Tote brauchen keinen Himmel - Max Balladu - E-Book

Tote brauchen keinen Himmel E-Book

Max Balladu

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Beschreibung

Inhalt: Der Leser lernt drei Paare kennen mit deren Freunden, Feinden, vielen kleinen oder großen Sor-gen und Freuden. Der Roman besteht aus zwei Bän-den mit je zwei Teilen. Band 1 Teil 1: Zwei junge Menschen, Nina Nitz und Felix Normu, beide im Jahr 2002 geboren, treffen zum ersten Mal in Seeleben aufeinander. Teil 2: Susanne Cremer, Mutter einer erwachsenen Tochter und der geschiedene Schotte, Vater zweier Söhne, Finley McAskill, lernen sich in Merseburg kennen. Band 2: Teil 3: Die dreißigjährige Medizinerin Dorothea Ruge und der fünf Jahre ältere Ingenieur Michael Stolz begegnen sich im Jahr 2017 in der Leporin-Klinik. Teil 4: Recherchen halten die Story zusammen, ergeben Zusammenhänge, die letztendlich bei dem jungen Mann Kevin zusammenlaufen

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Seitenzahl: 660

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Personen, Handlungen und Örtlichkeiten dieses fiktiven Romans entstammen der Fantasie des Autors. Einzelne Personen sowie die chemische Fabrik finden sie auch in früheren Büchern von Balladu. Die Lehranstalten, das Haus ‚Mischwaldland‘ und das Haus ‚Dachsbau‘ sind ebenso frei erfunden.

Auftretende Ähnlichkeiten mit dem realen Leben sind beabsichtigt, und bleiben dennoch subjektiv.

Autor:

Max Balladu wurde in Neutitschein geboren. Er arbeitete über zwanzig Jahre in einem chemischen Großbetrieb in der DDR, nach der Wende 1989 zehn Jahre in der BRD. Balladu wohnte in Neutitschein, Schernikau, Osterburg, absolvierte seine Militärzeit am Oderhaff, studierte in Merseburg, wohnte in Osterburg/Altmark, Halle (Saale) und ab 1996 im Salzatal.

Inhalt:

Der Leser lernt drei Paare kennen mit deren Freunden, Feinden, vielen kleinen oder großen Sorgen und Freuden. Der Roman besteht aus zwei Bänden mit je zwei Teilen.

Band 1

Teil 1: Zwei junge Menschen, Nina Nitz und Felix Normu, beide im Jahr 2002 geboren, treffen zum ersten Mal in Seeleben aufeinander.

Teil 2: Susanne Cremer, Mutter einer erwachsenen Tochter und der geschiedene Schotte, Vater zweier Söhne, Finley McAskill, lernen sich in Merseburg kennen.

Band 2:

Teil 3: Die dreißigjährige Medizinerin Dorothea Ruge und der fünf Jahre ältere Ingenieur Michael Stolz begegnen sich im Jahr 2017 in der Leporin-Klinik.

Teil 4: Recherchen halten die Story zusammen, ergeben Zusammenhänge, die letztendlich bei dem jungen Mann Kevin zusammenlaufen

INHALTSVERZEICHNIS

Namensverzeichnis

Prolog

Teil 1 - Nina, Felix und Hulk

1 - Der gerettete Retter

2 - Einmal aufs Meer sehen

3 - Ninas Odyssee 1. Teil

4 - Nina und die Obdachlosen

5 - Ninas Odyssee 2. Teil

6 - Freunde

7 - An der Saale hellem

8 - Lebendige Vergangenheit

9 - Haus ‚Mischwaldland‘

10 - Das Interview

11 - Im Unterricht

12 - Von der Donau an die Saale

Teil 2 - Susn, Finne, Sorge

13 - Tod in der Plastfabrik

14 - Erdgasausfall

15 - Zu alt für Sex?

16 - Ungewöhnliche Unfallfolgen

17 - Die zweite Geburt

18 - Zukunftspläne

Quellennachweis

Der Dank des Autors gilt

Ramona M.,

Doris und Ulf Z. sowie

Harald K.

Außerdem schuldet der Autor Frau Helene Paetz und H. F. Moritz Dank für die Zurverfügungstellung der Zeichnungen auf der Titel- sowie Rückseite, Frau Anni Kloß gilt der Dank fürs Lektorat ebenso, wie Frau Elvira W. für die kritischen Hinweise.

Informationen über Max Balladu sowie zu allen Büchern von ihm, finden sie auf der Webseite:

https://www.mensch0815.de

NAMENSVERZEICHNIS

Hauptpersonen

Nina Nitz

Jugendheim; Schülerin

Felix Normu

Schüler

Kevin Aldo

Schüler

Horst Wichmann

Hulk, Schüler

Susanne Cremer

Operator D-Schicht

Finley McAskill

Leiter Plastfabrik

Harvey McAskill

2. Sohn von Finley

Michael Stolz

Ingenieur

Dorothea Ruge

Ärztin

Mitglieder des ZKV e. V.

(in allen Büchern)

Emil Balla

Anlagenfahrer

Günther Hossa

Anlagenfahrer

Lena Faber

Journalistin

Dr. Thomas Prost

Rentner, † 11.5.2018

Ernst Wolf

Detektiv

Paula Peters

Detektivin

Wolfgang Schreyer

Kommissar i. R.

Dr. Helene Schenk

Gerichtsmedizinerin

Giesela Schulz

Rechtsanwältin

Arnold Storl

Einsatzleiter Feuerwehr

Eduard Ceh

Kriminalkommissar

Jens Reiter

Leiter Plastfabrik i. R.

Weitere Personen:

Ilse Schäfer

Küchenhilfe im KZ

Sergej Wlassow

Häftling im KZ

Eliwon Lemma

Kraftfahrer

Rosa Claudier

Leiterin Haus ‚Mischwaldland‘

Sara Franke

Erzieherin

Timo Bresicke

Erzieher

Markus Aldo

Onkel von Kevin

Christian Aldo

Vater von Kevin

Simone Tusch

Leiterin Gymnasium-KGS

Claudia Normu

Mutter von Felix

Amadeus Hoffmann

Lehrer in Osterburg

Stefani Ricks

Freundin von Stolz

Olivia McAskill

Mutter von Harvey

William McAskill

Bruder von Finley

Maria Schmidt

Kindermädchen von Harvey

Svenja Cremer

Tochter von Susanne

Max Drews

Schichtleiter in Plastfabrik

Angela Beier

Mutter von Hulk

Otto Heine

Geheimdienst

Björn Hamsun

Vorarbeiter

Sandra Huber

Enkelin von Otto Heine

Nikolai Karst

Journalist

Bernd Höhne

Schiffbauingenieur

Björn Hamsun

Vorarbeiter Aldo UG

Erik Balder

Angestellter Aldo UG

Natali Radek

Obdachlose

Alexander Dombrowski

Obdachloser

Heinrich Becker

Obdachloser

Fromme Helene

Einsiedlerin

PROLOG

Ein Reisender musste, auf dem Weg zu einer Recherche in einem kleinen Dorf in der Altmark, das Bahnhofsklo in Stendal aufsuchen. Amüsiert griff er sich eine alte, schon ziemlich zerrissene Zeitung, die neben dem Klosett auf dem Fliesenfußboden lag. Der Mann erinnerte sich an seine Kindheit, als er noch ein so genanntes Plumpsklo hatte benutzen müssen. Damals gab es kein Klopapier oder es war zu teuer für die aus Tschechien kommende Flüchtlingsfamilie. Heute hing sogar hier an der Seitenwand einfaches Toilettenpapier. Das wäre in der Deutschen Reichsbahn der DDR undenkbar gewesen. Damals wurde immer nur die Zeitung oder irgendein anderes, ausrangiertes Druckerzeugnis zum Hintern abwischen genutzt. Nach dem ersten, ziemlich festen Stuhlgang griff der Mann sich den abgerissenen Rest der am Boden liegenden Tageszeitung und las:

‚. . . der Täter raste weiter Richtung Halle über den Gimritzer Damm. Dort bog er in die Gegenfahrbahn der zweispurigen Straße ein, und gab Vollgas. Nur 80 Meter später stieß er bei circa 100 km/h frontal mit dem entgegenkommenden Range Rover zusammen. Der nicht angeschnallte Golffahrer flog durch seine Windschutzscheibe, prallte direkt auf das andere Fahrzeug, dessen Scheibe bereits zersprungen war, knallte hier so unglücklich gegen den Rahmen, dass der Kopf abgeschnitten und auf die Straßenbahnschienen geschleudert wurde. Der kopflose Köper des Täters traf direkt den anderen Fahrer, der …‘

Leider fehlte der Rest des Artikels.

Die Notiz regte die Fantasie des Lesenden an. Vielleicht gerade deshalb, weil Anfang und Ende fehlten. Was war davor passiert? Was hatte der ‚Täter‘ angestellt? Floh ein Dieb vor der Polizei? Oder jagten Fahnder einen Gewaltverbrecher? Oder war der Mann einfach nur besoffen? Vielleicht hatte es noch weitere Tote gegeben? Der Bahnreisende suchte in dem Zeitungsrest nach einem Datum, aber er fand nichts. Der Mann steckte den Papierfetzen mit der Notiz ein, erledigte sein Geschäft, reinigte seinen Hintern und konzentrierte sich wieder auf das ursprüngliche Ziel seiner Reise.

TEIL 1 - NINA, FELIX UND HULK
1 - DER GERETTETE RETTER

Seeleben, Mittwoch, 14. Februar 2007

Der fünfjährige Felix stopfte kleine Steine in seine Hosentaschen, während er langsam weiter in Richtung See wanderte. Auf dem letzten Stück bis zu der von ihm angesteuerten Uferstelle, fand er zwar keine mehr, aber seine Taschen waren ohnehin voll genug.

Der kleine, infolge des Kalisalzbergbaus in den Jahren vor 1925 künstlich entstandene, inzwischen durch die fleißig waschsenden natürlichen Gewächse idyllisch aussehende, fast rechteckige, circa dreißig Fußballfelder große See, war mit einer nur dünnen Eisfläche bedeckt, die so spiegelte, dass die Versuchung groß war, vor allen Dingen für die jüngeren Fußgänger, sich aufs Eis zu wagen. Felix konnte trotz seiner viereinhalb Jahre schon schwimmen, das hatte ihm im letzten Sommer ein fast sechs Jahre älterer Junge aus dem ganz in der Nähe befindlichen Heim, Horst Wichmann, den alle nur Hulk riefen, beigebracht. Doch der Junge kannte auch die Tücken einer zugefrorenen Wasseroberfläche. Er wusste, dass, wenn der Waghalsige unter das Eis geraten würde, schwimmen nur wenig half, wenn man die Öffnung im Eis nicht wiederfinden konnte. Schlimmer noch, wenn derjenige dazu noch in Panik geriet. Felix war schon zweimal eingebrochen, hatte sich zum Glück nur nasse Füße geholt. Nur ein einziges Mal stand er bis zum Hintern im Wasser.

Heute wollte er Nässe auf alle Fälle aus dem Weg gehen. Lediglich ein paar der kleinen Steine über das Eis gleiten lassen, vielleicht schaffte er es ja bis auf die andere Seite, immerhin waren das etwa dreihundertfünfzig Meter.

Als Felix den zweiten Stein warf und mit Blicken verfolgte, glaubte er am Schilfrand rechts, irgendetwas gesehen zu haben. Er ging näher an die Eisfläche heran. Jetzt konnte er es sehen. „Ein Hund!“ rief er laut, obwohl das gar keinen Sinn hatte, denn er war hier allein, der Hund zehn Meter entfernt, eingebrochen in einem kleinen Eisloch, aus dem er allein nicht mehr herauskam. Felix dachte noch zwei Sekunden nach, dann betrat er langsam, sehr vorsichtig das Eis. Die dünne Schicht bog sich durch, aber schien doch so elastisch zu sein, dass sie ihn tatsächlich tragen könnte. Das ließ den Jungen Mut schöpfen. Er glitt weiter vorsichtig über die glatte Fläche. Der Hund bemerkte ihn, jaulte wieder etwas lauter, obwohl es so schien, als ob ihn die Kräfte gleich verlasen würden. Zwei Meter vor dem Eisloch legte Felix sich bäuchlings auf das Eis, glitt bis dicht an den Rand der Öffnung. Er griff dem Hund ins Fell, erwischte dabei auch die Haut, das Tier heulte etwas lauter, aber darauf konnte Felix keine Rücksicht nehmen. Zum Glück war der Beagle nicht besonders schwer, so dass es ihm gelang, das kleine, zitternde Tier aufs Eis zu ziehen. Felix schob den Hund in Richtung Ufer, doch der sträubte sich widererwarten.

„Nun lauf schon. - Was ist nur mit dir? - Wo willst du hin?“

Felix sah zurück auf das Loch, bemerkte eine dunklere Stelle unterhalb der dünnen Eisfläche und erschrak. ‚Steckt da etwa ein Mensch drunter?‘ schoss es ihm durch den Kopf. Felix rutschte näher, unweit des Körpers, brach er Stück für Stück das Eis weiter auf, bis es ihm gelang, nach dem Unbekannten zu greifen. „O Gott,“ stöhnte der Junge. Es war ein Kind, vielleicht so alt wie er, ein Mädchen, das leblos, nun vom Eis befreit, auf dem Wasser schwamm, was wohl die Luftblase unter ihrem Anorak bewirkte. Erneut bemühte sich Felix den Körper auf die Eisfläche zu schieben, aber das Eis gab nach, bog sich immer weiter durch, wurde rissiger und plötzlich, ehe er etwas dagegen hätte tun können, fand er sich mit dem leblosen Mädchen im eiskalten Wasser wieder.

Dem Hund schien es wieder besser zu gehen, denn er bellte laut, mit respektvollem Abstand zu dem Loch.

„Lauf Hund!“ rief Felix verzweifelt, „hol Hilfe! Hilfe!“ rief Felix so laut er konnte. Doch der Hund lief nur aufgeregt hin und her und bellte ununterbrochen.

Felix bemühte sich mitsamt dem Körper des Mädchens ans Ufer zu gelangen, aber das ging sehr schwer, denn er musste sich, obwohl nur durch dünnes, Eis kämpfen. Schon bald merkte er, dass seine Kräfte nachließen, dennoch kämpfte er verbissen weiter. Er ließ das Mädchen nicht los. Plötzlich krachte dem Jungen irgendetwas auf den Kopf. Der Schreck war nur kurz. Felix erkannte einen Stock mit dem daran befestigten Seil. Er wickelte den Strick zuerst um sich selbst, dann auch noch um den Körper des Mädchens. Er klemmte das Ende des Seils zusammen mit dem Stück Holz zwischen seine Beine, fühlte den Ruck, als jemand am Strick zu ziehen begann. Langsam kamen die beiden Menschlein dem Ufer immer näher, bis kräftige Arme erst das Mädchen, dann Felix an Land hievten.

Der Retter war Hulk. Felix spürte unmittelbar, dass sein großer Freund zu Recht diesen Spitznamen besaß, denn er war nicht nur groß und stark, sondern fackelte auch nicht lange, wenn es galt Menschen in Not, und erst recht schwachen Menschen in Not, zu helfen.

„Hol Hilfe Felix,“ befahl der Elfjährige und begann sofort mit der Wiederbelebung, wie er das vom Fernsehen her kannte.

Der resolute Befehlston half dem erschöpften Felix widererwarten auf die Beine. Er ging anfangs langsam und wackelig, dann immer sicherer auftretend, zum Schluss konnte er sogar wieder rennen. Nach Luft japsend kam er vor dem Eingang zum Haus ‚Mischwaldland‘ an. „Hilfe!“ rief Felix schon vor dem Haus. „Hilfe!“ er stolperte die Treppen hinauf, griff zur Tür, aber er fasste ins Leere, denn eine knapp Siebzehnjährige hatte bereits die Tür aufgerissen, der Junge fiel ihr in die Arme.

„Hilfe - Horst - kleines Mädchen - unter dem Eis,“ stammelte Felix, seine Beine versagten ihren Dienst, doch die kräftige junge Frau nahm den kalten, pitschnassen Jungen auf die Arme, trug ihn ins Haus hinein.

Auf dem Flur kam ihnen ein junger, mittelgroßer Mann entgegen. „Timo ruf die Rettung. Am See ist Hulk und wohl ein ertrunkenes Mädchen.“

„Gib mir den Jungen, Sara. Ruf du an.“ Timo übernahm den zitternden Jungen, während Sara die Tür zum nahegelegenen Büro aufriss. Sie ließ Timo mit Felix auf seinen Armen vorbei, schloss schnell die Tür und griff zum Telefon.

Während Sara telefonierte, zog Timo dem Jungen die feuchten Sachen aus und begann ihn mit einem Handtuch abzureiben.

„Mach du hier weiter Sara,“ Timo drückte ihr das Handtuch in die Hand, nachdem sie den Hilferuf abgesetzt hatte, „ich laufe zum See und sehe, ob ich Hulk helfen kann.“

Sofort rannte er aus dem Haus.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis die Rettung am Unfallort eintraf, wo sich Timo und Hulk immer noch um das Mädchen bemühten.

Der Notarzt eilte zu dem am Boden liegenden Kind. Die Sanitäter gingen mit einer Krankentrage hinterher.

Während der Arzt das Kind untersuchte, standen Timo und Hulk mit traurigen Gesichtern daneben, neben ihnen lag der kleine, hin und wieder zitternde Hund. Betreuer und Heiminsassen warfen ab und zu unruhige Blicke zu dem kleinen, sehr blassen Mädchen.

Schon nach ein paar Minuten stand der Arzt wieder auf. „Bringt die Kleine in den Krankenwagen,“ wies er die Sanitäter an, wandte sich dann Timo und Hulk zu, „wie lange war sie unter Wasser?“

„Keine Ahnung,“ antwortete Hulk, „Felix hat sie unter dem Eis hervorgeholt. Ich habe die beiden ans Ufer gezogen und aus dem Wasser gehoben.“

„Es sieht nicht gut aus,“ sagte der Arzt mehr an den erwachsenen Mann gerichtet, wandte dann aber sein Gesicht zu Hulk, „wir werden uns im Krankenwagen weiter um die Kleine bemühen, dort ist es wärmer,“ er sah auf seine Uhr, „das kann dauern,“ drehte sich um und stieg ebenfalls in den Krankenwagen.

Plötzlich fiel Hulks Blick auf den kleinen Hund. Spontan wendete er sich Timo zu. „Was machen wir mit dem kleinen Kläffer?“

„Jetzt ist er doch schön leise Hulk.“

„Felix hat den Biegel gerettet.“

„Den Hund kann Daniel später zu Rosa bringen.“ Timo legte Hulk seinen rechten Arm auf die Schulter, „die Heimleiterin will ohnehin zur Mutter des Kindes gehen, damit sie erfährt, was passiert ist. - Du verstehst?“

Es dauerte eine ganze Stunde, bis die Tür sich wieder öffnete und der Arzt heraustrat.

Neben Timo und Hulk standen jetzt noch mehr Kinder aus dem Heim, außerdem einige Anwohner aus der nahegelegenen Neubausiedlung. Sogar der Hund richtete sich halbwegs auf. Alle sahen dem Arzt erwartungsvoll entgegen.

„Es tut mir leid,“ sagte der Mann mit müder Stimme, „aber das Mädchen war nicht mehr zu retten.“ Er wollte gleich wieder ins Auto steigen, drehte sich dann aber doch noch einmal um, „wir bringen sie in die Uniklinik, aber…“ er zögerte einen kurzen Moment, „…es gibt … keine Hoffnung mehr.“ Er drehte sich um, stieg in den Krankenwagen und das Fahrzeug fuhr mit dem Mädchen davon.

Stumm sahen die Menschen hinterher.

Plötzlich fasste sich Hulk an den Kopf, „Felix! Ich muss zu Felix!“ Er stürmte los.

Instinktiv rannte er ins Heim, obwohl er wusste, dass Felix nicht zum Heim gehörte, er ging direkt zum zentralen Büro und stürzte ins Zimmer.

Felix lag auf der Liege, durch mehrere Decken gewärmt. Sara saß daneben auf einem Stuhl, hielt eine dampfende Tasse in der Hand. Hulk musste nähertreten, um in das Gesicht seines Kumpels sehen zu können. „Wie geht es, Felix?“

Die Augen des Jungen richteten sich fragend auf Hulk, doch der schwieg.

„Er ist unterkühlt,“ antwortete Sara. Sie sah von Felix zu Hulk, „was ist am See passiert?“

Der vom Laufen noch schwer atmende, aufgewühlte Junge stieß kaum verständlich hervor, „tot!“ Trotzdem verstanden die beiden.

Felix begann lautlos zu weinen. Sara ergriff seine Hand, um ihn zu trösten, obwohl sie selbst auch gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen musste.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, drei etwa dreizehn- oder vierzehnjährige Jungen polterten ins Zimmer, sahen den weinenden Felix auf der Liege mit der händchenhaltenden Sara. „Was ist denn hier los!“ brüllte der Anführer der drei, „pfui Teufel, sind wir etwa bei den schwulen Schwestern …“

Weiter kam er nicht, weil der zwei Jahre jüngere Hulk, ihn gepackt hatte, ihm einen Hieb ins Gesicht verpasste, dass der Schreihals rückwärts taumelte, gegen seine Kumpane stieß, so dass Hulk alle drei energisch auf den Flur zurückdrängen konnte.

Sara war ebenfalls aufgesprungen, eilte zur Tür, schob Hulk, der den anderen inzwischen losgelassen hatte, ins Zimmer zurück, während sie bei den drei auf dem Flur blieb. Nachdem sie den Jungs erklärt hatte, was passiert war, zogen die sich schweigend zurück.

Als Sara nur wenig später das Büro erneut betrat, blieb sie kurz hinter der Tür staunend stehen. Felix war aufgestanden. Er redete beruhigend auf seinen großen Freund ein, der mit gesenktem Kopf vor dem viel Kleineren stand.

„… nicht umsonst,“ hörte Sara die Worte des erfolglosen Retters, „ich werde trotzdem immer wieder dasselbe tun, Horst Wichmann, ich werde helfen, wenn jemand in Not ist. Helfen - einmal wird es auch gelingen.“

‚Ja das stimmt,‘ dachte der große Freund und nickte zustimmend. „Den Hund hast du ja auf alle Fälle gerettet, Felix.“ Kaum jemand im Heim kannte seinen richtigen Namen, aber alle wussten, wer Hulk war.

Der elternlose Horst Wichmann war am 1. Mai 2003 ins Haus ‚Mischwaldland‘ gekommen. Sein Geburtsdatum war der 9. Februar 1996, obwohl es nicht hundertprozentig sicher schien.

Am 5. Mai 2003 erhielt das Heim, quasi als materielle Spende, alte Möbel, zu denen auch ein ziemlich großer Schrank gehörte. Die Transportleute wollten Zeit sparen, sie verzichteten darauf den Schrank in seine Einzelteile zu zerlegen und versuchten das Ungetüm als Ganzes, „der ist doch leer“, sagte der Vorarbeiter, zu transportieren. Das gelang ihnen auch bis zur Treppe, die in den Flur des Hauses führte. Dort kamen sie ins Straucheln. Plötzlich kippte der Schrank.

Der Vorarbeiter brüllte, „Vorsicht! Alles weg!“

Aber genau in diesem Augenblick kamen zwei vierjährige, ein Junge und ein Mädchen, aus dem Haus, der Schrank senkte sich über sie. Die Kinder schrien auf, duckten sich, warteten auf den Schlag, aber der Schrank hielt mitten im Fallen inne, wie durch Geisterhand gehalten. Der Geist war Horst. Er hatte den Schrank auf die Kinder fallen sehen, war schnell hinzugetreten, streckte seine Arme hoch und das Ungetüm wurde nicht nur abgebremst, er konnte ihn sogar so lange halten, bis es den Kindern gelang unversehrt zu entkommen. Langsam senkte sich der Schrank weiter, doch von Horst war nichts mehr zu sehen. Plötzlich richtete er sich langsam hinter dem Schrank auf, dicht neben der Treppe. Die wie gebannt wartenden Kinder und Erwachsenen schrien befreit auf, obwohl sie nicht begriffen, was da eben passiert war. Nur an dem hochroten Gesicht und seinem kräftigen, hörbaren Atmen, bei dem sich der Brustkorb ungeheuer spannte und wölbte, begriff einer nach dem anderen, dass Horst mit diesem Wunder zu tun gehabt haben musste.

„Hulk!“ stieß einer der älteren Jungs hervor und sie umkreisten staunend den bärenstarken Jungen.

Ab diesem Zeitpunkt hatte Horst seinen Spitznamen weg, aber das störte ihn gar nicht, denn der Spitzname wurde von allen mit Achtung ausgesprochen.

Von da ab fühlte sich Horst Wichmann in seiner neuen Familie, im Haus ‚Mischwaldland‘ angekommen.

Felix Normu wurde einer seiner ersten Freunde, obwohl der fast sechs Jahre jünger war und gar nicht im Heim lebte. Dass Felix keinen Vater hatte, war der erste Grund für Hulk, sich dem Jungen verbunden zu fühlen, außerdem war da noch dessen optimistischer, ruhiger Charakter, mit dem er ihm half, überlegt zu handeln. Das gefiel Hulk, im Gegenteil zu anderen Jungen, die dachten, der Normu sei eben eine Trantüte und langsam, wie eine lahme Ente. Sie erkannten nicht, dass Felix immer erst überlegte, bevor er handelte.

Am Nachmittag dieses düsteren Tages begleitete Horst seinen kleinen Freund nach Hause, der inzwischen wieder richtig warm und mit trockenen Sachen aus dem Heim ausgerüstet worden war.

Claudia Normu, Felix Mutter, nahm die zwei traurigen Gestalten schweigend mit in die Wohnung, bat Horst noch zu bleiben, als der gleich wieder verschwinden wollte. Sie bereitete beiden einen warmen Tee mit viel Zitrone, den sie in dem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer servierte. Ohne Worte stellte sie einen Zuckernapf mit kleinem Löffel neben die Teekanne. Sie füllte beiden, dann auch sich selbst, ein großes Glas voll und forderte die Jungs durch eine Geste zum Trinken auf.

Felix Mutter Claudia, geborene Süß, war zur Wende 1989 achtzehn Jahre alt. 1990 beendete sie ihre Lehre als Verkäuferin, wurde aber vorerst Sekretärin im damaligen Kaliwerk in Teutschenthal, das der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Kali und Salze in Halle angeschlossen war.

Nach einigen Minuten oder vielleicht waren es auch nur Sekunden, keiner von den drei Personen hätte sagen können wieviel es genau waren, durchbrach Frau Normu die Stille. „Ich habe von Sara, also Frau Franke, gehört, was ihr beide gerade erlebt habt.“ Die Mutter verstummte wieder, dachte nach, sah die beiden an und fuhr fort, „deinen Namen Horst Wichmann…“, etwas leiser fügte sie noch hinzu, „…Hulk, kannte ich ja schon von Felix, aber seit heute…“ wieder brach sie ab, starrte kurz an die Decke des Raumes, senkte langsam wieder den Kopf, „…weiß ich, dass ich mit euch über die Wahrheit, auch über heikle, menschliche Angelegenheiten, sprechen kann, sprechen muss. Deshalb,“ sie sah wieder zu ihren zwei Zuhörern, sah gespannte Aufmerksamkeit in deren Augen, „will ich dir Felix, meinem Sohn, zusammen mit deinem Freund, von der Wahrheit über meine Vergangenheit berichten.“

Die Frau atmete, den Blick zum Fenster gerichtet, mehrere Male tief ein und wieder aus.

„Am 1. Juni 1990 wurde mein Betrieb unter der Firmenbezeichnung KALIMAG GmbH eine eigenständige Kapitalgesellschaft. Alleiniger Gesellschafter war die Treuhandanstalt Berlin. Allerdings übernahm bereits am 1. Juni 1992 die Grube Teutschenthal Sicherungsgesellschaft mbH GTS das Werk samt den angrenzenden Grubenfeldern Salzmünde und Angersdorf. Bereits in den ersten Monaten lernte ich dort meinen fünf Jahre älteren Mann Peter Normu kennen, der bereits vier Jahre in der Grube als Bergarbeiter beschäftigt war. Der mittelgroße, schlanke, temperamentvolle und sportliche Normu war überdurchschnittlich intelligent, aber von Schulunterricht hielt er nicht viel, deshalb trachte er beizeiten danach, Geld zu verdienen. Er absolvierte die erste beste Lehre, die ihm angeboten wurde und das war die Ausbildung zum Chemiefacharbeiter in Luna. Danach fing er sofort als Bergarbeiter im Kaliwerk in Teutschenthal an. Ich wusste damals nicht, dass seine Arbeit im Schacht noch eine tiefere Bedeutung hatte. Davon erzählte er mir erst viel später. 1996 heirateten wir, nicht nur, weil ein Kind unterwegs war, sondern weil ich mich hervorragend mit diesem Mann ergänzte. Beide achteten wir den anderen, ließen uns gegenseitig genug persönlichen Spielraum, auch die sexuelle Liebe stimmte.“ Die Mutter sah mit fragendem Blick zu ihrem Sohn, dann weiter zu Horst und wusste, dass sie noch ein paar erklärende Worte hinzufügen musste.

„Eine Frau kann nur dann ein Kind zur Welt bringen, wenn sie die Spermien, also die Samen eines Mannes, die nur er in der Lage ist zu produzieren, in sich aufnimmt. Dazu hat der Mann ein Glied und die Frau eine Scheide zwischen den Beinen und wenn die beiden sich liebhaben, dann vereinigen sie sich und der Samen fließt vom Mann in die Frau. Dieser Vorgang kann den Menschen große Freude bereiten, wenn sich Frau und Mann richtig gernhaben, und ja, das funktioniert auch nur so zum Spaß, zur Freude dieser zwei Menschen, ohne dass immer ein Kind entstehen muss. Versteht ihr das?“

Sie sah beide nicken, war sich aber nicht ganz sicher, ob die Jungs das alles verstanden hatten. Dennoch fuhr sie fort, „Anfang 1996 wurde ich schwanger, das heißt, der Samen deines Vaters Felix, fing an in mir zu einem kleinen Wesen heranzuwachsen. Wir freuten uns auf unser Kind, waren also rundherum glücklich. In diesen wunderbaren Monaten verriet mir Peter sein Geheimnis, über das ich euch zu einem späteren Zeitpunkt noch berichten werde. -

Dann kam der 11. September 1996.

Seeleben, Mittwoch, 11. September 1996, 5 Uhr

Peter Normu war früher aufgestanden als üblich. Er verabschiedete sich mit einem Kuss von seiner noch schlafenden Frau, die, wie er wusste, im 6. Monat schwanger war. In drei Monaten sollte er also Vater werden. Darauf freute sich der Mann. Peter fuhr zur Grube, um heute, ganz allein, einen Spezialauftrag auszuführen. Es gab in letzter Zeit kleine, fast unmerkliche Ungereimtheiten im Schacht. Die hatte nur der sehr aufmerksame Inspektor von der Sicherheitsinspektion der Grube, Stefan Netter, bemerkt und sich mit seinem Freund Peter Normu beraten. Die zwei kannten sich schon aus ihrer Schul- und Jugendzeit.

Beide analysierten die wenigen Zeichen von zu vermutenden Unregelmäßigkeiten und kamen zu dem Schluss, vorerst ihre Überlegungen für sich zu behalten. Allerdings wollten sie sich doch vergewissern, was da auf sie zukommen könnte. Normu war sofort bereit, allein in den Schacht einzufahren, um in der Tiefe, sozusagen vor Ort, Messungen durchzuführen. Er lehnte es strikt ab seinen Freund mitzunehmen. Denn der war weder Bergmann noch hatte er Erfahrungen im Schacht. Netter war lediglich einmal in den Schacht eingefahren, nur um mitreden zu können. Netter war in der Analyse geologischer Daten unschlagbar, während Normu ein besonderes Gespür unter Tage auszeichnete. Ergebnisse, die die beiden zusammen vertraten, konnten als sicher angesehen werden. Das wussten alle im Betrieb.

Um 5 Uhr 25 traf Peter in 720 Meter Tiefe ein.

Er konnte nicht ahnen, dass es für die Untersuchungen schon zu spät war und lief in eine tödliche Falle.

Bennstedt, Mittwoch, 11. September 1996, 5 Uhr 36

Marie-Luise Prost war an diesem Tag, wie immer, seit sie am 8. Mai diesen Jahres in ihr kleines Reihenhaus in Bennstedt gezogen waren, bereits eine Stunde wach, denn sie ließ es sich nicht nehmen, zehn Minuten vor ihrem Mann Thomas aufzustehen. Der ebenfalls noch zum Haushalt gehörende vierzehnjährige Sohn Jan schlief in seinem geräumigen Zimmer im Keller des Hauses. Sein Bus zum Gymnasium nach Halle-Neustadt fuhr erst um 7 Uhr.

Dr. Thomas Prost leitete zu dieser Zeit den interessanten, aber auch sehr stressigen Anfahrprozess der alten, rekonstruierten EDC-VC-Anlage. Im Sinne der Energieeffizienz und im Interesse des Schutzes von Natur und Umwelt, wurden der Fabrik außerdem einige neue Anlagenteile hinzugefügt. Diese Chemieanlage gehörte seit 1995 zu OPA-Industrial, dem neuen Eigner des vormaligen Luna Werkes.

Nachdem der Mann das Haus verlassen hatte, erledigte Marie-Luise ruhig und gelassen die notwendigen Aufgaben in einem 3-Mann-Haushalt. Sie selbst arbeitete als Verkäuferin in einem Kaufhaus in Halle. Ihre Arbeit begann erst um 9 Uhr.

Gegen fünf Uhr dreißig stieg die attraktive 54-jährige Frau beschwingt die Treppen nach oben in die erste Etage, in der sich das gemütliche, helle Bad mit Toilette befand, im Gegensatz zur Waschmöglichkeit im Erdgeschoss, die zwar eine schöne Dusche, ein Waschbecken und auch ein Klosett enthielt, aber das musste auf nur etwa vier Quadratmeter Platz finden, was wesentlich ungemütlicher war. Marie-Luise bearbeitete sich mit verschiedenen Wässerchen, kämmte sich die Haare und zu guter Letzt setzte sie sich entspannt auf die angenehm warme Holzbrille der Toilette.

Urplötzlich hob sich für den Bruchteil einer Sekunde das Klo mitsamt der Frau schlagartig ein paar Millimeter oder vielleicht sogar Zentimeter in die Höhe, die Wände schienen zu wackeln, eigenartige knirschende Geräusche erfüllten den Raum, aber genauso schnell wie es gekommen war, war alles wieder vorbei.

Die Frau blickte sich erschrocken um, doch alles sah aus, wie vorher. Hatte sie etwa nur geträumt?

Nein, nein! Da! Da an der Wand über der Badewanne fehlte eine Kachel! Sie lag unversehrt in der Wanne.

Also hatte sie nicht geträumt.

Aber was war passiert?

Eine Explosion ganz in der Nähe? Oder gar ein Erdbeben? Aber hier in Mitteleuropa? In Halle? In Bennstedt?

Die Frau stand auf, ruckte energisch ihre Kleidung zurecht und machte sich auf einen Inspektionsgang durchs Haus.

Seeleben, Mittwoch, 11. September 1996, 5 Uhr 36

Peter Normu war noch nicht sehr weit gekommen, als ihn ein eigenartiges Gefühl beschlich. Er blieb stehen, verschärfte automatisch alle seine Sinne, trat vorsichtshalber in eine nur zwei Meter tiefe Nische in der mit Ziegelsteinen ausgemauerten Wand des Schachts. Sein Gehör vernahm leise knisternde Geräusche, die sich schlagartig verstärkten. Nur den Bruchteil einer Sekunde später zerstörte der gewaltige Knall des Gebirgsschlags Peter Normu beide Trommelfelle, so dass er von den nachfolgenden Geräuschen fast nichts mehr wahrnahm. Das Licht brannte noch, deshalb sah er die Langpfeiler einbrechen. Schon eine Zehntelsekunde später erdrückte den Bergarbeiter das in tausend Teile berstende Gestein und begrub den Körper unter sich. Peter Normu war tot. Für immer begraben in diesem Schacht, an dieser Stelle, in 720 Meter Tiefe.

Seeleben, Mittwoch, 14. Februar 2007

„Am gleichen Tag besuchte Stefan mich, erzählte mir alles, was er wusste und gestand, dass er keine Hoffnung habe, dass Peter dieses Unglück überlebt haben könnte. Um mich herum brach der Rest meiner Welt zusammen. Ich verlor für kurze Zeit das Bewusstsein. Stefan hatte den Rettungswagen schon gerufen, als ich wieder zu mir kam. Ich landete in Halle in der Leporinklinik, ich verlor mein Baby und war am Boden zerstört. Mein Leben war quasi zu Ende. Das Einzige, worüber ich noch nachdachte, war, wie ich mich am besten umbringen könnte. Hätte damals nicht Stefan fast 24 Stunden bei mir am Bett gesessen, ich wäre jetzt nicht mehr am Leben und dich Felix hätte es dann auch nicht mehr gegeben.“ Die Normu verstummte, beobachtete die Gesichter ihrer zwei sehr jungen Zuhörer, die mit großen traurigen Augen ihren Blick erwiderten. Sie hatten die Tragik dieser Stunde voll erfasst, die Ungereimtheiten bemerkten sie nicht, noch nicht. Diese Erklärungen würde sie später nachholen müssen. Aber jetzt wusste ihr Felix auf alle Fälle, wie sein Vater gestorben war.

„Dein Vater, Felix, ist also am 11. September 1996 umgekommen. Man hatte dennoch eine großangelegte Suchaktion gestartet, weil nicht hundertprozentig klar war, wo Peter Normu abgeblieben war. Auch bei den nachfolgenden Aufräumungsarbeiten fand man keine Leiche. Stefan Netter hatte, im Einverständnis mit mir, nie ein Wort verlauten lassen über die geheime Aktion und so wusste auch niemand, dass es doch einen Toten gegeben hatte, der dem stärksten Gebirgsschlag der Grube Teutschenthal nach Beendigung des Kalisalzabbaus vor vierzehn Jahren, zum Opfer gefallen war. Bei diesem Unglück war das gesamte 2,5 Quadratkilometer große Ostfeld mit seinen etwa 700 Langpfeilern, ohne die bisher im Kalibergbau stets registrierten Vorankündigungen, zusammengebrochen. Die Richterskala zeigte einen Wert von 5,5 an. Die Erschütterungen konnten sogar in mehreren Tausend Kilometern Entfernung registriert und im Umkreis von hundert Kilometern sinnlich wahrgenommen werden.

Im Gegensatz zu den zwei vorherigen Gebirgsschlägen, kam aber diesmal kein Bergmann zu Schaden. Der normale Schichtbetrieb begann erst 24 Minuten später. So zumindest lautete die offizielle Mitteilung in der Presse, die an sich auch richtig war, denn von dem Toten wusste ja niemand außer Claudia Normu und Stefan Netter. - Und jetzt natürlich ihr.“

„Wir verraten nichts,“ sagte sofort entschlossen und mit fester Stimme Horst Wichmann.

Felix nickte zu diesen Worten. Er flüsterte, „ich auch nicht.“ Lauter fügte er hinzu, „auf keinen Fall.“

Inzwischen war es draußen schon dunkel geworden. „Das Beste ist, Felix, wenn du ins Bett gehst und dich richtig ausschläfst. Was meinst du?“ Die Mutter sah auffordernd ihren Sohn an.

„Mensch! Ich muss zurück ins Heim. Sonst denken die noch sonst was.“ Horst sprang auf, riss dabei fast die Decke samt der Gläser vom Tisch, doch Claudia war schneller, es sollte heute keine weiteren Scherben geben.

„Nochmals danke, Horst, dass du meinen Jungen vorm Ertrinken gerettet hast. Du bist in unserem Haus jederzeit gern gesehen. Wann immer du willst, kommst du uns besuchen.“

„Ich würde jedem helfen und Felix ist auch noch mein Freund. Ich komme gern wieder vorbei Frau Normu.“ Horst schlug Felix leicht auf die Schulter, „bis morgen Felix,“ wandte sich der Frau zu, reichte ihr die Hand „auf Wiedersehen Frau Normu,“ eilte zur Tür und war im Handumdrehen verschwunden.

2 - EINMAL AUFS MEER SEHEN

Berlin, Freitag, 11. Mai 2007, 10:15 Uhr

Die fünfjährige Nina blieb auf der Landstraße stehen, sah angestrengt in Richtung Pinnow, weil sie glaubte in der Ferne auf der Fahrbahn etwas zu sehen, was da - eigentlich - nicht hingehörte. „Sind das etwa Pferde?“ flüsterte andachtsvoll das noch nicht einmal einen Meter große Mädchen, ‚aber was machen die denn auf der Straße?‘ überlegte sie weiter, denn diese Tiere gehörten auf eine grüne Wiese und nicht auf eine Asphaltstraße.

Plötzlich hörte sie hinter sich ein Auto, verharrte mitten auf der Straße, drehte sich um. Ein riesiger LKW näherte sich ihr, fing schon an zu hupen, doch Nina hob beide Arme und rührte sich nicht vom Fleck. Das Fahrzeug wurde langsamer, blieb nur zwei Meter vor der Kleinen stehen.

„Wat soll dat denn? Jeh von die Straße du Jöre,“ lärmte der Kraftfahrer und hupte noch einmal lang und kräftig.

„Das heißt, von - der - Straße,“ korrigierte die Kleine, drehte sich ein wenig, um hinter sich zu zeigen und den Fahrer des LKWs auf die Gefahr hinzuweisen. Sagen konnte sie nichts mehr, denn der Fahrer hupte wieder.

„Runta vonne Straße. Ick habe keene Zeit, du kleene Klugschitterin,“ erneut hupte der Mann, aber Nina blieb stehen, zeigte stur weiter nach vorn, um erneut auf die Pferde aufmerksam zu machen.

„Biste taub?“ wieder lautes Hupen. Aber Nina deutete unerschütterlich nach vorn.

„Wat is‘n da hinten?“

„Ich glaube das sind Pferde?“ Nina drehte sich zu dem Fahrer um.

„Mensch, sach det doch jleich.“ Er winkte Nina zu, „steich in du Tierseherin.“ Die Beifahrertür öffnete sich, Nina kletterte geschickt wie eine Katze ins Führerhaus, „einwandfrei,“ kommentierte der Fahrer, fackelte nicht lange und fuhr los.

Nach ein paar Metern stellte er fest, „tatsächlich. Wat sechste dazu. Gäule off de Straße, einwandfrei.“

„Pferde,“ korrigierte Nina erneut, „Gäule klingt so … abwertend. Und was heißt da - einwandfrei - in diesem Zusammenhang. Das ist gefährlich, vor allem für die Tiere!“ fügte sie energisch hinzu

„Abwertend,“ wiederholte der Mann, übertrieben bemüht, das Wort hochdeutsch auszusprechen, „einwandfrei, du magst wohl Pferde?“

„Tiere überhaupt, sie sind so…“ Nina brach ab, denn der Fahrer hatte bereits wieder angehalten und den Motor abgestellt.

„Ike will se nich erschrecken, du kapierst?“

Nina nickte, den Blick nach vorn gerichtet. Sie sah drei prachtvolle Pferde, zwei dunkelbraune und einen Schimmel. Sie wollte aussteigen.

„Wo willst’e denn hin? Haste keene Angst?“

Nina schüttelte den Kopf, stieß mit Mühe die Tür auf und kletterte auf die Straße.

„Einwandfrei, aber pass uff dir uff, meene Kleene,“ gab der Fahrer einen Rat mit auf den Weg, der verriet, dass er sich scheinbar Sorgen zu machen schien. Trotzdem blieb er im Auto sitzen, griff zum Handy und rief die Polizei an.

Nina rupfte am Straßengraben saftiges Gras, verteilte es auf der rechten flachen Hand, streckte sie aus, ging, sozusagen mit dem Gras vorneweg, langsam auf die Pferde zu. Die Tiere verhielten sich ruhig, nur der Schimmel schnaubte ein paarmal.

„Schön ruhig, meine Lieben, schön ruhig, ich habe saftiges Gras für euch.“ Nina ging noch dichter heran. Als erstes schnupperten die Braunen am Gras, schnappten mit ihren großen Lippen etwas aus dem Büschel der Hand, kauten, wie es schien, zufrieden mit dem Angebot. Der Schimmel, wie Nina nun feststellte eine Stute, zierte sich noch, doch das Mädchen streckte ihm die andere flache Hand, auf der sie vorher noch ein wenig Gras verteilt hatte, entgegen. „Leckeres Gras meine Gute, komm zu mir, komm.“ Die Stute schnupperte interessierter, stupste mit den wulstigen Lippen gegen die Halme, dann begann auch sie zu fressen.

„Ha ick mich eene Pferdeflüsterin injeladen, wat, oder wie?“

Nina erschrak ein bisschen, weil der Mann ausgestiegen war. Er stand bereits direkt hinter ihr. Sie drehte sich kurz um, „Gras rupfen, aber schön fettes!“ kommandierte sie.

„Jawoll, Chefin!“ antwortete der Mann belustigt, im Abdrehen folgte noch sein Standardwort „einwandfrei.“ Er ging tatsächlich zum Graben. Bereits nach ein paar Sekunden war er wieder zurück, stellte sich neben das Mädchen und sagte leise, „fifti-fifti?“ drückte dem Mädchen die Hälfte des von ihm gepflückten Grases in die Hand und fügte dann noch hinzu, „meen werter Name is übrigens Egon, vastehste? Ick bin Egon Lemma aus Ä-thi-o-pien.“ Er zog die Silben in die Länge, wohl glaubend, dass das winzig kleine Mädchen dieses Land nicht kennen würde.

Vorsichtig, etwas zögerlich, streckte der Mann das Grasbüschel nach vorn. Er zuckte zurück, als einer der Braunen sich mit der Schnauze näherte. Das Pferd machte einen Schritt nach vorn.

Nina hielt mit der linken Hand den Mann fest, damit der nicht noch weiter ausweichen konnte, „stehenbleiben!“ Dann flüsterte sie, „Gras auf der flachen Hand verteilen, dann hinhalten.“ Unterdessen fütterte sie mit der rechten Hand die anderen beiden Pferde.

„Einwandfrei,“ flüsterte Egon vor Ehrfurcht, als tatsächlich das Pferd von dem Grasbüschel in seiner Hand ein paar Halme schlappte.

Zweimal wiederholten sie den Vorgang, dann sahen sie hinter den Pferden auf der Straße einen Mann mit eiligen Schritten näherkommen, offenbar hatte die Polizei den Besitzer schnell gefunden und alarmiert. „Amigo! Emma! Ballu!“

Amigo drehte sich kurz um, kehrte aber schnell zur Fütterung zurück. Die beiden andern fraßen ungerührt weiter Gras aus den Händen von Nina und Egon.

Zwischen Amigo und Emma hindurch ging der Mann auf die Pferdefütterer zu, „die Bande ist schon wieder von der Koppel ausgerissen. Ich muss den Zaun höher machen.“

„Oder dich mehr mit ihnen beschäftigen,“ sagte Nina freundlich, aber der Mann fauchte wütend, „so ein Quatsch! Du kleine dumme Göre!“

„Sachte, sachte du Held,“ mit einem Mal sprach der Fahrer astreines Hochdeutsch, „das Mädchen ist zwar klein, aber keineswegs dumm. Immerhin hat sie mich,“ er zeigte zurück auf seinen Vierzigtonner, „rechtzeitig gestoppt, sonst hätte es vielleicht ein Unglück gegeben.“ Er trat einen Schritt auf den Mann zu und fügte derb hinzu, „da wirste dir wohl entschuldigen müssen, Männeken!“

„So weit kommt das noch,“ brabbelte der Mann und fuhr laut fort, „Amigo! Ab nach Hause und er schlug mit der flachen Hand dem Pferd auf den muskulösen Schenkel. Das Pferd drehte sich gehorsam um, folgte seinem Herrn, der langsam zurück in Richtung des Dorfs ging. Emma und Ballu blieben stehen und fraßen weiter Gras aus den Händen ihrer neuen Bekanntschaft.

Der Kraftfahrer freute sich darüber, holte noch schnell Nachschub. „Einwandfrei.“ Das klang nicht nur lauter dieses Mal, sondern ziemlich freudig.

„Komm,“ sagte Nina, „wir gehen ihm hinterher. Ich möchte die Tiere nicht voneinander trennen.“

„Schade,“ sagte Egon, aber er hatte längst erkannt, dass die kleine kesse Nina, sich tatsächlich gut mit Tieren auskannte, auch wenn es vielleicht nur ihr Gefühl war. Er sah achtungsvoll auf die Kleine herunter, schüttelte den Kopf, woher auch immer sie das wissen oder warum sie das fühlen konnte.

Die beiden Pferde Emma und Ballu folgten den zwei neuen Freunden auf dem Fuße.

Nach ein paar Metern sagte Egon, „nur ma een kleener Test. Bleib ma steh’n Nina.“

Das Mädchen verstand, beide blieben stehen und prompt hielten auch Emma und Ballu an.

„Ick fasse et nich,“ staunte Egon, „tatsächlich Pferdeflüsterin. Ein-wand-frei.“

Sie gingen weiter. Nun mit mindestens zwanzig Metern Abstand zum Besitzer und Amigo.

„Mensch, meine Karre!“ stieß erschrocken Egon aus, „ha ick janz vajessen dat Stück.“ Er machte kehrt, rief aber rückwärtsgewandt Nina zu, „ick komm hintaher.“

Nina gelangte mit Emma und Ballu bis zur Wiese, die sich kurz hinter dem Ortschild, rechts in einer Feldstraße befand, die circa einhundert Meter von der Asphaltstraße entfernt war.

Das Mädchen ließ die Pferde durch das kleine Tor auf die eingezäunte Koppel laufen, schloss es danach wieder und blieb selbst von außen am Zaun steh’n.

„Du kannst jetzt gehen,“ knurrte der Mann immer noch sehr unfreundlich, fügte dann aber doch noch hinzu, „aber danke fürs Herbringen.“

Nina machte kehrt, ging bis zum ersten Haus, trat dicht an die Wand, damit sie von der Wiese nicht gesehen werden konnte und beobachtete den Mann mit den Pferden.

„Du traust dem Kerl nich, wa?“ Egon hatte sich dicht hinter Nina gestellt, weil er ahnte, was diese vorhatte.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, da holte der Pferdehalter eine Peitsche von irgendwo hervor und schlug wie wild auf Emma ein. Offensichtlich hielt er die für die Schuldige beim Ausreißen und Zurückbleiben.

Nina sprang hinter der Hauswand hervor. „Lassen sie die Stute zufrieden! Sie quälen das Tier!“

„Hau ab, du kleines Luder! Das geht dich gar nichts an!“

Ohne dass Nina es gleich begriff, ging Egon an ihr vorbei und mit schnellen, großen Schritten zum Zaun. „Aus! Sofort Aus!“ brüllte er.

Aber der Mann hörte nicht auf, das Pferd zu schlagen. Der mindestens einen Meter neunzig große und bestimmt zwei Zentner schwere Egon sprang, als wäre das nur eine kleine Hürde, mit einem Satz über den Zaun, rannte auf den Mann zu, der nun erschrocken innehielt, packte den Kerl am Kragen und schüttelte ihn, wie einen Sack Kartoffeln. „Wenn du noch einmal ein Pferd…“

„Ein Tier!“ rief Nina dazwischen, die sofort unter dem Zaun hindurch Egon gefolgt war.

„…dann breche ich dir alle Knochen im Leib. Hast du verstanden?!“ und wieder schüttelte er den Mann, dass man dessen Antwort nicht verstehen konnte.

„Hast du verstanden?“ wiederholte Egon seine Frage und ließ den Mann los.

Der Pferdehalter versuchte seine Sachen zu sortieren, er schnaubte, „ich zeige dich an du schwarze Sau, dreckiger Nigger, du Skla-ve…“ weiter kam er nicht, weil Egon ihn wieder schüttelte.

Nina legte beruhigend eine Hand auf Egons Arm, stellte sich vor ihn, nachdem der den rassistischen Tierquäler wieder losgelassen hatte.

„Hören sie mal,“ sagte Nina zu dem Mann, hielt ihm ein Handy entgegen und alle drei konnten noch einmal, die vom Pferdehalter vorgebrachte Schimpftirade hören, „das schicken wir der Polizei. Tierquälerei und rassistische Beschimpfungen. Das könnte teuer für sie werden.“

„Und die Presse wird das besonders lieben,“ fügte Egon genüsslich hinzu.

Der Tierquäler schwieg.

„Du hast uns verstanden?“ hakte Egon nach.

„Wir werden sie beobachten“, sagte Nina, „sie wissen ja, wie einfach das heutzutage ist.“

Das kleine Mädchen faste den großen schwarzen Mann wieder am Arm und zog ihn in Richtung Zaun. „Komm Egon, lass uns gehen,“ sie wies mit dem Daumen nach hinten, „der hat schon kapiert.“

Die zwei stiegen über den Zaum, sahen sich nicht mehr um, gingen zum LKW, den Egon am Anfang des Feldweges abgestellt hatte.

„Sach ma Lütte, wie kommst du zu een Handy? Zeich ma her.“ Egon betrachtete das Teil, „sieht genauso aus wie meins. Komisch.“

„Endschuldige, Egon, ist auch deins. Hab‘ ich dir gleich zu Beginn geklaut. Man kann ja nie wissen,“ sie blickte beschämt zum großen Mann auf.

Egon starrte mit aufgerissenen Augen die Kleine an, dass das Weiße in seinen Augen in dem schwarzen Gesicht krass aufleuchtete, aber er sagte nichts. Diese Mitteilung hatte ihm wohl die Sprache verschlagen, nicht mal sein Standardwort ‚einwandfrei‘ kam über seine Lippen.

„Sei mir nicht böse, Egon, ich konnte doch nicht wissen, dass du ein Freund wirst, dass du Pferde magst und…“

„Schon jut, meene Kleene,“ unterbrach Egon Ninas Entschuldigung, „ick vasteh dir schon. Aber nu klär mir doch mal uff, wo kommst‘e ejentlich her?“ Und weil Nina schwieg, fuhr er fort, „ick nehme ma an, du bist irgendwo ausgebüxt, stimmts?“

Die beiden waren am Auto angekommen und neben der Beifahrertür stehen geblieben.

„Also, Mächen, wo kommst du her und wo willst du hin?“ fragte er mit ernster, klarer Stimme, allein schon, dass er wieder perfekt Hochdeutsch sprach, gab seinen Worten besondere Bedeutung.

Nina schwieg weiter.

„Ick könnte dir ja valeicht noch een kleenet Stück mitnehmen?“

Nina sah hoch zu Egon. „Du verpetzt mich nicht bei den Bullen?“

„Nee, also, die Polente lassen wa da raus. Aba…“ Egon brach ab und schwieg einen Moment. „Du bist doch höchstens fünf Jahre alt, verhältst dir zwar wie eene zehnjährige, aba…“ wieder stockte er. „Komm meene Kleene, wir setzen uns in meene Karre und denn beichtest du mir allet, klaro?“

Egon öffnete die Beifahrertür, Nina stieg ein, er ging auf die andere Seite, setzte sich hinter das Steuer und sah auffordernd zu seiner kleinen, neuen Freundin.

Nina hielt immer noch Egons Handy vor sich hin, als würde sie da eine Antwort finden, auf die Fragen, die ihr jetzt durch den Kopf gingen.

Plötzlich streckte sie Egon das Handy hin. „Nimm das erst mal wieder zurück.“

Aber der Mann übersah die Geste.

Nina zog dem Arm wieder zurück, starrte erneut auf das dunkle Display… dann begann sie zögerlich, „icke - ich meine - ich - bin - ausgerissen.“

Pause.

„Ich lebe im Haus ‚Dachsbau‘ in Frohnau.“

Pause.

„Da ist mir - manchmal - langweilig.“

Pause.

„Ich wollte doch nur mal kurz aufs Meer sehen,“ fuhr es jetzt schnell aus ihr heraus, „Wasser bis zum Horizont, Wellen und Sandstrand sehen. - Die Ostsee liegt doch am nächsten.“

Egon grinste. „Einwandfrei. Det sind ja man nur schlappe zweehundert Kilometer.“ Nach einer kurzen Pause fügte er noch eine Frage hinzu, „wie kommst’e denn ejentlich auf Meer? In Balin jibts doch och jenuch Wassa“.

„Aber kein Meer.“

„Wassa bleibt Wassa, ob Meer oder See, oder Fluß oder…“

„Der alte Mann und das Meer,“ flüsterte Nina.

„Hemingway?“ Egon warf einen erstaunten Blick zu Nina und ab jetzt sprach er betont, mit kleinen Aussetzern, hochdeutsch. „Du halber Meter willst mir doch wohl nicht verklickern, dass du auch schon, was von Hemingway gehört hast?“

„Warum nicht?“ Nina sah verständnislos zu Egon, „in unserem Haus sind allen Türen mit ein bis drei Buchstaben, manchmal in Verbindung mit Zahlen, gekennzeichnet, damit man sich in dem großen Haus zurechtfinden kann. Als ich später die kleine Bibliothek - Bib stand an der Tür - entdeckte, habe ich dieselben Buchstaben in den Büchern gesehen und ziemlich schnell festgestellt, dass in der Reihenfolge der Schriftzeichen ein Sinn steckte. Da war ich knapp drei Jahre alt. Das Lesen hat mir wunderbar die Zeit vertrieben.“ Nina schwieg und sah zu Egon, der ehrfurchtsvoll seine Augen auf sie gerichtet hatte und nun fast verträumt lächelte, ohne etwas zu sagen.

„Egon, kannst du mir das erklären? Die Leiterin unseres Hauses hat veranlasst, dass mir die Bücher weggenommen wurden, als die gemerkt hat, dass ich lesen kann. Natürlich habe ich es weiter versucht, aber ich musste mich immer verstecken. Ich verstehe das nicht.“ Wieder sah Nina zu Egon. Der hatte eine nachdenkliche Miene aufgesetzt. Er war offensichtlich mit irgendeiner Frage beschäftigt. Nina wartete geduldig.

„Ich werde auf alle Fälle versuchen dir zu helfen, Zwecke,“ sagte Egon sehr langsam, immer noch nachdenklich, „aber vorher muss ich mal telefonieren.“

Egon streckte seine geöffnete Hand Nina entgegen. Das Mädchen verstand, legte wortlos das Handy hinein.

Lemma sah zuerst auf die Uhr. ‚Aha kurz vor Elf. Das ist gut‘, dachte er und wählte eine Nummer aus seiner Kontaktliste.

„Hallo Chefchen, hier ist Egon,“ meldete er sich, als bereits nach dem ersten Wahlversuch eine Verbindung zustande gekommen war, „ja, ja. Aba… aber mal was anderes. Hast du nicht etwas davon gesagt, dass in Anklam noch Ware abgeholt werden soll?“ Egon lauschte auf die Antwort, die Nina natürlich nicht verstehen konnte. „Ja, ja, schon richtig Chef, aber die Situation hat sich geändert. Ich kann doch.“ Wieder lauschte er und zwinkerte Nina zu. „Einwandfrei Chef, also dann bin ich Sonntagabend wieder auf dem Hof?“ -

„Allet klar - und tschüss.“

Egon strahlte übers ganze Gesicht. „Also hör zu Zwecke. Was hältst du davon, wenn wir beide zusammen ans Meer fahren? Ich meine an die Ostsee?“

„Det kann ick nich jloben,“ sagte Nina ernst, so dass Egon erst einmal der Mund vor Überraschung offen stehen blieb. Dann betrachtete er das Mädchen genauer und … begriff. ‚Ein Phänomen in menschlicher Gestalt, auch noch mit Humor ausgerüstet,‘ dachte Egon und suchte nach einer passenden Antwort. „‚Mit vollen Segeln lief ich in das Meer des Lebens; unermesslich lags vor mir. Es dehnte allgewaltig sich die Brust, als wollte sie ein Ewiges umfassen.‘“

Schweigen.

„Schön,“ sagte Nina und „ich glaube dir, Egon, fahr los.“

„Du willst gar nicht wissen, wer das gesagt hat?“

„Wieso? Du - hast das doch gerade gesagt.“

„Aber ich habe nur zitiert.“

„Verstehe ich nicht, Egon, die Menschen benutzen doch alle dieselben Worte, eben nur immer in anderer Reihenfolge, damit das, was sie sagen wollten auch herauskommt. Aber was heißt dann zitiert?“

‚Die Kleene macht mich fertig‘, dachte er liebevoll, startete den LKW und fuhr los. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Aber vorher musste er noch etwas erledigen. An der nächsten Tankstelle, in Oranienburg, fuhr Egon auf einen Parkplatz für LKWs, öffnete die Beifahrertür, „bitte noch einmal aussteigen meine Kleine,“ stieg ebenfalls aus und nahm Ninas Hand, „wir müssen hier noch etwas erledigen.“

Zusammen marschierten sie zum Shop der Tankstelle.

„Ich muss ein paar Süßigkeiten für die Kinder meines Freundes besorgen. Such dir auch etwas Kleines aus, was du gernhaben möchtest, Nina.“

Egon legte zwei Packungen Lakritze Schnecken von Haribo, zwei Beutel dragierte Schoko-Linsen mit Zartbitter-Schokolade und echtem Pfefferminz-Öl in sein kleines Einkaufskörbchen und wartete darauf, dass Nina auch etwas in den Korb legte, aber das tat sie nicht.

Sie standen beide schon an der Kasse, da fragte Egon doch noch einmal, „willst du denn gar nichts, Nina?“

„Nein,“ sagte sie zögerlich.

„Nein? Gefällt dir denn nichts“

„Doch schon, aber das ist etwas Großes.“

„Was ist das denn?“ fragte Egon neugierig und Nina zeigte zögerlich auf ein kleines, wirklich kleines Zuckerfläschchen mit winzigen, bunten, offensichtlich süßen, Perlen darin. Es kostete 95 Cent.

Egon lachte schallend, „einwandfrei,“ hörte aber sofort auf, als er das traurige Gesicht des Mädchens sah. „Aber Nina, das ist doch erst recht etwas Kleines, davon kannst du dir zehn Stück nehmen, wenn du willst.“

Zögerlich griff Nina nach der Süßigkeit, nahm aber nur ein kleines Fläschchen aus dem Regal. Wortlos legte Egon noch vier dazu, stellte den Korb an der Kasse ab und bezahlte 25 Euro und 15 Cents. Die Verkäuferin tat alles zusammen in eine Tüte und schob sie demonstrativ zu Nina, die sie zögerlich ergriff. Egon nahm das Mädchen wieder an die Hand. Sie gingen zurück zum Auto.

Lemma musste sich immer noch das Lachen verkneifen. ‚Das ist etwas Großes‘, nur Kinder und wohl am allerehesten Heimkinder, können so bescheiden, so genügsam sein.

„Wir fahren jetzt von hier direkt nach Prenzlau,“ erklärte Egon nach ein paar Kilometern Fahrt, „dort muss ich meine Ladung abliefern und dann geht’s sofort weiter nach Anklam, denn da muss ich neue Ware einladen.“ Egon fuhr vorsichtig um eine scharfe Kurve, „aber dann geht’s sofort weiter nach Bansin. Da liegt das Meer. Da kannst du Sandstrand und Wasser bis zum Horizont sehen.“

Wenig später bog Egon ein auf die L 21 Richtung Liebenwalde. „Sonntag fahren wir wieder zurück und ich setze dich an deinem Haus Dachsbau ab.“ Lemma hob seinen rechten Arm, um jeden Widerspruch abzuwehren, obwohl Nina ohnehin nichts sagen wollte. „Das ist meine Bedingung,“ fügte er dennoch hinzu.

Ein paar Kilometer schwiegen beide.

„Eigentlich hast du recht,“ nahm Egon das Gespräch wieder auf, „ich meine das mit den Zitaten…“

„Was ist ein Zitat Egon?“

„Ach so, ja. Also, das, was ich vorhin gesagt habe, mit dem Meer…“

„Mit vollen Segeln fuhr ich übers Meer,“ wiederholte Nina aus dem Gedächtnis, „unermesslich lags vor mir. Es dehnte sich allgewaltig und hob mir die Brust, als wollte es die Welt umfassen.“

Egon schüttelte erstaunt seinen Kopf, dachte eine Moment nach, bevor er mit einem Lächeln im Gesicht sagte, „weißt du Nina, wir zitieren große Dichter, weil wir glauben, diesen Gedanken selbst nicht besser formulieren zu können, aber… vielleicht wollen wir mit unserem Wissen auch nur auf die Kacke hau‘n. Andererseits, zum Beispiel bei diesem Spruch, meint Schiller eigentlich das Meer des Lebens und es dehnt die Brust, als wolle sie, also die Brust, Ewiges umfassen, also ewiges Leben, verstehst du?“

Nina dachte nach, „mal sehen, wie ich das Meer empfinde. Jetzt weiß ich das noch nicht.“

„Je länger ich über die Frage, was ist ein Zitat, nachdenke, umso interessanter erscheint sie mir. Was nützt ein Zitat, das zum Besten gegeben wird, wenn die Menschen gar nicht über dessen Inhalt nachdenken, sondern es erst einmal nutzen, um mit ihrem Wissen, ihrer Belesenheit vor den anderen zu prahlen. Vielleicht untersuchen sie die Aussage auf Fehler?“

„Aber dann denken sie ja doch darüber nach,“ warf Nina ein.

„Stimmt. Also doch nicht so verkehrt. Man muss es also nur in der richtigen Situation sagen, zu der es passt.“

Egon philosophierte immer weiter, denn Ninas kurze Einwürfe, regten ihn zu neuen Überlegungen an. So war Egon Lemma überrascht, als plötzlich schon das Ortsschild von Prenzlau auftauchte. Sie waren etwa um 11 Uhr von Borgsdorf gestartet. Jetzt war es 12:30 Uhr.

„Mit dir als Beifahrer, vergeht die Zeit ja wie im Fluge.“

Egon kurvte durch die Straßen der kleinen uckermärkischen Stadt. Nach zwanzig Minuten fand er die gesuchte Adresse.

Eine Stunde später war das Auto entladen. Weiter gings in Richtung Anklam.

„Kannst du mir etwas darüber erzählen Nina, wie und warum du in dieses - Haus - gekommen bist?“ Egon warf der Kleinen schnell einen Blick zu, weil er das Mädchen auf keinen Fall in Verlegenheit bringen wollte, doch er sah in ein sehr entspanntes, aufmerksames Gesicht.

„Wie meinst du das, ins Haus gekommen, ich bin schon immer in diesem Haus gewesen. Ich bin da aufgewachsen. Ich kenne nichts anderes. Gibt es etwas anderes?“

„Aber wo sind denn deine Eltern?“

„Eltern? - Ach so. - Na das sind in erster Linie Petra und Silke, die kümmern sich am meisten um mich, um uns.“

Egon würde erst später erfahren, dass Nina am 1. März 2002 zur Welt gekommen und noch am selben Tag im Berliner Ernst-Thälmann-Park, in der Nähe des Denkmals des großen Arbeiterführers, ausgesetzt worden war. Zum Glück fanden aufmerksame Spaziergänger das hilflose Kind und brachten es in ein Krankenhaus, von wo aus es, nach gründlichen Untersuchungen, in das Haus ‚Dachsbau‘, einem Heim für Kinder und Jugendliche in Frohnau im nördlichen Berlin, übergeben wurde. In den Sachen der Kleinen fanden die Betreuerinnen einen Zettel mit dem Namen Nina Nitz. Recherchen ergaben keinerlei Ergebnisse, die zu den Eltern hätten führen können.

Egon begriff, dass das Mädchen offensichtlich eine Weise war, aus welchem Grund auch immer. Jetzt war er sich noch sicherer, dass sein Entschluss, mit dem Mädchen an die Ostsee zu fahren, richtig war.

„Und was ist mit dir Egon?“ Unterbrach Nina das Schweigen. „Wo ist dein Haus? Wer sind deine Eltern? Warum hast du eine so dunkle, fast schwarze Hautfarbe?“

„Einwandfrei,“ konstatierte Egon. „Du hast recht Nina, jetzt bin ich dran zu erklären, wer ich bin.“ Lemma fuhr auf der B 109 an der Abfahrt Pasewalk vorbei, für ein paar Kilometer fuhren sie nun auf der B 104, bis die Bundesstraße links abbog in Richtung Strasburg (Uckermark). Sie landeten erneut auf der B 109.

„Also, ich bin am 12. August 1973 in Koshim im süd-östlichen Randgebiet von Addis Abeba in Äthiopien als Eliwon Lemma geboren. Meine Eltern sind mit mir 1980 in die DDR gekommen. Sie haben damals in der Botschaft gearbeitet. Ich bin also in Berlin zur Schule gegangen, anfangs in der Botschaftsschule, aber ab 5. Klasse 1984, also mit 11 Jahren, zusammen mit den anderen in eine erweiterte Oberschule. Da habe ich 1992 mein Abitur gemacht. Allerdings mussten meine Eltern schon 1991 zurück nach Äthiopien, da eine politische Koalition aus verschiedenen Befreiungsbewegungen, die Revolutionäre Demokratische Front der äthiopischen Völker, die Macht übernommen, und ein föderatives System mit autonomen Regionen für die größten Völker eingeführt hatte. Ich hätte eigentlich auch zurückgemusst, aber es gelang mir, nicht nur eine weitere Aufenthaltsgenehmigung, sondern sogar bereits Anfang 1992 die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Meine Eltern haben aus der Ferne natürlich alles versucht damit ich studiere, aber ich wollte nicht. Heute kann ich das eigentlich nicht mehr erklären, aber ich bereue trotzdem nichts. Ich habe also alles Mögliche gemacht, auch an verschiedenen Theatern in Berlin hinter den Kulissen gearbeitet, bis ich schließlich als Berufskraftfahrer bei der mittelgroßen Transportfirma ‚Mario Röder‘ hängen geblieben bin. Das könnte so um das Jahr 2000 herum gewesen sein. Ja, ich glaube, da gabs schon den Euro.“

„Dann muss es 2002 gewesen sein,“ unterbrach Nina, „denn seit dem 1.1.2002 gibt es den Euro.“

„Du weißt wohl alles … außer was ein Zitat ist…“ „… jetzt weiß ich auch das,“ warf Nina grinsend ein.

„Ja genau, du Schlaumeierin. Also bei der Firma habe ich die Disponentin Anja Trojan kennengelernt, mit der ich seit Mitte diesen Jahres zusammenlebe.“

„Dann ist Egon gar nicht dein richtiger Vorname, sondern Eliwon?“ fragte Nina verwundert.

„Gut aufgepasst, meine Zwecke,“ Egon fasste in seine rechte Hemdtasche, holte seinen Ausweis raus und reichte ihn Nina. Das Mädchen sah zuerst auf das Bild, dann suchte sie den Namen. Oben stand gleich der Familienname Lemma und darunter, tatsächlich Egon. Mit fragendem Blick gab Nina den Ausweis zurück.

„Ja, das ist eine Geschichte für sich… hör zu,“ Egon sah auf seine Uhr, „bis Anklam ist es noch eine Dreiviertelstunde, wir haben also Zeit. Ich habe gleich zur Wendezeit, im November 1989, mit 16 Jahren also, nachdem meine Eltern kurz vorher erfahren oder geahnt hatten, dass sie nach Äthiopien zurückmussten oder auch wollten, einen Antrag zur Einbürgerung gestellt. Ich glaube dieser Zeitpunkt ist der entscheidende, auch was meinen Vornamen anbetrifft. Ich habe also den Antrag ausgefüllt und mich gleich zu einem Gespräch angemeldet. Im Antrag schrieb ich meinen Vornamen richtig, also Eliwon, aber in Klammern Egon dahinter. Wenn du jetzt fragen willst, warum ich das getan habe, dann antworte ich dir, weil in der Schule mein Vorname ständig für irgendwelche Lästereien missbraucht wurde. Bei den Jungs konnte ich mich schnell durchsetzen, aber die Mädchen, die haben mir das Leben schon schwer gemacht, ganz besonders als die Pubertät begann. Das fing damit an, dass sie mich zuerst Elli nannten, dann folgten solche Sprüche wie, Eli wo(n) hast du eigentlich deinen …? Oder ähnliches. Ich hätte einfach drüber lachen können, aber mit vierzehn, fünfzehn Jahren, gelang mir das nicht. Also habe ich versucht diesen dummen Vornamen loszuwerden. Bei dem Gespräch zur Einbürgerung fragte mich die Frau, es war auch noch ein Mann anwesend, was der Name in Klammern bedeute, und ich antwortete: Das ist - so quasi - die Übersetzung aus dem amharischen, der offiziellen Amtssprache in Äthiopien. Die zwei rieten mir, Egon vor und Eliwon in die Klammern zu setzen. Das kam mir sehr entgegen, außerdem konnten die zwei die äthiopische Schrift in Amharisch auf der Geburtsurkunde nicht entziffern. So wurde Egon zu meinem Rufnamen und Eliwon blieb der unbedeutende Zweitname.“

„Aber Eliwon klingt doch schön,“ sagte Nina kopfschüttelnd, „es klingt fremd und ist doch einfach - und schön,“ wiederholte sie.“

„Na ja, aber ich wollte und ich will immer noch, lieber nicht auffallen,“ Egon sah zu seiner kleinen Freundin, „ich bin nach wie vor froh, Nina, dass ich jetzt Egon heiße.“ Er dachte nach, „das ist besser so.“

Nina fragte Egon noch über Äthiopien aus, als der plötzlich sagte, „Anklam, wir sind schon in Anklam. Jetzt muss ich aufpassen. Hier kenne ich mich nicht so gut aus.“

„Warum hast du kein Navi, Egon?“ Ihr neuer Freund schwieg. „Silke und Petra reden fast jeden Tag davon.“

Lemma hatte auch so ein Ding, aber das lag hier in einer Lade unterhalb des Armaturenbretts. Nun schämte er sich auch noch vor dem Winzling, weil er nicht damit umgehen konnte.

Zum Glück dauerte es nicht lange, da hatte er die Adresse gefunden. Nach nur vierzig Minuten war der LKW wieder beladen. Egon hielt auf der Straße, nachdem sie die Torausfahrt des Werkes passiert hatten.

„So, es ist jetzt 16:30 Uhr. Das heißt, Nina, unser Wochenende beginnt. Als erstes werde ich mal meinen alten Freund Brumm vom Bund anrufen, damit er Zeit hat, uns eine ordentliche Unterkunft zu besorgen.“

Egon zückte sein Handy, suchte kurz seine Kontaktliste durch, drückte auf den richtigen Eintrag, dann zweimal auf das Symbol Telefon und wartete. Nina konnte den Vorgang genau verfolgen, denn Egon hatte auf Mithören gestellt. Es piepte nur dreimal, dann ertönte eine Frauenstimme aus dem kleinen Lautsprecher. „Café Knatter, sie sprechen mit Marion Fromm. Was kann ich für sie tun.“

„Hallo, hier ist Egon Lemma. Ist denn mein Freund Brumm auch zu sprechen?“

Aus dem Telefon klang leises Lachen.

„Ach ja, entschuldigen sie, ich meine natürlich Herrn Knatter. Ist er denn da?“

„Kommt,“ sagte die Frau.

„Einwandfrei,“ murmelte Egon, hörte wie die Frau den Hörer ablegte und wegging. Kurz darauf vernahmen sie eine männliche Stimme, „Elli, die laufende Scheibe Nummer Acht! Das ist aber eine schöne Überraschung.“

Egon sah lachend zu Nina. „Brumm-brumm hast du ein Glück, dass ich meine neue Freundin schon aufgeklärt habe. Was macht deine TT-Bagage?“

„Bestens, bestens mein Freund, du wirst es kaum glauben, aber die haben mich schon gefragt, wann Onkel Egon mal wieder zu Besuch kommt. Tanja hat ja fast das erste Schuljahr so recht und schlecht hinter sich gebracht. Dafür würde der vierjährige Toni am liebsten mit seiner Schwester tauschen. Ich glaube, da habe ich bei der Zeugung irgendetwas falsch gemacht. Und du? Du hast eine neue Freundin? Wie heißt sie denn?“

„Das kann ich dir sagen, aber vorher eine andere Frage. Kannst du uns beide heute und morgen bei dir unterbringen?“

„Na klar Elli, für dich doch immer. Es reicht ja sicher ein Zimmer?“

„Das wird sich finden, wenn wir bei dir angekommen sind.“

„Mach‘s nicht so spannend mein Freund. Wann wollt ihr denn hier eintreffen?“

„Na, schätzungsweise in einer Stunde?“

„Also so gegen 17:30 Uhr?“