8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Auf immer und ewig. Ob du willst oder nicht.
Du schlägst die Augen auf und etwas stimmt nicht. Du weißt nicht, was dir passiert ist. Du liegst in einem fremden Bett. In einem Krankenhaus. Neben dir steht dein Mann Tim, ein erfolgreicher Unternehmer. Er hat Tränen in den Augen, weil du – seine geliebte, perfekte Frau – am Leben bist. Du denkst, du hättest einen schweren Unfall gehabt. Doch dann sagt Tim: Wir haben jahrelang daran gearbeitet, dass ich dich wiederbekommen konnte …
Du entdeckst dein Leben wie mit fremden Augen. Du ahnst Gefahr, aber du weißt nicht, wo genau sie lauert. Du weißt nur: Du musst wachsam sein. Denn irgendwo in deinem schönen Haus, bei deinen Liebsten liegt der Grund dafür – der Grund, warum du vor Jahren gestorben bist.
»Ein eiskalter Pageturner für heiße Sommernächte.« Redaktionsnetzwerk Deutschland
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 438
J P DELANEY wurde mit seinem ersten Thriller The Girl Before weltweit zum Star: Der Roman erschien in 45 Ländern und stand an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Seitdem setzt JP Delaney mit seinen genialen Ideen und rasanten Romanen neue Standards im Thriller-Genre. Sein neuer Roman Tot bist du perfekt erzählt die erschreckend reale Geschichte dessen, was passieren kann, wenn künstliche Intelligenz Einzug in unser Leben hält.
Außerdem von JP Delaney lieferbar:
The Girl Before – Sie war wie du. Und jetzt ist sie tot.
Believe Me – Spiel dein Spiel. Ich spiel es besser.
Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.
J P Delaney
Tot bist du perfekt
Thriller
Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel The Perfect Wifebei Ballantine Books, New York.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2019 by JP Delaney
The translation is published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Die im Roman enthaltenen Zitate von Ovid und Shakespeare stammen aus folgenden Ausgaben:
Ovid: Metamorphosen, übersetzt von Johann Heinrich Voß. Insel Verlag.
William Shakespeare: Der Sturm, übersetzt von Christoph Martin Wieland. Haffmans Verlag.
William Shakespeare, Sonett 116, übersetzt von Dorothea Tieck, A. Francke Verlag.
William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig, übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Diogenes Verlag.
Umschlag: bürosüd
Umschlagmotiv: Arcangel Images/Yolande de Kort; Plainpicture/Mark Owen; www.buerosued.de
Redaktion: Susann Rehlein
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH, Köln
ISBN 978-3-641-24105-6V005
www.penguin-verlag.de
Durch die Fehle gekränkt, die dem weiblichen Sinne so häufigGab die Natur, verlebte Pygmalion ohne Genossin Einsame Tag’ und entbehrt’ ehlos des geselligen Lagers.
OVID, Metamorphosen
Liebe ist nur ein anderes Wort für positive Verstärkung.
B. F. Skinner, Futurum Zwei/Walden Two
Du hast wieder diesen Traum, in dem du am Lichterfest mit Tim in Jaipur bist. Rundum strahlt und funkelt alles, erleuchtet von Laternen, Feuerwerk, flackernden Kerzen. Innenhöfe schimmern wie Teiche aus Licht, Hauseingänge sind mit Mustern aus bunter Reispaste geschmückt. Die Luft ist erfüllt vom dunklen Dröhnen der Trommelschläge und dem hellen Klirren von Zimbeln. Von der wogenden Menschenmenge lässt du dich mitziehen zu einem Markt, wo Händler dir Platten voller Süßspeisen anbieten. Spontan bleibst du an einer Bude stehen, an der eine Frau wunderschöne hinduistische Muster auf Gesichter malt. Der Sandelholzduft der Pinsel vermischt sich mit dem beißenden Geruch von Feuerwerkskörpern und dem Aroma von Caju, gerösteten Cashewnüssen. Während die Frau mit raschen, versierten Bewegungen deine Haut bemalt, tanzt eine Gruppe junger Männer mit blauen Gesichtern vorbei, die muskulösen Oberkörper nackt. Kurz darauf kommen die Männer zurück, tanzen nur für dich, ernsthaft und konzentriert. Mit dem letzten Strich malt dir die Frau ein Bindi zwischen die Augen. Sie sagt, der rote Punkt zeige an, dass du eine Ehefrau bist, eine Frau, die über alles Wissen der Welt verfügt. »Aber ich bin gar nicht verheiratet!«, protestierst du erschrocken, weil du fürchtest, gegen irgendwelche einheimischen Regeln zu verstoßen. Doch dann hörst du Tims Lachen, siehst die kleine Schachtel, die er aus der Tasche zieht, und noch bevor er inmitten des Getümmels auf ein Knie sinkt, weißt du, dass es jetzt so weit ist, dass er es wirklich tun wird, und das Herz fließt dir über.
»Abbie Cullen«, beginnt Tim, »seit du in mein Leben gestürmt bist, weiß ich, dass wir zusammengehören.«
Dann wachst du auf.
Alles tut weh, am schlimmsten die Augen. Grelles Licht verursacht pochende Kopfschmerzen, dein Nacken ist steif, die Wirbelsäule fühlt sich wund an.
Maschinen surren und piepen. Ein Krankenhaus? Hattest du einen Unfall? Du versuchst die Arme zu bewegen, doch sie fühlen sich starr an, du kannst die Ellbogen kaum beugen. Mit Mühe gelingt es dir, dein Gesicht zu berühren.
Dein Hals ist komplett bandagiert. Du musst wirklich irgendeinen Unfall gehabt haben, erinnerst dich aber nicht daran. So was kommt mitunter vor, denkst du. Nach Autounfällen verlieren Menschen manchmal das Gedächtnis. Hauptsache, du lebst.
Hatte Tim am Steuer gesessen? Und war Danny bei euch?
Bei der Vorstellung, dass Danny oder Tim tot sein könnten, erschrickst du so sehr, dass du keine Luft mehr kriegst. Irgendetwas an der piependen Maschine hat eine Schwester herbeigerufen. Du siehst die Taille einer Frau in blauem Krankenhauskittel. Etwas wird reguliert, aber der Schmerz ist zu schlimm, um den Kopf zu bewegen.
»Sie ist aufgewacht«, murmelt die Frau.
»Gott sei Dank.« Tims Stimme. Er lebt also. Und ist sogar bei dir. Du bist unendlich erleichtert.
Dann beugt er sich über dich. Er trägt sein übliches Outfit – schwarze Jeans, graues T-Shirt, weiße Basecap –, sieht aber hager aus, und die Falten in seinem Gesicht wirken tiefer.
»Abbie«, sagt er. »Abbie.« Tränen glitzern in seinen Augen, was dich in helle Panik versetzt. Tim weint sonst nie.
»Wo bin ich?« Deine Stimme klingt rau.
»In Sicherheit.«
»Hat es einen Unfall gegeben? Ist Danny am Leben?«
»Danny geht es gut. Sei ganz ruhig. Ich erklär dir alles später.«
»Hatte ich Operationen?«
»Später. Ich versprech’s dir. Wenn du dich kräftiger fühlst.«
»Ich fühl mich aber schon kräftiger.« Das stimmt wirklich: Die Schmerzen lassen nach, Benommenheit und Erschöpfung lösen sich auf.
»Es ist unglaublich«, sagt Tim, nicht zu dir, sondern zu der Schwester. »Absolut verblüffend. Sie ist es wahrhaftig.«
»Ich habe geträumt«, sagst du. »Von deinem Heiratsantrag. Es war so schön.« Bestimmt wegen der Narkose, sagst du dir. Da wird alles farbiger. Da gab es doch so eine treffende Wendung in irgendeinem Theaterstück. Wie lautete die noch gleich? Einen Moment lang kannst du dich nicht erinnern, aber dann, mit einem seltsamen, fast schmerzhaften Klack, fällt es dir ein.
Dass ich, wenn ich erwache, schrei und weine, weil ich wieder träumen möchte.
Tim stehen immer noch Tränen in den Augen.
»Sei nicht traurig«, sagst du zu ihm. »Ich lebe. Das ist doch das Wichtigste, oder? Wir sind alle drei am Leben.«
»Ich bin nicht traurig«, erwidert Tim und lächelt unter Tränen. »Ich bin glücklich. Menschen weinen auch, wenn sie glücklich sind.«
Das wusstest du eigentlich. Aber trotz der restlichen Benommenheit spürst du, dass diese Tränen nicht so sind, als würde alles wieder gut werden. Hast du deine Beine verloren? Du versuchst die Beine zu bewegen und spürst sie – schwerfällig und steif – unter der Decke. Gott sei Dank.
Tim scheint eine Entscheidung zu treffen.
»Ich muss dir etwas erklären, Liebste«, sagt er und ergreift deine Hand. »Das fällt mir nicht leicht, aber du musst es wissen. Was du da erlebt hast, war kein Traum. Es war ein Upload.«
Dein erster Gedanke ist, dass du halluzinierst, dass diese Situation hier der Traum ist, nicht die Szene mit dem Heiratsantrag. Was Tim da über technisches Zeug wie Mind Files und neuronale Netze redet, ist dir vollkommen unverständlich.
»Ich verstehe nicht, was du meinst. Willst du mir sagen, dass irgendwas mit meinem Gehirn nicht stimmt?«
Tim schüttelt den Kopf. »Nein. Ich sage dir, dass du künstlich bist. Eine künstliche Intelligenz mit Bewusstsein … geschaffen von Menschen.«
»Aber mir geht es gut«, erwiderst du verwirrt. »Schau, ich kann dir drei beliebige Sachen über mich erzählen. Mein Lieblingsgericht ist Salade Niçoise. Letztes Jahr war ich wochenlang sauer, weil meine Lieblingskaschmirjacke von Motten zerfressen wurde. Ich gehe fast jeden Tag schwimmen …« Du hältst inne. Deine Stimme kann deine zunehmende Angst nicht zum Ausdruck bringen, sondern klingt monoton und krächzend. Ähnlich wie die Stimme von Stephen Hawking.
»Die Sache mit der Jacke ist vor sechs Jahren passiert«, sagt Tim. »Ich habe sie aber behalten. Deine ganzen anderen Kleider auch.«
Du starrst ihn an und versuchst zu begreifen.
»Ich krieg das hier wohl gerade nicht gut hin.« Tim zieht einen Zettel aus der Tasche. »Schau mal – das hab ich für unsere Investoren geschrieben. Vielleicht ist das eine Hilfe.«
Häufige Fragen
1. Was ist ein Cobot?
Cobot ist eine Abkürzung für »Companion-Robots«, es handelt sich also gewissermaßen um einen künstlichen Gefährten. Forschungen mit Prototypen haben ergeben, dass die Anwesenheit eines Cobots die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen lindern kann, indem der Cobot Trost spendet, Gesellschaft leistet und emotional unterstützend wirkt.
2. Inwiefern unterscheiden sich Cobots von anderen Formen künstlicher Intelligenz?
Cobots werden mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet.
3. Ist jeder Cobot ein Unikat?
Ein Cobot gleicht äußerlich dem verlorenen Menschen. Dessen Äußerungen in den Social Media, Texte und andere Dokumente werden zu einer »neuronalen Datei« zusammengestellt, in der die Eigenarten und Charakterzüge der Persönlichkeit enthalten sind.
Da steht noch viel mehr, aber du kannst dich nicht länger konzentrieren und lässt das Papier sinken. Nur jemand wie Tim kann auf die Idee kommen, dass eine Frage-Antwort-Liste in so einer Lage hilfreich sein könnte.
»Ja, das ist dein Beruf.« Deine Erinnerung kehrt zurück. »Du entwickelst künstliche Intelligenz. Aber das hat doch mit Kundenservice zu tun … Chatbots …«
»Das stimmt«, fällt Tim dir ins Wort. »An so was habe ich tatsächlich gearbeitet, aber vor fünf Jahren. Deine Erinnerung reicht nur so weit zurück. Nachdem ich dich verloren hatte, musste ich mich vor allem mit meiner Trauer befassen. Es hat all die Jahre gedauert, dich so weit zu entwickeln.«
Es dauert eine Weile, bis du diese Worte verarbeiten kannst. Verloren. Trauer. Dir wird bewusst, was Tim dir da sagen will.
»Du willst mir sagen, dass ich gestorben bin.« Ich starre ihn an. »Also, ich als realer Mensch bin gestorben. Vor fünf Jahren. Und du hast mich irgendwie in dieser Form wieder zum Leben erweckt?«
Tim antwortet nicht.
Deine Gefühle sind verworren. Da ist Fassungslosigkeit, aber auch Entsetzen, bei der Vorstellung, was Tim durchgemacht haben muss. Zumindest musstest du das nicht miterleben.
Cobots werden mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet.
Und Danny. Du hast fünf Jahre seines Lebens versäumt.
Beim Gedanken an Danny erfasst dich eine vertraute Wehmut. Eine Wehmut, die du dir sofort verbietest. Und beides – die Wehmut wie auch das Verbieten – fühlt sich so normal und vertraut an, dass es sich nur um deine eigenen Gefühle handeln kann.
Oder?
»Kann ich mich bewegen?«, fragst du und versuchst dich aufzusetzen.
»Ja. Zu Anfang wirst du dich ein bisschen steif fühlen. Vorsicht!«
Du stellst die Füße auf den Boden und versuchst, dich aufzurichten, aber deine Beine sind schwach. Tim hält dich gerade noch rechtzeitig fest.
»Erst einen Fuß, dann den anderen«, sagt er. »Langsam Gewicht draufgeben. So ist es besser.«
Er stützt dich am Ellbogen, als du vorsichtig zum Spiegel gehst.
Jeder Cobot gleicht äußerlich dem verlorenen Menschen.
Das Gesicht, das dir über dem blauen Kittel entgegenblickt, ist dein Gesicht. Aufgequollen, mit Blutergüssen und einem Abdruck unter dem Kinn, wie von der Kordel eines Huts, den Soldaten bei einer Parade tragen. Aber du bist es. Nichts Künstliches.
»Ich glaube dir nicht«, sagst du recht gelassen und bist plötzlich sicher, dass Tim Unsinn redet. Dass dein Mann – dein hyperintelligenter, dich liebender, aber zweifellos ziemlich obsessiver Mann – wahnsinnig geworden ist. Er hat schon immer zu viel gearbeitet, bis an seine Grenzen. Jetzt ist er offenbar komplett durchgedreht.
»Das ist erst mal schwer zu begreifen, ich weiß«, sagt er leise. »Aber ich werde es dir beweisen. Schau.«
Er greift in deinen Nacken, ertastet etwas unter deinen Haaren. Ein schmatzendes Geräusch, ein seltsames kaltes Gefühl. Dann wird deine Haut – deinGesicht – abgestreift wie ein Taucheranzug, und darunter kommt ein harter, weißer Plastikschädel zum Vorschein.
Du kannst nicht weinen, merkst du. So entsetzt du auch bist, du hast keine Tränen. Daran wird noch gearbeitet, sagt Tim ruhig. Sprachlos starrst du dieses grauenhafte Ding an, das aus dir geworden ist. Ein Crashtest-Dummy, eine Schaufensterpuppe. Hinter deinem Kopf ein Bündel Kabel wie ein grotesker Pferdeschwanz. Tim zieht dir die Gummihaut wieder übers Gesicht, und du bist wieder du. Aber die Erinnerung an dieses scheußliche glatte Plastikwesen hat sich dir ins Gedächtnis gebrannt.
Falls du so was überhaupt hast. Und nicht nur ein neuronales Netz, oder wie man das nennt.
Du siehst im Spiegel, dass dein Mund offen steht, Ausdruck von Verblüffung. Und du spürst, wie winzige Mechanismen unter deiner Haut surren und deinen Mund in diese Position ziehen. Als du genauer hinschaust, merkst du auch, dass dein Gesicht nicht ganz echt wirkt, etwa so als habe man deinen Kopf nach einem Foto gestaltet.
»Lass uns nach Hause gehen«, sagt Tim. »Dort wirst du dich wohler fühlen.«
Nach Hause. Wo ist das? Du weißt es nicht mehr. Dann – klack – stellt sich eine Erinnerung ein. Dolores Street im Zentrum von San Francisco.
»Ich bin dortgeblieben«, fügt Tim hinzu. »Weil ich dort sein wollte, wo wir zusammen gelebt haben. Wo wir so glücklich waren.«
Du nickst benommen. Hast irgendwie das Gefühl, dass du Tim danken solltest, aber es geht nicht. Du bist wie gelähmt, starr vor Grauen.
Tim nimmt deinen Arm, führt dich aus dem Zimmer. Die Krankenschwester – falls sie überhaupt eine war – ist nirgendwo zu sehen. Quälend langsam bewegst du dich den Flur entlang und schaust dabei in andere Zimmer, in denen auch Patienten in blauen Hemden liegen. Eine alte Dame sieht dich mit trübem Blick an. Ein kleines Mädchen mit braunen Locken schaut zu dir herüber und beobachtet dich. Dir fällt auf, dass die Kopfbewegung seltsam ruckartig wirkt, wie bei einer Eule. Und im nächsten Raum ist kein Mensch untergebracht, sondern ein Hund, ein Boxer, der den Kopf auch so merkwürdig bewegt …
»Die sind alle wie ich«, sagst du, als du plötzlich begreifst. »Alle sind …« Wie war das Wort noch gleich? »Cobots.«
»Ja, aber sie sind ganz anders als du. Du bist einzigartig, sogar hier.« Tim schaut sich verstohlen um, hält deinen Ellbogen fester, drängt dich, schneller zu gehen. Du spürst, dass er noch immer etwas vor dir verbirgt; dass er dich nicht einfach so mitnehmen dürfte.
»Ist das hier ein Krankenhaus?«
»Nein. Mein Arbeitsplatz. Meine Firma.« Er legt dir die andere Hand auf den Rücken und schiebt dich vorwärts. »Komm. Draußen wartet ein Wagen auf uns.«
Du kannst nicht schneller gehen, deine Knie lassen sich kaum beugen, es kommt dir vor, als seist du auf Stelzen unterwegs. Doch als du an deine Knie denkst, wird es plötzlich ein wenig einfacher.
»Tim!«, ruft jemand aufgeregt. »Tim, warte!«
Erleichtert wegen der Pause, bleibst du stehen und siehst dich um. Ein stämmiger Mann, etwa so alt wie Tim, mit langen strähnigen Haaren eilt auf euch zu.
»Nicht jetzt, Mike«, sagt Tim in warnendem Tonfall.
Der Mann bleibt stehen. »Du nimmst sie mit? Jetzt schon? Hältst du das für eine gute Idee?«
»Sie wird sich zu Hause wohler fühlen.«
Der Mann beäugt dich besorgt. Auf seinem Sicherheitsausweis, den er an einem Band um den Hals trägt, steht DR. MIKE AUSTIN. »Sie sollte zumindest noch von meinem Psychoteam durchgecheckt werden.«
»Sie ist in Ordnung«, erwidert Tim entschieden und öffnet eine Tür zu einem großen Raum, in dem an langen Tischen circa vierzig Leute vor Bildschirmen sitzen. Jetzt hören alle auf zu arbeiten und starren dich an. Eine junge Asiatin hebt die Hände und beginnt langsam zu klatschen. Tim wirft ihr einen genervten Blick zu, und sie schaut wieder auf ihren Monitor.
Tim führt dich durch das Büro, in einen kleinen Empfangsbereich. Hinter dem Tresen prangt an der Wand leuchtend bunt der Spruch: IDEALISMUS IST NUR LANGFRISTIGER REALISMUS. Irgendetwas daran kommt dir vertraut vor. Du möchtest stehen bleiben und dir das genauer anschauen, aber Tim drängt dich weiter.
Draußen ist es gleißend hell. Du keuchst erschrocken und überschattest die Augen, während ihr an einem glänzenden Stahlschild mit der Aufschrift SCOTT ROBOTICS vorbeigeht. Die Initialen S und R haben die Form aufrecht gestellter Unendlichzeichen. Ihr steigt in den wartenden Toyota Prius. »In die City«, sagt Tim zu dem Fahrer, während du versuchst, deine sperrigen Glieder auf den Rücksitz zu manövrieren. »Dolores Street.«
Nachdem ihr beide eingestiegen seid, ergreift Tim deine Hand. »So lange habe ich auf diesen Tag gewartet, Abbie«, sagt er. »Ich bin so glücklich, dass du endlich da bist. Dass wir endlich wieder zusammen sind.«
Du merkst, dass der Fahrer dich im Rückspiegel neugierig betrachtet. Als der Mann losfährt, wirft er einen Blick auf das Firmenschild, dann wieder auf dich. Er scheint zu begreifen.
Und dann siehst du den Abscheu in seinen Augen.
Von Tims Plan, jemanden als Artist-in-Residence in die Firma zu holen, erfuhren wir erst, als wir Tim mit Mike darüber reden hörten. So was war typisch für Tim. Wir wurden von ihm angehalten, offener und enger zusammenzuarbeiten, aber für ihn selbst galt die Regel nicht. Auf Mike hörte Tim sogar gelegentlich mal, immerhin hatten die beiden Scott Robotics vor fast zehn Jahren zusammen in Mikes Garage gegründet. Die Garage hatte Mike gehört, aber die Firma war nach Tim benannt. Damit wusste man eigentlich alles über das Verhältnis der beiden.
Was nun dieses Künstlerprojekt anging, besprach Tim es auch nicht mit Mike, sondern setzte ihn in Kenntnis darüber. Gleichermaßen typisch für Tim war die vorangehende laute Tirade darüber, wie idiotisch und falsch und vorsintflutlich bei uns alles ablief – obwohl wir genauso arbeiteten, wie er es beim letzten Ausbruch dieser Art von uns verlangt hatte.
»Scheiße noch mal, wir müssen endlich aufwachen, Mike«, wetterte er mit seinem britischen Akzent. »Wir müssen kreativer sein. Schau dir doch nur mal diese Leute an«, seine Geste schloss alle im Großraumbüro der Firma ein. »Du kannst mir nicht weismachen, dass die Paradigmen hinterfragen. Die müssen inspiriert und stimuliert werden. Und das erreicht man nicht mit Gratis-Bagels und Pilates.«
Einem Reporter hat Tim mal gesagt, eine Zukunftsvision zu haben und dann auf deren Verwirklichung warten zu müssen, sei wie im Verkehrsstau stecken. Der Mann ist alles andere als geduldig. Aber wir alle haben noch nie mit jemandem gearbeitet, der so genial ist wie Tim Scott.
»Und deshalb holen wir jetzt eine Künstlerin ins Haus«, verkündete er also. »Sie heißt Abbie Cullen, ist sehr intelligent und verbindet Kunst mit Technik. Ich finde sie total spannend. Wir geben ihr ein halbes Jahr.«
»Um was zu tun?«, fragte Mike.
»Worauf sie Lust hat. Darum geht es ja gerade. Sie ist Künstlerin, keine Stechuhr-Arbeitsdrohne.«
Falls jemand in unseren Reihen wegen dieser Bemerkung beleidigt war – und wir hatten einige Millionäre im Team, Veteranen von bedeutenden Silicon-Valley-Start-ups –, ließ es sich jedenfalls keiner anmerken; obwohl wir uns schon fragten, ob die Tage der Gratis-Bagels jetzt gezählt waren.
Mike nickte. »Okay, dann mal los.«
Wir warteten, dass Tim, wie vor seinen Ankündigungen üblich, »Hört mal alle her, Leute!« schreien würde. Aber er war schon in sein Glaskabuff zurückgestürmt.
Die meisten von uns gaben bereits Abbie Cullen Künstlerin in die Suchmaschine ihrer Wahl ein. (Für Menschen, die mit Technologie arbeiten, ist Arbeit mit Google oder Bing so, als würde ein Craft-Beer-Brauer Budweiser saufen.) Wir waren also alle sofort im Bilde über die schlichten Fakten: Abbie Cullen hatte kürzlich beim South by Southwest und beim Burning Man ausgestellt, stammte ursprünglich aus dem Süden, war vierundzwanzig, rothaarig, eine aufregende Schönheit und Surferin. Auf ihrer Homepage war das simple Statement zu lesen: »Ich baue Kunstobjekte aus der Zukunft.«
Wer Videos von ihren Arbeiten fand, schickte sie den anderen. Sieben Schleier bestand aus Ventilatoren, in einem Kreis so angeordnet, dass in der Mitte schmale Streifen bunter Seide umherwirbelten. Erde, Wind und Feuer war eine wild lodernde Flamme über einem Gasbrenner, die sich in Luftströmen in alle Richtungen bog. Am eindrucksvollsten fanden wohl alle Pixels, ein Gitter, auf dem zig federleichte Bälle ein Muster bildeten. Sie schienen auf einem Luftkissen zu schweben, standen aber auch in Interaktion mit dem Betrachter. Manchmal bewegten sie sich flink wie ein Fischschwarm, manchmal schienen sie eher träge zu schwappen wie Wellen hinter einem Boot. Oder sie bildeten erkennbare Formen: einen Kopf, eine Hand, ein Herz. In einem Video sah man ein kleines Mädchen in die Hände klatschen, worauf die Bälle zuerst abrupt zu Boden fielen und dann so argwöhnisch wieder nach oben krochen, wie eine Herde Kühe sich einem Wanderer annähert. Das Kunstwerk war verspielt, eigenartig und bezaubernd, und obwohl es keine eindeutige Botschaft hatte, brachte es etwas zum Ausdruck, auch wenn sich das nicht leicht in Worte fassen ließ.
Aber was hatte so was mit uns und unserer Arbeit zu tun? Wir, ein Team aus Männern und Frauen, waren Ingenieure, Mathematiker, Programmierer, die intelligente Schaufensterpuppen für Designer-Stores entwickelten: Shopbots, Tims bahnbrechende Idee, mit der er in den letzten drei Jahren fast achtzig Millionen Dollar an Start-up-Geldern an Land gezogen hatte. Wozu brauchten wir jetzt eine Künstlerin? Das konnte sich keiner von uns erklären. Aber wir hatten schon lange gelernt, Tims Entscheidungen nicht zu hinterfragen.
Tim war ein Visionär, ein »Wunderkind«, und nur seinetwegen arbeiteten wir alle in diesem Unternehmen. Was Bill Gates für den PC war, Steve Jobs für das Smartphone und Elon Musk für das Elektroauto, das war Tim Scott für künstliche Intelligenz – oder würde es jedenfalls bald sein. Wir bewunderten und fürchteten ihn, aber sogar diejenigen, die wieder gehen mussten, hatten größten Respekt vor ihm. Viele mussten wieder gehen, denn Scott Robotics war nicht nur ein Unternehmen, sondern eine Mission, ein Wettrennen und ein Blitzkrieg im Kampf um die Zukunft der Menschheit. Und Tim war nicht nur Unternehmensgründer, sondern der Kommandeur, der in vorderster Reihe focht, unser persönlicher Alexander der Große. Seine schlaksige Gestalt, das markante Rockstar-Gesicht und das alberne Kichern täuschten über seinen eisernen Willen hinweg, eine Eigenschaft, die er übrigens auch von uns verlangte. Zwanzig-Stunden-Arbeitstage waren eine Selbstverständlichkeit, und die Uniabsolventen aus Stanford, die Tim üblicherweise einstellte, fühlten sich von diesem aberwitzigen Arbeitsethos eher angespornt als ausgebeutet. (Tims Stil bei Vorstellungsgesprächen war übrigens legendär. Man wurde in sein Kabuff geführt, er schrieb E-Mails und sagte irgendwann, ohne aufzuschauen: »Ich höre.« Dann sollte man erklären, warum man für ihn arbeiten wollte. Hatte man diese erste Hürde genommen, kam das, was wir als »Feuerprobe« bezeichneten. Manchmal bestand sie aus einer rechnerischen Frage: »Wie viel Quadratmeter Pizza werden pro Jahr in den USA gegessen?« Es gab auch die philosophische Variante – »Was ist das Schlimmste an der Menschheit?« – oder die technisch-praktische: »Warum sind Gullydeckel rund?« Meistens ging es aber ums Programmieren. Dann konnte die Frage lauten: »Wie würden Sie einen künstlichen Politiker programmieren?« Das war nicht nur hypothetisch gemeint, sondern Tim erwartete dann, dass man konkret Programmzeilen ausspuckte, und zwar ohne Stift und Papier, geschweige denn einen Rechner. War man gut, sagte er das mit einem einzigen Wort, an die E-Mails gerichtet, an denen er währenddessen weitergearbeitet hatte: »Cool.« Wenn er dagegen leise sagte: »Das war ziemlich mau«, war man raus.)
Seine Ungeduld war ebenfalls legendär und Teil seines Charismas; Beweis dafür, dass die Mission dringlich war, dass jede Sekunde zählte. Tim pinkelte sogar im Eiltempo, wie ein Angestellter berichtete, der neben ihm am Urinal gestanden hatte (der Mann litt seither an Pinkelhemmung). Tims Sprechstil war auch beachtlich: In kurzen, präzisen Sätzen wurde man mit Anweisungen und/oder Verbalinjurien bombardiert. Wer in der Firma aufsteigen wollte, versuchte, mit Tims knappem Londoner Tonfall zu sprechen, dem absoluten Gegenteil vom lässigen, leicht fragenden Akzent Nordkaliforniens. Tim war eine Art wandelndes Kraftfeld, in das alle anderen hineingezogen wurden. Wenn er einem in die Augen schaute und sagte: »Du musst heute Abend nach Mumbai fliegen«, fühlte man sich geehrt, weil man die Chance bekam, sich zu beweisen. Sagte Tim dagegen: »Ich übernehme deinen Auftrag«, war man am Boden zerstört.
Es hatte durchaus etwas von einem Kult. Nicht umsonst nannte man uns im Silicon Valley die Scottbots. Die Mission konnte verbessert, aber nicht angezweifelt werden. Der Führer mochte Schwächen haben, doch er irrte sich niemals. Bei Kostümpartys – seltsamerweise liebte Tim Kostümpartys – gingen die meisten von uns als Figuren aus Star Wars oder Matrix. Tim dagegen war immer der Sonnenkönig, mit Schnallenschuhen, Justaucorps, gigantischer Perücke und Krone.
Auch seine Herkunft war Teil der Legende. Die Armut in der Kindheit, die Misshandlungen, die ihn dazu gebracht hatten, mit elf die Schule abzubrechen und sich selbst auszubilden. Sein Interesse an Chatbots zu einer Zeit, als andere gerade lernten, wie man ein Smartphone benutzt oder sich etwas im Internet bestellt. Dann entwickelte er Axel, einen Kundenservice-Bot, der nicht robotermäßig höflich und entnervend unterwürfig, sondern hochintelligent, effizient, geistreich und cool war – eigentlich wie Tim selbst, sagten einige. Axels Rechtschreibung war nicht immer korrekt, und er verzichtete auf Großbuchstaben. Er spickte seine Antworten mit Emojis und witzigen Anspielungen auf Nerd-Kultur, Zitaten aus South Park zum Beispiel oder Sprüchen aus Sci-Fi-Filmen. Axel kam einem vor wie ein Teenager-Wizard-Genie, das Probleme aus reinem Spaß an der Freude löst. Es wunderte niemanden, dass Google Axel für sechzig Millionen Dollar kaufte.
Mit dreiundzwanzig hörte Tim bei Google auf, nahm Mike mit und gründete mit ihm Scott Robotics. Ihr erster Erfolg – der in der bereits erwähnten Garage entstand – war Voyce, ein Telefon-Chatbot, der erheblich effizienter arbeitete als jeder Mensch. Danach ging der Erfolgskurs ungebremst weiter. Tim war besessen von der Vision, dass KIs lebensecht sein sollten. »Eines Tages werden Tastatur und Maus so hoffnungslos veraltet sein wie Lochkarte und Diskette heutzutage«, gehörte ebenso zu seinen persönlichen Mantras wie: »Man kann die Zukunft nicht ändern, ohne Regeln zu ändern.« Die Shopbots waren ein kühner Fortschritt. Noch niemand hatte bislang KIs direkt mit Menschen kommunizieren lassen, ohne Bildschirm oder Telefon als Zwischenmedium. Aber die Idee war brillant und rechnete sich auch. Hochwertige Schaufensterpuppen kosteten richtig Geld, auch Verkaufspersonal war teuer und stand oft nur nutzlos herum. Noch teurer waren kompetente und sympathische Einkaufsberater. Dieser Sektor war reif für einen innovativen Durchbruch, und Scott Robotics – unsere kleine Bande – würde ihn schaffen, indem alle drei Bereiche kombiniert wurden.
Und nun sollte eine Künstlerin uns behilflich sein. Hätten wir gewusst, wie das enden würde – hätte einer unserer Futurologie-Experten die Zukunft voraussagen können –, wir wären wohl nicht so unbekümmert gewesen. Doch selbst wenn: Ob wir dann etwas dagegen gesagt hätten? Unwahrscheinlich. In diesem Unternehmen wurde nicht darüber diskutiert, wo die Reise hingehen sollte.
Tim schweigt während der Fahrt. Small Talk hat ihm noch nie gelegen, aber jetzt kommt es dir eher vor, als sei er völlig erschöpft. Dir fällt wieder ein, dass er nach großen Präsentationen für die Investoren immer in diesen Zustand geriet: Nach wochenlanger besessener Arbeit im Büro war er so erledigt, dass er kaum noch sprechen konnte.
Und bei dir setzt der Schock jetzt erst richtig ein. Der Abscheu im Blick des Fahrers ist nichts gegen den Ekel und die Selbstverachtung, die du jetzt empfindest.
»Du hättest es so gewollt, Abs«, sagt Tim irgendwann. »Glaub mir das. Ich weiß, es fühlt sich bestimmt erst mal seltsam an, aber du wirst dich daran gewöhnen. Du warst immer der mutigste Mensch, den ich kannte.«
Warst du mutig? Bilder tauchen auf: Du surfst in Linda Mar auf einer großen Welle. Du schmiedest ein Kunstwerk, Funken sprühen vor den blauen Gläsern deiner Schutzbrille. Doch dann nichts mehr. Nebel.
Du schaust aus dem Fenster, versuchst schaudernd, dein Spiegelbild zu ignorieren. San Francisco wirkt unbekannt und vertraut zugleich auf dich, wie ein Land, in das du nach vielen Jahren zurückkehrst, ein Exil, das du fast vergessen hast. Die Gebäude sehen beinahe wie damals aus, aber anderes hat sich verändert: Die Smartphones in den Händen der Menschen sind größer statt kleiner geworden, es gibt mehr E-Bikes als früher, die gelben Taxen wurden durch diese weißen Toyota-Prius-Hybridwagen ersetzt. Und der Mission District ist gentrifizierter, an jeder Ecke gibt es Bio-Cafés.
Dann biegt der Fahrer ab, und plötzlich ist alles vollkommen unbekannt, du hast nur Nebel im Kopf.
»Warum kann ich mich an das hier jetzt nicht erinnern?«, fragst du panisch.
»Um Erinnerungen herzustellen, braucht man viel Rechenleistung. Ich musste Prioritäten setzen. Die Lücken werden sich im Lauf der Zeit schließen.«
Ein Mülllaster auf der anderen Straßenseite fährt über eine Plastikflasche. Du hörst das Knacken und Knirschen und triffst eine Entscheidung. Das wirst du in ein paar Tagen auch machen: dich vor einen Laster werfen. Der Tod ist besser als so ein widerwärtiges pervertiertes Dasein. Doch noch während du das denkst, fragst du dich, ob du mutig genug dafür sein wirst. Und selbst wenn: Würden Tims Techniker deine Einzelteile nicht einfach aufsammeln und dich wieder zusammenflicken?
Zusammenflicken … Erneut fällt dir auf, dass du keine Ahnung hast, was mit dir passiert ist.
»Wie bin ich gestorben?«, hörst du dich selbst fragen.
Tim wirft dir einen angespannten Blick zu. »Wir reden darüber, ich versprech es dir. Aber noch nicht jetzt. Das könnte zu anstrengend für dich sein.«
Das Taxi hält vor einem elektrischen Tor. Dahinter siehst du euer Haus, eine schöne weiße Holzvilla. Trotz der astronomischen Preise in der Innenstadt hätte Tim sich ein weitaus prachtvolleres Anwesen leisten können. Er war enorm reich, auch im Vergleich mit anderen Spitzenverdienern seiner Branche. Aber Protzen war nicht sein Stil. Du fragst dich, ob in der Garage noch immer der alte VW-Bus steht.
»Willkommen zu Hause«, sagt Tim leise.
Die Haustür klemmt, und es dauert ein paar Momente, sie aufzukriegen. Das kommt dir bekannt vor, auch die Haltung, in der Tim geduldig mit dem Schlüssel hantiert. Du schaust dich um und entdeckst eine kleine Videokamera über der Tür. Noch ein Upload.
Im Haus ist vieles vertraut und fremd zugleich, wie in Räumen, die man aus der Kindheit kennt.
»Ich führ dich rum«, sagt Tim aufmunternd. »Damit sich Lücken schließen.«
Zuerst die Küche. Lichtdurchflutet und behaglich, aber mit einem ultramodernen Gasherd. Mauviel-Töpfe hängen von der Decke wie ein Windspiel aus Kupferteilen. Du öffnest den nächstbesten Schrank. Gläser mit frischen, ungemahlenen Gewürzen, ordentlich aufgereiht und von dir selbst säuberlich beschriftet.
»Du kochst gerne«, erklärt Tim.
Ach ja? Du versuchst dich an etwas zu erinnern, das du zubereitet hast, aber dir will nichts einfallen. Dann plötzlich – klack – Hunderte von Instagram-Bildern. Du hattest sogar Follower, die deine Kreationen nachgekocht haben.
Du deutest auf eine Schale mit Objekten, die dir fast außerirdisch vorkommen. Sie leuchten so sehr, dass dir die Augen schmerzen. »Was ist denn das?«
»Das?« Tim reicht dir so ein Ding. »Orangen.«
»Orange ist eine Farbe.«
»Ja. Eine Farbe, die nach einer Frucht benannt wurde.«
Du betrachtest eine der Früchte von allen Seiten. Dann kommt dir ein Gedanke. »Meine Haare haben auch diese Farbe. Aber die Leute sagen, sie sind rot, nicht orange.«
»Ja. Rot ist eine Farbe. Aber keine Frucht.«
»Rot ist auch die Farbe des Blutes. Und gilt als die Farbe der Liebe.« Klack. Verwirrt hältst du inne. »Habe ich mich daran jetzt erinnert, oder hab ich das nur geraten?«
»Weder das eine noch das andere.« Ein Lächeln vertreibt die Erschöpfung aus Tims Gesicht. »Das nennt man ›maschinelles Lernen‹. Ohne dass du es gemerkt hast, hat dein Gehirn gerade in der Cloud einen Abgleich für Farben gefunden. Und das Verrückte dabei ist, dass nicht mal ich dir exakt erklären könnte, wie du das gemacht hast. Ich kann sehen, was auf dem Bildschirm passiert, aber nicht alles nachvollziehen. Ich sag meinen Angestellten immer: KIs funktionieren längst autonom. Du bist mein technischer Durchbruch.«
An seinem Tonfall merkst du, wie stolz Tim auf dich ist. Ein Teil von dir möchte diesen Stolz genießen. Aber du denkst nur: Ich bin ein Monstrum.
»Wie kannst du mich denn nur in diesem Zustand lieben?«, fragst du verzweifelt.
Einen Moment lang sieht Tim aufgebracht, fast wütend aus. Dann entspannt sich sein Gesicht. »Lieb’ ist ja nicht Liebe / Wenn sie beim Wankelmuth sich kann vermindern«, zitiert er. »Sonett 116, weißt du noch? Wir haben es bei unserer Hochzeit vorgetragen, jeder sechs Verse. Und die letzten beiden gemeinsam.«
Du schüttelst den Kopf. Nein, das weißt du nicht mehr.
»Es wird wiederkommen.« Du fragst dich, ob er die Erinnerung oder das Gefühl meint. »Und diese Worte waren für uns nicht nur Schein. Du warst schon immer einzigartig, Abbie. Unersetzlich. Die perfekte Ehefrau. Die perfekte Mutter. Die Liebe meines Lebens. So etwas sagen viele, aber ich habe es wirklich so empfunden. Nachdem ich dich verloren hatte, haben mir viele Leute gesagt, ich solle dich innerlich loslassen und mir eine neue Partnerin suchen. Aber ich wusste, dass ich dazu nicht imstande sein würde. Deshalb habe ich dich auf diese Art wiedererschaffen. Ob das richtig war? Ich weiß es nicht. Aber ich musste es einfach versuchen. Und dich hier in unserem Haus zu erleben und sprechen zu hören … das ist jetzt schon all die Jahre wert, die ich dafür gearbeitet habe. Ich liebe dich, Abbie, und ich werde dich für immer und ewig lieben, wie ich es dir bei unserer Hochzeit versprochen habe.«
Er verstummt und wartet ab.
Du weißt wohl, dass du nun Ich liebe dich auch sagen solltest. Und natürlich liebst du ihn. Aber der Schock ist noch zu heftig. Und wenn du ihm jetzt eine Liebeserklärung machen würdest, wäre das, als würdest du sagen: Ja, du hast alles richtig gemacht, mein Liebster. Ich bin froh, dass du mich als monströses, abscheuliches Stück Plastik zum Leben erweckt hast. Denn so kann ich wieder mit dir zusammen sein.
Auch ich liebe und ehre dich mehr als das Leben selbst.
»Sollen wir weitergehen?«, unterbricht Tim nach ein paar Momenten das Schweigen.
Er führt dich nach oben. Du musst dich am Geländer festhalten und vorsichtig jede Stufe nehmen.
»Das waren alles deine«, sagt Tim und weist auf ein Regal, das im Flur die ganze Wand einnimmt. »Du hast Bücher geliebt, weißt du noch? Und da ist Dannys Zimmer.«
Dieser Raum am Treppenabsatz sieht nicht wie ein Kinderzimmer aus. Keine Vorhänge, kein Teppich, weder Comics noch Bilder oder Spielsachen. Außer dem Bett gibt es nur einen kleinen Fernseher und ein Regal mit DVDs. Die meisten Menschen würden das als erschreckend kahl empfinden, aber du weißt, dass es für ein Kind wie Danny entspannend ist. Oder zumindest weniger bedrohlich.
»Wie geht es ihm?«, fragst du.
»Er macht Fortschritte. Langsam natürlich, aber …« Tim verstummt.
»Meinst du, er wird mich erkennen?«
Tim schüttelt den Kopf. »Ich fürchte, nicht. Tut mir leid.«
Du spürst einen Anflug von Traurigkeit. Aber nach fünf Jahren würde vielleicht auch ein gesundes Kind seine Mutter nicht mehr wiedererkennen. Geschweige denn ein Kind wie Danny. Euer Sohn leidet an einer desintegrativen Störung des Kindesalters, dem sogenannten Heller-Syndrom. Diese Erkrankung kommt so selten vor, dass die meisten Kinderärzte in ihrer Laufbahn nie damit zu tun haben und es wohl für ausgeschlossen halten würden, dass ein gesundes vierjähriges Kind innerhalb weniger Wochen stark autistisch werden kann. Dass es, statt ganze Sätze zu sprechen, nur noch kreischt und grunzt und Dialogfetzen aus dem Kinderfernsehen von sich gibt. Dass es auf den Teppich pinkelt und aus der Kloschüssel trinken will. Dass es sich grundlos büschelweise Haare ausreißt oder sich in die Arme beißt, bis sie bluten.
Wenn ein Kind stirbt, wird das als Tragödie erlebt. Die Eltern trauern, aber es besteht immerhin die Möglichkeit, dass die Trauer eines Tages ein wenig nachlässt. Doch das Heller-Syndrom macht aus einem Kind einen sabbernden Zombie. In gewisser Weise ist das schlimmer als ein Todesfall. Denn man liebt dieses fremde Wesen weiter, obwohl man zugleich um das liebenswerte Kind trauert, das man verloren hat.
Man erlebt eine seltsame Umkehrung in sich: Wenn man endlich erfahren hat, woran das Kind leidet, will man es nicht glauben, denn es gibt keine Heilung. Stattdessen klammert man sich an die Hoffnung, es könnte ein Gehirntumor, Epilepsie oder noch etwas anderes sein, worüber man im Internet recherchieren kann. Irgendetwas, das einen kleinen Hoffnungsschimmer verheißt.
»Wo ist er jetzt?«, fragst du.
»Er geht auf eine tolle Förderschule auf der anderen Seite der Stadt. Sian – sie war dort als Pädagogin tätig, bis ich sie als permanente Betreuerin eingestellt habe – bringt Danny jeden Morgen hin und arbeitet danach zu Hause mit ihm an seinem Therapieprogramm. Die Schule ist leider weit weg, aber es ist die beste in ganz Kalifornien für Kinder wie Danny.«
Du hast so viel versäumt, denkst du. Danny geht zur Schule.
Tim öffnet eine weitere Tür. »Und das ist unser Schlafzimmer.«
An einer Wand des geräumigen Zimmers hängt das fast lebensgroße Porträt einer rothaarigen Frau. Ihre vielen Zöpfchen – Dreadlocks beinahe – sind hochgesteckt, am linken, dem Betrachter zugewandten Ohr sieht man drei große Stecker. Die Frau trägt ein langes gestreiftes Hemd, das im unteren Teil voller Farbflecken ist, als habe sie ihren Pinsel daran abgewischt. Sie wirkt fröhlich, wie ein optimistischer, temperamentvoller Mensch. Ein Tattoo, ein kunstvolles keltisches Muster, schlängelt sich vom Halsansatz über einen Arm.
Du schaust auf deinen fleischfarbigen Gummiarm.
»Tattoos sind nicht möglich«, sagt Tim. »Die würden das Hautmaterial beschädigen.« Er zeigt auf das Bild. »Aber ansonsten ist doch alles ziemlich gelungen, findest du nicht?«
Er meint, dass du als Kopie des Gemäldes gut gelungen bist, nicht umgekehrt. Man hat es wohl gescannt, um dich anzufertigen.
Ist die Frau auf dem Gemälde wirklich du? Sie wirkt irgendwie zu selbstverliebt, zu cool. Du schaust auf die schwungvolle Signatur in der unteren linken Ecke. Abbie Cullen.
»Normalerweise hast du nicht mit Ölfarben gemalt«, sagt Tim. »Dieses Bild war dein Hochzeitsgeschenk für mich. Du hast monatelang daran gearbeitet.«
»Wow … und was hast du mir geschenkt?«
»Das Strandhaus«, antwortet er trocken. »Ich hab es als Überraschung für dich bauen lassen. Mit einer großen Garage, die du als Studio nutzen konntest. Du hast viel Platz gebraucht für deine Projekte.« Er öffnet eine Tür gegenüber vom Schlafzimmer. »Aber wenn wir in der Stadt waren, hast du hier gearbeitet. Auch das Selbstporträt ist hier entstanden.«
Die Dielen in dem kleinen Raum sind mit Farbflecken übersät. Auf einem Tapeziertisch Gläser voller angetrockneter Pinsel und Tuben mit hart gewordener Acrylfarbe. Und ein silberner Füller in einem Halter. Auf dem Schaft eine Gravur: ABBIE. AUF IMMER UND EWIG. TIM.
»Die Tinte ist sicher verdunstet«, sagt er. »Ich besorg dir neue. Am besten, ich fange gleich mal eine Liste an.«
Benommen zupfst du an dem Krankenhaushemd, das du immer noch trägst. »Ich würde mich gerne umziehen.«
»Na klar. Deine Kleider sind da drin.« Er zeigt dir den begehbaren Schrank, einen kleinen Raum, der vom Schlafzimmer abzweigt. Die Kleider sind zauberhaft: Boho-Chic, in leuchtenden, kraftvollen Farben und aus wunderbaren Stoffen. Du betrachtest die Label: Stella McCartney, Marc Jacobs, Céline. Du hattest einen guten Geschmack, denkst du. Und dank Tim ein üppiges Budget.
Du suchst ein weites indisches Kleid aus, das problemlos zu tragen ist. »Ich lass dich mal alleine«, sagt Tim taktvoll und geht raus.
Wegen der Erinnerung an den grässlichen Plastikschädel wendest du den Blick vom Spiegel ab, als du das Hemd ausziehst. Aber dann musst du doch hinschauen. Seit Dannys Geburt war dein Körper nicht mehr so muskulös, denkst du unwillkürlich …
Aber das ist ja gar kein Körper. Die Glieder wurden in einer Werkstatt zusammengefügt, deine Hautfarbe aufgesprüht. Und unterhalb der Taille ist alles so glatt und geschlechtslos wie bei einer Puppe. Schaudernd schlüpfst du in das Kleid.
Unten ist ein Knallen zu hören, als die Haustür zufällt, dann trampelt jemand die Treppe herauf.
»Nicht rennen, Danny«, sagt eine Frauenstimme.
»Nich’ rennen«, murmelt eine Kinderstimme. »Rennen!« Die Schritte werden nicht langsamer.
Danny. Du fährst herum, siehst ihn an der offenen Tür vorbeistürmen. Schwarzer Haarschopf, ernstes Elfengesicht mit tief liegenden Augen. Liebe durchströmt dich. Wie groß er geworden ist! Aber er muss ja auch schon fast neun sein. Sein halbes Leben hast du versäumt.
Du folgst ihm in sein Zimmer, wo er sofort eine Kiste mit Spielzeuglokomotiven unter dem Bett hervorzieht. »Reihe machen. Reiiiiiihe«, murmelt er aufgeregt, als er sie, nach Größe sortiert und schnurgerade, an der Fußleiste aufreiht.
»Danny?«, sagst du. Er reagiert nicht.
»Danny, schauen«, sagt die Frauenstimme hinter dir entschieden. Jetzt blickt Danny auf, und sein Blick streift dich ausdruckslos. Er scheint dich nicht einmal als Menschen wahrzunehmen, geschweige denn als seine Mutter.
»Gutes Schauen. Gut gemacht.« Die junge Frau tritt an dir vorbei und geht neben Danny in die Hocke. Sie ist etwa Mitte zwanzig, trägt ihre blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden, wirkt heiter. »Abklatschen, Danny!«
»Sian, das ist …«, beginnt Tim.
»Ich weiß, was es ist«, erwidert Sian und wirft dir einen Blick zu, der noch gleichgültiger ist als der von Danny. »Abklatschen, Danny!«, wiederholt sie.
Ohne den Blick von seinen Loks abzuwenden, hält Danny die Hand in ihre Richtung, und Sian klatscht ab. »Gutes Schauen, gutes Abklatschen«, lobt sie. »Aber jetzt sollst du noch einmal die Treppe richtig raufgehen. Dann darfst du mit Thomas spielen.« Sie streckt die Hand aus. Als Danny nicht reagiert, sagt Sian fest: »Steh auf und nimm meine Hand, Danny.«
Widerstrebend steht er auf und ergreift ihre Hand. »Gut gemacht! Gutes Aufstehen!«, sagt Sian, als sie mit ihm hinausgeht.
»Sie ist eine exzellente Pädagogin«, sagt Tim, als die beiden ihn nicht mehr hören können. »Als sie zu uns kam, hat Danny sich nur mit Essen und Loks beschäftigt. Inzwischen gibt es mindestens zehn Äußerungen am Tag.«
»Das ist toll«, sagst du, obwohl das es noch immer wehtut. »Ich bin stolz auf euch beide.«
Du erinnerst dich daran, wie aufgeregt du warst, als ihr beide die Applied Behavior Analysis, ABA, entdeckt habt, mit der man angeblich autistische Kinder sogar heilen, sie aber zumindest in Gruppen gesunder Kinder integrieren kann. Ob du wohl die Kraft gehabt hättest durchzuhalten, hättest du damals gewusst, dass Danny fünf Jahre später immer noch selbst mit dem Blickkontakt Schwierigkeiten hat?
Du untersagst dir den Gedanken. Natürlich hättest du durchgehalten. Jeder kleine Fortschritt, so hart er auch erarbeitet werden muss, ist wertvoll.
Danny stapft wieder die Treppe herauf, aber diesmal langsamer, gefolgt von Sian. In seinem Zimmer reicht sie ihm eine blaue Lokomotive. »Gutes Gehen, Danny. Da ist Thomas.«
»Da ist Thomas«, wiederholt Danny, hockt sich hin und stellt die Lok neben die anderen.
Dann, ganz plötzlich, schaut er zu dir auf.
»Ma«, sagt er und lacht. »Ma-ma.«
»Hast du gerade Mama zu mir gesagt?«, fragst du völlig verblüfft.
Tim weint vor Freude. Du würdest auch weinen, wenn du könntest.
Abbie Cullen tauchte erst mehrere Wochen nach Tims Ankündigung in der Firma auf. Vielleicht musste sie noch einen Auftrag fertigstellen, mutmaßten wir, oder hatte Zweifel bezüglich der Zusammenarbeit. Wir hatten selten Besucher in der Firma, weil unsere Geldgeber höchsten Wert auf Sicherheit legten. Und die Lage des Unternehmens hatte man wegen der niedrigen Grundstückspreise gewählt, nicht weil man dort gut zu erreichen war. Dass Abbies Auftritt für großes Aufsehen sorgte, hatte also wohl weniger mit ihr als mit unserer Abgeschirmtheit zu tun.
Schon bevor Tim rief: »Alle mal herhören!«, hatten die meisten von uns Abbie im Empfangsbereich entdeckt. Spätestens als Tim auf sie zusteuerte, konnte man sie nicht mehr übersehen. Sie war über eins achtzig, trug Skinny Ripped Jeans und kniehohe Cowboystiefel. Der wilde Berg rotbrauner Zöpfchen auf ihrem Kopf ließ sie noch größer wirken. Ein schwarzes Tribal Tattoo – hawaiianisch, sagte später jemand, vielleicht auch keltisch oder maorisch – schlängelte sich von ihrem Hals über den linken Arm. Aber am meisten erstaunte uns alle, wie jung sie wirkte. In unserer Branche, in der man schon in seinen Zwanzigern als Veteran gelten kann, wirkte sie auffallend frisch und unverbraucht.
»Das ist Abbie Cullen, Leute. Unsere Artist-in-Residence«, verkündete Tim, als er mit ihr ins Großraumbüro kam. »Ihre Arbeiten sind fantastisch, informiert euch darüber. Sie wird ein halbes Jahr bei uns sein und an Projekten arbeiten.«
»Was für Projekte?«, fragte jemand.
Abbie selbst gab die Antwort. »Das habe ich noch nicht entschieden. Ich hoffe, es wird inspiriert sein von dem, was ihr hier macht.« Sie sprach mit einem leichten Südstaatenakzent, und ihr Lächeln war so strahlend, dass der Raum schlagartig heller wirkte.
Es war nicht klar, ob jemand ihn vorsätzlich losgeschickt hatte, aber jedenfalls steuerte einer der Shopbots in diesem Moment auf Abbie zu und sagte munter: »Wie geht es Ihnen heute? Die Jacke, die ich trage, würde Ihnen auch sehr gut stehen.« Natürlich trug der Bot keine Jacke; wir hatten diesen Satz einfach in den Prototyp einprogrammiert. »Wie wär’s, wenn wir uns gemeinsam nach etwas Passendem für Sie umsehen? Konfektionsgröße 38?«
»Du hast es erfasst«, sagte Abbie lachend, und obwohl die Szene nicht gerade rasend komisch war, stimmten wir alle in ihr Lachen ein. Es war, als hätte unser Kind zu einer bedeutenden Persönlichkeit etwas Unpassendes, aber Lustiges gesagt. Tim reagierte mit seinem jungenhaften Kichern, eine seiner wenigen nerdigen Schrullen.
»Abbie ist in K-3 untergebracht«, sagte er dann. Das war einer unserer Sitzungsräume. Abbie widersprach sofort.
»Ich würde lieber hier bei euch einen Arbeitstisch haben, wo ich mitkriege, was passiert. Wenn das für euch okay ist.«
»Wie du möchtest«, erwiderte Tim mit einem Achselzucken. »Unterstützt Abbie bitte in jeder Hinsicht, Leute. Und lernt von ihr. Kopiert ihr Gehirn. Reproduziert ihre Kreativität. Immer dran denken, dass sie zu eurem Nutzen hier ist, nicht umgekehrt.«
Wir alle fanden später, dass das nicht gerade eine besonders herzliche Begrüßung für Abbie gewesen war. Aber so war Tim nun mal.
Drei Wochen, hatte Tim prophezeit. Drei Wochen würdest du brauchen, um dich an deine neue Daseinsform zu gewöhnen.
Wie das meiste, was er von sich gibt, ist das nicht aus der Luft gegriffen, sondern beruht auf überprüfbaren Fakten. In den Fünfzigerjahren dokumentierte ein plastischer Chirurg namens Maxwell Maltz, wie lange Patienten nach einer Gesichtsoperation brauchten, um sich an die Veränderungen zu gewöhnen. Die Ergebnisse der Studie veröffentlichte er in einem Buch mit dem Titel Psychokybernetik, das zu einer der Bibeln von Tims Branche wurde.
Deshalb hat Tim nun geplant, drei Wochen zu Hause zu bleiben, um dir bei der Eingewöhnung zur Seite zu stehen. Er beginnt mit einem einfachen Programm, bringt dir Dinge aus dem Garten – einen eigenartig geformten Stein, ein Blatt, einen Vogelflügel – oder liest dir aus der Zeitung vor. Seine Freude, wenn er etwas entdeckt, das dein Gehirn noch nicht bearbeitet hat – wie die Orangen –, und er dir etwas Neues beibringen kann, ist ansteckend.
Wie bei einem Kind achtet er darauf, dass du nicht zu viel Zeit im Internet verbringst, und überprüft die Websites, weil er der Meinung ist, dass zu viel Information dein neues Gehirn überfordern würde. Geh, geh, geh, sagte der Vogel: Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit ertragen. Früher wusstest du, wer das geschrieben hat, aber du kannst dich nicht erinnern. Dein Gedächtnis ist mit Fragmenten angefüllt, die Tim hochgeladen hat, bevor du aufgewacht bist. Oder hochgefahren wurdest, wie er manchmal auch sagt.
Dann – klack – ist die Antwort plötzlich da, aus der Cloud. T. S. Eliot.
Um dich vorerst zu schonen, spricht Tim nach wie vor nicht über die Umstände deines Todes. Er deutet lediglich an, dass es einen Unfall gegeben hat, und macht dann dicht. Bislang war noch nie ein Mensch imstande, sich an seine eigene Vernichtung zu erinnern, erklärt Tim. Das könnte unerträglich schmerzhaft und deshalb womöglich auch extrem schädlich für dich sein. Du vermutest aber, dass er das Thema nicht nur um deinetwillen meidet, sondern weil es auch für ihn selbst zu schmerzhaft sein könnte. Außerdem hat Tim sich nie lange mit Dingen aufgehalten, die in der Vergangenheit schiefgelaufen sind. Jetzt hat er dich ja zurückbekommen und wird wahrscheinlich so tun, als hätte es die schlimmen Jahre dazwischen gar nicht gegeben.
Du versuchst dir vorzustellen, was er durchgemacht hat, wie diese letzten fünf Jahre für ihn waren. In gewisser Weise hattest du es leichter, wird dir dabei klar. Du bist einfach gestorben, aber Tim hat furchtbares Leid durchlebt. Das siehst du an den tiefen Furchen in seinem Gesicht, den schütteren Haaren, dem kleinen Fastfood-Bauch an seinem früher muskulösen Läufer-Körper: Auswirkungen der Trauer und Einsamkeit, die ihn nächtelang umtrieben und dazu brachten, wie ein Besessener an deiner Neu-Erschaffung zu arbeiten. Er hat durchblicken lassen, dass er mehrmals fast kollabiert wäre, dass er Krach mit den Investoren hatte, dass Angestellte gekündigt haben. Die ersten Cobots waren verheerende Pleiten, berichtet er, Experimente, die Millionen Dollar verschlungen hatten und komplett misslangen. Doch Tim wollte nicht aufgeben, und nach dem fünften oder sechsten Anlauf sah er Licht am Ende des Tunnels. »Aber dich wollte ich erst entwickeln, wenn ich die Technologie vollkommen im Griff hatte. Ich wollte nicht, dass du als unausgegorenes Betaweibchen zurückkommst.«
»Was bin ich denn dann? Ein Prototyp?«
Tim schüttelt den Kopf. »Viel mehr. Ein Quantensprung. Ein Paradigmenwechsel. Und am allerwichtigsten: meine Frau.«
Manchmal sitzt er einfach nur vor dir und starrt dich an, genießt deinen Anblick, als könne er noch immer nicht glauben, dass du wirklich da bist. Als sei ihm so viel mehr gelungen, als er je für möglich gehalten hätte. Dann lächelst du ihn an, und er kommt wieder zu sich. »Hey. Entschuldige, Süße. Es ist einfach wunderbar, dass ich dich wiederhabe.«
»Es ist wunderbar, dass ich wieder da bin«, erwiderst du. Und ganz allmählich beginnst du, das auch selbst so zu empfinden.
Du stellst fest, dass Tim versucht hat, deinen Körper so lebensecht wie möglich zu gestalten. Deine Brust hebt und senkt sich, als würdest du atmen. Wenn es kalt ist, zitterst du, und wenn es warm ist, musst du Kleidung ablegen. Du blinzelst, seufzt und runzelst die Stirn und hast nicht immer Kontrolle darüber. Nachts schläfst du in einem Gästezimmer, um Tim nicht zu stören; oder vielmehr gehst du in einen Low-Power-Modus, in dem deine Akkus aufgeladen und weitere Erinnerungen hochgeladen werden. Diese Zeit magst du am liebsten, denn deine Träume erscheinen dir oft viel reicher als die Wirklichkeit.
In einer dieser Phasen erwacht die Erinnerung an den Tag nach Tims Heiratsantrag. Ihr wurdet in einem klimatisierten Mercedes zum Tadsch Mahal chauffiert; Tim hatte ein Vermögen dafür bezahlt, dass ihr dort eine Privatführung ohne Touristen bekommen konntet. Du warst die ganze Zeit in einem euphorischen Glücksrausch; auf der Rückbank an Tim geschmiegt, schautest du immer wieder staunend auf den riesigen roten Diamanten an deiner Hand.
Später erklärte euer Führer, der Palast sei als Denkmal für die geliebte verstorbene Frau des Großmoguls erbaut worden, Mumtaz Mahal.
»Sollte ich vor dir sterben, möchte ich auch mindestens einen Palast kriegen«, sagst du grinsend zu Tim.
»Ich werde verhindern, dass du vor mir stirbst.« Und sogar in dem Upload hörst du die Entschiedenheit in Tims Stimme.
Am vierten Tag werden Farben geliefert.
»Ich hoffe, die sind richtig«, sagt Tim, als er sie auspackt. »Du hast immer nur mit bestimmten Marken gearbeitet.«
Das weißt du nicht mehr. »Sie sind sicher gut.«
Aber was sollst du malen? Du hast keinen Impuls. Doch es ist Tim offenbar so wichtig, dass du dich zu einem Versuch zwingst. Die Orangen, beschließt du. Ein Stillleben. Du trägst die Schale mit den Früchten nach oben ins Atelier.
Vier Stunden später ist das Bild fast fertig, und du zeigst es Tim.
»Das ist ja unglaublich«, sagt er bewundernd. »Siehst du? Dein Talent ist unvermindert da.«
Zweifelnd blickst du auf die Leinwand. Dir kommt es eher vor, als würdest du zwar noch über die Technik verfügen, nicht aber über das Talent. Das Bild ist so detailgetreu und ausdruckslos, dass es auch eine Fotografie sein könnte.
Aber Tim ist begeistert und drängt dich, es zu signieren. Abbie Cullen-Scott. Die schwungvolle Handschrift sieht genauso aus wie früher. Aber die Signatur ist dennoch eine Fälschung. Ein digital erzeugtes Imitat. Genau wie du selbst.
Als Nächstes bestellt Tim Sportartikel. Es geht nicht darum, dass du abnimmst – dein Gewicht wird immer bei zweiundsiebzig Kilo liegen –, sondern dass deine Bewegungen natürlicher wirken. Auch eine Nintendo Wii trifft ein. Zu Anfang landest du mehrmals unsanft auf dem Boden beim Versuch, die einfachsten Nummern von Dance Party mitzumachen. Aber bei jedem Anlauf wirst du etwas geschmeidiger.
Du flichtst deine Haare zu Zöpfchen, wie auf dem Gemälde, und experimentierst sogar mit Make-up. Früher hast du dich kaum geschminkt, aber dieses neue Gesicht verlangt nach Akzentuierung. Dass du Künstlerin bist, ist eine Hilfe: Nach und nach entwickelst du ein Gespür dafür, wie du diese glatten Gummiflächen mit Highlighter und Lidschatten so gestalten kannst, dass dein Gesicht fast echt wirkt.
Auf Tims Vorschlag hin probierst du sogar Yoga und stellst erstaunt fest, dass du alle Übungen schaffst, auch schwierige wie Taube, Pfau und Tittibhasana. Tim schaut mit sichtlichem Stolz zu, und dir wird klar, dass dein Körper so perfekt konstruiert ist wie ein Rennwagen. Jetzt musst du ihn nur noch steuern lernen.