Tot wie Oskar - Martin Ziegler - E-Book

Tot wie Oskar E-Book

Martin Ziegler

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Beschreibung

Dr. Oskar Weber wird vor seinem Haus tot aufgefunden. Das Buch erzählt die Geschichte von drei Familien aus dem Berliner Westend Wochen vor Oskars Tod. Konkurrenzneid, ärztliche Kunstfehler, Zickenkrieg , Sünden der Vergangenheit und tödlicher Hass sorgen für eine ständig wachsende Zahl von Verdächtigen. Auf den ersten Blick ist alles offensichtlich, aber das Leben hat immer Überraschungen parat.

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„Verbess're deine Sprache, deine Rede, damit sie nicht dein Glück verdirbt.“

William Shakespeare (1564 – 1616)

Motto des Autors

Inhaltsverzeichnis

Sonntag, 06.09.20

Ein Morgen, zum Sterben schön

Sonntag, 23.8.2020

Familie Weber, Anna, die Vase und das Zittern

Der gute Dennis, Mutter Martha und der unheilvolle Anruf

Der Unfall, Jens Schneider und die Hochspannung

Constantin, Rita, Marco, Rosa und die Katze

Ben, die tote Katze und die Angst vor der ersten Operation

Corinna und Constantin im Golfclub, die böse Schwiegermutter

Rita in Tom Ritter’s Loft, Pink Floyd und das Angebot

Schlechte Nachrichten für die Schneiders

Oskar und Anna – Die gemeinsame Vergangenheit

Die Party bei Johanna, Marco und das Ritalin

Rosa’s Suche, Rita’s Träume, Constantin’s Ängste und Marco

Das Katzengrab, Oskar’s Panik und das Ultimatum

Montag 24.8.2020

Dennis, Martha und eine Diagnose, die Angst macht

Constantin’s Albtraum, die Polizeiakte, Rita’s Entdeckung

Das Frühstück, Oskar assistiert, der Check beim Dinner

Anna’s Schuld und Hermine’s Unfall

Das geschah am 11.2.2014

Corinna – Zurück zur Vernunft

Dienstag 25.8.2020

Dennis und Ben, Rosa’s Steckbrief, Ben’s Einladung

Jens Schneider, die Aufklärung und das Aneurysma

Marco, die verschwundene Dose und die Beschaffung der Pillen

Rita bei Tom im Studio, die Zukunft Teil 1

Ben, der Tanzkurs und die verhängnisvolle Ehrlichkeit

Constantin, die Unfallfotos und die verführerische Erkenntnis

Oskar und die Enttäuschung, Ben und die Exhumierung

Die zweite Bestattung und das Sofa über der Terrasse

Der euphorische Constantin und die Terrasse unter dem Sofa

Mittwoch 26.8.2020

Ben in Unruhe, Dennis als Schlichter und die Sorgen eines Dealers

Der gefeierte Oskar; Constantin’s Eifersucht, Marco’s Einbruch

Rita bei Tom im Studio und die Zukunft Teil 2

Ben grübelt, Dennis sieht Oskar zittern, die Beweise

Marcos Geständnis und die Suche nach dem Zeugen

Montag 31.8.2020

Oskar, die Currywurst, der Zeuge und das entfernte Kavernom

Der Besuch in der Klinik, der Tag vor der Operation

Rita bei Tom, ein ungebetener Gast, Zukunft Teil 3

Dienstag 1.9.2020

Oskars Operation und der unbarmherzige Katheder

Traurige Nachrichten, Erklärungen, Vertuschungsversuche

Mittwoch 2.9.2020

Ben und Dennis, offene Worte

Noch mehr Lob für Oskar und Constantin’s Sorgen wachsen

Oskar plant einen schönen Abend, Ben entdeckt den echten Hass

Das Sterne-Menü und der Alkohol

Donnerstag 3.9.2020

Rita in Toms Loft und die Zukunft Teil 4

Ben und Dennis, geteiltes Leid, halbes Leid

Oskar, die Chefarzt-Bitte, Constantins Drohung

Familienrat, ein Klärungsversuch, Ritas klare Worte

Freitag 4.9.2020

Corinna, Anna und die Ohrfeige, Rita’s Anruf, der Nachttermin

Samstag 5.9.2020

Es braut sich was zusammen, Oskars letzte Nacht

Sonntag 6.9.2020

Die Ermittlung

Die Ermittler

Ermittlungen am Tatort

6.9.2020 - 11:00 Uhr Ermittlungen im Haus von Weil

6.9.2020 - 16:00 Uhr Ermittlungen im Haus Weber

Corinna und Martha, Trauer und Zweifel

7.9.2020 - 08:00 Uhr Diverse neue Erkenntnisse

7.9.2020 - 14:00 Uhr Das Testament – Verbindung zu Dennis

Ben und Dennis, brüderlicher Verdacht

8.9.2020 - 08:00 Uhr Die Vermögenslage – Und jetzt Ben

Mittwoch bis Sonntag – Verhöre und Ermittlungen

14.9.2020 - 09:00 Uhr Die Kameras und der Durchbruch

Sonntag, 06.09.20

Ein Morgen, zum Sterben schön

Man kann an einem warmen Sonntagmorgen wie heute in Berlin einen Spaziergang durch das Villenviertel im Stadtteil Westend machen. Oder man sucht die Ruhe auf dem Friedhof Heerstraße nebenan. Die Sonne steht noch tief, kein Leben. Hier nicht und dort schon gar nicht, kein Lärm auf den Wegen und Straßen, ein altgewachsener Baumbestand aus Birken und Eichen. Sauberkeit und Aufgeräumtheit an allen Ecken, ein Idyll des Friedens. Die Bewohner des Kirchhofs Heerstraße verhalten sich in ihren Ruhestätten gezwungenermaßen still und ruhig. Genauso, wie die Bewohner der Villen auf der anderen Seite der Reichsstraße. Die schlichten Ruhestätten berühmter Persönlichkeiten konkurrieren mit den weißen Prachtbauten aus dem 19.Jahrhundert. Die in Stein gemeißelten Namen auf den Grabsteinen messen sich mit den kunstvoll gravierten Titeln auf den goldenen Türschildern der schmiedeeisernen Eingangsportale oder protzigen Marmortürme.

Hier auf dem Friedhof Heerstraße ruht auch Joachim Ringelnatz und er könnte, wenn er könnte, in weniger als 25 Minuten in der Eichenallee sein. Dort an der Ecke zur Eschenallee steht eines dieser edlen Häuser, mit einer mächtigen Giebelfront, mit hohen Fenstern, mit Erkern und balkonartigen Vorbauten. Im graubraunen Verputz bezeugen einige Risse und ausgebrochene Mauerstücke eine lange Vergangenheit. Im Gegensatz zu vielen anderen Villen in der Umgebung umschließt keine Mauer das Anwesen. Ein zwei Meter hoher, schwarzer Metallzaun umrahmt den nicht einsehbaren Teil des Grundstücks vor dem Haus.

Wilder Kirschlorbeer hat sich zwischen den einzelnen Zaunelementen breitgemacht, nur vereinzelt ragen aus dem Blättergewirr die Spitzen der dicken Zaunstangen. Etwa zehn Meter rechts von der Spitze des Eckgrundstücks entfernt gibt die mächtige Hecke widerwillig den Blick auf ein schmiedeeisernes Eingangstor frei. Der breite Weg dahinter bis zur Haustür ist mit hellgrauen Basaltsteinplatten belegt, eingesäumt von Sträuchern und Büschen, deren guter Zustand und exakter Beschnitt den regelmäßigen Besuch eines Gärtners vermuten lassen.

Eine zweistufige Sandsteintreppe führt zur mächtigen Eingangstür aus Eichenholz. Sie ist eingelassen in einen Sandsteinbogen im gotischen Stil, ein abgewetzter Löwenkopf aus Messing in der Mitte der Tür blickt Besuchern grimmig entgegen, der Ring in seinem Maul wirkt abgenutzt, die Stelle im Holz dahinter rissig und eingedrückt. Neben dem voluminösen Türgriff, an die Sandsteinmauer geschraubt, gibt ein Messingschild mit einem eingelassenem Klingelknopf Auskunft über den Bewohner: Dr. Oskar Weber, Neurologe.

Rechts neben der Sandsteintreppe führt der Weg weiter hinein in den parkähnlichen Garten, neben den Basaltplatten stehen an beiden Seiten mit Schilfhalmen und Binsen bestückte tönerne Amphoren. Das sehr tief hereinfallende Sonnenlicht lässt das Grau der Wegsteine fast schon weiß erscheinen. Auf dem letzten Stein, bevor der Weg hinter dem Haus verschwindet, unterbricht ein großer, schwarzer Fleck das weiße Band. Seine Form zeigt deutlich die Umrisse von Italien, ein Sonnenstrahl durchtrennt das Land. Wie eine Schweißnaht durchzieht jetzt grelles Rot die ganze Stiefelform, vereinzelt eintauchende Tropfen erzeugen auf dem Gebilde leichte Schwingungen.

Oskar Weber liegt mit leicht angezogenen Knien und ausgestreckten Armen neben dem Weg. Der Kopf liegt auf dem rechten Oberarm und die offenen Augen scheinen die Bienen zu beobachten, die an den vertrockneten Blüten der Glyzinien an der Hauswand vergeblich nach Nektar suchen. Der Mund ist leicht geöffnet, aus dem Mundwinkel zieht sich ein dunkelroter Streifen bis unter das Kinn. Im Gras neben den nackten Füßen liegen seine Schuhe, die Hose hat neben der linken Hosentasche einen dunklen Fleck, das Hemd ist zwar sauber aber zerknittert. Seine Rolex zeigt in diesem Moment 05:45 Uhr. Die Uhr ist nicht stehengeblieben und verrichtet weiter ihren Dienst.

Die Wunde am Kopf hat aufgehört zu bluten, kein weiterer Tropfen erschüttert Italien. Die Autopsie wird die Stelle am Schädel später zwischen Sutura sagittalis und Sutura lamdoidea einordnen und das Ausmaß der Bruchstelle mit Golfballgröße beschreiben. Etwas hat hier sichtlich einen wahrlich großen Eindruck hinterlassen. Für die finale und entscheidende Beurteilung ist für den Moment kein weiterer Fachmann erforderlich: Herr Dr. Oskar Weber ist tot.

Sonntag, 23.8.2020

Familie Weber, Anna, die Vase und das Zittern

Auch an diesem Sonntagmorgen liegt die seit Wochen andauernde Hitze wie ein Schleier über Berlin. In den Nachrichten sprechen sie vom wärmsten August seit 1881. Die Nacht hat wieder einmal nicht die erhoffte Abkühlung gebracht, die geöffneten Fenster der Villa in der Eichenallee saugen weiterhin warme Luft in die Zimmer. Das dichte Blätterwerk einer alten, mächtigen Eiche legt kühlenden Schatten auf das Mauerwerk.

Eine alte Dame überquert mühsam die Kreuzung. Unter dem dichten Blätterdach des Kirschlorbeers lehnt sie sich kurz an die Gitterstäbe und gönnt sich eine Ruhepause. Sie vermisst seit Wochen das Konzert der Vögel, dem sie besonders hier im Frühling und bis in den Juli hinein stundenlang zuhören konnte.

Durch die schwüle Stille drängen sich Klänge an ihr Ohr, einige kurze, einige langanhaltende Töne eines Pianos ohne erkennbaren melodischen Zusammenhang. Ein geschultes Gehör identifiziert daraus sicher das Grundgerüst einer Tonleiter, würde aber dem Erzeuger dieser Darbietung kein gutes Zeugnis ausstellen. Die alte Dame wendet sich dem Haus zu und blickt durch die Blätter nach oben. Der musikalische Vortrag kommt aus dem Fenster im ersten Stock. Sie lauscht den dilettantischen Kostproben dieses Künstlers noch ein paar Minuten und setzt ihren Weg entlang der Eichenallee fort.

Im Musikzimmer im ersten Stock sitzt Ben einsam und schwitzend auf der Klavierbank vor dem Bechstein-Flügel. Bens langes, blondes Haar klebt an der Stirn, an den Ohren, im Nacken. Das weiße T-Shirt ist mit der Haut am Rücken verschmolzen, vorne steht es wie ein nasser Lappen vom Körper ab. Die kurze Sporthose ist übersät mit Schweißflecken und ständig nimmt deren Anzahl zu. Auf seinem Schoß liegt ein weißes Handtuch, das längst seinen Zweck nicht mehr erfüllt. Ben hat aufgegeben, den Schweiß abzuwischen. Mit seiner linken Hand hat er sich an der Vorderkante der Klavierbank festgekrallt, die Rechte liegt unschlüssig auf der Klaviatur.

„Hallo! Warum höre ich nichts?“

Eine laute, ungeduldig klingende Frauenstimme dringt vom Untergeschoß nach oben, quetscht sich vehement durch die geschlossene Zimmertür und bohrt sich gnadenlos in Bens Ohren. Lustlos setzt er seine Finger auf die Tasten und blickt auf das Notenblatt vor sich. Er weiß genau, dass sie in einigen Minuten neben ihm stehen wird. Sie wird nicht aufhören, ihre Art von Motivation beim ihm loszuwerden. Resigniert beginnt er mit den ersten Takten der zu übenden Etüde.

Corinna Weber hat an diesem Morgen bereits eine Trainingseinheit im Fitnessstudio hinter sich, ihre schwarze Bubikopf-Frisur ist noch nass vom Duschen und ihr Gesicht zeigt noch eine leichte Rötung. Ab und zu richtet sie den Blick nach oben und registriert kopfschüttelnd Bens Bemühungen.

Bis vor fünf Jahren saß sie noch im Vorzimmer des Chefarztes des Helios Klinikums in Berlin-Buch. Dr. Oskar Weber war dort als Oberarzt in der Neurochirurgie beschäftigt. Die tägliche Arbeit brachte es mit sich, dass sich beide regelmäßig begegneten und schätzen lernten. Als Oskars Frau 2014 bei einem Autounfall ums Leben kam, hat sie alle weiblichen Register gezogen, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bei einem Ärztekongress in Madrid wachten sie dann das erste Mal gemeinsam im gleichen Bett auf, vier weitere Wochen später hatte sie einen Ring und den angestrebten Heiratsantrag.

Ben war alles andere als glücklich über diese Verbindung. Er war gerade 11 Jahre alt, der Tod seiner Mutter nagte noch gewaltig an ihm und ihm fehlte jegliches Verständnis für die Entscheidung seines Vaters. Corinna brachte ihre 9-jährige Tochter Sarah mit in die Ehe und vom ersten Tag an war es ein andauernder Wettkampf um Zuneigung und Aufmerksamkeit.

Ben hat sich mit Sarah arrangiert und akzeptiert sie als Schwester, das Verhältnis zu seiner Stiefmutter blieb kompliziert. Ben erkannte bald, was für Corinna wichtig war. Er registrierte ihre regelmäßigen Besuche im Fitnessstudio, ihre kostspieligen Einkäufe in Boutiquen, ihre häufigen Anwendungen bei den noblen Friseuren, Nagelstudios, Beautysalons und Wellnessoasen.

Corinna weiß, wie aufmerksam sie von Ben beobachtet wird. Sie hat ihm von Beginn an das Leben so schwer wie möglich gemacht. Bens Vater hilft dabei unbewusst mit, indem er ihre Tochter Sarah immer öfter bevorzugt und dem kleinen, süßen Mädchen jeden Wunsch von den Augen abliest. Corinnas Tochter hat zwei Jahre zuvor mit dem Klavierspielen begonnen, also war es für Corinna keine Frage, sogar eine Selbstverständlichkeit, dass im Hause Weber ein Flügel stehen muss. Und Oskar Weber widersprach nicht, als Corinna darauf bestand, dass auch Ben eine musikalische Ausbildung nicht schaden würde.

Und da sitzt er nun vor dem schwarzen Ungetüm, versucht durch seine wässrigen Augen die schwarzen Punkte auf dem Papier als Noten zu entziffern und die dazugehörigen weißen oder schwarzen Tasten zu treffen.

„In einer Stunde wird gegessen“, kommt die befehlende Stimme von unten, „geh duschen, zieh dir was Vernünftiges an und sei dieses Mal pünktlich!“

Erleichtert klappt Ben den Deckel zu, trocknet sich etwas ab und macht sich auf den Weg in sein Zimmer. Er wirft das feuchte Handtuch in den Wäschekorb, holt sich ein neues T-Shirt und eine Jeans aus dem Schrank und macht sich auf den Weg zur Dusche. Ben drückt die Klinke der Badezimmertür.

„Besetzt!“ Sarahs Stimme kommt schneidend und vorwurfsvoll.

„Wie lange dauert das denn? Ich muss duschen!“, ruft Ben durch die Tür.

„Ich brauch noch, geh doch nach unten!“

Ben sieht ein, dass es keinen Sinn hat zu warten und springt die Treppe nach unten. Im linken Seitenflügel ist gottseidank ein weiteres, großzügiges Badeparadies. „Besetzt!“, tönt es auch hier, als Benjamin versucht, einzutreten. „Geh doch nach oben!“

Vaters Stimme hat nicht den vorwurfsvollen Klang wie vorher bei Sarah, trotzdem wird Ben langsam unruhig.

„Brauchst du noch lange, Papa? Oben ist Sarah, ich fürchte, ihr Zeitaufwand ist wohl höher anzusetzen als deiner.“

Ben hört ein leises, unterdrücktes Lachen und das Rascheln von Zeitungsblättern, Sekunden später wird die Spülung betätigt und sein Vater öffnet die Tür.

„Bitteschön, Herr Sohn, genießen Sie die Dusche!“

Das Mittagessen mit der gesamten Familie jeden Sonntag um Punkt 12 Uhr wurde von Oskars erster Frau Hermine eingeführt und das Ritual hat man über alle folgenden Jahre eisern beibehalten. Anna Rabe, die langjährige Haushälterin, war lange vor Corinnas Auftauchen für die Familie Weber tätig. Es war nicht leicht für Oskar Weber, Anna zum Bleiben zu überreden, nachdem Corinna mit ihrer Tochter eingezogen war. Eine Reduzierung der Arbeitszeiten, aber damit trotzdem verbunden eine nicht unerhebliche Erhöhung der Bezüge halfen dabei, Anna das Schlucken vieler Kröten zu erleichtern.

Oskar und seine verstorbene Frau lernten Anna Rabe gemeinsam kennen. Hermine hatte Oskar überreden können, sie an einem Mittwoch im Januar 2004 zum Schwangerschaftsvorbereitungskurs zu begleiten. Anna fiel ihnen im Kreis der Teilnehmer sofort auf, denn sie saß als Einzige allein auf ihrer Übungsmatte. Der hellblaue Trainingsanzug war sicher zwei Nummern zu groß und an den nackten Füßen bekamen die schwarz lackierten Fußnägel Aufmerksamkeit von allen Seiten. Einige der Übungen waren ohne Partner nicht ausführbar. Die Kursleiterin schlug vor, dass Oskar als Nächstsitzender Anna unterstützen sollte. Hermine wunderte sich, dass sich Oskar zunächst dagegen wehrte. Es fiel ihr auch nicht auf, dass Anna Oskar lange und intensiv ansah und auch er seine Blicke nicht von ihr abwenden konnte. Nach der Übungsstunde sprach Hermine Anna an, unterhielt sich lange mit ihr und sie verabredeten sich. Zwischen den Frauen entstand zunächst nur eine lose Freundschaft. Aber Hermine überraschte Oskar dann eines Tages damit, dass sie Hermine als Haushaltshilfe und Kindermädchen eingestellt und ihr auch ein Zimmer in ihrem Haus vermietet hatte. Von da an war Anna ein fester Bestandteil der Familie Weber.

Anna ist gerade dabei, das kochende Kartoffelwasser abzugießen, als sie aus dem Wohnzimmer ein lautes Klirren vernimmt. Sie zieht den heißen Topf von der Herdplatte und eilt den Gang entlang, der von der Küche zum Wohnzimmer führt. Ihr erster Blick fällt auf die großen Scherben, die weit verteilt auf dem weißen Marmorfußboden liegen. Eine große Wasserlache breitet sich langsam aus und erfasst auch bereits den großen Berberteppich. Anna erkennt die schwarz-weiß gemusterten Trümmer und sie weiß sofort, dass es Teile der japanischen Gien-Vase sind, die jetzt darauf warten, entsorgt zu werden. Anna war damals zugegen, als der im Haus Weber als Besucher weilende japanische Arzt dieses kostbare Stück großzügig als Gastgeschenk überreichte.

„Stehen Sie hier nicht rum, machen Sie den Saustall weg!“

Corinna steht in ihrem weißen Bademantel inmitten des Chaos, die Arme vor der Brust verschränkt. Mit ihren weißen Frotteesandalen kickt sie zwei große Scherben vom Teppich über den Marmorboden, die gemächlich wie beim Eisstockschießen über die Fliesen schliddern und sich an der gegenüberliegenden Wand weiter verkleinern. Anna sieht Corinna mit großen Augen an und ist zu keiner Reaktion fähig, zu sehr schockiert sie der Verlust dieses Kleinods.

„Ich werde Ihnen wohl den Wert der Vase vom Gehalt abziehen müssen!“

Anna erwacht aus ihrem Schockzustand, blickt auf die Scherben und dann auf Corinna. „Aber ich war das nicht! Ich bin doch eben erst ins Zimmer gekommen, das haben sie doch gesehen.“ Enttäuschung und Wut steigen in ihr hoch, sie kämpft dagegen an und hofft auf eine einfache Aufklärung der Angelegenheit.

„Natürlich waren Sie das, wer denn sonst. Mal sehen, was mein Mann dazu sagen wird.“

Mit diesen Worten dreht sich Corinna um und verlässt das Wohnzimmer. Anna wehrt sich gegen das Aufkommen der ersten Tränen, ihre Wut verstärkt sich zunehmend und bebend vor Zorn beginnt sie, die Scherben einzusammeln und das ausgeschüttete Wasser aufzuwischen.

Der Raum für das allsonntägliche Familienessen kann mit der Bezeichnung ‚Esszimmer‘ nur unzureichend beschrieben werden. Vier deckenhohe Fensterflügel lassen die Sonne ins Zimmer, die sich in den weißen Marmorplatten spiegelt. In der Mitte des Raums steht der wuchtige Esstisch mit ausreichend Platz für bis zu 8 Personen.

Es ist zehn vor zwölf, als Mutter und Tochter ihren Platz am Tisch einnehmen. Sarah trägt eine kurze, weiße Jeanshose und eine weiße Bluse mit V-Ausschnitt. Die schwarzen Haare sind noch feucht und streng nach hinten gebürstet. Mutter und Tochter scheinen sich bei der Kleiderwahl abgesprochen zu haben, denn auch Corinna erscheint ganz in weiß. Die Ähnlichkeit der beiden beschränkt sich beim genauen Betrachten nicht nur auf die Auswahl des Outfits. Sarah hat bereits die strengen Gesichtszüge ihrer Mutter und die Frisur der beiden lässt auf einen gemeinsam genutzten Friseursalon schließen.

Oskar Weber betritt zwei Minuten vor zwölf das. Der Hausherr hat heute auf das Tragen eines Jacketts verzichtet, trägt aber wie üblich ein weißes Hemd und eine frisch gebundene Krawatte. Der obligatorische Blick auf die Armbanduhr startet den Countdown für die Unpünktlichen.

„Wo bleibt denn Ben?“

Oskars Stimme klingt fast ungeduldig, er sieht Corinna fragend an.

„Dein Herr Sohn steht vermutlich noch pfeifend unter der Dusche“, antwortet Corinna süffisant, wobei sie wissentlich das ‚Dein‘ besonders betont. „Er nimmt es ja mit allem nicht so genau. Das betrifft übrigens auch seinen Eifer beim Klavierspiel.“

Oskar zieht hörbar die Luft durch die Nase und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Jetzt komm mir nicht schon wieder damit“, erwidert er genervt, „es war schließlich nicht meine Idee, ihn dazu zu zwingen.“

Ben hat den letzten Satz sicher mitbekommen, denn er öffnet in diesem Moment die Tür und hält sie für Anna auf. Sie trägt eine dampfende Schüssel und stellt sie in der Mitte des Tisches ab. Sie wünscht höflich ‚Guten Appetit!‘, wendet sich ab und will das Zimmer verlassen.

„Anna, haben Sie meinem Mann schon von ihrem Missgeschick berichtet?“ Corinna feuert diese Frage wie einen Feuerstrahl in den Raum. Anna bleibt wie vom Blitz getroffen stehen, das Blut schießt ihr in den Kopf und ihre Hände beginnen zu zittern. „Ich habe da nichts zu berichten“, stößt sie hervor und geht weiter in Richtung Tür.

„Warte, Anna, wovon spricht meine Frau? Welches Missgeschick meint sie denn?“ Oskar versucht gütig und verständnisvoll zu klingen. Annas Hände zittern, was wühlt sie so auf? Er kennt sie doch bisher als ruhige, ausgeglichene Frau.

„Die große Gien-Vase im Wohnzimmer ist zerbrochen. Und ihre Frau behauptet, ich hätte das verschuldet.“

Eine Wolke des Schweigens zieht durch den Raum. Corinna will das Wort zu ergreifen, aber Oskar verhindert mit einer Handbewegung die weitere Diskussion. „Wir klären das nach dem Essen, ok? Anna, komm bitte nach der Mittagsruhe zu mir ins Büro.“

Nach der überaus köstlichen Fenchelsuppe serviert Anna eine große Platte mit Lachsfilets, die mit einer delikaten Soße und feinem Gemüse zu einem leckeren Gratin überbacken sind. Oskar und Corinna haben sich dazu ein Glas Wein eingeschenkt.

Oskar greift sein Glas mit der rechten Hand und streckt es Corinna über den Tisch entgegen, um mit ihr anzustoßen. Erst langsam und kaum sichtbar, dann schneller und heftiger beginnt das erhobene Glas zu zittern. Er zieht die Hand schnell wieder zurück und stellt das Glas ab. Oskar schaut prüfend in die Runde, ob jemand außer ihm das Zittern bemerkt hat. Er blickt in die Augen von Anna, die auf der anderen Seite hinter dem Tisch einen Stapel leerer Suppenteller auf dem Arm trägt. Sie wendet sich schnell ab und verlässt das Zimmer.

Oskar greift sich das Glas, jetzt mit der linken Hand und hebt es erneut an. Er wartet auf eine Reaktion und stellt erleichtert fest, dass die Hand ruhig bleibt. Beruhigt stößt er mit seiner Frau an, nimmt einen kräftigen Schluck und versucht das eben Erlebte aus seinem Kopf zu verdrängen.

Nach dem Mittagessen zieht sich der Hausherr in sein Büro zurück und Corinna und die Kinder begeben sich auf ihre Zimmer. Anna ist in der Küche beschäftigt, sie ist sehr aufgewühlt und denkt bereits darüber nach, wie sie Oskar den Vorgang mit der Vase erklären wird.

Der hat es sehr eilig, in sein Zimmer zu kommen. Zu sehr beschäftigt ihn, was am Mittagstisch passiert ist. Er hofft immer noch, dass lediglich eine kurzfristige, unbedeutende Irritation seines Körpers Ursache für diese Reaktion war. Er muss Klarheit gewinnen, die Sache umgehend klären. Aus der Glaskaraffe, die auf dem Tisch neben seinem Sessel steht, füllt er das aus dem Esszimmer mitgebrachte Weinglas randvoll mit Wasser. Er fasst das Glas mit seiner rechten Hand am Stiel und hält es mit weit ausgestrecktem Arm von sich. Nach einer ganz kurzen Phase der Ruhe, die ihm einige Sekunden lang eine Besserung vorgaukeln, entstehen im Wasser erste Bewegungen. Wie zuvor erst langsam und fast nicht erkennbar, dann immer schneller, bis das Wasser über den Rand schwappt und Oskars Hose durchnässt.

Er stellt das Glas zurück und wiederholt die Bewegung nur mit der Hand. Die ausgestreckte gerade Handfläche bleibt ruhig, auch nach mehreren Sekunden ist kein Zittern festzustellen. Wieder fasst er das volle Glas und seine Hoffnung auf das Ausbleiben der befürchteten Reaktion zerfließt wie das Wasser aus dem Glas, das sich erneut über sein Hosenbein ergießt. Fassungslos aber sachlich diagnostiziert sich der Neurologe Dr. Oskar Weber einen essenziellen Haltetremor. Er sträubt sich, weiter darüber nachzudenken und verbietet seinen Gedanken das Wort Parkinson.

Um die Tragweite dieser Diagnose richtig einordnen zu können, ist ein kurzer Blick auf die berufliche und persönliche Situation des Dr. Weber hilfreich. Seit seinem Wechsel vor drei Jahren von den Helios Kliniken in die Schlosspark-Klinik in Charlottenburg ist sein ehrgeiziges Ziel die Chefarztposition. In seiner momentanen Funktion als leitender Oberarzt und anerkannter Neurochirurg hat er ausreichend Gelegenheit, seine Qualitäten unter Beweis zu stellen. Nach seiner Habilitation war er als Privatdozent an der FU Berlin regelmäßig aktiv. Er hat sich für die Teilnahme an einer bevorstehenden Ausschreibung beworben und ihm werden gute Chancen eingeräumt. Seine zahlreichen Veröffentlichungen zum Themenbereich Endovaskuläre Schlaganfallversorgung finden allgemein große Beachtung, viele Kliniken aus dem In- und Ausland haben bereits seine fachliche Unterstützung angefordert und in Anspruch genommen. Weber weiß, dass der ärztliche Direktor und Chefarzt der Neurologie sicher in etwa zwei Jahren in den Ruhestand verabschiedet wird und das Ausschreibungsverfahren in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Nachdem im Zuge einer Restrukturierung die Bereiche Neurologie und Neurochirurgie zusammengelegt wurden, hat dieser Direktionsposten eine neue, noch interessantere Wertigkeit bekommen. Aber Oskar ist nicht der Einzige, der sich Hoffnungen auf diese Position macht, das Rennen ist schon lange eröffnet. Durch die neue Struktur ist mit Kandidaten aus beiden Bereichen zu rechnen, mindestens vier Bewerber sind ihm bekannt und stehen bereit, um diese Stelle zu kämpfen.

Oskar hat sich in seinem Sessel zurückgelehnt. Er hat schweißnasse Hände und hält die Augen geschlossen. Sein Hemd klebt am Körper, die Krawatte hat er gelöst und den obersten Hemdknopf geöffnet. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen gebildet, er atmet heftig und vor seinem inneren Auge ziehen schwarze Wolken über seine Zukunftsträume. Ein Neurochirurg mit Tremor – undenkbar, unmöglich. Er sucht fieberhaft nach irgendwelchen Möglichkeiten, die sich ihm noch bieten. Primidon fällt ihm spontan ein, ein Antiepileptikum, natürlich wird er das versuchen. Gabapentin oder Topirama wären ebenfalls möglich, er durchstöbert sein Gehirn und kramt alles hervor, was ansatzweise helfen könnte, die heraufziehende Gefahr zu verhindern.

Er denkt an den nächsten Tag, an die nächsten Operationen, die anstehen. Wie gehe ich damit um, fragt er sich. Kann ich es wagen, ein Skalpell in die Hand zu nehmen? Er ist sich absolut sicher, dass ein Outing das Ende seiner beruflichen Karriere bedeuten wird. Nein, so schnell wird er nicht aufgeben.

Der gute Dennis, Mutter Martha und der unheilvolle Anruf

Dennis Schneider liegt bäuchlings auf seinem Bett, vor sich das aufgeschlagene Mathematikbuch und ein Block. Er grübelt schon seit mehr als einer Stunde an einer kniffligen Aufgabe und steht von Zeit zu Zeit auf und wandert durch sein kleines Zimmer. Dennis besucht die Klasse 10 des Herder-Gymnasiums, er ist absolut kein Streber, gehört aber trotzdem zu den sehr guten Schülern seiner Klasse. Das Lernen fällt ihm leicht, er tut nur das Nötigste, um seinen Notendurchschnitt hoch zu halten.

Dennis ist für seine sechszehn Jahre extrem groß, mit seinen 183 cm ist er mittlerweile festes Teammitglied in der Basketballmannschaft der Schule. Als Frisur hat er eine pflegeleichte Variante gewählt, seine wenigen Haarstoppeln rasiert er regelmäßig selbst. Seine gute Kondition verdankt er unter anderem auch seinen regelmäßigen Läufen durch die Parkanlagen im Westend. Aber beim Anblick seines Körperbaus kommt man an dem Wort Anorexie nicht vorbei, zumindest scheint es nicht weit weg davon zu sein. Doch der Anblick trügt, Dennis sieht man seine Kraft nicht an und er weiß gut damit umzugehen. Außer seinen Auftritten mit dem Basketballteam ist er ein Einzelgänger, hat keine speziellen Freunde oder Freundinnen und verbringt seine Abende nicht in Discos, sondern bei seinen Eltern zuhause. Er hat eine umfangreiche CD-Sammlung, ist ein absoluter Computerfreak und ein absoluter Meister an der Konsole der Playstation.

„Dennis! Essen ist fertig!“

Martha Schneider hat zwei Teller auf den kleinen Küchentisch gestellt und positioniert den Topf mit den heißen Kartoffeln in der Mitte. Martha sieht man ihre 51 Jahre nicht an, sie ist schlank und hat ihr langes, dunkelbraunes Haar mit einem Band zusammengebunden. Martha stammt aus Spanien, ist in Sevilla geboren und hat ihren Mann Jens an ihrer Arbeitsstelle bei Siemens kennengelernt. Mittlerweile kann sie nicht mehr arbeiten. Die langen Jahre am Fließband haben ihrem Rücken zu sehr zugesetzt, länger als zehn Minuten am Stück kann sie nicht mehr stehen. Sie hat Invaliditätsrente beantragt und auch zugesprochen bekommen. Dennis hilft so gut er kann im Haushalt mit, sie kommen finanziell einigermaßen gut über die Runden. Zwei Wochen Urlaub, meist in Spanien, sind bisher immer drin gewesen. Jens Schneider ist nach wie vor als Maschinenelektriker bei Siemens beschäftigt und hat noch gut sechs bis sieben Jahre bis zur Rente.

„Was hast du uns denn heute wieder gezaubert?“, fragt Dennis, als er die wenigen Stufen aus seinem Mansardenzimmer nach unten springt.

„Patatas con requesòn à la Mama“, antwortet Martha mit einem breiten Grinsen, „du wirst es lieben – so wie immer.“

„Kommt mir bekannt vor, das hatten doch schon mal? Wo ist Papa?“

„Er musste kurzfristig ins Werk, dort ist eine wichtige Maschine ausgefallen, die morgen wieder laufen muss. Du kennst das ja, Papa ist immer der Notnagel, den sie rufen, wenn nichts mehr geht, auch am Sonntag. Ich habe das Essen für ihn warmgestellt.“

Dennis schöpft sich einen großen Batzen Quark auf den Teller und beginnt mit dem Schälen einer riesigen Kartoffel. Martha sieht ihrem Sohn gerne beim Essen zu, sie ist so stolz auf ihn, sorgt sich aber ständig um sein Gewicht. „Du musst mehr essen, du bist viel zu dünn!“

Dennis bekommt das bei jeder Mahlzeit zu hören, natürlich auch heute. Er lächelt seine Mutter an und streicht ihr übers Haar. „Mach dir keine Sorgen, Mama, ich bin stark wie ein Bär!“ Dann steht er auf, stellt sich hinter ihren Stuhl und hebt diesen mit der Mutter zusammen hoch. „Lass mich runter!“, ruft Martha, „du brichst dir noch den Rücken!“

Dennis lacht, stellt den Stuhl ab und setzt sich wieder an den Tisch. Und um seiner Mutter eine Freude zu machen, lädt er sich eine extra große Portion Kartoffeln und Quark auf den Teller und isst und kaut, bis sein Teller leer ist. Dann steht er auf, räumt den Tisch ab und macht sich daran, das Geschirr zu spülen. Seine Mutter sitzt immer noch am Tisch und schüttelt lächelnd den Kopf. „Das musst du doch jetzt nicht machen, kümmere dich um deine Schularbeiten“, sagt sie vorwurfsvoll.

Dennis setzt unbeirrt seine Aufräumarbeiten fort. Er trocknet das gespülte Geschirr und räumt alles an seinen Platz. Dann setzt er sich zu seiner Mutter an den Tisch und schaut sich um, ob noch etwas zu tun wäre.

Die gesamte kleine Küche besteht nur aus einem alten, mannshohen Buffet aus Kiefernholz. Davor steht der weiß lackierte Küchentisch und drei alte Stühle, von denen der Lack an vielen Stellen bereits abgefallen ist. Das stark ramponierte, grau melierte Linoleum des Fußbodens und die vergilbte Rauhfasertapete verstärken den ärmlichen Eindruck, den der gesamte Raum hervorruft.

Dennis weiß, dass die finanzielle Situation der Familie absolut nicht rosig ist. Trotz der kleinen Rente, die seine Mutter seit kurzem bekommt, reicht das geringe Gehalt seines Vaters gerade aus, um die wichtigsten, lebensnotwendigen Ausgaben zu tätigen. Größere Anschaffungen müssen langfristig geplant werden und erfordern meist konkrete Einsparungen an anderer Stelle. Dennis‘ Eltern stecken gerne zurück, um ihrem Sohn alles zu bieten, was Jungen in diesem Alter benötigen oder möchten. Durch sein schnelles Wachstum waren besonders die Ausgaben für Kleidung und Schuhe in den letzten 2 Jahren ziemlich hoch, doch Dennis wurde stets ausreichend modisch und ordentlich ausgestattet. Dafür verzichteten seine Eltern gerne auf das ein oder andere Teil, das sie gerne für sich angeschafft hätten.

Jens Schneider fährt seit einigen Wochen bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zu seiner Arbeitsstelle. „Wir brauchen kein Auto“, meinte er vor kurzem, „mit Bus und Bahn kommen wir überall hin, wenn es sein muss.“ Dann hat er sich von seinem alten Opel Kadett verabschiedet und ein paar Hundert Euro dafür eingesteckt. Ein paar Tage später stand für Dennis ein rot glänzendes Fahrrad vor der Tür, mit einer 21-Gang Kettenschaltung und einem Triathlon-Lenker. „Habe ich von einem Arbeitskollegen günstig bekommen“, erklärte er die überraschende Entscheidung, „es ist zwar gebraucht und etwas heruntergekommen, aber du kennst dich ja aus und kriegst das hin.“

Zum Glück ist die Miete für die kleine Wohnung halbwegs erträglich. Das Haus gehört der Siemens Wohnungsgesellschaft und da beide Ehepartner Mitarbeiter im Konzern sind, können sie diesen Vorteil nutzen. Es sind zwei Räume und ein winziges kleines Badezimmer im Obergeschoß und ein winziges Zimmer für Dennis unter dem Dach, das über eine langgestreckte Dachgaube mit vier winzigen Fenstern mit Licht versorgt wird. Die monatliche Aufwendung inklusive Heizkosten liegt momentan bei 800 €, was in etwa der Hälfte des Nettoeinkommens das Vaters beträgt.

Dennis hat früh verstanden, dass er in irgendeiner Form einen eigenen Beitrag leisten muss. Zwar ist das für einen Jungen in seinem Alter nicht selbstverständlich, aber er weiß, dass seine Eltern alles für ihn tun würden und dementsprechend geht er damit um. Seit fast zwei Jahren steht er jetzt jeden Tag um fünf Uhr früh auf, holt sich den für ihn bereitgestellten Packen Zeitungen und versorgt die Briefkästen im Berliner Westend mit den neuesten Nachrichten. Weniger lukrativ, aber eine weitere hilfreiche, finanzielle Ergänzung ist das Verteilen von Werbeprospekten. Mit all diesen Tätigkeiten kommt er an manchen Monaten auf achtzig bis hundert Euro. Er geht sparsam damit um, legt einiges zur Seite, gönnt sich von Zeit zu Zeit eine neue CD und bezahlt auch mal den Einkauf, wenn seine Mutter am Ende des Monats an der Kasse im Supermarkt umständlich das restliche Kleingeld in ihrem Geldbeutel zusammensucht.

„Ich geh wieder nach oben und mache die Matheaufgaben fertig“, sagt er und springt die Stufen hoch zu seiner Zimmertür. „Ich will heute Nachmittag vielleicht noch zu Johanna auf die Garten-Party. Sag Bescheid, wenn ich noch irgendwas für dich tun kann.“

Seinen Schreibtisch hat sich Dennis selbst zusammengebastelt. Zwei Europaletten stehen als Stützzargen links und rechts außen, darauf hat er eine alte Küchenarbeitsplatte aus rotem Resopal geschraubt. Er holt sich sein Buch und den Block vom Bett und macht sich wieder über seine Aufgaben her. Bereits nach wenigen Minuten steht die Lösung und er trägt alles säuberlich in sein Heft ein.

Er hört unten das Klingeln des Telefons, hört, wie seine Mutter aufsteht und den Hörer abhebt. Dann ist es für eine knappe Minute völlig still, Dennis wartet auf den ‚Klack‘, wenn der Hörer eingehängt wird, den ‚Klack‘, der das Ende des Gesprächs anzeigt.

Kein Klack, es ist nur still. Viel zu still.

„Mama, wer war das?“, ruft Dennis nach unten.

Marthas Stimme klingt unsicher, zittrig, gebrechlich, ängstlich.

„Es war die Polizei! In der Fabrik gab es einen Unfall!“

Der Unfall, Jens Schneider und die Hochspannung

Etwa eine Stunde vorher:

Peter Kramer, ein Kollege von Jens Schneider, öffnet die vergitterte Box der 10 kV-Schaltanlage im Halle 22 des Werks. Er hat pflichtgemäß die fünf Regeln der Elektrik beachtet:

Alles wurde gegen ein Wiedereinschalten gesichert.

Er hat sich überzeugt davon, dass keine Spannung mehr anliegt,

hat die erforderlichen Erdungsleitungen angelegt und

anliegende Bereiche kurzgeschlossen.

Nebenliegende Bereiche hat er mit den Schutzfolien abgedeckt.

Ein zuvor an der Tür angebrachtes Schild zeigt an, dass der gesamte

Bereich spannungsfrei gelegt wurde.

Er tauscht den defekten Leistungsschalter aus, der für den Ausfall in der Netzversorgung ursächlich war. Nachdem das Problem gelöst ist, entfernt er wieder die Abdeckungen, löst die Erdungsleitungen und entfernt alle Schutzhüllen. Er ist gerade dabei, die Tür zur Box zu schließen, als sein Mobiltelefon klingelt. Er wird zu einem weiteren Schadensfall gerufen. Er schließt die Tür, nimmt seinen Werkzeugkoffer und verlässt die Schaltanlage. Die Anlage ist in Betrieb, aber an der Tür hängt immer noch das Schild ‚Bereich spannungsfrei‘.

Auch Jens Schneider, der kurz nach Peter Kramer eine erforderliche Überbrückungsleitung legen soll, ist bereits auf die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen eingestellt. Das Schild an der Box signalisiert ihm, dass diese bereits alle ordnungsgemäß beachtet wurden und betritt ohne weitere Schutzmaßnahmen die Box. Bei Annäherung an eine der stromführenden Leitungen trifft Jens Schneider ein Stromschlag und die Notsicherung der Anlage wird aktiviert.

Die Feuerwehr und der Notarzt benötigen 15 Minuten bis zur Unfallstelle. Herr Schneider ist zu diesem Zeitpunkt noch ohne Bewusstsein, sein Arbeitsanzug ist am rechten Ellbogen versengt und die Haut darunter weist eine großflächige Brandwunde auf. Der Werkschutz nimmt die Details des Unfalls auf und macht Fotos vom Unfallort, speziell von der gesamten Box und dem immer noch bedrohlich hängenden, verhängnisvollen Schild.

Dem Notarzt gelingt es ohne Zuhilfenahme des Defibrillators, Jens Schneider aus der Bewusstlosigkeit zu holen. Der Rettungswagen des DRK ist mittlerweile ebenfalls vor Ort, Herr Schneider wird von den Rettungssanitätern in den Wagen gehoben, der sofort mit Blaulicht und Signal das Werksgelände verlässt. Die Polizei hat vom Werksschutz die Einzelheiten erfahren und die Personendaten des Geschädigten und der Zeugen aufgenommen. Eine Polizistin übernimmt die undankbare Aufgabe, die Angehörigen zu verständigen.

„Guten Tag, Frau Schneider, mein Name ist Gundula Behr, ich bin Polizeiobermeisterin. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann Jens eben einen Unfall hatte. Er wird derzeit vom DRK in die nächstgelegene Klinik gebracht, das ist das Schlosspark Klinikum. Er war bereits bei Bewusstsein. Näheres erfahren Sie sicher im Krankenhaus. Es tut mir sehr leid und ich wünsche Ihm baldige Genesung.“

Constantin, Rita, Marco, Rosa und die Katze

Das einstöckige, schmutzig-graue Haus in der Kranzallee wirkt durch seinen konservativen Fünfzigerjahre-Stil und dem hoch aufragenden Spitzgiebel wie ein Fremdkörper zwischen all den noblen Villen. Der niedrige Zaun aus schwarzen Gitterstäben wird von meterhohen Quadern aus Klinkersteinen unterbrochen. Dass hier Fertigelemente aus dem Baumarkt zu Einsatz kamen, lässt sich nicht leugnen. Die sichtbaren Büsche und Sträucher sind in einem erbärmlichen Zustand, hier wurde kräftig an Wasser gespart. Eine große Buche wirft einen breiten Schatten auf die Seitenwand des Hauses, in der ein zweiflügliges Fenster weit geöffnet ist.

Die Familie von Weil hat soeben das Mittagessen beendet. Auf dem pyramidenförmigen Treppenvorbau vor dem Haus steht Rosa und blickt hektisch in alle Richtungen. Sie läuft die Treppe nach oben, immer noch eifrig suchend, springt die andere Seite hinunter und rennt in den Garten. Die kupferroten Haare sind zu einem buschigen Pferdeschwanz zusammengebunden, die nackten Füße stecken in lustigen, schwarzen Plüschhausschuhen. Sie trägt ein ärmelloses, knielanges Kleid, die beiden Enden der Gürtelschnur hängen lose herab. Rosa ist erst 14, aber die zarte Andeutung eines Busens ist bereits erkennbar. Rosa ist verzweifelt, Trixi ist weg.

Trixi ist Rosas schwarze Katze, die eigentlich nur selten das Haus verlässt und wenn, dann meist unter Aufsicht und strenger Beobachtung von Rosa. Die läuft laut ‚Trixi‘ rufend hinters Haus durch den Garten, schaut in und hinter jedes Gebüsch, blickt in die Kronen der Bäume und geht dann verzweifelt zurück ins Haus. Vater Constantin und Mutter Rita sitzen noch am Esstisch.

„Jetzt mach dir keine Sorgen, die kommt schon wieder“, tröstet Rita ihre Tochter, bei der schon die ersten Tränen in den Augenwinkeln erkennbar sind, „Katzen wissen, wohin sie gehören, Trixi hat nicht gelernt, Mäuse zu fangen, wenn sie Hunger hat, ist sie bestimmt gleich wieder da.“

Das Trösten hat nur eine geringe Wirkung, die Tränen laufen jetzt intensiver. Rosa läuft schluchzend zu ihrem Zimmer und direkt in die Arme ihres Bruders Marco, der eben aus seiner Bude kommt.

„Pass doch auf, blöde Kuh, keine Augen im Kopf?“

Herzlich, so wie große Brüder mit kleinen Schwestern umgehen, schubst er sie von sich und sieht dann erst ihre nassen Wangen.

„Oje, mein Schwesterlein weint, was ist denn los?“

„Trixi ist weg, schon die ganze Nacht war sie nicht da, bestimmt ist ihr was passiert.“

„Erzähl keinen Unsinn. Wenn Katzen über Nacht weg sind, ist das das Normalste auf der Welt. Alles andere wäre ungewöhnlich.“

„Aber Trixi hat das doch noch nie gemacht“, stammelt Rosa, „hilfst du mir, sie zu suchen?“

„Wenn sie bis heute Abend nicht zurück ist, helfe ich dir morgen. Jetzt warte erstmal ab.“

Marco streicht ihr sanft übers Haar und fühlt sich dabei richtig gut. Selten genug besteht eine solche Einigkeit zwischen den Geschwistern. Für Marco war Rosa in den letzten Jahren meist immer ein lästiges Anhängsel. Die Verantwortung, die man ihm als großen Bruder übertragen hat, bedeutet immer noch eine Einschränkung der eigenen Freiheit. Und die ist Marco wichtig, sehr wichtig.

Marco von Weil ist der Mädchenschwarm der Schule. Für seine 15 Jahre ist er sehr groß und kräftig gebaut. Er hat immer einen frechen Spruch auf den Lippen und er ist der Schrecken der Lehrer. Und auch all derer, die ihm in die Quere kommen., denn Marco genießt seinen Ruf als Störenfried, Raufbold und Casanova. Er schert sich wenig um seine meist schlechten Zensuren und die regelmäßig zuhause eintreffenden Verweise und Verwarnungen. Die meisten seiner Mitschüler gehen ihm entweder aus dem Weg oder versuchen auf unterschiedlichste Art und Weise, zu seinem elitären Freundeskreis zu gehören. Marco ist deshalb selten gezwungen, seine Hausaufgaben selbst zu erledigen, muss sich nicht um sein Pausenbrot kümmern und es gibt grundsätzlich keine Party, zu der er nicht eingeladen wird.

Heute Nachmittag steigt eine Pool-Fete bei Johanna Peters und Marco ist auf dem Weg in den Keller, um sich aus Vaters Heiligtum eine Flasche Champagner zu organisieren. Etwas Anderes wird von ihm auf der Party sicher nicht erwartet, also will er die hohen Erwartungen nicht enttäuschen. Er schleicht am Wohnzimmer vorbei in Richtung Kellertür, vorsichtig darauf bedacht, unbemerkt zu bleiben. Nicht vorsichtig genug.

„Wohin des Wegs, mein Sohn?“, kommt die warnende Stimme seines Vaters aus dem Wohnzimmer, „hast du deinen eigenen Vorrat schon aufgebraucht?“

Constantin von Weil kennt seinen Filius, kennt dessen Tricks und kann sich nie entscheiden, ob er nun sauer oder stolz auf diesen Bengel sein soll. Zu sehr erinnern ihn Marcos Eskapaden an seine eigene Jugend. Allerdings weiß er auch noch sehr genau, wie streng und unnachgiebig sein eigener Vater die Verfehlungen des jungen Constantin bestraft hat.

„So funktioniert das nicht, mein Kleiner, glaubst du, ich habe noch nicht mitbekommen, dass du immer wieder meinen Keller für einen Selbstbedienungsladen hältst?“

Marco spürt sofort, dass er seinem Vater jetzt nicht mit irgendeinem seiner flapsigen Sprüche kommen sollte. Er geht gleich in die Defensive, arbeitet an einem fast reumütigen Gesichtsausdruck und hebt entschuldigend die Arme. „Ok, entschuldige, Dad, ich habe mal wieder nicht nachgedacht. Aber ich sollte halt bei Johannas Party nicht mit leeren Händen auftauchen.“ Und Marco weiß, wo er ansetzen muss, um sein Ziel doch noch zu erreichen und setzt nach. „Ich fahr dann an der Tanke vorbei und kaufe dort einen Sekt, da komm ich mit Fünf Euro hin“

Constantin zieht sofort die Augenbrauen hoch und Marco bekommt die Antwort, auf die er spekuliert hat. „Sekt von der Tanke? Untersteh dich! Warte, ich hol dir was! Her mit den Fünf Euro!“

Fünf Minuten später schwingt sich Marco auf sein Fahrrad. Aus seinem Rucksack ragt der Hals einer Flasche Dom Pérignon.

Rita von Weil hat die Unterhaltung von Vater und Sohn in allen Details mitbekommen. Sie sitzt auf dem Sofa, hat eine Modeblatt in der Hand und legt die Zeitschrift weg, als Constantin wieder ins Zimmer kommt. „Du kannst diesen Unsinn nicht dauernd unterstützen“, poltert sie los und schiebt sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht. „Champagner zu einer Poolparty? Hast du eine Ahnung, was Marco dort für einen Eindruck hinterlässt? Eine Flasche Wein wäre exklusiv genug gewesen.“

Constantin lacht und setzt sich schwungvoll neben seine Frau.

„Die Peters sollen ruhig sehen, dass wir auch zu leben verstehen. Und dass auch unser Junge einen guten Geschmack hat. Er ist doch sicher hinter Johanna her, vielleicht hilft ein guter Champagner dabei.“

Constantin streckt sich auf der Couch aus und legt seinen Kopf auf Ritas stämmige Oberschenkel. Als er ihr sein Gesicht zuwenden will, bohrt sich seine Nase provokativ in eine Bauchfalte und sie schiebt ihn verärgert von sich.

„Nun lass mich doch, ich liebe deine Rundungen, wirklich alle!“ Dabei weiß er nur zu gut, wie empfindlich Rita auf alles reagiert, was nur in Ansätzen ihr Aussehen und ihr Gewicht betreffen könnte. Er hat einiges gutzumachen, sein letzter, wirklich scherzhaft gemeinter Kommentar, hatte zwei Wochen Funkstille zufolge. Und das nicht nur im Bett. Er meinte damals nur, ‚Machst du noch diese ‚BP‘ Übungen im Studio?‘. Und als sie ihn erwartungsgemäß korrigierte mit ‚das heißt doch: BBP – Bauch-Beine-Po‘ hatte er nur schmunzelnd geantwortet ‚Ach, ich wusste gar nicht, dass du für Bauch auch trainierst‘.

Das war es dann auch. Es folgten Tränen, Schimpfkanonaden und durch die Wohnung fliegende Gegenstände.

Constantin ist nicht ehrlich zu sich, sonst würde er sich eingestehen, wie sehr ihn die körperliche Veränderung seiner Frau stört, wie sehr er den mädchenhaften, zierlichen Körper vermisst, wie widerlich er die mächtigen Fettpolster um ihre Taille findet und wie sehr er sich immer überwinden muss, ihre schlaffen Brüste anzusehen und anzufassen.

Man kann davon auszugehen, dass auch Rita Ähnliches beim Anblick von Constantin empfindet. Auch er hat in den letzten Jahren an Gewicht zugelegt, der Bauchumfang hat erheblich zugenommen. Aus seiner ursprünglichen rotblonden Haarpracht wurde mittlerweile ein schmaler, kupferfarbener Kranz, der den Hinterkopf von Ohr zu Ohr umschließt. Aber naturgemäß ignorieren Männer solche Veränderungen. Trotz ihrer langsam schwindenden Attraktivität war Rita bis vor kurzem immer noch gierig, die Jahre des Alterns schienen ihrem sexuellen Verlangen nichts anhaben zu können. Deshalb nahm Constantin zunächst erleichtert zur Kenntnis, dass ihre Libido in den letzten Wochen scheinbar auf dem Rückzug war, sie war ihm gegenüber ungewöhnlich zurückhaltend. Anfänglich empfand er es als sehr angenehm, seine Abendlektüre ohne Übergriffe von der anderen Seite des Betts zu genießen. Aber irgendwann fing er doch an, sich Gedanken zu machen. Es begann mit der ersten Zurückweisung, die er bei einer seiner nächtlichen Annäherungen erfuhr. Eine völlig neue Erfahrung, aus heiterem Himmel und das nach fast vierwöchiger Abstinenz. Seine angestaute Geilheit zusammen mit seinem männlichen Ego suchten nach Antworten, die sich fast von selbst konkretisierten.

Rita trainiert seit Monaten in einem Studio mit einem eigens für sie engagierten Betreuer. Sie schuftet dreimal die Woche mit und ohne Geräte und zwingt ihren schweren Körper auch dreimal wöchentlich zu einem Lauf rund um den Schlachtensee. Constantin hat den Fitness-Guru selbst für sie ausgewählt, Tom Ritter war als Patient bei ihm und hat ihm versichert, dass eine gute Chance besteht, seine Frau wieder in eine ansehnliche Form zu bringen. Natürlich hat Tom Ritter auch Constantin das Angebot gemacht, an diesem Programm teilzunehmen, was dieser aber lachend ablehnte.

Dr. Constantin von Weil, Neurologe, arbeitet jetzt seit sechs Jahren als leitender Oberarzt in der Schlosspark-Klinik in Charlottenburg. Auch er träumt den Traum vom Chefsessel und fühlt sich allen anderen Bewerbern gegenüber im Vorteil. Er ist der Dienstälteste in der Neurologie, mit seinen 51 Jahren hat er die größte Erfahrung aller Konkurrenten und sein größter Trumpf, so glaubt er zumindest, ist sein Vater. Der ist zwar mittlerweile im Ruhestand, ist aber immer noch in allen wichtigen Gremien des Gesundheitswesens der Stadt vertreten. Seine Meinung hat in vielen Bereichen noch Gewicht, so bei der Vergabe von Fördergeldern, bei der Freigabe von Forschungsetats und nicht zuletzt bei der Besetzung wichtiger Posten. Constantin hat an vielen Stationen seiner beruflichen Laufbahn von seinem Vater profitiert, nur aufgrund seiner ärztlichen Fähigkeiten wäre seine Karriere nicht so positiv verlaufen. In seinem Spezialgebiet hat er sich aber unzweifelhaft einen guten Namen erarbeitet, er gilt in Fachkreisen als absoluter Spezialist im Bereich Morbus Parkinson und konnte durch die Entwicklung neuer, erfolgreicher Methoden in der Diagnostik nationale und internationale Aufmerksamkeit erzeugen. Allerdings pflegte er seine Freizeit äußerst großzügig zu nutzen und widmete sich überwiegend dem aussichtlosen Bestreben, sein Handicap im Golf zu verbessern. Die begonnenen Forschungsarbeiten beabsichtigt er in Ruhe zu vollenden, sobald er als Klinikchef ausreichend Zeit dafür aufbringen kann.

Constantin setzt sich auf, legt seinen Arm um Rita und zieht sie näher zu sich. „Lass uns heute Nachmittag einen Spaziergang im Grunewald machen. Dort ist es schön schattig und die frische Luft tut uns beiden sicher gut“, versucht er die aktuelle Stimmungslage auszuloten.

„Ich habe heute noch einen Termin mit Tom Ritter“, antwortet sie übertrieben beiläufig, „er will mit mir heute noch unser Programm für nächste Woche durchgehen.“

„Am Sonntag?!“ Constantin wundert sich eigentlich nicht mehr über die kurzfristig angesetzten Termine von Rita. Meist handelt es sich um Treffen zum Kaffeeklatsch, beim Friseur oder beim Kosmetiker. Aber eine Besprechung zum Fitnessprogramm an einem Sonntag kommt ihm jetzt doch ziemlich ungewöhnlich vor. „Warum hat das denn nicht Zeit bis morgen?“, fragt er argwöhnisch zurück.

„Er möchte, dass ich ab Montag einige Einheiten selbstständig ohne ihn absolviere, Tom ist für ein paar Tage weg und möchte nicht, dass ich den erkennbaren Fortschritt durch zu langes Pausieren verliere.“

Constantin hat schon wieder einen verletzenden Spruch auf der Zunge, der den aktuellen Fortschritt in Frage gestellt hätte. Er verschluckt ihn sofort und murmelt nur ein kurzes „Aha!“

„Was soll das heißen?“, fragt Rita gekränkt zurück, „bist du etwa eifersüchtig?“

„Auf diese muskelbepackte Werbefigur? Dass ich nicht lache!“ Constantin schaut Rita belustigt an. Aber natürlich ist er eifersüchtig, er wundert sich nur, dass er diesem Adonis überhaupt zutraut, mit Rita etwas anzufangen. Tom Ritter ist Mitte dreißig, in der Blüte seines Lebens und könnte jederzeit auf einem Titelblatt von Mens Health erscheinen. Was will so einer mit seiner Frau? Hofft er, dass er sie wieder in ihren Originalzustand versetzen kann? Hat sie ihm Bilder aus ihrer Jugendzeit gezeigt? Der hat doch sicher an jedem Finger der Hand mindestens drei Superhasen laufen.

Rita versucht, von dem Thema abzulenken. „Wie läuft es denn bei dir überhaupt in der Klinik? Gibt es denn endlich etwas Neues beim Kandidatenkarussell?“, fragt sie mit einem fordernden Blick, „ich habe gehört, Dr. Weber mischt jetzt auch mit?“

„Woher weißt du denn das schon wieder?“

„Na woher wohl. Corinna Weber und ich haben doch denselben Friseur und wir werden zufällig auch von der Chefin selbst betreut“, erklärt Rita triumphierend ihren Informationsvorsprung.

„Und die Friseurin hat dir erzählt, dass Dr. Weber Chefarzt wird? Ganz einfach so?“, fragt Constantin nach.

„Natürlich nicht. Aber Corinna scheint erwähnt zu haben, dass ihr Mann in naher Zukunft eine neue Position im Klinikum übernehmen wird. Damit ist doch klar, was gemeint ist.“

Constantin antwortet nicht mehr darauf, zu sehr beschäftigt ihn diese Nachricht. Oskar Weber ist ein geschätzter Kollege, ohne Zweifel ist seine Bewerbung durchaus ernst zu nehmen. Besonders seine laufende Habilitation und die von ihm zuletzt veröffentlichten Berichte haben viel Aufmerksamkeit erzeugt.

„Der ist doch keine Konkurrenz für dich, oder?“, fragt Rita nach, mit einem leichten Zweifel in der Stimme.

„Leider doch, ich fürchte, er ist ein ernstzunehmender Kandidat. Ich werde mal bei meinem Vater nachfragen, wie Oskars Standing in dieser Angelegenheit ist. Vielleicht kann ich was von ihm erfahren.“

„Ja, kümmere dich darum!“ Rita klingt ungeduldig. „Lass dir diese Chance bloß nicht entgehen. Du hast es längst verdient.“

Sie steht auf und sieht ihren Mann herausfordernd an. „Du bist doch kein Loser, oder? Ich mach mich dann mal fertig.“

„Gut, dann viel Spaß mit Herrn Ritter, ich hoffe, er behandelt dich auch ritterlich. Ich werde noch kurz im Golfclub vorbeischauen. Wenn es für eine ganze Runde nicht reicht, bin ich zum Abendessen zurück.“

Rita bleibt kurz stehen und dreht sich nochmal um. „Sprich doch noch kurz mit Rosa, ihre Katze ist immer noch nicht da und Marco hatte ihr doch versprochen, mit ihr auf die Suche zu gehen.“

„Das hat er sicher vergessen, der hatte doch nur noch die Poolparty im Kopf. Ich spreche mit Rosa und dreh vielleicht ein paar Runden um die Häuser mit ihr, vielleicht haben wir ja Glück.“

Er macht sich auf den Weg zu Rosas Zimmer. Rita packt ihre Trainingstasche und geht Richtung Garage. Tom Ritter wartet.

Ben, die tote Katze und die Angst vor der ersten Operation

Im Haus in der Eichenallee steht Ben an seinem Fenster und blickt in den Garten. Die ausladenden Äste der großen Eiche gewähren nur einen sehr eingeschränkten Blick auf den Rasen. Ben beobachtet seit einigen Minuten eine große Anzahl von Krähen, die sich auf eine Stelle am Zaun zu konzentrieren scheinen. Sie fliegen abwechselnd an, hüpfen ein wenig herum und scheinen an etwas herum zu picken. Dann fliegen sie wieder auf und streiten sich untereinander mit lautem Geschrei. Ben sieht eine Weile zu und versucht angestrengt, das Ziel der Vögel auszumachen. Von seinem Standpunkt aus sieht er nur einen kleinen schwarzen Fleck, der immer wieder das Ziel der Krähen zu sein scheint.

Ben war gerade dabei, sich für Johannas Party fertig zu machen, jetzt treibt ihn aber die Neugier in den Garten. Er nimmt die hintere Treppe im Haus und geht durch die Garage hinaus auf die Wiese. Durch das schon ziemlich ausgedörrte Gras läuft er in Richtung der Büsche unter seinem Fenster und die Versammlung der Krähen löst sich bei seiner Annäherung laut schreiend umgehend auf. Er geht näher ran und sucht den Boden der Umgebung ab.

Unter einem der Ginsterbüsche findet er einen leblosen Tierkörper. Eine abgemagerte, schwarze Katze liegt reglos vor ihm, die Augen offen und die dünnen Pfoten weit von sich gestreckt. Der Körper ist ungewöhnlich verkrümmt, als ob sie sich im Todeskampf noch versucht hat aufzurichten. Ben überlegt kurz. Dann nimmt er seinen ganzen Mut zusammen, holt aus der Garage eine löchrige, alte Wolldecke und sucht anschließend im daneben liegenden Geräteschuppen eine Schaufel. Mamas Gartenhandschuhe liegen daneben, er zieht sie an und geht zurück zum toten Tier. Unter dem Ginsterbusch entscheidet er sich für eine Stelle. Er sticht mit der Schaufel in die Erde, sie ist weich und gibt leicht nach. Er muss nicht viel arbeiten, nach wenigen Hüben hat er ein ausreichend große Loch geschaufelt. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, packt den Kadaver vorsichtig mit den Handschuhen am Schwanz, legt ihn auf die Decke und wickelt ihn sorgsam ein. Dann legt er ihn in der Kuhle ab. Er bedeckt alles mit ausreichend Erde und zieht ein paar Ginsterzweige nach unten, um die Grabstelle abzudecken. Irgendjemand wird jetzt dieses Kätzchen vermissen, denkt er. Soll er irgendeine Nachricht nach draußen hängen? War es richtig, das Tier gleich zu vergraben? Doch, er ist sich sicher, das Richtige getan zu haben. Er bringt Handschuhe und Schaufel zurück in die Gartenhütte und geht zurück auf sein Zimmer.

Sarah liegt lang ausgestreckt auf ihrem Hochbett. Das Bett ist ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie noch mit Ben zusammen in einem Zimmer hauste. Ben hätte nach dem Umzug in die Villa gern das größere Zimmer mit dem Blick auf den Garten für sich beansprucht. Nach kurzer Diskussion fiel die Entscheidung zu Gunsten von Sarah, Ben zog in das ‚Dunkelzimmer‘, wie er es von da an nannte. Die große Eiche vor dem Fenster schluckt zu jeder Tageszeit das gesamte Sonnenlicht und zwingt Ben meist schon am frühen Morgen dazu, das Deckenlicht oder die Schreibtischlampe zu benutzen. Einzig an heißen Sommertagen wie heute ist er der Eiche dankbar, dass sie dazu beiträgt, die Temperatur im Zimmer erträglich zu halten.

Von ihrer Position aus beobachtet Sarah, wie Ben Werkzeug aus dem Geräteschuppen holt und damit hinter dem Haus verschwindet. Sie ist zwar neugierig, was da wohl im Gange ist, allerdings hat sie keine Lust, ihre gemütliche Lage zu verändern. Sie hat ihre Lieblings-CD eingelegt, mit dem Titel ‚Peter Maffay MTV unplugged‘. Sarah stellt den Player auf Song Nummer Acht und den Mode-Schalter auf ‚Repeat‘. Dann legt sie sich zurück und schließt die Augen.

‚In deinen Augen steht so vieles, was mir sagt‘

‚Du fühlst genauso wie ich‘

‚Du bist das Mädchen, das zu mir gehört‘

‚Ich lebe nur noch für Dich‘

Und Sarah träumt. Sie träumt von ihrem großen Schwarm. Dass er gerade in diesem Moment dieses Lied für sie singt. Sie sieht ihn vor sich, in schwarzem Leder, mit nacktem Oberkörper und sie erkennt das große ‚S‘ auf seiner Gürtelschnalle, das für ‚Sarah‘ steht.

‚Du bist alles, was ich habe auf der Welt‘

‚Du bist alles, was ich will‘‘

An ihrer weißen Bluse sind die Knöpfe geöffnet, ihre linke Hand beginnt an den kleinen Brustwarzen zu spielen. Mit der Rechten öffnet sie den Verschluss ihrer Jeans, die Fingerspitzen ihrer rechten Hand wandern unter den Gummizug ihres Slips, tasten sich durch den flauschigen Haaransatz. Das Gefühl ist schön, neu, warm, feucht.

‚Du, du allein kannst mich verstehn‘

‚Du, du darfst nie mehr von mir gehen‘

Vor ihrem geistigen Auge erscheint sein Gesicht, es kommt immer näher, die schwarzen Augen sprühen Feuer, sein Mund ist leicht geöffnet und seine vollen Lippen formen ein rotes Herz. Sie hört ihn rufen….

„Hey, Sarah….!!“

Ben bleibt, die Türklinke immer noch in der Hand, wie erstarrt im Türrahmen stehen. Er registriert, wie Sarah hastig ihre Hand aus der Hose zieht und sich dann mit beiden Händen die Bluse zuhält.

„Du Blödmann! Kannst du nicht anklopfen!“

Sarah ist den Tränen nahe, schamhafte Röte überzieht ihr Gesicht. Sie lässt ihre Bluse los, greift sich die Decke und zieht sie sich über den Kopf. Peter Maffay singt unbeirrt weiter.

‚Wo ich auch bin, was ich auch tu,‘

Ben geht zu ihrem Bett und steigt an der außen angebrachten Kiefernholzleiter hoch, gerade so, dass er ihr die Decke ein wenig wegziehen kann.

„Du Dummerchen, ist doch nichts passiert. Alles ganz normal, glaub mir.“ Er legt so viel Zärtlichkeit in seine Stimme, dass Sarah es wagt, ihre Deckung geringfügig aufzugeben.

„Du verräts mich nicht? Versprochen?“, fragt sie leise. Und Peter singt immer noch.

‚Und dieses Ziel bist du‘

‚Bist du, Bist du‘‘

„Ich verrate natürlich nichts, war ja auch nichts, oder? Und darf ich bitte diese Heulboje mal kurz abdrehen?“ Ohne auf Sarahs Antwort zu warten, steigt Ben von der Leiter und drückt die Stopp-Taste des Players. Sarah hat sich mittlerweile die Bluse zugeknöpft und ihren Hosenknopf geschlossen. Sie sitzt jetzt mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett.

„Was wolltest du eigentlich hier?“, fragt sie Ben vorwurfvoll.

Ben setzt sich auf Sarahs Schreibtischstuhl, nimmt einen Bleistift aus ihrem Mäppchen und trommelt damit auf der Schreibunterlage herum.

„Ich fahr mit dem Rad rüber zu Johannas Party, wollte dich fragen, ob du nicht mitkommen willst. Es sind sicher auch welche aus deiner Klasse da“, sagt er ihr dann ganz beiläufig. Er weiß genau, dass sie kein Interesse an denen aus ihrer eigenen Klasse hat. Aber vielleicht ist genau der da, von dem sie eben geträumt hat? Ben bemerkt, dass sie versucht, keine Emotionen zu zeigen. Aber er kann die Erregung fast spüren, die in ihr wieder hochzusteigen beginnt.

„Hast du Papa schon gefragt, ob ich mitkommen darf?“, fragt Sarah vorsichtig und betont unbeteiligt.

„Den habe ich seit dem Mittagessen noch nicht gesehen, aber ich klär das gleich. Mach dich mal fertig, wir kriegen das schon hin.“

Ben schließt die Tür und geht die Balustrade entlang nach unten. Auf der Treppe zum Wohnzimmer kommt ihm Anna entgegen.

„Hast du Papa gesehen?“, fragt er sie im Vorbeigehen.

„Er ist nach dem Essen in sein Büro gegangen, seither habe ich ihn nicht mehr gesehen“, antwortet sie und bleibt stehen, „er wirkte irgendwie müde, vermutlich schläft er eine Runde.“

Ben entschließt sich, seinen Vater nicht bei seiner Mittagsruhe zu stören und macht sich auf die Suche nach Corinna. Die Badezimmertür ist leicht geöffnet, er hört das Rauschen eines laufenden Föns. Er drückt die Tür weiter auf und sieht seine Stiefmutter vor dem Spiegel stehen. Ben ist bereits alt und Mann genug, um für die erotischen Signale empfänglich zu sein, die ein nahezu nackter Körper ungefragt sendet. Sie steht vor ihm in einem knappen Slip, der ihre prallen Pobacken fein säuberlich voneinander trennt. Die kleinen, festen Brüste werden von einem durchsichtigen BH bedeckt, ohne es zu wollen, erhascht Ben einen kurzen Blick auf die dunklen Brustwarzen.

Corinna lässt den Föhn und die Bürste sinken und wendet sich Ben zu, der eilig versucht, seine Augen schnellstmöglich in eine andere Richtung zu lenken.

„Und? Genug gesehen? Was willst du? Kannst du nicht warten, bis ich fertig bin?“ Corinna klingt herrisch und ungeduldig.

„Entschuldige, die Tür war offen“, stammelt Ben unterwürfig, „konnte ja nicht wissen, dass du noch nackt bist. Ich warte draußen.“

Ben zieht die Tür wieder zu und geht ein paar Schritte Richtung Wohnzimmer. Sein Fuß stößt an etwas Hartes, es klirrt und etwas schlittert auf dem Fußboden entlang. Ben bückt sich und hebt ein Stück Porzellan auf. Er legt das Teil auf der Fensterbank ab und setzt sich auf die Lehne des weißen Sessels. Corinna kommt angekleidet und frisch geföhnt aus dem Badezimmer. Sie trägt eine knielange, weiße Hose und hat das Kashmir-Oberteil gegen ein hellblaues Shirt mit Golfclub-Logo getauscht.

„Was gibt es denn so Dringendes?“, wendet sie sich jetzt Ben zu.

„Ich bin bei Johanna Peters zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen, ich würde Sarah mitnehmen, wenn das für euch ok ist“, erklärt Ben.

„Was meint denn dein Vater dazu?“

„Der schläft in seinem Zimmer, ich wollte ihn deshalb nicht stören.“

„Meinetwegen, aber wenn es später als acht Uhr wird, bringst du Sarah nach Hause.“

Ben nickt zustimmend. „Aber ja doch, ist doch klar und kein Problem, die Nussbaumalle ist ja grad mal zwei Straßen weiter, ich bringe dein Goldkind natürlich sicher zurück.“

Corinna registriert den ironischen Tonfall, vermeidet aber, darauf einzugehen. „Ich sag deinem Vater Bescheid, wo ihr seid. Ich bin dann auch weg, ich fahre nach Wannsee in den Golfclub.“

Ben stürmt nach oben und klopft an Sarahs Zimmer.

„Mach dich fertig, wir können los. Ich warte unten bei den Fahrrädern.“ Erstaunlich schnell für ein Mädchen ist Sarah schon fünf Minuten später vor dem Haus. Beide steigen auf ihre Räder und sind unterwegs in die Nussbaumallee.

Oskar Weber hat sich in seinem Zimmer auf dem brauen Ledersofa ausgestreckt und versucht vergeblich, zur Ruhe zu kommen. In seinem