Bruno, 41, ledig - Martin Ziegler - E-Book

Bruno, 41, ledig E-Book

Martin Ziegler

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Beschreibung

Nach mehr als 40 Jahren im Bannkreis seiner alkoholkranken Mutter sucht Bruno den Eingang in ein neues Leben. Mit Unterstützung seines Kollegen Paul und der Nachbarin Rose startet er den Versuch, das eigene Ich neu zu entdecken. Einprägsame Erlebnisse bei der Partnersuche im Internet offenbaren viele Fallstricke, erzeugen zwanghafte Sehnsüchte und führen schließlich zu der banalen Erkenntnis, dass jeder für sein Glück selbst verantwortlich ist.

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Inhaltsverzeichnis

Was man vielleicht wissen sollte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

In einer Wohnung in Erlangen, ca. 20 km nördlich von Nürnberg

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Was man vielleicht wissen sollte….

Derzeit gibt es etwas mehr als 17 Millionen Singles in Deutschland, fast alle auf der stetigen Suche nach einem Partner. Die bekanntesten Partnerforen bedienen im Schnitt jeweils eine halbe Million Nutzer. Weltweit wird der Umsatz mit den sehnsüchtig suchenden Singles auf mehr als 3 Milliarden Euro geschätzt.

Allein in Deutschland sind rund 2.400 Singlebörsen aktiv, von der normalen Partnervermittlung über Flirt-Portale bis hin zu Foren für das Casual-Dating. Was immer Mann/Frau auch sucht, entweder den Partner fürs Leben oder Gleichgesinnte für unverbindlichen Sex, es ist für jeden etwas dabei. Online-Dating ist nicht nur bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beliebt. Etwa 40 Prozent der Altersgruppe 30-59 waren oder sind schon beim Online-Dating aktiv. Die Gesamtzahl der Online-Dating-Benutzer liegt 2018 bei etwa 8 Millionen.

Um in diesem Haifischbecken der Sehnsüchte Erfolg zu haben, braucht es viel Geduld und Ausdauer, wachsende Erfahrung und manchmal das Wegstecken von vielen Enttäuschungen. In vielen Benutzerprofilen schrecken teilweise gravierende Fehler die gewünschte Zielgruppe ab. Unpassende Fotos, irreführende Benutzernamen und meist unpassend formulierte Beschreibungen lassen die schon geringen Chancen auf ein Minimum sinken. Und trotzdem – irgendwann kommt das erste Treffen.

Bruno ist einer von Millionen deutschen Singles und finanziert die Dating-Branche mit seinem monatlichen Beitrag. Wünschen wir ihm viel Glück und begleiten wir ihn durch Höhen und Tiefen auf seiner Suchmission.

1

Der kleine Plastikwecker nimmt um 06:00 Uhr die Arbeit auf. Ein zunächst schüchterner, dann aber sehr heftig anschwellender, aggressiver Brummton findet Brunos empfangsbereite Ohren. Die penetrant hohen Frequenzen bearbeiten das Trommelfell, bis das Gehirn den Empfang quittiert und den Befehl weitergibt: „Augen auf!“.

Manchmal weiß Bruno wirklich nicht, an welchem Wochentag er soeben gerade wach geworden ist. So ein Manchmal ist gerade heute. Sein Blick wandert zu dem Wandkalender, der rechts neben seinem Bett über dem Schreibtisch mit dem alten Computer hängt. Der rote Plastikreiter zeigt auf die Sechs und beantwortet alle Fragen nach Tag und Monat. Es ist der erste Montag im Juli des Jahres 2018. Bruno gähnt und zieht sich seine dünne, gesteppte Decke noch einmal über den Kopf. Seine rechte Hand streicht tastend über den Nachttisch. Sie findet ein kleines Transistorradio und zieht es unter die Bettdecke. Ein paar Sekunden später berichtet ein kaum verständlicher Sprecher, dass Frankreich und England um den Einzug ins Halbfinale der WM spielen. Als dann der Wettermann einen wolkigen Tag mit siebzehn Grad ankündigt, schiebt Bruno die Bettdecke mit beiden Beinen von sich und richtet den Oberkörper auf. Er wirft einen Blick auf seine dünnen Beine und stellt das Radio zurück auf den Nachttisch. Er streckt die Arme nach vorn, um nach seinen Zehen zu greifen. Enttäuscht stellt er fest, dass sein stattlicher Bauch die geplante Übung verhindert. Also heute keine Gymnastik. Seit 41 Jahren, von seinem ersten Tag an, lebt er nun schon in diesem Zimmer, in diesem Haus. Anfangs zusammen mit seinen Eltern, jetzt nur noch mit seiner Mutter. Hier wartet er Tag für Tag darauf, dass etwas passiert. Er hat keine Ahnung, worauf er wartet, was passieren sollte. Dass sich etwas ändert. Was soll sich ändern? Er hat keine Ahnung und denkt auch nicht besonders oft darüber nach. Bruno setzt sich an die Bettkante und stochert mit dem rechten Fuß unter dem Bett nach dem noch fehlenden Filzpantoffel. Nachdem er sich aufgerichtet hat, bleibt er einige Sekunden ziemlich unsicher stehen. Dann schlurft er zum Fenster und zieht den schmutziggrauen Store ein Stück zurück. Seine müden Augen mustern misstrauisch den Himmel und die grauen Regenwolken. Auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums gegenüber stehen bereits die ersten LKWs. Bruno sieht, wie die Fahrer um die besten Stellplätze streiten. Die Rückwände der Lastwagen öffnen ihre Mäuler, turmhohe, folienverschweißte Pakete kommen zum Vorschein. Von den LKW-Laderampen werden die ersten Paletten gehievt und lautes Rufen und Geschrei weckt den Rest der umliegenden Nachbarschaft.

Bruno beobachtet das Treiben einige Minuten lang, dann schließt er wieder den Vorhang. Die Radiowellen überfordern das kleine Radio, es krächzt, knistert und rauscht. Nur der echte Kenner addiert die zeitweise erkennbaren Musikfetzen zu diesem ‚Ketchup-Song‘. Es ist nicht Brunos Musik. Sie passt nicht zu ihm, das beweist auch das an der Wand hinter dem Fußende seines Betts hängende Tour-Plakat. Es zeigt die Gruppe ‚Die Flippers‘ im November 1997 in Stuttgart, ein Konzert, von dem Bruno heute noch schwärmt. Das knallgelbe Poster mit dem roten ‚Herz aus Schokolade‘ klebt schief auf der rotbraunen Tapete. Wie jung die Jungs noch sind!

Darunter, auf der Schubladenkommode steht auf einer Häkeldecke ein Porzellanengel mit ausgebreiteten Armen. Gleich daneben liegt eine aufgeklappte, leere CD-Hülle. Benno schaltet das Radio aus und geht, begleitet von einer nicht erkennbaren Version von ‚Lady Bonita‘ zu seinem Kleiderschrank.

Die beiden fast zwei Meter hohen Spiegel der Ikea-Schranktüren füllen sich mit einer 1,65 m großen Gestalt, unvorteilhaft bekleidet mit einer Feinripp-Unterhose und braunen Filzpantoffeln. Bruno betrachtet sich sehr ausgiebig, streicht sich einmal über das dunkelblonde Stoppelhaar und über den nicht sehr vollen Vollbart. Während er mit der Handfläche der linken Hand den Takt auf seinem nackten Bauch trommelt, öffnet er mit der Rechten den Schrank und greift nach seiner Latzhose. Die blaue Schrift auf gelben Grund auf dem Hosenlatz outet das Stück als Eigentum eines Praktiker-Baumarkt. Herrn Bruno Heisterkamp leihweise überlassen für seine Tätigkeit im Lager der Niederlassung in Nürnberg-West. Nach einem prüfenden Blick in seine Unterhose ist Bruno überzeugt, dass ein Wechsel durchaus noch einen Tag warten kann. Ein weißes T-Shirt vervollständigt das Outfit, Bruno steigt in seine Arbeitsmontur. Er dreht und wendet sich vor seinem Spiegel wie beim Anprobieren eines Hochzeitsanzugs. Er steckt noch barfuß in seinen Filzpantoffeln, packt deshalb ein Paar Socken in seine Hosentasche. Mit einem letzten prüfenden Blick durch das Zimmer macht er sich auf den Weg ins Bad.

Die Tür nebenan ist zu, seine Mutter scheint noch zu schlafen. Er geht ganz leise durchs Wohnzimmer, trotzdem hört man bei jedem Schritt das Knarren des Dielenbodens. Auf dem Glastisch vor der Couch aus abgewetztem Cord steht noch ein voller Aschenbecher. Unter dem Tisch liegt eine scheinbar leere Weinflasche. Eine andere, noch halbvolle Flasche der gleichen Marke steht provozierend neben einem leeren Weinglas mit Lippenstiftspuren.

Bruno geht zum Fenster und schiebt angewidert den nach Zigarettenrauch stinkenden Store zur Seite. Er öffnet die beiden Fensterflügel, die frischen Luftmassen wälzen sich träge in den Raum und nehmen den Kampf auf gegen Nikotin, Ruß und Alkohol. Bruno atmet kräftig durch und nimmt dann Weinflaschen, Glas und Aschenbecher vom Tisch und bringt alles in die Küche. Dort hat er Mühe, einen freien Platz zum Abstellen seiner Fracht zu finden. Er schiebt mit dem Ellbogen einige Teller und Schüsseln beiseite und platziert das Glas und den Aschenbecher daneben. Der Weinkarton für die leeren Flaschen quillt bereits über, Bruno stellt das Leergut einfach daneben ab.

Der Inhalt der Plastiktüte im Abfalleimer verströmt einen beißenden Geruch, Bruno wird übel. Er zieht den Beutel heraus und leert noch zwei weitere herumstehende Aschenbecher darin aus. Er verknotet den Beutel und stellt das Paket neben der Tür ab. Danach geht er schnell zum offenen Fenster und gönnt seinen Lungen wieder eine Portion Sauerstoff.

Die orange Porzellanuhr an der Wand drängt Bruno zur Eile, sein Arbeitsbeginn ist um 7:30 Uhr. Er kann es sich absolut nicht leisten, zu spät zu kommen. Er stellt das herumstehende Geschirr in die Spüle und geht ins Badezimmer gegenüber der Küche. Das kleine Fenster ist gekippt, Bruno registriert Regentropfen auf dem Glas und flucht. Während die linke Hand die Zahnbürste im Mund bewegt, hebt er mit der anderen den Deckel der Toilette an und leert seine Blase mit einem festen Strahl. Er wirft sich noch zwei hohle Hände voll Wasser ins Gesicht und kramt an der Garderobe nach seiner Regenjacke. Er schlüpft barfuß in seine schweren Sicherheitsschuhe, schleicht langsam zur Schlafzimmertür und öffnet sie einen Spalt. Seine Mutter liegt bäuchlings auf ihrem Bett, sie trägt noch immer ihr rotes Schürzenkleid und das hellblaue Kopfkissen hat einen dunklen Fleck dort, wo ihr offener Mund von Zeit zu Zeit Fäden von Speichel absondert. Ihre roten Schuhe liegen achtlos hingeworfen auf dem schmuddeligen Bettvorleger, daneben ihre Handtasche. Die stickige Luft aus dem Wohnzimmer hat sich auch hier ausgebreitet. Seine Mutter atmet laut. Stoßweises Schnarchen gibt Bruno die Gewissheit, dass noch Leben in ihr ist. Er schließt die Tür, nimmt den vollen Abfallbeutel und verlässt leise die Wohnung.

Ein Stockwerk über ihm wird eine Tür zugeworfen, man hört das Einschnappen des Türschlosses. Von oben kommt Bruno das Klopfen dünner Schuhabsätze auf den Holzstufen entgegen. Mit dem Müllbeutel in der Hand bleibt er vor der Treppe stehen und wartet. Das Klopfen hört zwei Treppenstufen über ihm auf. Er blickt sich um.

Bruno sieht wohlgeformte Beine, einen weinroten Rock und eine weiße Bluse mit großem Kragen. Über der Bluse ein Blazer, der mit zwei goldglänzenden Knöpfen vorne geschlossen ist. Eine braune, blond gesträhnte Pagenkopffrisur umrahmt ein jugendliches Gesicht mit braunen Augen. Ein kleiner Mund, zwei süße Grübchen und die kecke, etwas zu kleine Nase sorgen für einen spitzbübischen Gesichtsausdruck. Als sich dann auch noch der Mund zum Sprechen öffnet, bestätigen die weißen Zahnreihen den sympathischen Gesamteindruck.

„Guten Morgen, Bruno.“

„Guten Morgen, Frau Doktor“, sagt Bruno und lächelt seine hübsche Nachbarin an, „so früh schon wieder auf dem Weg in die Klinik?“

Frau Dr. Rosemarie Richling ist Ärztin für Anästhesie in der Birkenwaldklinik in Nürnberg-West. Sie wohnt seit einem Jahr im ausgebauten Dachgeschoss. Bruno war vom ersten Moment an fasziniert von ihr, denn sie bat ihn um seine handwerkliche Unterstützung in den ersten Tagen des Umzugs. Er war sich ziemlich armselig vorgekommen, als er in seiner Arbeitsmontur mit dem Werkzeugkasten in der Hand das erste Mal vor ihrer Tür stand. Aber während er Nägel einschlug, Löcher bohrte und Schränke aufbaute, lernte Bruno die Ärztin in diesen Tagen immer besser kennen. Er genoss ihre ehrliche Freundlichkeit und seine Faszination wandelte sich immer mehr in eine stille, unausgesprochene Verliebtheit. Doch Bruno war nicht ganz dumm. Deshalb verstand er sofort, dass Rosemarie Richling ihn zwar nett fand, gern mit ihm plauderte und scherzte, er sich aber keinesfalls Hoffnungen auf mehr machen sollte. Und das tat er auch nicht. Jedenfalls nicht sofort. Zusammen gehen sie hinunter zum Hauseingang.

„Heute Nacht habe ich wieder deine Mutter gehört“, sagt Rose und Bruno darf sie mittlerweile auch so nennen, „sie war ziemlich laut. Geht es ihr gut?“

„Sie hat noch geschlafen, als ich eben gegangen bin“, antwortet Bruno und seufzt, „es waren wieder fast zwei Flaschen Wein. Weiß der Himmel, wo sie die immer wieder herbekommt.“

„Hast du ihr den Vorschlag mit der Suchtklinik gemacht?“, fragt Rose, „dann hättest du mal für ein paar Wochen Ruhe.“

Mittlerweile stehen sie beide vor der Haustür. Bruno bringt den Müllsack zur Tonne. Dann begleitet er Rose zu ihrem roten Audi 80, der einige Meter vom Haus entfernt am Straßenrand geparkt ist.

„Ich habe es wirklich versucht, Rose. Sie hat dann aber den Aschenbecher nach mir geworfen. Die Antwort war also ziemlich deutlich“, stöhnt Bruno und zuckt mit den Schultern. „Aber glaub mir, Rose, ich schaff das schon irgendwie, du brauchst dich damit nicht belasten. Ich muss jetzt los.“ Während Bruno sein Fahrrad aus dem Haltegestell nimmt, winkt Rose ihm noch einmal zu und steigt in ihr Auto.

Bruno radelt in Gedanken versunken im morgendlichen Berufsverkehr die Geisseestraße entlang. Das Bild seiner schlafenden Mutter auf dem Bett hat er ständig vor Augen. Er dachte, er hätte gelernt, damit zu leben, aber da hat er sich wohl geirrt. In solchen Momenten zwingt er sich dann immer angenehme, wohltuende Erinnerungen in seinen Kopf. Erinnerungen an eine sanfte, liebevolle Mutter, an eine stolze, lustige Frau, überquellend vor Lebensfreude und Optimismus. Es hilft ihm meist nur kurz. Diese Person hat er zusammen mit seinem Vater vor 25 Jahren begraben. Nach dem frühen Tod von Georg Heisterkamp war nichts mehr, wie es war.

Es fing langsam, sogar sehr unauffällig an, er brauchte lange, bis er die Veränderungen bemerkte. In den ersten Jahren hatte sie noch einige Freundinnen. Die bemühten sich, sie aus der unerwartet eingetretenen Lethargie zu holen. Sie begleiteten sie öfter ins Kino oder gingen mit ihr ins Theater. Sie saßen mit ihr im Café und besuchten sie auch regelmäßig zu Hause. Ein paar Jahre später erkrankten drei der Freundinnen. Als dann die vierte dem Leberkrebs erlag, war Maria nicht mehr stark genug, dem Leben eigenständig entgegenzutreten. Bruno musste hilflos zusehen, wie der Alkohol heimtückisch und aufdringlich in den Tagesablauf und in die Nächte eindrang. Er raubte ihr jede Energie. Er sorgte auch dafür, dass sie ihre feste, gute Anstellung als Näherin in einer nahegelegenen Schneiderei von einem auf den anderen Tag verlor.

Bruno wird unaufmerksam und kommt dem Autoverkehr auf der Fahrbahn gefährlich nahe. Ein Fahrzeug hupt aggressiv und lautstark. Er richtet seine Konzentration wieder auf die Straße und an der nächsten Ampel nimmt er den Fußgängerüberweg, der direkt in den Parkplatz des Baumarkts führt. An der großen Lagerhalle ist das Rolltor bereits hochgezogen. Bruno schiebt seinen Drahtesel in eine Nische hinter dem Büroverschlag und startet seinen Arbeitstag. Die Türen des Markts werden um 8:30 Uhr geöffnet. Sofort danach beginnt der Strom der Kunden zu fließen und die blaugekleideten Mitarbeiter verteilen sich entsprechend der festgelegten Organisation auf die verschiedenen Themenbereiche.

Bruno wird keinen Kundenkontakt haben. Sein Chef hat ihm von Beginn an unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihm beratungsintensive, eigenständige Verkaufsgespräche nicht zutraut. Seine Ausdrucksweise sei zu derb, schnörkellos und leider immer brutal ehrlich. Bruno legt keinen Wert auf Diplomatie, er sagt was er denkt. Er macht sich nicht die Mühe, seinen fränkischen Dialekt zu verbergen, seine Gesprächspartner sehen ihn oft fragend und verständnislos an. Sie warten auf eine Übersetzung ins Hochdeutsche. Auch seine äußere Erscheinung ist im hinteren Lagerraum weniger störend als im Verkaufsraum des Marktzentrums, im Lager fällt sein ungepflegtes Äußeres nicht besonders auf. Dass er mittlerweile auch nicht mehr problemlos hinter das Steuer des Gabelstaplers kommt, verdankt er dem Umfang seines mittlerweile deutlich dominierenden Bauchs.

Bei seinen Kollegen ist ‚Rolli‘, wie sie ihn wegen seiner Statur liebevoll nennen, beliebt. Rolli ist wie kein anderer stets bereit, für wen auch immer, Zusatzaufgaben freiwillig zu übernehmen. Er steht für anstehende Wochenenddienste immer zur Verfügung und seine Vesperbrote verteilt er meist großzügig. Bruno hat noch nie einen Gedanken daran verschwendet, ob man seine Gutmütigkeit und seine stets gezeigte Kollegialität vielleicht nur ausnutzt. Ein Schulterklopfen genügt und Bruno ist stolz und hat das Gefühl, ein wichtiger Teil eines guten Teams zu sein.

„Na, Rolli, wie war Dein Wochenende? Wieder mal was richtig Fettes abgeschleppt? Du warst doch sicher wieder im Reichelsdorfer Keller, mit Tischtelefon und so.“

Paul Feichter, der Fliesenleger, grinst Bruno an und klopft ihm mit der Faust an die Brust. Im Hintergrund beginnen einige andere Kollegen schon zu kichern. Sie wissen, dass der gutmütige Bruno gerne und ausführlich von seinen Aktivitäten berichtet. Er bemüht sich stets nach Kräften, alle Details erschöpfend zu beschreiben. Seine Naivität gaukelt ihm fälschlicherweise ein ernsthaftes Interesse der Kollegen an seinen Geschichten vor. Die aber machen sich hinter seinem Rücken lustig über seine tölpelhaften Bemühungen, endlich die Liebe, die Frau seines Lebens zu finden.

„Nein, gestern war ich im Café Nobis in Schwabach. Hab zwar ein paar Mal getanzt, aber die Auswahl war diesmal nicht besonders“, berichtet er bereitwillig und nicht ganz wahrheitsgemäß.

Tatsächlich saß er den ganzen Abend mit vier anderen Gästen und einer Flasche Bier allein an seinem Tisch. Er hoffte vergeblich darauf, dass die einzige, anwesende Frau bei der ausgerufenen Damenwahl ihn wählen würde. Er selbst brachte nicht den Mut auf, sie selbst aufzufordern. Es war eigentlich deutlich erkennbar, dass sie ebenso wie Bruno ständig darauf hoffte, dass sich jemand ihrer erbarmte. Nicht zuletzt verpasste er dann auch noch den letzten Bus zurück nach Nürnberg. Er war gezwungen, 25 Euro für eine Taxifahrt auszugeben.

„Ich werde es jetzt wirklich mal über das Internet versuchen“, verkündet er dann stolz, „da soll es ja ganz einfach sein mit der Partnerwahl.“

Wieder erntet er zustimmendes Kopfnicken, bekommt die anerkennenden, nie ernst gemeinten Klopfer auf die Schulter und die üblichen witzigen und aufmunternden Kommentare. Die zotigen und abfälligen Bemerkungen, die ständig gemacht werden, während die Kollegen sich wieder zurück zu ihren Bereichen begeben, hört Bruno gottseidank nicht. Er steigt gerade auf seinen Drahtesel, als Paul nochmal auf ihn zukommt. Er hat eine Broschüre in der Hand und wedelt damit vor Brunos Nase herum.

„Ich habe hier was ganz Spezielles für dich“, sagt er mit geheimnisvoller Stimme, „nimm es und lies dir das mal durch. Wir können darüber reden, wenn du möchtest. Und ich helfe dir gern dabei.“ Bruno stellt sein Fahrrad in den Ständer zurück und blättert in dem Papier. Die Überschrift ‚Bildflirt‘ ist vielversprechend, er sieht Paul fragend an. „Was soll ich damit?“, fragt er unsicher, „ich habe mich doch schon angemeldet.“

„Das ist ein neuer Ratgeber, so eine Art ausführliche Beschreibung. Quasi eine einfache Bedienungsanleitung fürs Leben“, erklärt ihm Paul, „so ähnlich wie ‚Partnersuche für Dummies‘ oder ‚Partner finden – leicht gemacht‘. Arbeite dich da durch, dann bist du fit für den Fleischmarkt.“

„Wieso Fleischmarkt?“, fragt Bruno argwöhnisch.

„Das sagt man so, weil man auf der Suche nach frischem Fleisch ist“, schiebt Paul ungeduldig hinterher, „jetzt lies es einfach. Wenn du Fragen hast, komm zu mir.“ Dann fällt ihm noch etwas ein. „Und von selber kommt keine Frau zu dir, denk dran. Du musst aktiv werden, sonst passiert nichts. Aktiv werden! Was tun dafür! Klar?“ Paul steigt in sein Auto und lässt Bruno stehen, der ihm mit offenem Mund und der Broschüre in der Hand hinterherblickt.

2

Brunos Schicht an diesem Montag endet um 17:00 Uhr, der Regen hat aufgehört und er macht sich auf den Weg nach Hause. Mit gemischten Gefühlen stellt Bruno sein Fahrrad vor dem Haus ab. Ein paar Kinder sehen ihn vorwurfsvoll an, weil er mit seinem Rad eines der Kellerfenster, ein Tor für ihr Fußballspiel, versperrt. Bruno schiebt sein Gefährt an eine Stelle etwas außerhalb des Spielfelds und erntet dankbare Blicke der kleinen Fußballer. Er öffnet die Haustür, steigt nach oben in den ersten Stock und betritt die Wohnung.

Im Flur dringt ihm Essiggeruch in die Nase, vielleicht wurde wirklich etwas gereinigt. Bruno geht hoffnungsvoll in die Küche, sieht sich aber demselben Chaos gegenüber, das er am Morgen verlassen hatte. Seine Mutter ist nirgends zu sehen, das Wohnzimmer ist ebenfalls noch in unverändertem Zustand. Sogar die Fenster stehen immer noch sperrangelweit offen. Darunter hat sich auf dem Dielenboden eine große Wasserlache gebildet. Gottlob war die Regendauer heute nur kurz, der Schaden hält sich in Grenzen. Aus der Küche nebenan holt er einen Putzlappen und einen Eimer, wischt das Wasser auf und stellt den Eimer in den Flur.

Auch das Schlafzimmer ist leer, das weiße Laken, die Bettdecke und der hellblaue Bezug der Kissen sind zerknüllt und verknittert und übersät mit Flecken. Neben dem Bett steht erneut eine leere Weinflasche, daneben ein gläserner Aschenbecher. Auf dessen Rand liegt noch eine abgebrannte Zigarette. Die Asche ist noch bis zum Filter erhalten, sie hatte also noch gebrannt, als die Mutter das Zimmer verließ. Bruno schüttelt verzweifelt den Kopf. Er weiß, wie sinnlos es sein wird, seine Mutter damit zu konfrontieren. Abhängig von ihrem jeweiligen Zustand ist ihre Reaktion entweder gleichgültig oder zornig. Auf jeden Fall kann er nicht auf Einsicht oder Verständnis hoffen. Seine persönliche Verantwortung für die Mutter, die Wohnung und für sich wächst unablässig und droht ihn zu erdrücken.

Er geht in sein Zimmer, schält sich aus seiner Latzhose und tauscht sie gegen seine Jogginghose. Seine Füße haben seit dem Morgen noch keine Socken gesehen und auch jetzt steckt er wieder barfuß in seinen Filzpantoffeln. Er marschiert in die Küche, nimmt das schmutzige Geschirr aus der Spüle und lässt Wasser ins Becken laufen. Er säubert Porzellan und Gläser und wischt anschließend noch die Arbeitsplatte trocken. Der Mülleimer wird mit einem neuen Beutel bestückt. Den Karton mit den leeren Flaschen stellt er zum späteren Abtransport in den Flur, daneben einen Einkaufskorb mit dem restlichen Leergut.

Er sieht sich ernüchtert in der Küche um, sein Blick fällt auf den zweiteiligen Kühl-Gefrierschrank. Er öffnet ihn. Man könnte getrost den Stecker ziehen, geht ihm durch den Kopf. Der Inhalt beschränkt sich auf eine halbvolle Flasche Wodka, ein angebissenes Stück Käse und eine Tüte haltbare Milch. Der Gefrierschrank ist ebenso spärlich bestückt. Vier Kartons Pizza im obersten Fach, ein eingeschweißtes Paket Nürnberger Bratwürste schlummert einsam in der mittleren der drei Schubladen.

Für eine abwechslungsreiche Ernährung sorgt Bruno durch die Auswahl unterschiedlicher Beläge auf seinen Pizzavarianten. Von Zeit zu Zeit findet aber auch ein kompletter Blumenkohl und ein Broccoli den Weg über den Kochtopf auf seinen Teller. Er hat nie gelernt, richtig zu kochen, es war auch nie erforderlich. Seine Mutter ist bzw. war früher eine hervorragende Köchin. Mit ihren begrenzten finanziellen Mitteln zauberte sie trotzdem immer wohlschmeckendes Essen auf den Tisch. Das ist lange her. In den letzten Jahren griff auch sie auf das reichhaltige Angebot der Fertiggerichte zurück, die sie lange verteufelt hatte. Bruno hat sich damit abgefunden, er sorgt schon längere Zeit für sich selbst. Sein nicht sehr üppiges Gehalt reicht aus, um täglich mindestens einmal satt zu werden. Wofür seine Mutter ihre Rente ausgibt, darüber macht er sich schon lange keine Gedanken mehr.

Er nimmt den vollen Leergutkarton unter den linken Arm und greift mit der rechten Hand die Einkaufstasche mit den restlichen Flaschen. Dann öffnet er mit dem Ellbogen die Wohnungstür. Vorsichtig balanciert er seine gläserne Last Stufe für Stufe nach unten in den Hof.

Neugierige Blicke aus den umliegenden Fenstern begleiten den Weg jeder einzelnen Flasche. Alle verschwinden sie klirrend im Schlund des Containers. Bruno blickt nach oben zum Nebenhaus. Blitzschnell taucht das Gesicht wieder ab, das eben noch hinter dem Vorhang zu sehen war. Die alte Frau Schneider führt sicher wieder Strichlisten, denkt sich Bruno, bei welcher Summe sie wohl mittlerweile ist? Mit dem leeren Karton und der Einkaufstasche in der Hand stapft er zurück ins Haus. Als er vor der Treppe steht, wird die Haustür geöffnet.

Maria Heisterkamp trägt immer noch das rote Schürzenkleid, mit dem Bruno sie bereits auf dem Bett liegen sah, dazu die roten Schuhe, keine Strümpfe. Das Kleid wird nur notdürftig mit einem dünnen Band zusammengehalten, der Ansatz ihres Busens ist sichtbar. Scheinbar trägt sie auch keine Unterwäsche. Von der einst für teures Geld gemachten Dauerwelle pendeln nur noch vereinzelt strähnige Locken um den Kopf, das Haar sieht ungepflegt und fettig aus. Maria hat den Türgriff noch in der Hand, als sie Bruno auf der Treppe stehen sieht.

„Jetzt steh hier nicht rum, nimm mir das ab“, knurrt sie ihn an und streckt ihm eine Plastiktüte entgegen.

Bruno steht wie versteinert, als er ins Gesicht seiner Mutter sieht. Um ihre Augen haben sich dunkle Ringe gebildet, ihre Augäpfel enthalten mehr rot als weiß und links und rechts von ihrer Nase ziehen sich zwei tiefe Falten bis unter den Mund. Ihre Gesichtsfarbe ähnelt der des nikotingeschwängerten Stores aus dem Wohnzimmer, ihr Atem verbreitet den Geruch von billigem Schnaps. Die Finger, die aus dem Tragegriff der Plastiktüte ragen, sind gelb verfärbt und die Ränder ihrer Fingernägel sind so schwarz wie Brunos Gedanken, die bei diesem Anblick beginnen, in ihm aufzusteigen.

Er greift wortlos nach der Tüte und eindeutige Klick-Geräusche identifizieren sofort den Inhalt. Er zieht die beiden Griffe auseinander und sieht nach einem schnellen Blick seine Befürchtung bestätigt. Ein bunter Pappkarton trägt die Aufschrift ‚Schwäbischer Linseneintopf‘, daneben zwei Packungen Marlboro. An zwei Literflaschen Wein lehnt sich noch eine Flasche Chantré.

Stumm steigen Mutter und Sohn hintereinander die Treppe nach oben bis zur Wohnungstür. Hinter den Türspionen im Erdgeschoß verfolgen neugierige Augen den Auftritt von Maria Heisterkamp. Bruno stellt die Tüte ab und kramt in seiner Hose umständlich nach dem Wohnungsschlüssel. Seine Mutter hinter ihm wird immer unruhiger, tritt von einem Bein aufs andere und wippt schließlich mit zusammengepressten Knien auf und ab. „Beeil dich, ich muss aufs Klo, jetzt mach schon!“

Bruno öffnet eilig die Tür, seine Mutter verschwindet umgehend im Badezimmer. In der Küche positioniert er den ganzen Inhalt der Tüte auf der Arbeitsplatte. Der Kassenzettel gibt den Wert des Einkaufs mit 21,90 € an, allerdings steht auch noch eine kleine Flasche Korn auf der Quittung. Sie ist nicht beim Inhalt der Tüte zu finden. Bruno muss nicht lange darüber nachdenken. Er weiß, seine Mutter hat sich auf dem Weg vom Supermarkt bis nach Hause eine kleine Wegzehrung genehmigt. Jetzt kommt sie schwankend aus dem Bad zu ihm in die Küche. Sie öffnet umständlich eine der Zigarettenschachteln und geht mit einer brennenden Zigarette in der Hand ins Wohnzimmer. Vor dem offenen Fenster bleibt sie stehen und sieht sich um.

„Verdammt, wo ist die Weinflasche von gestern? Die war doch noch halbvoll?“, wendet sie sich fragend an Bruno.

„Ich habe alles entsorgt, Mama. Es war nur noch ein abgestandener Rest, glaub es mir“, sagt Bruno ängstlich, schon ahnend, dass ihm vielleicht erneut ein Fehler unterlaufen ist, „ich habe nur ein bisschen aufgeräumt, die Flaschen weggebracht und die Küche saubergemacht.“

„Braver Junge“, lobt ihn seine Mutter, „wenn schon sonst nichts aus dir geworden ist, deiner Mama hilfst du wenigstens immer.“

Sie verschwindet mit der glimmenden Zigarette im Mund in die Küche. Mit einer Rotweinflasche, dem Korkenzieher und einem Glas kommt sie zurück, setzt sich auf die Couch und beginnt die Flasche zu öffnen.

„Mama, willst du nicht erstmal etwas essen?“, fragt Bruno besorgt, „es ist doch noch nicht einmal sieben Uhr.“ Es kommt keine Antwort, er versucht es erneut, dann setzt er sich zu ihr auf die Couch.

„Mama, ich mache mir Sorgen um dich. Du kannst doch so nicht weitermachen“, sagt er flehentlich, „warum willst du dir nicht helfen lassen?“

Sie sieht ihn verständnislos an. „Wobei soll ich mir helfen lassen? Mir geht es doch gut, meinst du nicht? Ich glaube, eher sollte ich dir helfen, du bekommst doch nichts auf die Reihe. Bist ja sogar unfähig, dir eine Frau zu suchen.“ Sie hat den Korken aus der Flasche gezogen und schenkt sich das Glas randvoll. Bruno lässt sich in die Polster sinken, die brutale Direktheit seiner Mutter trifft ihn immer wieder aufs Neue. Er sieht ihr zu, wie sie den Rotwein, ohne abzusetzen, in sich hineinschüttet, als ob es ein Glas Wasser wäre.

Bruno startet einen letzten vorsichtigen Versuch. „Rose, die Nachbarin aus dem Dachgeschoß, sie ist Ärztin, sie hat mir eine gute Klinik empfohlen. Ich würde mir dir gerne mal dorthin fahren.“ Er hat sich jetzt näher zu ihr gesetzt und legt vorsichtig seinen Arm über ihre Schultern, zieht sie zu sich her und greift nach ihrer Hand.

„Was soll das jetzt?“, fragt sie ihn schroff und entzieht ihm die Hand, „was soll ich in einer Klinik? Du willst mich wohl loswerden?“

Bruno deutet auf die Rotweinflasche. „Der Alkohol frisst dich auf, merkst du das nicht? Hast du dich mal im Spiegel betrachtet? Du siehst wirklich krank aus, glaub mir. Und ganz ehrlich“, er holt tief Luft, „ich habe nicht mehr viel Kraft, dass alles hier zu ertragen.“

Maria blickt ihn jetzt erstaunt an, gießt sich das Glas erneut voll und zündet die nächste Zigarette an. Ihr Gesichtsausdruck wird richtig ernst, sie kneift die Augen zusammen. Mit der Hand deutet sie auf die Tür und dann auf die Weinflasche. „Wenn du mich nicht mehr ertragen kannst, dann verpiss dich doch. Ich habe hier, was ich brauche. Sieh endlich zu, dass du was machst aus deinem Leben. Dein Vater war auch so ein Versager.“

Sie nimmt einen Schluck aus dem Glas, dann spricht sie weiter. „Immer große Töne gespuckt hat er, der Looser, große Versprechungen gemacht. Immer von rosiger Zukunft geträumt und nichts dafür getan. Warum glaubst du, sitzen wir nach all den Jahren immer noch in diesem Loch hier? Eine Villa in Mallorca wollte er mir bauen!“

Sie lacht laut auf und verschüttet dabei etwas von dem Wein. „Wir waren nicht EINMAL dort. Und du? Sortierst Schräubchen im Baumarkt, machst den Trottel für andere und bist auch noch glücklich dabei. Und gerade du willst mir helfen? Hilf Dir erstmal selbst!“

Sie schüttelt ihren Kopf, nimmt ihr Glas und steht auf. „Wenn du ein Mann wärst, dann würdest du schon längst oben bei der hübschen Frau Doktor im Bett liegen. Aber mein Sohn trägt ja lieber Blaumann statt Anzug und verbringt seine Abende entweder vor dem Computer oder in irgendwelchen Tanzlokalen.“

Mit jedem Wort wird ihre Stimme lauter, die Worte ‚Computer‘ und ‚Tanzlokal‘ spuckt sie förmlich aus. Bruno sieht und spürt, wie sie ihn verächtlich anblickt. Sein Magen krampft sich zusammen und er fühlt Tränen auf seinen Wangen. Ohne ein weiteres Wort steht er auf und verschwindet in seinem Zimmer. Er wirft sich auf sein Bett und zieht sich das Kissen über den Kopf.

Seine Gedanken rasen, wer um alles in der Welt war diese Frau? War das seine Mutter? Nein! Wo, verdammt nochmal, sind die guten Erinnerungen? Er mit Papa und Mama am Strand von Rimini? Er mit seinen Eltern in Bozen in den Bergen? Wo bleiben die Bilder? Nichts. Alles, was er vor seinem geistigen Auge zu sehen bekommt, ist diese betrunkene, rauchende und lallende Frau.

Bis vor wenigen Monaten glaubte er noch, das Schlimmste endlich überstanden zu haben. Eine alte Schulfreundin kam zu Besuch aus Berlin. Maria begrüßte sie so intensiv und herzlich, dass er ahnen konnte, wie eng die beiden früher zusammenhingen. Erika, so hieß diese Freundin, blieb eine ganze Woche und Bruno sah mit Zuversicht die Wandlung seiner Mutter. In der Wohnung wurde nicht mehr geraucht. Der Alkoholkonsum beschränkte sich auf zwei gemeinsam genossene Gläser Wein am Abend. An drei Tagen in dieser Woche gingen die beiden Frauen sogar aus, ins Kino, ins Theater und zum Tanzen. Maria trug wieder ihre bunten Kleider und machte sich Gedanken über passende Schuhe. Die zwei Frauen hatten eine Menge Spaß gemeinsam vor dem Spiegel, sie kicherten und gackerten, wie sie es sicher früher schon gemacht hatten. Am Tag der Abreise brachte Maria ihre Freundin zum Bahnhof, es folgte ein herzzerreißender, rührender Abschied und gegenseitige Versprechungen, bald wieder zusammenzukommen.

Als Maria danach wieder zuhause ankam, sah Bruno sofort, dass die schöne Zeit ein Ende hatte. Seine Mutter hatte bereits auf dem Nachhauseweg eingekauft und er musste nicht in die Tüten schauen, um zu erfahren, was sie besorgt hatte.

Seine Gedanken schweifen zurück zu seinem Vater. Wie hat sie ihn genannt? Versager? Looser? Wut kocht in Bruno hoch, warum ist er still geblieben? Warum hat er ihr nicht widersprochen? Er sieht ihn vor sich, einen stattlichen, großen Mann mit schwarzem Vollbart. Gut, er brachte keine Reichtümer mit nach Hause. Aber er hatte einen guten, sicheren Arbeitsplatz bei Siemens, für die er Waschmaschinen und Herde reparierte und das nicht nur unter der Woche. Als Kind durfte Bruno seinen Vater früher öfters in seinem Kundendienstfahrzeug begleiten, wenn er wieder einen Noteinsatz am Wochenende hatte. Bruno sieht seine Eltern, Hand in Hand und lachend hinter ihm herlaufend, wenn sie alle zusammen über die Wöhrder Wiesen wanderten. Sie waren zwanzig Jahre verheiratet und er kann sich beim besten Willen an keinen Streit, an keine Auseinandersetzung und an keine Verfehlung von einem der beiden erinnern. Warum zum Teufel spricht sie jetzt so von ihm? Er schiebt es auf den Schock, den Vaters überraschender Tod ausgelöst hat.

Bruno war damals gerade nicht zu Hause. Georg Heisterkamp stand in der Küche mit einer Tasse Kaffee in der Hand und fiel einfach um. Ohne Vorwarnung. Ohne ein Anzeichen von irgendeiner Krankheit. Einfach so. Keine Gelegenheit für ein Adieu, für ein Tschüss, er war fort von einer Sekunde auf die andere. Martha und Bruno versuchten sich damit zu trösten, dass er nicht leiden musste. Das Leiden übernahm dann Maria posthum für ihn, intensiv und ausgiebig und damit begann auch für Bruno eine lange, schwere Zeit.

Was Bruno über sich selbst zu hören bekam, war absolut nicht neu für ihn. Es war eine bevorzugte Methode seiner Mutter, auf diese profane Weise von ihren eigenen Problemen abzulenken. Trotzdem fühlt sich jetzt jede Äußerung von ihr an wie ein Schnitt, tief und glatt. Zu viele davon trägt er schon mit sich herum. Mit vielen Vorwürfen hat sie recht, ohne Zweifel, viel hat er aus seinem Leben nicht gemacht. Aber war das seine Schuld?

Als er damals am Ende der vierten Klasse in der Volksschule erneut die dritte Aufnahmeprüfung für das Gymnasium vermasselt hatte, hat das weder seine Eltern noch ihn besonders beunruhigt. Sie hatten sich nie für seine Leistungen interessiert, unterschrieben emotionslos Verweise und schlechte Zeugnisse und signalisierten damit unbewusst ein ‚weiter so‘. Er war faul, stinkefaul sogar und mit ein bisschen mehr Engagement wäre mehr drin gewesen als die Werkzeugmacherlehre. Die endete vorzeitig ohne Abschluss, als ihn der Meister zusammen mit einem Kollegen beim Rauchen auf der Toilette erwischte. Dass sie rauchten, war eigentlich nicht das Problem, aber was sie inhalierten, war feinstes Haschisch. Nach der Anzeige bei der Polizei konnte er seinen Spint leerräumen und seine Lehrzeit war kurzerhand damit beendet. Da war Bruno gerade mal sechszehn Jahre alt und machte sich immer noch keine großen Sorgen um seine Zukunft. Er spielte Tischtennis, da war er gut. Mehr Probleme bereitete ihm damals schon eher das weibliche Geschlecht und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Bruno ist nicht galant, nicht charmant und meistens nicht höflich, nein, nichts davon. Und würde man sein Alter ausschließlich nach seiner Stimme und seiner Ausdrucksweise schätzen, bliebe man bei zwölf, dreizehn Jahren stehen. Und auch sein Bartwuchs entspricht dieser Vermutung. Trotz aller Hinweise und Empfehlungen hat er sich bisher standhaft geweigert, dieses wirre Gestrüpp aus wilden, sehr unregelmäßig sprießenden Haaren zu entfernen. Er wollte einen Vollbart wie sein Vater haben und den sah er an sich, das glaubte er, wenn er in den Spiegel blickte.

Schon in jungen Jahren war er nicht schlank, nur war damals das Verhältnis Bauch zu Größe bei weitem besser ausgeglichen als heute. Die Größe von 1,65 m hat sich nicht mehr verändert, dafür sorgten Nougatstangen, Gefrierpizzas, Bier und Schnaps für die Ausweitung des Umfangs. Trotzdem ist er nach wie vor völlig ratlos, warum seine Annäherungs- und Kontaktversuche bei den Mädchen und Frauen ständig so erfolglos verlaufen. Sein Selbstbewusstsein hält er krampfhaft hoch, ignoriert jeden aufkommenden Zweifel und lebt weiter in seiner eigenen Welt. Es muss sich etwas ändern, davon ist er jetzt endgültig überzeugt.

Er ahnt, was auf ihn zukommt, wenn der Zustand seiner Mutter sich nicht ändert, sich vielleicht sogar verschlimmert. Früher hat er oft darüber nachgedacht, wie es sein wird, seine Mutter im Alter zu pflegen. Nicht pflegen zu müssen, nein, so hat er es nie gesehen. Er war darauf eingestellt, hätte jederzeit alles für sie getan und nicht eine Sekunde verschwendete er Gedanken an Pflegeeinrichtungen oder Altenheime. Das jetzt aber hatte eine andere Dimension. Diese Zukunft machte ihm Angst.

Vielleicht sollte er jetzt doch noch einmal mit seinen älteren Geschwistern reden, die lange vor Vaters Tod geheiratet haben und ausgezogen sind. Seine Schwester Sybille und sein Bruder Johann wohnen beide weit weg von Nürnberg. Sybille war mit ihrem Mann nach Hamburg gezogen, sie haben sich dort ein schickes Häuschen in Finkenwerder gebaut. Der konkret einzige Kontakt nach Nürnberg erfolgt einmal im Jahr, regelmäßig zu Brunos Geburtstag. Das Telefonat besteht dann in der Gesamtheit aus circa 20 Wörtern und dauert 30 Sekunden. Sybille schaltet ihr Gehör auf ‚aus‘, sobald Bruno das Wort ‚Mutter‘ sagt und rechnet Bruno dann vor, was er ständig spart, weil er doch bei Muttern in der Wohnung leben darf.

Sein Bruder Johann hat ein Immobilienbüro in der Schweiz. Konsequenter als seine Schwester hat er den Kontakt zu Bruno und zur Mutter bereits kurz nach Vaters Tod abgebrochen. Keine Telefonate, keine Briefe, keine Blitzbesuche. Bruno hatte zuletzt vor einem Jahr Gelegenheit, länger als 10 Minuten am Telefon mit Johann zu sprechen. Seit dieser jetzt weiß, wie es um seine Mutter bestellt ist und wie sich alles zum Schlechten entwickelt, hat er sich endgültig und komplett zurückgezogen, um jeden Verdacht auf eine mögliche Anteilnahme oder sogar Verantwortungsübernahme zu zerstreuen.

Bruno wird Hilfe brauchen, um seine Mutter zu überreden, externe Hilfe anzunehmen, davon ist er fest überzeugt. Er wird jetzt beiden Geschwistern einen Brief schreiben, ihnen die Situation ausführlich schildern und diesmal auf eine gemeinsame Lösung bestehen. Er wird die Verantwortung für sie nicht mehr alleine tragen.

Das Kissen unter seinem Kopf ist feucht, Bruno rappelt sich auf und setzt sich an seinen kleinen Schreibtisch aus Kiefernholz. Sein Computer ist noch nicht ganz so alt wie er, den gebrauchten IBM-Rechner und den kleinen 15 Zoll Röhrenmonitor hat er auf einem Weihnachtsflohmarkt erstanden. Er hat an einem Computerkurs für Anfänger in der Volkshochschule teilgenommen. Er kann tatsächlich mittlerweile ausreichend gut mit dem Betriebssystem umgehen. Seine geringen Fähigkeiten genügen, um in den verschiedenen Singleforen herumzustöbern und sich die Fotos all dieser männersuchenden Frauen anzusehen.

Bis heute hat er nicht den Mut aufgebracht, sich selbst anzumelden. Mehrmals hatte er die Anmeldemasken schon komplett ausgefüllt, dann aber trotzdem nicht auf ‚Eingabe‘ sondern auf ‚Abbrechen‘ geklickt. Das soll sich heute ändern. Er hat ausreichend Tipps gesammelt. Er hat mit einigen seiner Arbeitskollegen gesprochen, vor allem mit denen, die großspurig mit ihren Erfahrungen prahlten. Ehrfürchtig lauschte Bruno den Geschichten. Die Ähnlichkeit zu Fachberichten einer Jagdgesellschaft war offensichtlich und viele der verwendeten Begriffe bestätigten das. Es fielen Worte wie ‚erlegt‘, ‚Blattschuss‘, ‚Fangschuss‘, ‚Beute‘, ‚Luder‘, ‚schussfest‘, ‚Strecke‘. Bruno ist entschlossen, sich an dieser Jagd zu beteiligen. Von seinem Kollegen Paul weiß er, dass der Wald voll ist mit Wild. Dass da wirklich für jeden etwas dabei ist. Dass es darauf wartet, erlegt zu werden. Von ihm.

Bruno startet seinen Computer und schaltet den Monitor ein. Er bewegt den Zeiger der Maus zum Symbol mit der Beschriftung ‚Internet‘ und startet das Programm. Er kramt in seiner Jogginghose nach einem Zettel, auf dem er sich einige Notizen gemacht hat. Auf dem zerknüllten Papier steht die Internetadresse des Forums, das Paul ihm als idealen Einstieg empfohlen hat. Bruno tippt das Wort ‚Bildflirt‘ in das Suchfeld und betätigt die Taste ‚Eingabe‘. Eine kleine Sanduhr in der Mitte des Bildschirms beginnt schnell zu rotieren. Nach wenigen Sekunden starrt Bruno in die Gesichter von überwiegend wunderschönen Frauen, Mädchen, Blonden, Braunen, Schwarzen. Die Blicke dieser Schönheiten sind ausnahmslos auf ihn gerichtet. Unter jeder dieser verführerischen Grazien lädt ein bunter Button den Betrachter ein, diese Welt der einsamen Herzen mit einem Klick zu betreten.

Bruno hebt kurz den Kopf und lauscht nach draußen. Es ist eigentlich alles ruhig und er zwingt sich dazu, nicht sofort aufzustehen. Nicht nach ihr zu sehen, so wie es in ihm seit langem einprogrammiert ist. Soll sie sich doch zu Tode saufen, redet er sich ein, sie braucht ihn ja nicht, hat sie ihm gesagt.

Er wendet sich wieder dem Bildschirm zu. ‚Starte deine Love Story‘, fordert ihn die Titelzeile auf. Sei nicht zu ehrlich, hat ihm Paul geraten, du musst immer ein wenig übertreiben. Und sei kreativ! Kreativ sein? Bruno weiß, dass Kreativität nicht zu seinen Stärken gehört, aber auf seinem Notizzettel hat er sich wichtige Hinweise notiert und geht sie jetzt nochmal durch. Paul hat ihm den Begriff Pseudonym erklärt und sofort mit dem Kopf geschüttelt, als Bruno seinen Spitznamen ‚Rolli‘ ins Spiel brachte. Das klingt nicht sexy, hat er gesagt, das hört sich an wie Rollmops oder Rollbraten. Damit lockst du keine Braut in dein Bett. Dein Pseudonym soll neugierig machen, es soll eine außergewöhnliche Person beschreiben, die man unbedingt kennenlernen will. Besonders männlich muss es klingen, Potenz soll es ausstrahlen und am besten sollte es noch geheimnisvolle Signale senden. Bruno hat Paul bei diesen Worten bewundernd angeblickt, konnte sich aber absolut nichts unter einem geheimnisvollen Signal vorstellen. Man einigte sich schließlich auf Pauls Vorschlag. Die Wahl fiel auf ‚Zorro‘ und er hat das gleich auf seinem Notizzettel vermerkt. Er konnte zwar nichts mit diesem Namen anfangen, hatte ihn auch noch nie zuvor gehört. aber Pauls Beschreibung dieses kalifornischen Edelmanns hat Bruno überzeugt. Ja, edel und gerecht, tapfer und mutig und durch die Maske auch geheimnisvoll, das gefiel ihm. Bruno tippt ‚Zorro‘ in das Feld für Pseudonym. Bei Postleitzahl und Wohnort verwendet er seine richtigen Daten und speziell für die Kommunikation bei der Partnersuche hat Paul ihm geraten, sich eine passende Emailadresse eintragen zu lassen. Das Postfach für die erwartete Flut der sehnsüchtigen Anfragen lautet jetzt ‚[email protected]‘.

Bezüglich der Angaben zu seiner eigenen Person greift Bruno erneut auf eine Empfehlung von Paul zurück. Was sind schon ein paar Kilo oder ein paar Zentimeter, hatte ihm der erklärt. Mach dich so, wie du dich gerne hättest, alles andere kommt von selbst. Also ist Bruno jetzt nicht mehr 1,65 m, sondern 1,78 m. Sein Gewicht kann er aufgrund der neuen Größe ehrlich beantworten, seine 85 kg passen hervorragend.

Bei der Frage nach der Statur blickt er verschämt nach unten und entscheidet sich dann doch für die angebotene Auswahl ‚Normale Statur‘. Auf dem nächsten Bild wird nach Hobbies und Vorlieben gefragt, auch dafür hatte Paul gute Hinweise. Bruno hätte sich für ‚Fernsehen‘, ‚Fußball‘ und ‚Faulenzen‘ entschieden, wählte aber brav die Bereiche, die er auf dem Zettel notiert hatte. ‚Kunst‘, ‚Sport‘ und ‚Nette Gespräche‘. Das mit den Gesprächen gefällt ihm, er unterhält sich immer gern mit seinen Kollegen, meist zwar überwiegend über das aktuelle Fernsehprogramm, neue Kinofilme oder die letzten Bundesligaspiele. Ein Foto von sich hat er nicht zur Verfügung, das kann man später noch einfügen, steht hier. Also schließt er diesen Bereich ab.

Bruno klickt auf ‚Weiter‘ und sieht sich sofort einer Fülle von weiteren Eingabefeldern gegenüber. Der Bildschirm offeriert einen digitalen Wunschzettel. Hilflos studiert Bruno die zahlreichen Fragen, zu denen er keine Antworten parat hat. Es gab für ihn noch nie eine Traumfrau, das stellt er jetzt überrascht fest. In keinem seiner Träume tauchte bisher eine Frau auf. Jedenfalls keine, die nicht entweder wie seine Mutter, seine Schwester oder Rose aus dem Dachgeschoss aussah. Oder vielleicht noch die Kassiererin aus dem Supermarkt. In seinen Träumen war bisher nur Platz für Banalitäten, Tagesereignisse, Einkaufserlebnisse oder irgendwelche Szenen aus dem Fernsehprogramm. Sein Notizzettel hilft ihm jetzt nicht weiter. Wie sieht die Frau meiner Träume jetzt aus? Bruno greift nach dem Strohhalm, er ruft sich ein Bild von Rose in Erinnerung und beginnt die Fragen der Reihe nach abzuarbeiten. Zeile für Zeile wächst Vorfreude und Sehnsucht, entsteht ein Bild. Mit jedem weiteren Eintrag drängt es Bruno, endlich zum Ende zu kommen. Nach dem nächsten Tastenklick taucht schließlich der wichtigste Auswahlbutton auf: ‚Suche starten‘. Hoffnungsvoll schickt Bruno sein Herz auf die Reise in die Weiten des Internets.

3

Es war nicht einfach, seine Mutter zum Essen zu überreden. Bruno hatte den Linseneintopf aufgetaut und die Portion auf zwei Tellern verteilt. Nach der Diskussion am Abend saßen sie gemeinsam am Küchentisch und sprachen beide kein Wort. Maria verschlang hastig das Essen und ließ den leeren Teller einfach stehen. Sie griff nach der Weinflasche und verschwand mit ihr sofort wieder im Wohnzimmer. Wenig später hörte Bruno den Gong der Tagesschau.

Er kratzt nun noch die letzten Reste vom Tellerrand und bringt dann beide Teller zur Spüle. Vor knapp einer Stunde hat er schon seinen Wunschzettel der Welt zur Verfügung gestellt. Von Instruktor Paul weiß er, dass neu eingestellte Profile sofort von allen Benutzern gelesen werden, die gerade online sind. Sein Profil ist neu und etwa gegen 20:00 Uhr ist statistisch gesehen die Rush-Hour in Online-Portalen. Er räumt das Brot weg und spült die beiden Teller, dann treibt es ihn zum Computer.

Bruno nimmt sich vor, ganz systematisch vorzugehen. Zugegeben, das war nicht seine Idee, aber er verlässt sich blind auf Paul. Systematisch bedeutet bei dem nämlich, alle stattgefundenen Aktivitäten mit Kontaktpersonen zu dokumentieren. Das ist bei einem weiteren Verlauf des Kennenlernens sehr hilfreich, es hilft, unangenehme Verwechslungen oder Doppelkontakte zu vermeiden.

„Was glaubst du, wie peinlich das werden kann, wenn du später mal die Barbara mit Paula und die Doris mit Diana ansprichst“, hat ihm Paul erklärt und Bruno leuchtete das ein. „Genauso blöd ist es aber“, dozierte Paul dann weiter, „wenn du ein Mädel anschreibst, der du ein paar Tage vorher eine Absage geschrieben hast. Also immer fein säuberlich alles notieren.“

Bruno hat sich einen Collegeblock zurechtgelegt und Stifte vorbereitet. Mit dem Lineal zieht er Linien und macht Spalten und Kästchen. Sein Optimismus bringt ihn dazu, fast 10 Blätter vorzubereiten und stolz sieht er sich seine detailliert vorbereitete Kladde an. Zwischendurch blickt er immer wieder neugierig und unruhig auf die Meldeleiste seiner Mailbox, aber hier hat sich bisher nichts getan. Neben dem Beschriftungstext ‚Neue Mails‘ prangt immer noch eine Null.

Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, die eigene Suche zu starten. Bruno hat seine Filterkriterien eingegeben und wendet sie jetzt an. Bereits der erste Suchlauf bringt ein Ergebnis, das Brunos Herz sofort zum Galoppieren bringt. Vierundfünfzig Frauen entsprechen im ersten Anlauf ziemlich genau den vorgegebenen Anforderungen, die Bruno eingetragen hat:

Alter:

35 bis 55

Größe:

1,55 m bis 1,75 m

Gewicht:

55 kg bis 70 kg

Statur:

schlank, normal

Haarfarbe:

egal

Hobbies:

Kunst, Sport, Gespräche

Bruno sitzt mit offenem Mund vor seinem Bildschirm und ist von diesen ersten Eindrücken überwältigt. Damit hat er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet. Er versucht, seine Euphorie im Zaum zu halten, denn natürlich steht ihm jetzt viel Arbeit bevor.