Total tapfer! - Angelika von Aufseß - E-Book

Total tapfer! E-Book

Angelika von Aufseß

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Beschreibung

In literarischen Erzählungen, die aus der Arbeit mit Krebspatient:innen entstanden, umschreibt Angelika von Aufseß relevante Themen der Krankheitsbewältigung. Jede Geschichte vermittelt psychoonkologische Fachkenntnisse, bringt Erfahrungen aus dem Leben Betroffener ein und beleuchtet ein spezifisches Thema der Krankheitsbewältigung. Dazu zählen krankheitsbedingte Veränderungen ebenso wie der berufliche Wiedereinstieg, die Auswirkungen auf die Partnerschaft, das Entdecken von Ressourcen oder das Ende des Lebens. Dieses Lese- und Fachbuch für professionell Begleitende, für Betroffene und ihre Angehörigen lädt dazu ein, die eigenen Gedanken und Gefühle zu Krankheit und Tod zu reflektieren und dadurch ein tieferes Verständnis zu finden. Empfehlungen von Publikationen, Internetportalen und konkreten Anlaufstellen liefern zusätzlich nützliche Hinweise.

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Seitenzahl: 150

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Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg, Katharina Kautzsch, Michael Clausing

Die Buchreihe »Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer« bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krisen, Leid und Trauer. Die Edition ist hervorgegangen aus dem Programmschwerpunkt »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht.

Angelika von Aufseß

Total tapfer!

Ein Lese- und Fachbuchzur psychosozialen Begleitungbei Krebs

VANDENHOECK & RUPRECHT

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill BV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill BV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Ulrich Bittmann, Girl at the Pool /2018/100 × 120 cm/ Öl, Acryl auf Leinwand

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2198-2864

ISBN 978-3-647-99293-8

Inhalt

Vorwort von Liane Dirks

Einführung

Nichts ist, wie es war

Davongekommen (Erzählung)

Herausforderungen und Möglichkeiten in den Phasen der Krankheitsbewältigung

Zurück ins Arbeitsleben

Planetenwechsel (Erzählung)

Herausforderungen und Möglichkeiten beim Wiedereinstieg in den Beruf

Krebs ist eine »Wir-Erkrankung«

Es ist in allen (Erzählung vom Gelingen)

Tattoo (Erzählung vom Scheitern)

Herausforderungen und Möglichkeiten für die Partnerschaft

Neue Wege gehen

Die Weisheit des Hundes (Erzählung)

Neue Wege gehen: Herausforderungen und Möglichkeiten für die Entdeckung von Ressourcen

Wenn der Weg zu Ende ist

Für S. (Erzählung)

Impulse für die Begleitung

Das Potenzial des Perspektivwechsels

Das Fenster öffnen

Berührbar werden

Selbstfürsorge durch Perspektivwechsel

Anhang

Literatur

Filme

Anlaufstellen für Krebspatient:innen

Vorwort

Wenn plötzlich alles anders kommt, was ist dann zu tun?

Als Erstes: nichts. Und das ist wichtig! Denn wenn von einem Moment auf den nächsten das Leben eine völlig andere Richtung nimmt und noch dazu eine, von der man nicht weiß, wohin sie führt, dann gilt es innezuhalten. Dann weiß man nicht mehr, wo es lang geht, wie wir umgangssprachlich sagen, dann wird uns der Boden unter den Füßen weggezogen, dann hält die Welt den Atem an, zumindest kommt es den Betroffenen so vor.

Wenn aus Vermutungen Tatsachen werden, versetzt die Diagnose Krebs die Betroffenen genau in diesen Zustand, und nicht nur sie, sondern auch das Umfeld, Angehörige, Freunde. Am Anfang ist der Schock, und es ist gut, dies zu wissen, ja es zu würdigen.

Die Welt will freilich sehr schnell wieder weiteratmen, doch nichts ist schädlicher, als den Betroffenen die eigenen Lösungsstrategien sofort überzustülpen, denn dies führt dazu, dass sie sich mit ihrem Schmerz, ihrer Verunsicherung, ihrer Trauer nicht mehr zeigen können bzw. sich nicht gesehen fühlen. Am Anfang fehlen uns die Worte, dies ist nicht nur der Krebsdiagnose eigen, sondern jeder existenziellen Krise.

Es ist das Merkmal der Krise, dass sie ohne Lösungsangebote daherkommt, diese müssen von jeder und jedem Einzelnen selbst entwickelt werden, und zwar indem sie durch die Krise gehen, Schritt für Schritt. Man kann die Erfahrungen der Betroffenen vergleichen, manchmal ähneln sie sich, doch machen muss sie jeder und jede Erkrankte selbst. Und auch hier heißt es wieder: nicht nur die Erkrankten, sondern auch deren Zugehörige, wie Angelika von Aufseß das begleitende Umfeld nennt.

Über viele Jahre hinweg hat die Autorin Menschen bei ihrem Weg aus dem Schockzustand der Diagnose heraus begleitet, während und nach der ärztlichen Behandlung auf dem Weg der Rehabilitation. Welch schönes Wort, nicht nur als »zurück ins Leben« kann man es übersetzen, sondern auch als »sich selbst wieder bewohnen, sich selbst wieder Heimstatt sein«.

Und auf diesem Weg waren es – nach dieser ersten fassungslosen Stille – eben jene, die Worte, die so sehr hilfreich sein konnten und können. Erzählend können wir aus dem Erfahrenen Erkenntnisse ziehen, aus selbigen Schlussfolgerungen und Ideen für die neuen Wege. Was man in Worte fassen kann, kann man hinter sich lassen, heißt es nach der aristotelischen Lehre. Das mag so sein, doch wichtiger scheint mir hier: Was ich erzählen kann, kann ich teilen und was ich teilen kann, das mag anderen helfen. Geschichten vermitteln Trost, »du bist nicht allein« sagen sie, hier ergeht es jemandem so ähnlich.

Es ist leicht, mit den Geschichten der Krebspatienten und -patientinnen, die Angelika von Aufseß hier teilt, in Resonanz zu gehen. Dafür hat sie sich eines literarischen Mittels bedient, sie hat sie verfremdet, verdichtet und: Sie hat die Perspektiven gewechselt. Nicht als Therapeutin tritt sie auf, sondern als Betroffene der Diagnose. Ob in die Krebspatientin selbst, deren Partner, ja sogar die eines Hundes – sie schlüpft erzählend in die jeweiligen Rollen und lässt uns auch aus dieser Sicht auf das Geschehen blicken. Was dabei vor allem entsteht, das ist Respekt!

Ja, sie sind allesamt total tapfer, auf gewisse Art und Weise auch jene, die sich abwenden, die die Erkrankung des nahen Menschen nicht ertragen können, fliehen. Auch sie sind tapfer, denn auch sie gehen durch eine Krise, sie können nicht ausweichen.

Dieser Zugang ermöglicht tiefes Verständnis für die Betroffenen, er zeigt aber auch Lösungsmöglichkeiten und vor allem Hilfsangebote auf. Mit fundiertem Hintergrundwissen, angereichert mit aufschlussreichem wissenschaftlichen Recherchematerial stellt die Psychoonkologin Angelika von Aufseß eine Möglichkeit nicht nur der Begleitung und Verarbeitung der Krebsdiagnose vor, sondern auch einen Weg für die Begleitenden selbst, ihre anspruchsvolle Arbeit kreativ zu gestalten, sie in Worte zu fassen, und zwar in die Worte der anderen, des Gegenübers.

Der Perspektivwechsel kann sehr befreiend sein, und das Schreiben kann allen Beteiligten ermöglichen, sich die Gestaltungshoheit zurückzuholen. Denn das ist der Weg aus der Krise, aus der Erstarrung durch das Schicksalhafte. In der Akzeptanz dessen, was ist, die Möglichkeiten wiederzufinden und manchmal auch: sie zu erfinden. So lässt sich von der Größe und der Tapferkeit des Menschseins erzählen.

Liane Dirks

www.liane-dirks.de

Einführung

Die Erkrankung schlägt meistens plötzlich zu. Niemand ist darauf vorbereitet. Nicht die Betroffenen, nicht die Angehörigen, die Nachbarschaft, die Kolleg:innen. Bisweilen tun sich sogar die vertrauten Hausärzt:innen oder Psychotherapeut:innen damit schwer. Dann wursteln sich alle irgendwie durch. Mal besser, mal schlechter. Mal mit Bestnote, mal gerade so. Durch Versuch und Irrtum bilden sich allmählich Strategien und Maßnahmen heraus, mit der die Krankheit psychisch und sozial von allen Beteiligten bewältigt wird.

In vielen Fällen mag das auch ohne Unterstützung gelingen. Es gibt die »Naturtalente«, also Betroffene, die aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihres Werdegangs, ihres sozialen Umfelds, ihrer kompetenten und einfühlsamen Behandler:innen … und vieler Faktoren mehr die Kunst der Krankheitsbewältigung beherrschen. Sie und ihre Zugehörigen kommen gut ohne die Psychoonkologie zurecht.

In meiner neunjährigen Tätigkeit als Psychoonkologin in einer stationären onkologischen Rehaklinik habe ich viele Menschen in ihrem Bemühen um Krankheitsbewältigung begleiten dürfen. Vom ersten Tag an war ich überrascht und beeindruckt von ihrer Leistung im Umgang mit den Herausforderungen. Allein die Verarbeitung der Diagnose, das Durchlaufen hochbelastender Behandlungsschritte, die körperlichen und seelischen Folgen hätten dazu führen können, dass sich Menschen aufgeben oder den Mut verlieren. Häufig gesellen sich weitere Krisen zu diesem ohnehin schweren Paket, etwa plötzliche Arbeitslosigkeit, finanzielle Sorgen, verstörte Kinder, der Verlust eines nahestehenden Menschen, Trennung oder eine ungünstige Prognose für den weiteren Krankheitsverlauf. Nie hätte ich erwartet, dass Menschen in dieser Situation so resilient sind, dass in einer onkologischen Rehaklinik so viel und so laut gelacht werden würde! Das ist die eine Seite.

Die andere, häufig verborgenere Seite wurde in den Gruppen- und Einzelgesprächen spürbar. Circa 32 Prozent aller von einer Krebserkrankung Be- bzw. Getroffenen weisen im Behandlungsverlauf laut einer Studie von Mehnert et al. (2018; zit. nach Diegelmann, Isermann u. Zimmermann, 2020, S. 12) eine psychische Störung auf, und jede:r Zweite ist psychisch belastet. Sie müssen die Kunst – oder auch das Handwerk – der Krankheitsbewältigung mühsam erlernen. Dabei profitieren sie von kompetenter psychosozialer Begleitung in Kliniken, Rehakliniken, Krebsberatungsstellen und von psychoonkologischen Apps. In der S3-Leitlinie zur Psychoonkologie heißt es: »Zentrale Aufgaben der psychoonkologischen Versorgung sind patient:innenorientierte und bedarfsgerechte Information, psychosoziale Beratung, psychoonkologische Diagnostik und psychoonkologische Behandlung der psychischen Beschwerden und Unterstützung der Krankheitsverarbeitung sowie die Verbesserung psychischer, sozialer sowie funktionaler Folgeprobleme und Belastungen« (Leitlinienprogramm Onkologie, 2023, S. 15).

Krebspatient:innen profitieren jedoch nicht nur von einem psychoonkologisch geschulten Fachpersonal, sondern von einem Umfeld, das eine Ahnung davon hat, was die Betroffenen durchmachen und was sie jetzt in dieser Situation brauchen. Nicht alle, die in ihrem beruflichen oder persönlichen Umfeld mit Erkrankten und ihren Zugehörigen zu tun haben, sind psychoonkologisch geschult. Alle aber haben sie großen Einfluss darauf, wie die Krankheitsbewältigung verläuft. Körperlich, seelisch, sozial.

Genau dies ist das Anliegen des vorliegenden Buches. Es möchte Respekt vor den Leistungen der Erkrankten wecken, Respekt vor ihrer Tapferkeit im Umgang mit der Erkrankung. Es möchte das Verständnis vertiefen für all die krankheits- und behandlungsbedingten Veränderungen, die sich niemand gewünscht hat. Es will den Blick weiten für die Ängste, die Verzweiflung, aber auch für den Mut und den Pragmatismus. Sich den Herausforderungen und Möglichkeiten im Umgang mit Diagnose, Behandlung, Langzeitfolgen zu stellen, ist eine riesige Leistung, die gesehen und gewürdigt sein will.

In »Therapie-Tools Psychoonkologie« beschreiben die Autorinnen die Anforderungen an die Behandelnden, Pflegenden und Begleitenden folgendermaßen: »Die therapeutische Grundhaltung in der Psychoonkologie sollte geprägt sein von besonderem Respekt vor der Auseinandersetzung mit der Erkrankung und der Behandlung, der Berücksichtigung der individuellen Lebensgeschichte, v.a. im Hinblick auf krankheitsassoziierte Ressourcen und Krisenerfahrungen, sowie einer wertschätzenden, authentischen, achtsamen und empathischen Einstellung« (Diegelmann et al., 2020, S. 24).

Wie aber erreicht man diese Haltung? Was hilft dabei, diesen besonderen Respekt vor der Krankheitsbewältigung zu erwerben? Nicht die einzige, aber eine sehr geeignete Herangehensweise ist der Perspektivwechsel. Aus den Schuhen einer gesunden, leistungsfähigen Person aussteigen und in die Schuhe eines Menschen schlüpfen zu können, der durch die Krebsdiagnose erschüttert ist und das Leben neu für sich sortieren muss, ermöglicht die von den Autorinnen formulierte innere Einstellung. Und genau darum geht es in dem vorliegenden Lese- und Fachbuch. Es will über das Medium der literarischen Erzählung alle Menschen mit professionellem und persönlichem Bezug zu Krebspatient:innen dazu einladen, in das Erleben der Figuren einzutauchen, also die Sichtweise von Betroffenen und Angehörigen einzunehmen, und darüber deren psychische Herausforderungen sowie ihr Bewältigungspotenzial zu entdecken.

Im fachlichen Teil ergänzen Erfahrungen aus der Praxis sowie Erkenntnisse aus der Psychoonkologie die Herausforderungen und Möglichkeiten der Protagonist:innen aus den Geschichten und transformieren sie in Impulse für die Begleitung.

Nicht zuletzt möchte ich mit diesem Buch den Krebspatient:innen und ihren Zugehörigen, die ich begleiten durfte, ein Denkmal setzen. Ich möchte ihre Tapferkeit würdigen und ihre Erfahrungen in der Krankheitsbewältigung – ihre Erfolge wie ihr Scheitern – sichtbar und spürbar machen. Ich möchte sensibilisieren für das, was es braucht, wenn – wie es in der Psychoonkologie genannt wird – ein Sturz aus der normalen Wirklichkeit stattgefunden hat.

Der abschließende Teil des Buches ist ein Plädoyer für den Perspektivwechsel als Schlüssel zum Verständnis. Hier wird die Kraft des bewussten Perspektivwechsels für Menschen in der Begleitung von Krebspatient:innen genauer beleuchtet und sein Potenzial für mehr Empathie und zugleich mehr Selbstfürsorge gehoben.

Alle Geschichten sind von meiner Arbeit und den Erfahrungen mit Betroffenen und ihren Angehörigen inspiriert. Keine Geschichte hat genau so stattgefunden. Jeder Text wurde verfremdet, vermischt, angereichert, ins Reich der Fantasie befördert, poetisch aufgeladen. Allen Geschichten liegen idealtypische Herausforderungen der Krankheitsbewältigung zugrunde.

Nichts ist, wie es war

Davongekommen1(Erzählung)

Du wunderst dich über die Wege, die du gegangen bist. Schmale Pfade, steile Steige, karstiges Gelände, durch blühende Alleen, auf lauten Straßen, in finsteren Ecken. Selten verliefen die Wege nach deinem Plan. Manche hättest du, wäre es dir möglich gewesen, gern ausgelassen. Lichtlose Gegenden. Nicht eine Blume, nicht ein Strauch am Wegesrand. Sie schienen dir endlos und öde, bis du abzweigtest und dir dein Leben wieder licht war. Die Luft erfüllt von Vogelsang. Lämmer umringten dich wollig. Zurück in freundlichen Zonen. Klare Richtung, eindeutige Schilder: Dort das nächste Ziel, das ist deine Gehzeit, eine Hütte in erreichbarer Nähe, Menschen auf deinen Wegen, Gefährtinnen und Gefährten, ein Gelächter und Gewese, das für immer so hätte bleiben sollen.

Mitten in dieser heiteren Zeit kündigt sich Unheil an. Zunächst im Ungefähren. Ein Verdacht nur. Husten, der nicht enden will. Bleierne Müdigkeit. Dann die Bedrohung, und plötzlich bist du umhüllt von dichtem Nebel und grauer Zeit.

Alle Aussicht verwaschen. Du irrst umher in einem Land ohne Form und Farbe, ohne Substanz. Das Land löst sich auf und zerfällt in lose Krumen. Kein Halt, nirgends. Du wähnst dich allein, mutterseelenallein. Verlassen selbst von deinem Körper. Gerade von ihm. Was hast du getan, dass er es wagt, dich zu verraten, zu enttäuschen, dass er droht, dich zu verlassen?

Jetzt, wo sich Gefahr in dir eingenistet, wo niemand weiß, ob und wo sie ihre Gewächse verteilt, geht dein Körper dir verloren. Du trägst ihn zum Schlachthof wie ein Lamm. Das Lamm wird dir entrissen. Sie scheren ihm die Wolle. Es blökt und will fliehen. Das Lamm wird in eine Röhre geschoben, es wird vermessen, verändert sich von Tag zu Tag. Dabei soll es nicht geschlachtet, sondern gerettet werden. Doch du erkennst dein Lamm nicht wieder.

In der Nacht liegst du wach, spürst dein Lämmerherz, wie es zitternd schlägt. Schläuche hängen an deinem Körper, diesem geschorenen Lamm. Ganze Bäche fließen in dich hinein, ein steter Strom an fremden Substanzen. Deine Haut hält auf wundersame Weise dein Fleisch zusammen. Noch tut sie das.

Du willst dich erinnern. An die hellen Wege, an die Blumen am Wegesrand und den Vogelsang. All das winkt von ferne dir zu, höhnisch. Es gehört nicht zu dir. Dein ist nurmehr der Schmerz. Der Schmerz und die Lämmerangst. Man schiebt dein Bett durch lange Gänge, wo du liegst und wartest und liegst. Sie meinen es gut mit dir. Aber du gehörst dir nicht mehr. Alles ist weg außer deinem Leben.

Die Strafe der Götter sei über dich gekommen, mutmaßest du und haderst mit deinem Schicksal. Als hätte man dich auserwählt, um zermahlen zu werden in den Mühlen der Medizin. So nachteinsam erscheint dir dein Sein, dass du dir wünschst, nicht mehr zu erwachen. Das Licht in dir macht sich auf zu verlöschen. Das Lamm ist müde. Die Nähte wollen nicht heilen. Die Seele, die bis zuletzt einen Grund wusste, warum ein Morgen, ein Übermorgen, ein nächstes Jahr sich einstellen sollte, versinkt in Trübsal. Kein Grund mehr, nirgends.

Dann beginnt das Blatt sich zu wenden. Die Naht hält, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie hält noch, als sich deine Zeit im Schlachthof dem Ende entgegenneigt. Die Werte, die fortwährend in den höchsten Wipfeln gehaust hatten, wandern talwärts.

Sie wandeln sich zum Erstaunen aller in eine beschauliche Ebene. Kein Ausreißer an keinem neuen Tag. Die Schläuche verlassen deinen Leib, selbst die Wolle wächst nach, wo du nackt warst. In dir keimt still eine Ahnung von Alltag. Ein Becher Kaffee scheint dir als ein heiliges Wunder, dem du in Demut dich näherst. Die Erinnerung kehrt zurück. An Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. An Einatmen, Ausatmen. An Wachen und Schlafen. An Lachen und Weinen und den Geschäften nachgehen wie ehedem.

Des Nachts jedoch wollen die Versprechungen sich auflösen. Du fragst, ob man Schindluder treiben will mit dir. Du fürchtest das Scheren der Wolle und das Schneiden, das hinter der nächsten Ecke lauert. Du traust nicht dem gewendeten Blatt. Es könnte sich wieder wenden. Der Boden, auf dem du wandelst, ist dünn, hauchdünn.

Im Rollstuhl verlässt du das Haus deiner Leiden. Deine Beine sind dünn geworden. Schlaff liegen die Arme in deinem Schoß. Schlaff hängt die Seele in den Seilen. Zwischen Bangen und Hoffen pendelt dein Sein. Die Bilder der Verzweiflung noch bunt und grell, der Glaube an Zukunft blass und fahl und leicht wie eine Feder. Ein Windstoß reicht, ihn zu verblasen.

Die erste Nacht im eigenen Bett befremdet dich. Fragend sieht dein Zuhause dich an: Wirst du bleiben? Der Blick deiner Liebsten will von dir wissen: Wirst du bleiben? Dein Badezimmer grüßt dich strahlend hell: Wirst du bleiben? Auch dein Bademantel will nicht zurück an den Ort des Schreckens. Wir wollen bleiben! Wir wollen bleiben und das Land der kleinen Freuden zurückgewinnen. Schritt für Schritt wollen wir uns niederlassen in dem, was für alle Zeiten verloren geglaubt war.

Und manchmal läuft das Auge über. Es schwappt über die Wangen, wenn die Liebste dir sanft über deine Wolle streicht, dir den Rücken krault und deine Wunden salbt. Wenn du den Weg vom Bett zum Klo, vom Klo zum Bett geschafft hast ohne Hilfe. Wenn an einem warmen Tag, gehüllt in Decken, du dich küssen lässt von der Sonne. Umspielt von Vogelsang. Jetzt zwitschern sie dir davon, wie kostbar Frühling ist und welche Wonnen dich erwarten. Hinter deinen geschlossenen Lidern läuft ein Film von fernem Glück. Dem kleinen, zarten, unverhofften Glück.

Du schaust aus dem Fenster und siehst die Magnolie. Kahl war sie, nackt und ohne Zierde, als du die Koffer gepackt und dich verabschiedet hast. Jetzt wollen die Magnolienknospen platzen, du kannst hören, wie sie schnauben und prusten unter foliendünner Haut. Nur wenige warme Tage noch, bis der Wandel geschieht.

Jedes Jahr hat der Magnolienzauber dein Herz berührt. Du hast ihre Schönheit gepriesen, ihre Kraft und Verlässlichkeit. Jahr um Jahr war Magnolienzeit. Auch dieses Jahr. In der Krone des Baumes schwebt das Versprechen, dass in einem Jahr das Blühen aufs Neue beginnen wird, wieder und wieder. Und du siehst dich frühlingshaft erwachen. Deine Beine werden ausschreiten und wichtige Wege gehen. Dein Leib wird erstarken. In allen seinen Gliedern. Deine Hände werden zugreifen, begreifen.

Auch die Fransen in deinem Kopf werden gescheitelt. Im Dickicht deiner Gedanken entstehen Pfade, die wie Jägersteige durchs Unterholz führen. Unversehens stehst du am See, wo die Sonne sich selig spiegelt. Die Farben kehren zurück. Deine Schlafanzüge hast du entsorgt, den Rollstuhl des Landes verwiesen. Die Pillen stapeln sich auf dem Küchentresen.