Schuppen ab. Sie schüttelte sich trotzdem, um auch das letzte bisschen Wasser von sich zu lösen.

Dann kam sie mit mächtigen Schritten aus dem Flussbett heraus und bot mir sogleich, wenn auch mit etwas widerwilligem Blick, an, wieder aufzusteigen.

Es dauerte nicht mehr lange, bis die Dämmerung einsetzte.

Ich bat Sahri zu landen, sobald ich unter uns ein Dorf erahnen konnte. Sie war froh darüber. Kein Wunder, immerhin war sie, bis auf die kleine Pause am Fluss, den ganzen Tag lang geflogen. Auch ein so mächtiges Wesen, wie Sahri es war, benötigte ab und zu etwas Ruhe.

Sahri landete direkt vor dem hölzernen Tor, auf dem groß

„Cunmin Tulaode“ stand. „Ich gehe besser allein in das Dorf. Du weißt ja wie das ist. Außerhalb der Berge trifft man selten auf Drachen. Ich mag es nicht, wenn die Leute dich so komisch anglotzen. Komm morgen wieder her.

Nach Sonnenaufgang.“ Sahri neigte zur Bestätigung ihren Kopf, dann erhob sie sich wieder in die Lüfte. Sie würde einen geeigneten Schlafplatz finden. Um sie brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Ich sah ihr noch einen Augenblick nach. Ihre graublaue Gestalt schimmerte im Rot der untergehenden Sonne. Ich schüttelte den Kopf. Ich musste schnell eine Gelegenheit zum Übernachten finden.

Ich wollte mich nicht wieder dem Anblick der Sonne hingeben und den eigentlichen Grund unserer Landung vergessen.

Ich lief also durch den Torbogen und betrat das Dorf. Eine lange Straße führte direkt in dessen Zentrum. Das erkannte ich sofort, da ich in der Ferne die Umrisse eines Brunnens sehen konnte. Ein Brunnen war ein Ort der Zusammenkunft, ein Symbol des Zentrums also. An der Straße entlang standen rechts und links Häuserreihen. Sie waren nicht aus Holz, wie es im Westen häufig der Fall war. Alle Häuser waren aus Stein errichtet. Sie wirkten massiver, sicherer aber auch kälter und abweisender.

„Wieso nur habe ich das Gefühl, dass es hier gar nicht so leicht sein wird einen Schlafplatz zu finden?“, murmelte ich vor mich hin, während ich schnellen Schrittes der Straße folgte, um möglichst bald am Brunnen anzukommen.

Je näher ich ihm kam, desto deutlicher konnte ich an der Brunnenseite die Gestalt einer Frau erkennen. Ich beschleunigte meinen Schritt erneut. Die Frau wirkte klein und zerbrechlich, sie versteckte ihre grauen Haare in einem Knoten unter einem Haarnetz und beugte sich über den Brunnen. Hinter Häuserreihen sah ich, dass der Brunnen tatsächlich in der Mitte eines riesigen Platzes stand – sicher der Marktplatz des Dorfes. Verkaufsstände waren aneinandergereiht, doch die meisten waren bereits geschlossen.

Ich beschloss, die Frau anzusprechen, immerhin war sie die Erste, die ich in diesem Dorf gesehen hatte.

Sie hievte gerade einen Eimer aus dem Brunnen, als ich sie ansprach: „Entschuldigung, wissen Sie vielleicht…“

„Was!“, unterbrach sie mich sofort grimmig. Sie funkelte mich einen Moment lang geradezu wütend an, dann musterte sie mich missbilligend von Kopf bis Fuß.

Ich atmete tief durch – nur nicht den Mut verlieren – und setzte erneut an: „Ich wollte nur wissen, ob Sie vielleicht wissen, wo…“ Wieder wurde mir über den Mund gefahren: „Was ist das überhaupt für ein Aufzug? Hast du keinen ordentlich genähten Rock im Schrank oder eine Hose?“

„Das ist die Kleidung meines Volkes“, erwiderte ich kleinlaut.

„Aha. Dein Volk. Hat dein Volk schon mal etwas vom Haare schneiden gehört?“, schnaubte die Alte patzig.

„Ich…“

„Wir sind hier nicht an Fremden interessiert. Verschwinde!“ Mit diesen Worten stapfte die Frau, den Eimer schwer schleppend, an mir vorbei.

Ich sah ihr einen Moment entmutigt nach. Das Dorf hatte vom ersten Augenblick an genau so auf mich gewirkt, wie sich diese Bewohnerin mir gegenüber nun auch gezeigt hatte. Auf mein Bauchgefühl war eben Verlass.

„Oh je, das hat sich aber nicht gut angehört.“ Ich drehte mich verwirrt um und sah in ein freundlich lächelndes Gesicht. Eine junge Frau, ich schätzte sie auf Mitte zwanzig, sah mich mit blassbraunen Augen an. Ihre Haare hatten dieselbe Farbe und waren in einzelnen Flechten zurück gebunden. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase – genau wie ich. An ihrer Hand hielt sie einen kleinen, blonden Jungen.

Sie bemerkte meine Sprachlosigkeit. „Entschuldige, überrumpele ich dich? Ich bin Jisa.“ Sie streckte mir die freie Hand entgegen, ich reichte ihr zögernd meine.

„Ich habe das gerade mitbekommen“, erklärte Jisa schnell.

„Ich habe nur noch meinen Obststand abgeschlossen und wollte jetzt nach Hause gehen. Was wolltest du Hilde denn fragen?“

„Ich suche einen Platz zum Übernachten“, antwortete ich merkwürdig sachlich. Vielleicht hing mir die unerwartet heftige Reaktion der Alten, die scheinbar Hilde hieß, noch nach.

„So etwas wie eine Herberge haben wir hier leider nicht“, Jisa rümpfte die Nase.

„Weil ihr eh nicht an Fremden interessiert seid?“, fragte ich mit gerunzelter Stirn.

Das Lächeln schwand so leicht, dass es kaum merkbar war, aus Jisas Gesicht, gleichzeitig senkte sie den Blick und zuckte unsicher mit den Schultern. „Ja. Ich habe das Gefühl, ich bin die Einzige in diesem Dorf, die nichts gegen Fremde hat“, sie sah wieder auf und lächelte mich an wie zuvor. „Du kannst mit zu mir kommen. Wenn es dir nichts ausmacht, im Zimmer eines kleinen Jungen zu übernachten.“ Sie sah kurz auf den Jungen an ihrer Hand herab.

„Du bist doch gastfreundlich, nicht wahr, Yuro?“ Der Junge nickte eifrig, grinste zu mir hoch und entlockte mir ein Lächeln.

„Nein, das macht mir gar nichts aus!“, antwortete ich fröhlich. „Vielen Dank.“

„Ich helfe Reisenden gerne“, erzählte Jisa, als wir uns auf den Weg zu ihrem Heim machten. „Mein Mann, Yuro’s Vater…“, sie deutete kurz auf den Jungen an ihrer Hand,

„…war auch ein Reisender. Wurde natürlich ähnlich empfangen wie du. Bis dahin hab ich mich auch nicht an der Einstellung der Dorfbewohner gestört, ich kannte es ja nicht anders. Aber… naja… wo die Liebe halt hin fällt“, sie lächelte still vor sich hin. Ich mochte sie sofort. Sie war so ein herzlicher, offener Mensch.

„Das ist irgendwie komisch“, meinte ich. „Überall wo ich bisher war, wurde ich als Fremde offen empfangen. Man tauscht alte Geschichten aus und so. Legenden.“

Jisa reagierte nicht darauf. Es wirkte fast so, als hätten meine Worte eine Traurigkeit in ihr geweckt.

„Wir sind da“, sagte sie nach wenigen Sekunden und öffnete die Tür eines Hauses.

„Guten Abend, Jisa“, ertönte sofort die Stimme eines Mannes aus dem Haus. Yuro löste sich von ihrer Hand und stürmte ins Haus. „Mein Junge, da bist du ja!“, hörte ich die Stimme wieder. „Und, hast du Mama fleißig geholfen?“

„Ja, Papa, versprochen!“, quiekte der Junge glücklich.

Diese Familie strahlte eine perfekte Idylle aus. Ein merkwürdiger Kontrast zu dem Dorf, in dem sie lebten. Wieso wohnten sie nur ausgerechnet hier?

„Hallo Kian“, rief Jisa. „Schau, ich habe jemanden mitgebracht.“

Als ich das Haus betrat, setzte ein großer, blonder Mann gerade Yuro auf dem Boden ab. Er sah mich perplex an.

Sein Blick machte mir Angst. Sein Mund war offen, seine blaugrauen Augen geweitet.

Dann kam er plötzlich mit langen Schritten auf mich zu, blieb genau vor mir stehen und sah auf mich herab. Ich starrte ängstlich zu ihm hinauf

„Aber das ist ja…“, sagte er dann. „…ein Kleid des Ostens“, er strahlte seine Frau an und die nickte lächelnd.

„Ich habe ewig niemanden mehr aus meinem Volk getroffen!“, rief der Mann fröhlich aus, und noch bevor ich reagieren konnte, umarmte er mich. Ich freute mich genauso sehr wie er.

Kapitel 5

Jisa und Kian halfen mir, ein Gästebett in Yuros Zimmer auszuklappen und eine Decke zu beziehen. Der fünfjährige Junge freute sich sichtlich über den unerwarteten Besuch.

Inzwischen lag er im Bett und seine Eltern saßen mit mir am Esstisch. Die kleine Familie spendierte mir auch noch belegte Brote und Salat mit Fleischstreifen zum Abendessen.

Ich hatte den beiden bereits von meiner Zeit im Westen erzählt.

„Und nun? Geht es jetzt zurück in den Osten?“, fragte Kian. Sein Gesicht strahlte, als er an unsere gemeinsame Herkunft dachte.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin noch nicht bereit, zurückzukehren.“ Ich überlegte kurz, ob ich das näher erläutern sollte. Aber wie hätte ich das anstellen sollen?

Ich dachte nicht über die Dinge nach. Ich handelte frei nach meinen Empfindungen.