Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Zwei bereits mehrfach auf Protestdemonstrationen verhaftete, angehende Studenten, revoltieren und werden nach einer vorläufigen Festnahme von einem Beamten der Untersuchungsbehörde überzeugt, vom westlichen Ruhrgebiet in das östliche Chemiedreieck, LUNA - Beuna - Batterfield zu gehen. Dort, im ehemaligen LUNA-Werk, das inzwischen zur französisch-amerikanischen Firma OPA Industrial gehört, heuern sie als Anfahrhelfer für den Start-up des zweiten Produktionsstranges in der V-Fabrik an. Der in Düsseldorf lebende Detektiv Ernst Wolf erfährt davon und geht der eigenartig anmutenden Sache nach. Einen Sprengstoffanschlag kann Wolf nicht verhindern, aber vielleicht kann er zusammen mit seiner Mitarbeiterin Paula Peters und den bereits aus den veröffentlichten Büchern von Balladu bekannten Figuren, dem Operator Emil Balla, der Rechtsanwältin Gisela Schulz und dem Hauptkommissar Malte Schreyer, ein Fehlurteil an den zwei jungen Leuten verhindern? Vielleicht auch den Mörder zur Strecke bringen, den die Polizei allein nie fassen würde?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 497
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
In diesem Buch ist alles frei erfunden. Die Handlung, insbesondere die Aktionen der Geheimdienste, ist ein Werk der Fantasie.
Diese Feststellung gilt nicht nur für die Personen und Ereignisse, sondern auch für die chemische Fabrik, die es so nie gegeben hat.
Trotzdem hofft der Verfasser ein getreues Bild der Menschen in der Zeit nach der politischen Wende im Industriegebiet an der Saale, gegeben zu haben.
M.B.
Autor:
Max Balladu wurde 1943 in Neutitschein geboren. Er arbeitete als Ingenieur 24 Jahre in einem chemischen Großbetrieb, davon 14 in der DDR und 10 in der BRD. Balladu wohnte in Halle (Saale) und ab 1996 in Bennstedt. Seit 2009 schreibt er Bücher.
Inhalt:
Zwei bereits mehrfach auf Protestdemonstrationen verhaftete, angehende Studenten, revoltieren und werden nach einer vorläufigen Festnahme von einem Beamten der Untersuchungsbehörde überzeugt, vom westlichen Ruhrgebiet in das östliche Chemiedreieck, LUNA - Beuna - Batterfield zu gehen. Dort, im ehemaligen LUNA-Werk, das inzwischen zur französisch-amerikanischen Firma OPA Industrial gehört, heuern sie als Anfahrhelfer für den Start-up des zweiten Produktionsstranges in der V-Fabrik an.
Der in Düsseldorf lebende Detektiv Ernst Wolf erfährt davon und geht der eigenartig anmutenden Sache nach. Einen Sprengstoffanschlag kann Wolf nicht verhindern, aber vielleicht kann er zusammen mit seiner Mitarbeiterin Paula Peters und den bereits aus den veröffentlichten Büchern von Balladu bekannten Figuren: dem Operator Emil Balla, der Rechtsanwältin Gisela Schulz und dem Hauptkommissar Malte Schreyer, ein Fehlurteil an den zwei jungen Leuten verhindern? Vielleicht auch den Mörder zur Strecke bringen, den die Polizei allein nie fassen würde?
Namensverzeichnis
Wichtige Abkürzungen
Eiskalt
Sich fügen heißt lügen
Verschuldet - geschädigt - bezeugt
Kleine Ursache - große Wirkung
Auf den Hund gekommen
Oh Schreck! Der Strom ist weg!
Bombe - Bedrohung - Bilanz
Schalten und walten
Die Gedanken der Geheimen
So ein Zufall - 1. Teil
Zwei schräge Vögel
Zum Oskar
Start-up
Schabernack
So ein Zufall - 2. Teil
Stress im Kontrollraum
Ärger mit den Gasbrennern
Defekthexe
Rechnerisch - verführerisch - menschlich
Totalschaden
Ab in die Grube
Eine Reise nach Las Vegas?
Terrorwarnung
Verfolgen - fragen - finden - verhaften
Das Interview
Was tun?
Die Relativität der Wahrheit
So ein Zufall 3. Teil
Freund oder Feind?
Angriff - Finte - Riposte
Nachwirkungen
Der Prozess
Alles nur Theater?
Anhang: Die Götter, ihre Marionetten und der Mensch
Quellenverzeichnis
Balladu widmet diesen Roman den Beschäftigten in der chemischen Industrie sowie deren Sympathisanten.
Nach Vorliegen des 1. Manuskriptes auf etwa 1000 Seiten unter dem Arbeitstitel ‚Messwartengeschichten‘, haben es vier mutige Menschen
Ramona M.,
Doris und Ulf Z.,
Harald K.
geschafft, all das zu lesen. Ohne sie hätte Max Balladu es nicht gewagt, mit seinem Werk an die Öffentlichkeit zu gehen.
Der Autor schuldet Frau Anni Kloß Dank fürs Lektorat und H. F. Moritz für die Zurverfügungstellung der Zeichnung auf der Titelseite ebenso, wie Frau Elvira W. für die kritischen Hinweise nach der Veröffentlichung der ersten 4 Bücher.
Im Anhang zum bereits beim gleichen Verlag erschienenen Buch ‚Die Ede Ceh Story‘ befindet sich eine kleine zusammenfassende technologische Beschreibung der V-Fabrik mit einfachem Stoffflussschema.
Außerdem können sie sich zum besseren allgemeinen Verständnis der Technik, Technologie sowie der Struktur der Anlage und des Personals in den unterschiedlichen Zeitepochen auf den Webseiten:
www.mensch0815.de
und
https://maxballadu.wordpress.com/
umfangreich informieren.
Emil Balla
Operator V-Fabrik
Ernst Wolf
Privatdetektiv aus Düsseldorf
Paula Peters
Wolfs Mitarbeiterin
Otto Soitz
Elektroingenieur B-V-PLAST
Dr. Thomas Prost
Leiter der V-Fabrik
Anja Petersen
Mitarbeiter V-Fabrik
Gustav Müller (Müli)
Mitarbeiter V-Fabrik
Hans Stumpfberg
Mitarbeiter V-Fabrik, V-Experte
Franz Schmidt
Mitarbeiter V-Fabrik
Harry Kupfer
Mitarbeiter V-Fabrik, Oxi-Experte
Eva Paulus
Schichtleiterin V-Fabrik
Günther Hossa
Operator V-Fabrik
Fritz Hennecke
Operator V-Fabrik
Verona Deiner
Operator V-Fabrik
Marlies Streller
Operator V-Fabrik
Jonny Adler
Operator V-Fabrik
Joachim Zucker
Operator V-Fabrik
Tanja Rose
Operator V-Fabrik
Horst Schröder
Operator V-Fabrik
Bernd Bauer
Operator V-Fabrik
Jutta Vogt
Laborantin V-Fabrik
Alexander Schuster
Anfahrhilfe V-Fabrik
Daniel Hoffmann
Anfahrhilfe V-Fabrik
Ernst Kostinek
Anfahrhilfe, Chemiker V-Fabrik
Jörg Schuder
Elektroingenieur für B-V-PLAST
Bernd Sänger
Chef Instandhaltung B-V-PLAST
Rolf Werner
Ingenieur MTA
Bruno Tepetauer
Meister MTA
Dieter Herrbeck
MSR-Meister
Willi Löwe
OPA Produktionsleiter
Jose Enrico Amado
Leiter der V-Fabrik ab Mai 2003
Fritz Halmke
Projektingenieur
Ted Smith
Projektingenieur
Wolfram Mitschke
Projektleiter C-V-Anlage 2
Sowie die Bleistifte:
Christian Obmeier
Ingenieur, rechte Hand von Mitschke
Kirsten Hassmann
Ingenieur, linke Hand von Mitschke
Außerdem:
Beate Buhse
freie Journalistin
Jürgen Naumann
Major des Nachrichtendienstes der BRD (Nadies)
Wilhelm Vurtsch
Chef des deutschen Zweiges von Gladio (
1
), dem BDJ-09, einer Spezialeinheit des Geheimdienstes der BRD
Mehmet Coskun
Führer der Contragarde, des türkischen Zweigs von Gladio
Ali Celik
Agent der Contragarde, des türkischen Zweigs von Gladio
Oskar Flur
Gastwirt, Barkeeper in der Kneipe ‚Zum Oskar‘ in Düsseldorf
Malte Schreyer
Polizei-Hauptkommissar
Bergmann
Polizei-Hauptkommissar
Arnold Storl
Brandamtmann Feuerwehr
Gisela Schulz
Rechtsanwältin
Hubert von Seydlitz
Vorsitzender Richter
Dr. Stefan Moser
Staatsanwalt
Heino Waldmann
Rechtsanwalt
E
Ethylen - C2H4
B
Chlor - Cl2
O oder O2
Sauerstoff - Oxygen
C oder Ede Ceh
Ethylendichloride - EDC
HCl
Chlorwasserstoff
V
Vinylchloride - VC
PLAST
Polyvinylchlorid - PVC
W
Wasser - H2O
Kata K
Kupferchlorid - CuCl2
DR
Dry Return - Trocknungsrücklauf.
DS
Dry Supply - Trocknungsvorlauf. Der Ablauf des durch den Einbruch von Wasser gestörten Systems wird über die DR-Leitung zurück ins nasse C, in der Regel zum Nasstank gefahren, während über die DS-Leitung trockenes C aus dem Feedtank zur Trocknung der gestörten Anlage verwendet werden kann.
SWT
Sicherheitswaschturm
DC
Direktchlorierung von B und E zu C
Oxi
Oxichlorierung von HCl und E mit O zu C
RV
Rückstandsverbrennung
ENA
Energie- und Nebenanlagen
RKW
Rückkühlwasser
LFI
Leitender Fachingenieur
LOB: Die Gesellschaft ist 1995 aus der Privatisierung der LUNA-Werke, des Olefinwerks und Teilen von Beuna hervorgegangen.
OPA Industrial: Eine amerikanisch-französische Firma - Ouvrage de Paille -, die 1995 das schon etwas zu LOB geschrumpfte Kombinat VEB Chemische Werke LUNA, in dem bis zur Wende 18 Tausend Menschen beschäftigt waren, übernommen hatte. Heute arbeiteten hier noch circa 2000 Angestellte. Von den vielen alten Fabriken ist nichts mehr übrig geblieben bis auf die in den 70-er und 80-er Jahren gebauten Kautschuk und PLAST-Anlagen. Mit den von OPA an diesem Standort neu errichteten chemischen Fabriken gehört das Werk gegenwärtig zu dem modernsten Europa, vielleicht sogar der Welt.
OPA-CG: Darin bedeutet CG - Central Germany
Ouvrage de Paille: Kann man mit Stroharbeit übersetzen. Das Wort klingt vielleicht ein bisschen fremd, doch darin steckt der Gedanke der Natürlichkeit. Und genau das ist die Idee, dass der Name allzeit daran erinnert, dass der Mensch zwar danach trachten kann, künstlich der Natur so nahe wie möglich zu kommen, aber ohne sie zu gefährden. Zumindest waren das die Gedanken des Gründers von OPA Industrial, Pierre Camus, Anfang des 20. Jahrhunderts.
30. April 2002, OPA-Werk
D er Mann schreckte aus seinen Gedanken über den bevorstehenden Anfahrprozess hoch, als der PC ihn an die Besprechung mit seinem Chef Willi Löwe erinnerte. ‚Was wird er von mir wollen?‘, fragte er sich zum wiederholten Mal, seit er den Termin vor ein paar Tagen erhalten hatte und gestand sich nur widerwillig ein, dass es um seine Ablösung gehen könnte.
Der Leiter der V-Fabrik Dr. Thomas Prost war sich ziemlich sicher, dass das so sein würde.
Der schlanke, promovierte Ingenieur, der immer kurz geschnittene Haare bevorzugte, die sich inzwischen zusehends gelichtet hatten und der trotz sportlicher Figur und der Größe von einem Meter achtzig als eine eher unauffällige Erscheinung gelten konnte, arbeitete bereits vor der Fertigstellung der Fabrik im Jahr 1978 in der C-V-Anlage. Prost liebte es, wenn er richtig mit zupacken konnte, wenn Probleme zu lösen waren, die ganz und gar in seiner Verantwortung lagen. Die Weltanschauung dieses Mannes war geprägt worden durch katholische Erziehung, sozialistische Schule, Bücher mit progressivem, humanistischem und materialistischen Gedankengut sowie seine praktischen Lebenserfahrungen, die er sich bei der Armee, auf einer Bohranlage, bei der Arbeit an der Hochschule und natürlich während seiner praktischen Tätigkeit in verschiedenen Positionen in der V-Fabrik erworben hatte. Der zum 2. Mal, mit der gleichen Frau, verheiratete Prost, Vater von 4 Söhnen, von denen bereits 3 erwachsen waren und eigene Familien gegründet hatten, fühlte sich wohl mit seinem Job und glaubte noch Kraft genug zu haben, für die nächsten Aufgaben.
Kurz vor 14 Uhr machte Prost sich auf den Weg zu seinem Boss.
Löwe war 1995, als OPA Industrial das LUNA-Werk übernommen hatte, vom Bord of Directors zum Chef für alle Produktionsanlagen dieses Werkes ernannt worden. Der Manager war ein flinker und kluger junger Mann mit Schnauzbärtchen, untersetzter Figur, nicht größer als einen Meter 80, der beim Sprechen gern mit bestimmten Gesten seiner Hände den Worten mehr Verständlichkeit geben wollte. Der circa 40-jährige Löwe, so alt wie Prosts ältester Sohn, hatte bereits eine schnelle Karriere hinter sich. Der Job in LUNA war für viele OPA-Leute, natürlich auch für Löwe, ein entscheidender Karrieresprung. Notwendigerweise war der Manager auf eine gute fachliche Zusammenarbeit mit den Anlagenleitern angewiesen, weil er selbst mit diesen Technologien noch nichts zu tun gehabt hatte. Das klappte in der Regel auch, sodass sich ein gutes Verhältnis zwischen Löwe und den Betriebsleitern entwickelt hatte.
Der Chef kam Prost entgegen und drückte ihm die Hand. „Hallo Thomas, schön, dass du trotz des Ausfalls der Anlage gekommen bist.“
‚Das wird sich noch zeigen, ob das schön ist‘, dachte Prost und sagte laut, „was soll man machen, wenn der Chef ruft?“
„Setz dich, Thomas. Läuft denn die Anlage wieder?“
„Meine Leute sind zwar schnell, aber so schnell auch wieder nicht. Die Vorbereitungsarbeiten zum Neustart brauchen schon ihre Zeit, Willi. Aber die notwendigen Arbeiten laufen. Wir sind ein eingespieltes Team und unsere Leute arbeiten gut. - Noch sind es ja genug.“
„Ohne Spitze geht es nicht bei dir, was? - Wie steht es mit der Leichtsiederkolonne?“
„Ach, die siedet so leicht vor sich hin. Gott sei Dank, ohne gleichzeitig zu polymerisieren.“
„Das bedeutet, dass ihr das Problem gelöst habt?“
„Wir hoffen es.“
„Das freut mich.“
Nach kurzer Pause setzt Löwe das Gespräch fort. „Du bist jetzt sechsundfünfzig Jahre alt?“
„Da muss ich erst rechnen.“ Prost sah demonstrativ auf seine Finger. „Du könntest Recht haben.“
„Ich werde dich noch in diesem Jahr als Betriebsleiter der V-Fabrik ablösen.“
Obwohl Prost damit gerechnet hatte, gab ihm dieser Satz einen Stich ins Herz, aber er zuckte nicht mit der Wimper. - Das glaubte er zumindest.
„Dann kannst du dich ganz auf das Anfahren von Anlage 2 konzentrieren. - Danach gehst du in Altersteilzeit.“
„Wer wird mein Nachfolger?“
„Eigentlich hatten wir Harry Kupfer darauf vorbereitet. Aber wir haben unsere Pläne geändert. Dein Nachfolger wird Jose Amado.“
Prost, dem vor Staunen kurz der Mund offen stehen geblieben war, schüttelte den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst, Willi?“
„Aber ja. Traust du ihm das nicht zu? Ich kenne Jose schon lange. Das sollte kein Problem für ihn sein.“
Prost dachte, ‚das könnte auch für ganz andere Leute ein Problem sein‘. „Ich habe ihn nur kurz kennengelernt. Das war nicht überzeugend.“
Als Sohn wohlhabender Eltern hatte der in Buenos Aires geborene Amado in den USA Chemical Engineering studieren können. Nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums erhielt er einen Job bei OPA Industrial und war inzwischen schon in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichsten Aufgaben eingesetzt worden. Seit 1995 konnte er sich in LUNA Lorbeeren verdienen und war sich für keine Aufgabe zu schade. So musste Amado sich am Anfang mit der Einführung der OPA Works Prozesse am neuen Standort beschäftigen, einem total bürokratischen Vorgang, der vergleichbar war mit der Auswertung und Durchsetzung von SED-Parteitagsbeschlüssen. Bei einer solchen Aktion hatte Prost den Argentinier Amado kennengelernt. Aber der strebsame, inzwischen 50-jährige Mann kalkulierte richtig, dass man ihm dafür früher oder später doch einen Führungsposten zukommen lassen würde.
„Die Sache ist entschieden!“, sagte Löwe betont energisch, „ich gehe davon aus, dass du ihm hilfst, sich einzuarbeiten. Jose ist fleißig und lernt schnell.“
„Was wird mit Kupfer?“
„Harry bleibt im Projektteam für Anlage 2, bis diese angefahren ist. Dann wird er wieder Produktionsingenieur in der V-Fabrik. Hast du sonst noch Fragen?“
Der diplomierte, 50-jährige Chemiker Kupfer war zehn Jahre jünger als Prost und ein stattlicher, attraktiver Mann. Nach der Zusammenlegung der beiden Abschnitte C und V Anfang 1991 wurde der ehemalige Leiter des Bereichs C der zuständige Fachingenieur für die Anlagenteile Direktchlorierung, C-Destillation, Rückstandsverbrennung und später auch der Oxichlorierung. Außerdem war Kupfer bereits vor 12 Jahren Prosts Stellvertreter geworden, seit der den Job als Betriebsleiter der V-Fabrik übernommen hatte.
„Wann kommt Jose zu uns in die Anlage? Wie viel Zeit gibst du ihm zur Einarbeitung?“
„In zwei Monaten kommt er zu euch. Ende des Jahres wird er Leiter der Fabrik und du bist dann nur noch Anfahrleiter für Teilanlage 2. Also hat er etwa vier Monate zur Eingewöhnung.“
„Okay Willi, war’s das?“
„Ja. - Du hast es wohl eilig?“
‚Ich will nur raus aus deinem Dunstkreis‘, dachte Porst und antwortete laut, „nein, aber erstens wollen wir ja die Anlage nach dem Ausfall wieder anfahren und zweitens muss ich unbedingt noch heute mit den Bleistiften von Mitschke sprechen.“
Löwe lachte ein wenig. „Wer sind die Bleistifte?“
„Das sind die linke und die rechte Hand des Teufels. Hervorragende junge Ingenieure, ohne die der Satan aufgeschmissen wäre. Doch die beiden sind ihm treu ergeben. Trotzdem arbeiten sie auch sehr gut mit uns zusammen.“
„Siehst du ernste Schwierigkeiten mit Mitschke als Projektleiter, Thomas?“
„Ich weiß nicht, warum ihr das nicht verhindert habt, Willi, dass der Ossis verachtende Wessi, Projektleiter anstelle von Blücher werden konnte. Jetzt ist es für Änderungen sowieso zu spät. Es wird haarig zugehen, aber wir kriegen das in den Griff. - Eben auch wegen der Bleistifte.“ Prost war bei seinen letzten Worten aufgestanden.
„Okay, Thomas, ich hoffe, dass du recht hast. Viel Erfolg.“
„Danke, gleichfalls.“
Sie drückten sich die Hände und Prost verschwand aus Löwes Büro.
Draußen atmete er erst einmal tief durch.
‚Der ist ja eiskalt’, dachte Prost, ‚ob dem gar nicht klar ist, wie demotivierend das auf mich wirkt in Bezug auf die nicht ganz anspruchslose Aufgabe der Leitung des Anfahrens der neuen Anlage? Oder ist ihm das scheißegal? ’
Doch im Unterschied zu seinen OPA-Managerkollegen hatte Löwe wenigstens den Mut gehabt, diese negative Sache selbst zu regeln und nicht die ehemaligen DDR-Personalleute dafür vorzuschieben. Solche Fälle hatte der Betriebsleiter schon mehrfach mit Abscheu beobachtet.
Wie der Zufall es wollte, traf Prost bei seiner Rückkehr zum neuen Messwartengebäude seinen Freund, langjährigen Stellvertreter und C-Experten Harry Kupfer bereits auf dem Parkplatz an. Das war gut, denn hier konnten sie ungestört reden.
Prost sagte sofort, was Sache ist. „Soeben hat mich Löwe als Leiter der C-V-Anlage abgelöst. Mein Nachfolger wird Jose Amado.“
Kupfer sah Prost in die Augen. „Ich habe mir schon beinahe so etwas gedacht ...“ Er stutzte. „Wer wird dein Nachfolger?“
„Jose Enrico Amado.“
Kupfer lachte kurz auf. „Das ist nicht dein Ernst. - Dass ich das nicht sein werde, das ahnte ich schon und bin damit auch zu frieden. Früher wollte ich das, aber inzwischen habe ich es mir anders überlegt. - Aber Amado? Das kann doch nicht gut gehen. Was denkt sich Löwe dabei? Ich habe Willi bisher immer für einen vernünftigen Menschen gehalten. Soll ich mich da so geirrt haben?“
Prost klopfte Harry auf die Schulter. „Mir fällt ein Stein vom Herzen, dass du so gelassen reagierst. Ich hätte dich gern als meinen Nachfolger gesehen, aber die Personalpolitik von OPA ist noch bescheuerter, als die Kaderpolitik zu DDR-Zeiten. Das hat mit fachlicher und charakterlicher Eignung absolut nichts zu tun.“
Harry schüttelte den Kopf. „Ich bin immer noch sprachlos. - Wann soll das zur Wirkung kommen?“
„In zwei Monaten kommt Amado zur Einarbeitung. Ende des Jahres soll er die Leitung übernehmen und ich bin dann nur noch Anfahrleiter. Wenn auch der zweite Teil der Anlage läuft, soll ich in Altersteilzeit gehen und werde aufs Altenteil geschoben, was auch immer das bedeutet.“
Kupfer sah wieder Prost in die Augen. „Du nimmst das sehr ruhig auf? Ich staune.“
„Harry, es geht mir nur, wie allen anderen auch. Das ist halt heute so und ändern kann ich ohnehin nichts daran. Also, was soll’s?“
Dass es in Prost doch etwas anders aussah, wollte er sich auf keinen Fall anmerken lassen. Damit musste und wollte er ganz allein fertig werden.
Nach einer kurzen Pause fragte er Kupfer, „was hast du dir bezüglich Oxichlorierung überlegt, Harry?“
Der nahm seinen Helm vom Kopf. „Lass uns zusammen noch einmal in der Messwarte auf die Anzeigen sehen und dann entscheiden wir, was zu tun ist.“
Kupfer ging vorne weg und Prost folgte ihm immer noch mit den gleichen Gedanken beschäftigt.
Diese Art Personalpolitik lief wohl nach dem Motto:
‚Einen Finger kann man brechen. ‘ (1)
Prost kannte zwar auch den 2. Teil des Spruchs von Ernst Thälmann: ‚Fünf Finger sind eine Faust‘ (1), aber in diesem Falle war er ein Alleinkämpfer, da konnte ihm niemand helfen.
1. Mai 2002, Düsseldorf
Eine Gruppe aneinander geketteter Frauen und Männer marschierte mitten im Demonstrationszug auf der Straße und skandierte:
„10 Prozent! 10 Prozent! 10 Prozent!“
Ein Mann im schwarzen Anzug, mit ebenso schwarzem Schlips und großem schwarzen, zylinderförmigem Hut schritt Zigarre rauchend majestätisch vor dieser Gruppe einher.
Eine andere Person, bekleidet mit einem T-Shirt, auf dem in Großbuchstaben DGB stand, löste sich aus der Gruppe und schloss zu dem Hutmann auf.
„Herr Kapitalist erhöhen sie den Lohn der Arbeiter auf 10 Prozent?“
Der Gefragte schüttelte den Kopf und nahm erneut einen tiefen Zug aus seiner Zigarre.
Die Arbeiter forderten weiter:
„10 Prozent! 10 Prozent! 10 Prozent!“
Plötzlich drehte sich der Kapitalist um, zeigte willkürlich auf die Frau in der Gruppe der Arbeiter und brüllte:
„Sie sind gefeuert! Gefeuert!“
Betrübt ließen die Arbeiter die gefesselten Arme sinken.
Die kleine Theatergruppe ‚Massaka‘ (2) wiederholte diese Szenen im Verlaufe der Demonstration immer wieder.
Plötzlich stürzten sich vermummte Gestalten auf den Hutmann, den Kapitalisten, rissen ihm die Zigarre aus dem Mund und zerrten an seinem Anzug. Im Unterschied zu den Zuschauern auf den Gehwegen wusste die Gruppe, dass das nicht zu ihrer Vorstellung gehörte.
Die meisten Schauspieler blieben entsetzt stehen und warteten unentschlossen ab, während die soeben vom Unternehmer gefeuerte Person sich mutig auf die Angreifer stürzte und versuchte, ihrem Theaterfreund zu helfen. „Ihr Idioten! Das ist doch einer von uns! Lasst ihn zufrieden!“
Die temperamentvolle Frau versuchte sich zwischen die Männer zu drängeln, um an ihren Kollegen heranzukommen, doch derbe Faustschläge warfen sie zurück und sie landete auf der Straße. Trotz des harten Aufpralls rappelte sich die Frau schnell wieder auf und stürzte sich erneut auf die Vermummten.
Sie wäre unweigerlich wieder auf der Straße gelandet, wenn ihr aus dem Publikum nicht zwei junge Männer zu Hilfe gekommen wären. So wurde das Kräfteverhältnis ausgeglichener.
Der eingekreiste Hutmann, inzwischen natürlich ohne Hut, kam frei, und als die vier Verteidiger sich nun gemeinsam wehren konnten, stürmten die Vermummten plötzlich davon.
Nur eine Sekunde später stoppte ein Polizeiauto mit kreischenden Bremsen, vier Polizisten sprangen heraus und nahmen die aus dem Kampf zurückgebliebenen drei Männer und eine Frau fest, obwohl die eigentlich die Opfer des Überfalls waren.
„Sie sind von uns auf frischer Tat wegen Unruhestiftung erwischt worden und werden deshalb vorläufig festgenommen!“, sagte emotionslos ein Obermeister.
„Seid ihr denn total bescheuert?“, schrie die Frau, „wir wurden angegriffen!“ Sie zeigte in eine Seitenstraße hinein. „Da! Da hinten laufen die Angreifer!“
Die Polizisten ließen sich von ihrem Tun nicht abbringen, sie legten den Verhafteten Handschellen an.
Während die Männer schwiegen, schimpfte die Frau weiter, „machen sie sofort die Handschellen wieder ab. Da“, sie zeigte auf den Mann im nunmehr zerrissenen schwarzen Anzug, „der ‚Kapitalist‘ ist überfallen worden und wir haben ihm geholfen. Also?“
Für einen Moment stutzten die Polzisten, tauschten untereinander Blicke aus, doch dann schüttelte der Obermeister seinen Kopf und fragte, „können sie sich ausweisen?“
„Soweit kommt das noch! Wir! Verdammt noch mal! Wir sind die Guten!“, schrie die Frau und wollte sich losreißen, aber ein Polizist hielt sie fest.
„Bitte verhalten sie sich ruhig“, sagte der Oberpolizist und wandte sich seinen Kollegen zu, „wir nehmen alle mit aufs Revier. Dann sehen wir weiter.“
Immer noch schimpfend ließ sich die Frau zu den anderen ins Auto schieben.
Am Nachmittag des gleichen Tages saß Paula Peters ihrem Partner, dem Privatdetektiv Mike Hammer, alias Ernst Wolf, in der kleinen gemütlichen Sitzecke ihres Büros gegenüber. Beide hatten ein Glas Wasser vor sich auf dem Tisch zu stehen.
„Du siehst ganz schön verbeult aus, Äpfelchen“, Wolf grinste seine attraktive Mitarbeiterin schelmisch an.
„Danke Wölfchen, dass du uns da rausgeholt hast und nicht nur mich, sondern auch meinen Kollegen vom Theater und die beiden uneigennützigen Helfer.“
„Ja, die zwei, die dir und deinem Freund geholfen haben, sind sympathische junge Leute, obwohl sie schon ein ziemlich langes Strafregister aufweisen können.“
„Umgekehrt Ernst. Gerade deshalb sind sie sympathisch.“
„Möglicherweise hast du Recht Paula. Kennst du die zwei schon von früher?“
„Nein, aber stell dir vor, was passierte, als ich in der Zelle begann, Erich Mühsams Gedicht ‚Der Gefangene‘ zu zitieren:
Ich hab's mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen! ‘
Das ernste Gesicht meines Theaterkollegen hellte sich auf und er fuhr fort:
Ich soll? Ich muß? - Doch will ich nicht
nach jener Herrn Vergnügen.
Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
Rebellen kennen beßre Pflicht,
als sich ins Joch zu fügen.
Sich fügen heißt lügen! ‘
Aber dann haben wir beide dumm aus der Wäsche geguckt, als die beiden das Spiel fortsetzten. Erst der eine, Alexander Schuster:
Der Staat, der mir die Freiheit nahm,
der folgt, mich zu betrügen,
mir in den Kerker ohne Scham.
Ich soll dem Paragraphenkram
mich noch in Fesseln fügen.
Sich fügen heißt lügen! ‘
Und dann der andere, Daniel Hoffmann:
Stellt doch den Frevler an die Wand!
So kann's euch wohl genügen.
Denn eher dorre meine Hand,
eh ich in Sklavenunverstand
der Geißel mich sollt fügen.
Sich fügen heißt lügen! ‘
Gemeinsam zitierten wir, zwischendurch lachend und deshalb wohl auch ziemlich unrhythmisch, die letzte Strophe des Gedichts:
Doch bricht die Kette einst entzwei,
darf ich in vollen Zügen
die Sonne atmen - Tyrannei!
Dann ruf ich's in das Volk: Sei frei!
Verlern es, dich zu fügen!
Sich fügen heißt lügen! (3)‘
Was sagst du dazu, Ernst?“
„Das Gedicht gefällt mir. Damit werde ich beim nächsten Treffen Balla überraschen.“
„Das kennt unser Seemann bestimmt!“
„Trotzdem wird er sich wundern, dass ich es auch kenne. Kannst du mir den Text aufschreiben?“
Die Peters reichte ihm wortlos ein kleines Reclam Heftchen.
„Das ist gut. Danke. - Aber lassen wir die Dichterei. - Was weißt du noch von deinen Rettern? Das sind ja beides stattliche Kerle, über einen Meter 95 groß.“
„Daniel Hoffmann …“
„Ist das der Rötlich-blondlockige?“
„Nein, das ist der andere, Alexander Schuster. Daniel ist der etwas schlankere, dunkelhaarige Mann mit braunen Augen. Er will Schauspieler werden. Na ja, eigentlich sogar Regie studieren. Aber du kannst dir vorstellen, dass es sehr schwer ist, dafür einen Studienplatz zu bekommen. Also hat er nach dem Abitur, das er vor fünf Jahren abgelegt hat, schon in etlichen Jobs gearbeitet.“
„Das ist ja interessant. Was sind denn seine Eltern von Beruf?“
„Der Vater arbeitet in der Geschäftsführung der Henkel AG in Düsseldorf und verdient genug Geld, sodass die Mutter nicht arbeiten muss. Allerdings kommt wohl aus ihrer Richtung der künstlerische Tatsch des Sohnes, denn die Frau hat Kunst und Musik auf Lehramt studiert, aber diesen Beruf nicht lange ausgeübt. Sie besitzt jetzt ein kleines Atelier, in dem sie sich vor allen Dingen mit Malerei beschäftigt. Das kann Daniel übrigens auch nicht schlecht. Der hat uns vier in der Zelle verewigt …“
„Ha, ha, ha, verewigt, morgen wird die Zelle neu geweißt …“
„Stimmt, aber auf alle Fälle waren unsere Gesichter gut erkennbar. - Schade.“
„Und was ist mit dem anderen?“
„Der etwas bulligere Alexander Schuster, also der mit dem rötlichen Schopf, ist ein Jahr älter. Er hat 1996 in seinem Geburtsort Bochum Abitur gemacht. Er liebt jede Art von Musik, und obwohl er auch in die Mathematik vernarrt ist, möchte er am liebsten Komposition studieren. Es geht ihm diesbezüglich aber wie Hoffmann, denn auch er hat sich bisher vergeblich an Universitäten und Hochschulen beworben. Deshalb hat Alex ebenfalls bereits in verschiedenen Jobs gearbeitet, unter anderem auch bei der Boechst in der Nähe von Köln, was ihm auch sehr gut gefallen haben soll. Bei seinen Eltern verhält es sich genau umgekehrt, da betätigt sich der Vater als heimlicher Künstler, obwohl er als Lohnarbeiter bei der Adam Opel AG beschäftigt ist. Die Stille Liebe des alten Herrn gilt ebenfalls der Musik, er kann mehrere Instrumente spielen und hat auch schon eigene Lieder und Gedichte für den Hausgebrauch verfasst.“
„Wieso sind die beiden …“ Wolf brach ab, „… Quatsch! Ich wollte gerade die Frage stellen, wieso die beiden denn dann ständig mit der Polizei zusammengestoßen sind? Aber das zu fragen ist Unfug, denn den jungen Leuten sind ihre Eltern sicher zu angepasst, zu spießig, zu …“
„… intolerant. - Es ist so, wie bei vielen jungen Leuten. Sie wollen gegen die etablierte Gesellschaft revoltieren! Unsere zwei empfinden am ehrlichsten anarchistische Ideen. Alles andere kommt ihnen spießig vor. Mir geht es ja eigentlich genauso, aber ich verurteile die Eltern nicht.“
Nach diesen Worten schwiegen beide für ein paar Minuten.
Die inzwischen über 40-jährige, aber immer noch sehr jugendlich wirkende Frau, musste an ihre Sturm und Drangzeit vor nunmehr 20 Jahren denken und vermerkte mit Befriedigung und ein wenig Stolz, dass sie sich ihre revolutionäre Grundhaltung bewahrt hatte.
Paula Peters brach 1977 ihr Studium an der juristischen Fakultät der Ruhruniversität Bochum im vierten Jahr ab. Sie schloss sich demonstrierenden Studenten an, die gegen die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart protestierten und versuchte sich der Organisation anzuschießen, aber das gelang ihr nicht. Bevor die junge Frau im September desselben Jahres in einer fast dramatischen Begegnung auf Ernst Wolf traf, verdiente sie für kurze Zeit ihren Lebensunterhalt durch Prostitution. Fast jeder, der Paula Peters das erste Mal traf, fand sie beinahe hässlich. Sie besaß zwar schöne dunkle, nahezu schwarze Haare, aber das herbe, nüchterne, fast kantig wirkende Gesicht verbunden mit der sehr schlanken, ihre weiblichen Formen scheinbar versteckenden Figur, ließen sie ziemlich nüchtern und viel älter aussehen, als sie tatsächlich war. Sobald sie jedoch lächelte und sich bewegte verwandelte die Frau sich in einer zehntel Sekunde von einem hässlichen Entlein in ein begehrenswertes junges und schönes Weib. So war es auch Ernst Wolf bei ihrer ersten Begegnung gegangen, denn trotz der schlichten Kleidung mit meistens hellgrüner Bluse, die aber bei jeder Bewegung die schöne Form der Brüste - Paula trug grundsätzlich keinen BH - sichtbar machte und den blauen Jeans, die ihre Beine und ihren Po mit jedem Schritt sexuelle Impulse aussenden ließ, bestach die Frau mit der Natürlichkeit ihrer Bewegung.
Der zehn Jahre ältere Mann betrachtete lächelnd seine Mitarbeiterin, ohne dass diese es bemerkte. Paula sah heute fast genauso lädiert aus, wie vor 20 Jahren, als er sie kennengelernt hatte. Ihre, im Vergleich zu seinen, sehr ähnlichen Auffassungen vom Leben, einschließlich grundsätzlicher politischer Ansichten, hatten zu einer dauerhaften Freundschaft geführt, die in ihrer gemeinsamen Detektivarbeit für Menschen, die vom herrschenden System belogen und betrogen worden sind, ihren Ausdruck fand. Das hatte wohl dafür gesorgt, dass auch aus ihm kein Spießer geworden war.
Der ehemalige Polizist und nunmehr seit über zwanzig Jahren freiberuflich tätige Detektiv Mike Hammer, mit richtigem Namen Ernst Wolf, hatte sich von dem Romanhelden von „Mickey“ Morrison Spillane (4) den Namen geliehen, weil er glaubte, dem ein bisschen zu ähneln. Seine Größe von einem Meter einundneunzig, die schwarzen, immer etwas ungepflegt aussehenden Haare sowie die dunklen graublauen Augen sprachen dafür. Wenn er sich außerdem den kleinen Schnurrbart anklebte, per Maske eine künstlich zurechtgemachte, vielleicht etwas übertriebene Boxernase anlegte und dazu noch seinen klassischen Hut aufsetzte, wurde er diesem zum Verwechseln ähnlich. Das Schaffen dieses Aussehens war keine Eitelkeit seinerseits, sondern ein pfiffiger Schachzug. Jedem prägte sich sofort die Mike Hammer Person ein, sodass es ein Leichtes für Wolf war, sich schnell und unauffällig in eine völlig andere Person zu verwandeln. Insbesondere die dann gerade und fast zierliche Nase, der verschwundene Bart sowie der fehlende Hut bewirkten, dass niemand auf die Idee kam, in der neuen Person den Mike Hammer wiedererkennen zu wollen. Das schien schlichtweg unmöglich. Wolf hatte 1963 Abitur gemacht, wurde zum Militär eingezogen, diente noch drei Jahre freiwillig beim Bund und wurde anschließend Polizist. Nach einem katastrophalen Einsatz bei einer Friedensdemonstration kündigte er nach zwei Jahren den Dienst und fuhr drei Jahre zur See. Trotz schlechter Erfahrungen zog es ihn aber wieder hin zur Polizeiarbeit. Er besuchte von 1971-1975 eine Polizeifachhochschule und wurde Kriminalkommissar. Nach zwei Jahren hatte er wieder die Schnauze voll. Er wurde Privatdetektiv.
Wolf schüttelte in Gedanken versunken seinen Kopf. Die Zeiten hatten sich nicht geändert. Genau wegen solcher Polizeieinsätze hatte er den Dienst quittiert.
„Wir müssen uns um die Jungs kümmern, Ernst, sonst knöpft sich die Polizei die beiden noch einmal vor. Und bei ihrem …“
Wolf schreckte aus seinen Gedanken auf. „Was hast du gesagt, Paula?“
„Ich habe Sorge, Ernst, dass meine Retter noch nicht aus dem Schneider sind.“
„Vielleicht nicht nur das.“
„Was willst du damit sagen, Ernst?“
„Ich habe in der Vergangenheit schon erlebt, wie Menschen in ähnlicher Situation von zwielichtigen politischen Organisationen …“
„… eingespannt worden sind?“
Wolf nickte nachdenklich. „Aber wie hat mein Freund, der Seemann Emil Balla, so schön zitiert? ‚Einen Finger kann man brechen. Fünf Finger sind eine Faust. ‘ (1) Dieses Motto passt doch auch zu uns.“
„Ja. Das klingt gut. Mit Balla, Hossa und Prost sind wir ja auch fünf. Hat Emil sich das ausgedacht, Ernst?“
„Ich glaube nicht, obwohl ich ihm das auch zutraue.“
„Ich werde ihn irgendwann mal selber fragen.“
Beide schwiegen einen Moment, weil ihre Gedanken wohl bei ihrem Freund in den neuen Bundesländern weilten.
Emil Balla, der inzwischen 50-jährige, einen Meter achtzig große, meistens unrasierte Operator mit dunklen, immer ziemlich kurz geschnittenen Haaren hatte nicht nur zwei Jahre bei der NVA gedient, sondern war danach noch drei Jahre auf dem 10.000-Tonnen-Stückgut-Frachter ‚Leipzig‘, der zur Schiffbaureihe Typ IV ‚Frieden‘ gehörte, zur See gefahren. Den von Körper und Statur eher unauffälligen Typ hielten Fremde für einen gutmütigen Idioten, weil der Mann immer in besonders verdreckter Arbeitskleidung herumlief. Außerdem konnte es durchaus vorkommen, dass er laut zu singen begann, wenn ihm danach zumute war, „1000 Mann auf des toten Manns Kiste, ho hoho und ‚ne Buddel voll Rum“, und anschließend auf einem Plasterohr so laut zu trompeten, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Er tat alles, um dieses Bild eines gutmütig-trotteligen Spinners aufrechtzuerhalten. Nur die langjährigen Freunde und Kollegen wussten, dass Balla ein einsatzstarker, intelligenter und fleißiger Anlagenfahrer war, der außerdem über ein beeindruckendes Allgemeinwissen verfügte. Seit 1979 verband Wolf und Balla eine enge Freundschaft, die trotz des Eisernen Vorhangs zustande gekommen war und sich über Jahrzehnte vertieft hatte.
„Aber wie bilden wir nun die Faust für unsere Revoluzzer?“, griff die Peters den ursprünglichen Gedanken wieder auf.
„Vorerst können wir leider gar nichts tun, Paula.“
„Vielleicht kann ich sie an unser Theater binden, dann könnte ich sie wenigstens im Auge behalten.“
„Das ist eine gute Idee, Äpfelchen.“ Wolf lächelte schelmisch seine Partnerin an.
„Ja, ja, lach du nur. Ich weiß schon, dass ich deren Mutter …“
„Du bist eine schöne Frau, Paula!“
„… sein könnte. Aber der Daniel wirkt auf mich geradezu magisch. - Da könnte ich schon … - Ach was. Ich hole die Revoluzzer zu unserer Theatergruppe und werde sie dadurch im Auge behalten können. - Beide.“
1. Juli 2002, Straße vor dem OPA-Werk
Anja Petersen bog mit ihrem kleinen Fiat in Gedanken versunken und mit einem Lächeln auf den Lippen, vom Parkplatz vor den außerhalb des Betriebsgeländes liegenden Gebäuden kommend, an der Ampel nach links zum Werktor ein. In der vorigen Woche hatte sie erfolgreich das Einstellungsgespräch mit dem Leiter der V-Fabrik absolviert und heute am Vormittag den erforderlichen Bürokratismus und die ärztliche Untersuchung hinter sich gebracht. Jetzt freute sie sich auf die Anlage und ihre neuen Kollegen.
Die 33-jährige, nicht einmal einen Meter 60 große, aus der Sicht der Männer gut proportionierte, braunäugige Frau mit dunklen, fast schwarzen, lockigen Haaren, die ihr nicht ganz bis zu Schulter reichten, hatte bereits vor 10 Jahren an der Technischen Hochschule in Merseburg mit einem Diplom auf dem Gebiet der Verfahrenstechnik ihr Studium abgeschlossen und war anschließend ins Ruhrgebiet gegangen, weil ihr die Zukunft der ostdeutschen chemischen Industrie zu ungewiss erschien. Vor ein paar Monaten hatte die Petersen von Neueinstellungen im OPA-CG-Werk in der Nähe von Halle gehört und sich beworben, weil es sie in ihre ostdeutsche Heimat zurückzog.
Die amerikanisch-französische Firma OPA Industrial hatte 1995 das, schon etwas geschrumpfte Kombinat VEB Chemische Werke LUNA, in dem zur Wende noch 18 Tausend Menschen beschäftigt waren, übernommen. Heute arbeiteten hier noch circa 2000 Frauen und Männer. Von den vielen alten Fabriken war nichts mehr übriggeblieben, bis auf die in den 70-er und 80-er Jahren gebauten Kautschuk, B, C-V und PLAST-Anlagen. Mit den von OPA in diesem Standort neu errichteten chemischen Fabriken, gehörte das Werk gegenwärtig zu dem modernsten in Europa, vielleicht sogar der Welt.
Plötzlich vernahm die frischgebackene Lunesin lautes Quietschen, gefolgt von einem kräftigen Schlag gegen ihr Auto. Sie wurde nach vorn geschleudert und prallte gegen den sich aufblähenden Airbag, während ihr Fahrzeug sich um die Längsachse drehte, zur Seite rutschte und stehen blieb.
Die junge Frau sah sich verstört um, versuchte mühsam sich zu bewegen, als von außen die Fahrertür aufgerissen wurde.
„Sind sie okay?“, hörte sie eine gedämpft klingende Stimme, doch noch bevor sie den Sinn der Worte begriff und antworten konnte, redete der Mann weiter, „warten sie. Ich helfe ihnen auszusteigen.“
Die Petersen setzte die Beine nach draußen, schob ihren Oberkörper am Airbag vorbei und stieg aus.
Der freundliche Helfer hielt sie immer noch am Arm fest. „Geht’s?“
„Glaub schon. - Ich kann - allein - stehen. - Was ist passiert?“
„Der Audi“, der Mann zeigte nach hinten, „ist ihnen in die Seite gefahren. Sie waren ein bisschen zu früh, aber er eindeutig zu spät!“
„Ist jemand verletzt?“ Anja versuchte sich umzudrehen, um nach dem anderen Auto zu sehen, konnte aber nichts erkennen.
„Ich glaube nicht. - Und sie? Sind sie wirklich okay?“
„Ja, ja. - Aber sagen sie, war ich schuld?“
„Nein. Auf keinen Fall. Der Audi ist bei Rot gefahren.“
„Darf ich sie fragen, wie sie heißen?“ Die Frau zögerte einen Moment und fügte dann noch erklärend hinzu, „sie sind ja mein Zeuge - sozusagen.“
„Mein Name ist Horst Schröder. Ich arbeite im B-V-PLAST-Komplex.“
„Oh! Das ist ja interessant. Da arbeite ich auch.“
„In der B oder in der PLAST-Anlage?“
„In der V-Fabrik, bei Dr. Prost. Kennen sie den?“
„Das verstehe ich nicht“, Schröder schüttelte seinen Kopf, „wie heißen sie denn?“
„Oh! Entschuldigen sie, mein Name ist Anja Petersen - und ich wollte heute eigentlich …“
„Haben sie denn keine Augen im Kopf?!“ Ein schlanker, über einen Meter 80 großer Mann mit leicht gekräuselten, dunkelblonden Haaren baute sich vor Anjas Auto auf und sah auf die kleine Frau herunter, „sie hätten mich doch sehen müssen!“
„Was, du Soitz? Ist das etwa dein Audi?“, fragte Schröder, der zehn Zentimeter kleiner als der andere, aber genau dieses Maß größer als die Frau war und stellte sich schützend vor die zierliche Person. „Du bist doch eindeutig schuld. Wieso regst du dich eigentlich so auf?“
„Unsinn Schröder! Die Frau hat nicht aufgepasst. Sie hätte doch bremsen können.“ Soitz hielt die Hände vor sich hin, als würde er das Steuer in den Fäusten halten und lehnte sich, wie bei einem Bremsversuch, zurück.
Anja sah diese Bewegung, die sie irgendwie sympathisch fand und musste trotz der misslichen Situation lächeln. „Entschuldigen sie. Sie haben ja vielleicht Recht. Ich war noch ganz in Gedanken …“
„Sag ich doch …“
„Quatsch kein Blech, Otto, du hast doch gerade genug von der Sorte fabriziert. Du bist schuld und das werde ich auch bezeugen.“ Schröder zeigte zur Kreuzung, „da kommt ja schon die Polizei.“
Die Petersen und Soitz drehten sich um. Zum Glück war durch den Unfall die Kreuzung nicht blockiert, sodass dort der Verkehr weiter reibungslos laufen konnte. Lediglich die eine Seite der Zufahrt zum Werk war durch die defekten Autos versperrt. Aber die Wachleute am Tor hatten nicht nur die Unfallstelle abgesperrt, sondern auch die Zufahrt über die andere Spur, die sonst nur zur Ausfahrt diente, umgeleitet.
Nachdem die Polizisten die beiden Fahrer und den Zeugen befragt hatten, fuhren sie wieder zurück zum Polizeirevier, weil inzwischen auch die Abschleppwagen eingetroffen waren und es für sie nichts mehr zu tun gab.
Soitz sah zu, wie sein Auto aufgeladen wurde, sprach kurz mit dem KFZ-Mechaniker und stellte sich dann an den Straßenrand, wo er auf seinen Kollegen warten wollte, den er kurz zuvor angerufen hatte.
Parallel dazu war Anjas Auto auf einen ähnlichen Transporter geladen worden. Schröder war die ganze Zeit der Frau nicht von der Seite gewichen. Noch vor der Befragung durch die Polizei hatte er versucht der Petersen einzureden, dass sie sich anschließend von ihm nach Hause fahren lassen könnte.
Der bereits über 40 Jahre alte, mittelgroße, athletisch gebaute blauäugige Mann mit kurz geschnittenen hellblonden Haaren war geschieden und lebte schon seit mehreren Jahren allein. Der gelernte Chemiefacharbeiter wäre nach seinen eineinhalb Jahren Wehrdienst am liebsten bei der Armee geblieben. Er hatte sich auch von Anfang an zu drei Jahren Dienst bereit erklärt. Aber nach einem Jahr, er war nicht nur Mitglied er SED, sondern auch bereits zum Unteroffizier befördert geworden, kam es zum Eklat. Schröder, der sich zu dieser Zeit gerade für 12 Jahre Dienstzeit verpflichtet hatte, geriet mit einem Offizier aneinander. Die Angelegenheit schlug hohe Wellen, denn der Unteroffizier hatte seinem Vorgesetzten unmilitärisches, eines deutschen Soldaten unwürdiges Verhalten vorgeworfen und das auch noch mit deutlicheren nazistischen Formulierungen untermauert. Das war in der sozialistischen Armee natürlich ungeheuerlich. Partei und militärische Führung suchten einen Kompromiss, um die ganze Sache nicht noch an eine höhere Stelle melden zu müssen und schlugen Schröder vor, die NVA bereits nach drei Jahren, zu verlassen. Damit wurde in beiderseitigem Interesse ein Disziplinarverfahren umgangen. Der Unteroffizier konnte außerdem damit seine Degradierung oder Schlimmeres verhindern. Der Ex-Soldat ging also wieder zurück nach Beuna. Seine neofaschistische Gesinnung schlummerte solange, bis er nach der Wende auf Jendritzkis rechtsradikale Gruppe traf. Mit Beginn des Jahres 2000 wechselte er deshalb zur V-Fabrik von OPA Industrial. Während Jendritzki bei der letzten Aktion unter spektakulären Umständen am 16. Januar 2001 erschossen und die meisten der Kameraden verhaftet worden waren, kam Schröder mit Glück als einziger ungeschoren davon. (5) Seitdem hielt er sich auch bei Diskussionen im Kollegenkreis mit faschistischen Parolen zurück, aber die meisten wussten schon, wes Geistes Kind er war.
„Ich kann sie natürlich auch zuerst mit in den Betrieb nehmen, wenn sie das wollen“, schlug Schröder vor, nachdem Anjas defekter Fiat ebenfalls in Richtung Werkstatt verschwunden war.
Die Petersen schwieg, während beide in das Auto von Schröder, ein dunkelblaues BMW Coupé, einstiegen.
Erst nachdem sich die Frau angeschnallt hatte, fragte sie, „aber wie komme ich denn dann nach Hause?“
„Das ist doch kein Problem“, antwortete der Mann schnell, während er losfuhr und sich vor der roten Ampel in den Verkehr einordnete. „Ich spreche mit meinem Schichtleiter und dann fahre ich sie, wohin sie wollen.“
„Das kann und will ich ihnen nicht zumuten, Herr Schröder.“ Die Petersen sah beim Sprechen auf die Ampel, die in diesem Augenblick auf Grün umschaltete.
„Sagten sie mir nicht vorhin, dass sie bei uns als Ingenieur anfangen werden?“ Schröder bog in die Zufahrt zum Werk ein und sah dann die Frau schelmisch an, „dann sind sie doch so etwas wie eine Chefin für mich. Geben sie mir die Chance, mich schon jetzt, bei ihnen ein wenig einkratzen zu können.“
Anja lachte. „Chefin ist gut. Ich bin doch Anfänger. Von der C-V-Technologie habe ich überhaupt keine Ahnung.“
„Auch dabei könnte ich …“, Schröder zögerte einen Moment, bevor er fortfuhr, „… helfen. Wenn sie wollen kann ich ihnen gleich nachher die Anlage zeigen.“
„Das ist sehr freundlich von ihnen, Herr Schröder, aber ich möchte mich erst mit meinen anderen Kollegen bekannt machen. Vielleicht können wir uns ja später noch sehen?“
„Ich habe heute Spätschicht bis 22 Uhr. Aber morgen Abend hätte ich Zeit. Dürfte ich sie für 19 Uhr zum Essen einladen?“
„Danke. Das ist eine gute Idee. Dann kann ich mich revanchieren für ihre heutige Hilfe.“
„Aber eigentlich wollte ich …“
„Lassen sie mir die Freude, Herr Schröder. Einverstanden?“
„Gut Frau Petersen, wenn sie mir versprechen, dass wir in den nächsten Tagen noch einmal ausgehen werden und dann ich bezahlen darf?“
„Einverstanden“, antwortete die Frau lachend.
11. Juli 2002, V-Fabrik im OPA-Werk
„Die E-Verbrennung ist ziemlich hoch, Doc, vielleicht sollten wir das Verhältnis von E und HCl ein wenig nach unten korrigieren?“, fragte Schröder den auf seine Leitstation zukommenden Betriebsleiter. Rechts neben dem Anlagenfahrer saß schon Anja Petersen, die gespannt auf die Antwort zu dieser Frage wartete.
Der im Umgang mit Menschen erfahrene Betriebsleiter hatte vor zwei Wochen Anja Petersen, die ihn im Einstellungsgespräch beeindruckt hatte, für die V-Fabrik verpflichten können. Weil es der Frau wohl ebenso mit ihm ging, wurden sie schnell vertraut miteinander, sodass sie sich schon nach kurzer Zeit, ohne große Formalitäten, duzten.
Prost nahm sich einen Stuhl und platzierte sich links neben seinem Operator. „Welchen Wert hat der HCl-Umsatz, Horst?“
Schröder rief mit dem Lichtgriffel eine Tabelle auf. Die Werte für den Umsatz schwankten um die 99,5 %.
„Hm, gerade noch gut“, murmelte der Ingenieur und dachte angestrengt nach.
Die Reaktion zwischen Ethylen, HCl und Sauerstoff, die sogenannte Oxichlorierung, verläuft in einem Wirbelbett, das aus winzig kleinen, festen Partikeln eines Katalysators K besteht. Eine exakt berechnete Gasmenge, im Wesentlichen bestehend aus den gasförmigen Reaktanden sowie Kohlenstoffmonoxid, Kohlenstoffdioxid und natürlich Stickstoff, hält den staubförmigen Katalysator in der Schwebe. Ein gewaltiger Kompressor fördert die nicht in der Reaktion verbrauchten und die inerten Komponenten zurück zum Reaktor. An der so entstehenden riesengroßen Oberfläche findet die Reaktion statt, bei der Wärme freigesetzt wird. Zur Ableitung dieser überschüssigen Energie aus dem Reaktor befinden sich in dem Wirbelbett senkrecht angeordnete mit Wasser durchströmte Rohrschlangen. Das überhitzte Wasser wird zur Dampferzeugung benutzt. (6)
„Du weißt Horst, dass das A und O für eine dauerhafte Effektivität der Reaktion und die Haltbarkeit des Rohrschlangenbündels ein HCl Umsatz über 99,5 % ist.“
„Ja, das weiß ich, aber wenn die E-Verluste zu hoch werden, dann versauen wir uns doch die Norm.“
Anja Petersen, die bisher sehr genau zugehört hatte, denn diese Einstellung der Oxichlorierung nach HCl-Umsatz und E-Verbrennung war nicht ganz leicht zu verstehen, mischte sich ein. „Ich finde Horst hat Recht. Was ist denn so schlimm, wenn der HCl-Umsatz ein bisschen unter 99,5 % liegt?“
Prost sah die Frau aufmerksam an. „Unsere japanischen Freunde haben in über zehn Jahren herausgefunden, dass bei einem Umsatz von unter 99,5 % der Katalysator stickig wird und damit zum Verkleben neigt. Das führt zu Anbackungen an den Kühlschlangen, besonders an den U-Bögen unten im Eintrittsbereich des Gases. Das wiederum wirkt wie eine zusätzliche Isolierung auf den Rohren und führt zu Taupunktunterschreitungen. An diesen Stellen beginnt sofort die Korrosion und innerhalb kurzer Zeit kann durch einen Defekt zusätzliches Wasser in das System gelangen. Die Anbackungen werden dann noch größer und damit verbunden nimmt die Korrosion weiter zu.“
„Verstehe“, sagte Horst, „wir müssen also zuerst den Umsatz in den richtigen Bereich bringen und danach können wir versuchen die E-Verluste zu senken, indem wir die Verbrennungsrate verringern.“
„Genau.“ Prost sah zur Petersen und bemerkte einen fragenden Gesichtsausdruck. „Was ist unklar, Anja?“
„Na ja, Doc, was machen wir dann in dem heutigen Fall? Wir haben einen knappen Umsatz bei 99,5 % und zu starke E-Verbrennung.“
„Auf jeden Fall nicht die E-Menge reduzieren, oder?“, warf Schröder schnell ein.
„Genau, Horst, wir sollten es mit einer Verminderung der Temperatur im Reaktor versuchen. Überlegt mal, ihr zwei, wenn dadurch weniger Sauerstoff für die Verbrennung gebraucht wird, kann der für die Oxichlorierung genutzt werden. Das wiederum könnte zu einer Erhöhung des HCl-Umsatzes führen.“
„Du sagst immer könnte.“ Die Petersen sah vorwurfsvoll zu Prost. „Was ist, wenn das nicht funktioniert?“
„Dann müssen wir etwas Anderes probieren. Zum Beispiel die Kreisgasmenge erhöhen, um die Fluidität des Katalysatorbettes zu verbessern.“
„Genau! Jetzt erinnere ich mich wieder“, Horst tippte sich an die Stirn, „hierfür haben wir mit dem Differenzdruck über den Reaktor ja ein gutes Maß. Außerdem können wir daran auch erkennen, ob vielleicht ganz und gar Katalysator fehlt.“
„So ist es.“
„Wir könnten doch auch den Druck erhöhen?“, ergänzte die Petersen etwas zögerlich die Möglichkeiten, obwohl es mehr eine Frage als ein Vorschlag war.
„Ja, auch das könnten wir tun, Anja. Allerdings ist der Spielraum dafür sehr klein.“
„Was aber“, die Frau legte ihre Stirn in Falten, „wenn das alles nichts bringt?“
„Dann kann es gut sein“, Prost wiegte seinen Kopf hin und her, „dass bereits ein kleines Leck in der Kühlschlange vorliegt und dann haben wir wirklich ein Problem.“
Der Ingenieur legte seinen linken Arm um Schröder und den rechten um die Petersen. „Ich bin sicher, wir kriegen das in Griff. Nicht umsonst hat unser Oxi-Experte Kupfer so viel Wert daraufgelegt, die Erfahrungen der Japaner, ernst zu nehmen. Das wird sich auszahlen, da bin ich ganz sicher.“
Prost ließ die beiden wieder los und wollte aufstehen, doch Schröder hielt ihn auf. „Ich habe noch eine andere Frage, Doc, warum fördern wir das Abgas von der Entwässerungskolonne nicht zusammen mit dem Oxi-Abgas zur Verbrennung?“
„Vor allen Dingen“, ergänzte die Petersen die Begründung für diesen Vorschlag, „weil da der Elmo doch laufend kaputtgeht.“
„Wo wollt ihr das Abgas denn einspeisen?“
„Na sicher auf der Saugseite des Kompressors“, antwortete die Frau und Schröder fügte hinzu, „diese Rohrleitung befindet sich auch gar nicht so weit entfernt von der Kolonne.“
„Das heißt also, dass ihr das feuchte Abgas durch den Oxi-Reaktor fahren wollt?“ Prost sah von einem seiner Zuhörer zum anderen und wieder zurück.
„Ja, aber das Kreislaufgas der Oxi ist doch ebenfalls feucht“, antwortete dieses Mal der Operator als Erster und die junge Ingenieurin ergänzte, „und die Menge von der Kolonne ist so gering, dass sie doch gar nicht ins Gewicht fällt!“
„So kann man sich irren.“ Prost schüttelte den Kopf und amüsierte sich im Stillen, dass die zwei ihn verständnislos ansahen, aber sich auch nicht trauten ihm zu widersprechen.
„Womit erfolgt die Neutralisation in der Entwässerungskolonne?“, fragte Prost.
„Na, wenn das überhaupt noch erforderlich ist“, antwortete die Petersen überzeugt, „denn eigentlich ist das von der Oxi-Wäsche kommende C ja schon mit Natronlauge neutralisiert worden, dann wird hier an der Kolonne noch ein bisschen Ammoniak eingespeist.“
„Stören etwa die geringen Spuren NH3?“, fragte Schröder.
„Unsere Kollegen aus Morl von der Häls AG haben vor nicht allzu langer Zeit das Experiment gemacht und das Abgas ihrer Entwässerungskolonne in den Oxi-Reaktor eingespeist. Das Ammoniak machte innerhalb sehr kurzer Zeit den Katalysator inaktiv. Der HCl-Umsatz sank deutlich unter 95 % und dann passierte genau das, wovon wir vorhin gerade gesprochen haben. Es gab Anbackungen der Staubkörnchen an den Kühlschlangen des Reaktors, das führte zu örtlichen Taupunktunterschreitungen. Die wiederum sorgte dafür, dass sich mit HCl angereicherte Wassertröpfchen bildeten, die an den Rohrbögen natürlich zur Korrosion führten. Die Hälser versauten damit nicht nur den gesamten Katalysator im Wert von einer Millionen Euro, nein, auch das komplette Rohrbündel musste ausgetauscht werden. Das kostete alleine 5 Millionen Euro.“
„Wow!“ Schröder klatschte in die Hände. „Wenn das kein durchschlagender Erfolg … oh! Entschuldigung! … ein bemerkenswerter Effekt war, dann weiß ich ja nicht.“
„Oh Gott, das wäre ja für uns eine richtige Katastrophe geworden“, sagte die Petersen kopfschüttelnd, „denn außerdem müsste die Anlage ja wegen der notwendigen Reparatur bestimmt für ein paar Wochen abgestellt werden.“
„Kleine Ursache - große Wirkung. Ich denke damit ist deine Frage beantwortet, Horst?“
„Mehr als das, Doc, das ist eine sehr wichtige neue Erkenntnis für uns beide.“
Der Betriebsleiter stand auf und verließ ohne weitere Worte die Messwarte.
Die Petersen fühlte sich angenehm erregt durch das interessante fachliche Gespräch und freute sich, dass sie zusammen mit ihrem Kollegen Schröder, der inzwischen für sie etwas mehr als nur ein Freund gewordenen war, wieder ein bisschen dazugelernt hatte.
Den Operator hingegen erfüllte ein eigenartiges Gefühl, das ihm suggerierte, dass die eben gewonnene Information über eine mögliche Katastrophe in der V-Fabrik, für ihn noch von größerer Bedeutung werden könnte. Schröder glaubte auch zu spüren, dass die Petersen auf bestimmte Art und Weise, damit verbunden zu sein schien.
Als die Frau ihm jetzt die Hand auf die Schulter legte, „ich geh auch wieder in mein Büro“, wurde ihm die Bedeutung seines Gefühls bewusst und es lief ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Schnell wandte der Operator sich seinem Bildschirm mit der Oxi-Anlage zu und kontrollierte das Temperaturprofil des Reaktors.
16. Juni 2002, Galgenberg, Halle
„Lauf Ronja! - Hol den Ball! - Lauf!“, rief das etwa zehnjährige, dunkelhäutige Mädchen in auffallend bunter Kleidung und warf mit aller, in dem kleinen Körper vorhandenen Energie, einen leuchtend gelben Tennisball über die Rasenfläche. Der noch junge, weiß-braune Foxterrier rannte freudig dem Ball hinterher, fing ihn nach dem zweiten Aufspringen vom Boden mit der Schnauze auf und brachte ihn zu seiner Spielgefährtin zurück.
Der wunderbar geschützt und idyllisch gelegene Platz im Nord-Osten Halles, war in Form eines geschlungenen Ovals malerisch mit den fast nackten, teilweise bis 15 Meter hohen Felsen des kleinen Galgenbergs rundherum umgeben. Nur nach Süden zur Straße Landrain gab es einen etwas breiteren Zugang, während der schmalere Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite, von hier aus, gar nicht zu sehen war.
Anja Petersen, die ganz in der Nähe in der Albert-Schweizer-Straße wohnte, war soeben bei ihrem Sonntagsspaziergang auf dem Felsen des kleinen Berges angekommen und sah von oben herab dem lustigen Treiben auf dem circa 2 Fußballfelder großen Rasenspielplatz zu. Sie erinnerte sich, dass sie hier auch als kleines Kind gespielt und nur etwa 500 Meter weiter, auf dem mit Bäumen und Buschwerk bewachsenen, großen - obwohl nur circa 7 Meter höher, als der kleine - Galgenberg mit der von dessen Felsen eingeschlossenen Galgenbergschlucht, als 15-jährige das erste Mal Sex mit einem zwei Jahre älteren Schulfreund gehabt hatte.
Die junge Frau wurde wieder auf das spielende Kind aufmerksam, weil genau in dem Moment, als das Mädchen den Ball erneut warf und der Hund wieder freudig losstürmte, zwei junge, mit dunkelblauem Kapuzensweatshirt und Springerstiefel bekleidete Männer, von der Straße her, auf den Spielplatz spaziert kamen. An der Aufschrift auf deren Rücken: ‚Skinheads - weiß & stolz‘, erkannte Anja schnell, dass zwei Neonazis die Szene betreten hatten. Besorgt beobachtete sie, dass der kleine Tennisball direkt vor den Füßen der, schon durch ihre Bekleidung bedrohlich aussehenden, circa 20-jährigen Männer liegen blieb.
Der Größere der beiden, dessen Kapuze Kopf und Gesicht fast komplett verdeckte, hob den Ball auf, während der andere, ohne Kapuze, mit auffallend frisch rasierter Glatze, schnell zur Seite trat und rief, „schmeiß her Martin!“
Der Gerufene regierte schnell. „Pass auf, Tobias!“
Der Kumpan fing den Ball auf und warf ihn wieder zurück.
Der Hund blieb vor den beiden Burschen erwartungsvoll stehen und äugte insbesondere interessiert nach seinem, hin und her fliegenden Ball, während die jungen Leute das Tier scheinbar gar nicht zur Kenntnis nahmen.
Ronja sah ein paar Sekunden freundlich von einem zum anderen, aber natürlich wollte sie auch mitspielen und so bellte sie laut, keineswegs böswillig, sondern nur, um auf sich aufmerksam zu machen.
Abrupt drehte sich Martin, der Kapuzenmann, um und trat mit seinen hochschäftigen, plump-wirkenden Stiefeln nach Ronja, ohne sie zu treffen.
„Hej du! - Lass meinen Hund zufrieden!“, rief erregt das Mädchen und rannte los, um ihrem kleinen Freund beizustehen. Doch noch bevor sie die anderen erreichte, stieß der Große wieder mit dem Stiefel zu und dieses Mal traf er den Hund. Allerdings war Ronja jung und reaktionsschnell, sie schnappte zielsicher zu und zerrte knurrend an dem derben Schuhwerk.
„Mistviech! Verfluchtes! - Hilf mir, Tobias!“
Der kleine Glatzkopf wandte sich seinem Kumpel zu, starrte einen Moment auf die Szene und zog plötzlich ein Survival Messer mit einer mindestens 12 cm langen Klinge aus der am Gürtel befestigten Scheide.
Er trat auf den mit knurrenden Geräuschen, immer verbissener zerrenden Hund zu. „Ich mach dich kalt du Sautöle!“
Nur einen Augenblick später sprang das Mädchen dazwischen, so dass es fast so aussah, als könnte das Messer die Kleine treffen, doch eine laute Männerstimme, „Halt!!“ bremste die Armbewegung und eine Sekunde später ergriff der athletische fremde Mann, der größer als die beiden Angreifer war, den Arm mit dem Messer, hielt ihn fest und rief dem Mädchen zu, „nimm deinen Hund und bringt euch in Sicherheit.“
Aber der erregte Terrier dachte gar nicht daran loszulassen, im Gegenteil, er riss immer heftiger an dem Schuh.
Während der Kapuzenmann mit dem Hund kämpfte, versuchte der herbeigeeilte Helfer, dem anderen Neonazi das Messer zu entwenden, doch weil auch das Kind, das er aus dem Kampf heraushalten wollte, noch zu nah war und er gezwungen war vorsichtig zu hantieren, gelang ihm das nicht.
„Lauf Mädchen und hol Hilfe!“
Aber die Kleine zögerte immer noch.
Plötzlich ertönte ein lauter Pfiff.
Der Hund ließ den Schuh los. Das Mädchen erkannte sofort die Gunst des Augenblicks, schnappte Ronja und rannte schnell an den Rand des Spielplatzes. Von dort beobachtete sie gespannt, wie ein schon etwas älterer, lässig, mit abgenutzten Jeans und darüber hängendem blau-weißkariertem, kragenlosen Hemd gekleideter Mann, von dem offensichtlich der Pfiff gekommen war, sich sofort in den Kampf einmischte. Er riss als Erstes dem Großen die Kapuze vom Kopf und, genau wie bei dem Kleinen, kam eine frisch rasierte Glatze zum Vorschein.
Wütend schlug der Nazi mit der rechten Faust nach dem gleichgroßen Gegner, doch der wich nicht nur dem Schlag aus, sondern streckte ruckartig den Kopf nach vorn, so dass er damit die Nase des Angreifers traf, die sofort zu bluten begann und der Getroffene taumelte rückwärts.
Währenddessen war es dem ersten Helfer gelungen, dem kleinen Glatzkopf das Messer abzunehmen und hielt diesen damit in Schach, damit der gar nicht erst auf die Idee kommen würde, seinem Kumpel zu helfen.
Als die Neonazis merkten, dass sie unterlegen waren, rannten sie zur Straße und stiegen dort in ein, gerade eingetroffenes und direkt am Zugang zum Spielplatz haltendes BMW-Cabrio ein.
Die Flucht der beiden Schlägertypen nahm Anja auf dem Galgenbergfelsen mit Erleichterung zur Kenntnis. Von hier aus hätte sie nicht helfen können, zumindest nicht so schnell, denn der Weg nach unten lief in einem weiten Bogen um den Felsen herum. Sie blickte den Flüchtenden hinterher, sah sie in das Auto einsteigen und wegfahren. Erst als das Fahrzeug verschwunden war, stutzte die Petersen, denn irgendwie kam ihr das Gefährt bekannt vor.
‚Sollte das etwa Schröders Auto gewesen sein?‘
Anja schüttelte nachdenklich den Kopf. ‚Könnte etwa ihr Freund den beiden widerlichen Nazis geholfen haben?‘
Der Gedanke setzte sich bei ihr fest und sollte sie so schnell nicht wieder loslassen. Doch dann wandte sie sich wieder dem Spielplatz zu und erst jetzt musterte sie die beiden mutigen Helfer genauer. In dem Größeren, der zuerst gekommen war, erkannte sie mit Erstaunen den Verursacher ihres Autounfalls, Otto Soitz und der andere entpuppte sich als der Operator der D-Schicht Emil Balla, den sie schon etwas genauer kannte und wusste, dass der nicht nur ein exzentrisches Unikum war.
‚Sympathisch‘, dachte sie und machte still vor sich hinlächelnd kehrt. Sie wollte den schönen Tag allein genießen und noch um den großen Galgenberg herumgehen, bevor sie wieder in ihre Wohnung, zu den Physikern von Friedrich Dürrenmatt (7), zurückkehren würde. Das Theaterstück stammte zwar aus dem Jahr 1962, aber Anja fand es trotzdem brandaktuell und freute sich schon aufs weiterlesen.
Auf dem Spielplatz gingen die zurückgebliebenen Männer aufeinander zu.
„Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt Balla, dass deine Erscheinung mich nervt?“ Soitz knuffte seinem Kollegen mit einer Faust leicht auf die Brust, „aber heute …“
„… hab ich dir den Arsch gerettet.“
„Vielleicht nicht bloß das, aber - was machst du überhaupt hier, Seemann? - Bloß verlaufen?“
„Nicht ganz. Ich wollte nur mal sehen, ob die das Feuerwerk für heute Abend ordentlich verstaut haben.“
„Deswegen bin ich auch …“ Weil Balla ihn spöttisch ansah, korrigierte er sich, „… nee, nich wegen der Knallerei. Aber ich hab `ne Karte fürs Abschlusskonzert der Händelfestspiele und wollte mich vorher mal umsehen, wo man am besten parken kann.“
„Das sieht hier beschissen aus, aber die S-Bahn-Haltestelle ‚Zoo‘ ist ganz in der Nähe.“
„Was nützt die mir, Emil?“
„Großer Parkplatz am Bahn- …“
„Stimmt! Am Hauptbahnhof auf dem großen Parkplatz Auto abstellen und dann … Danke. - Du warst wohl mal Kulturobmann in eurer Brigade?“
„Wieso war?“
„Na die DDR gibt es doch schon 14 Jahre nicht mehr.“
„Na und? Was gut war wird beibehalten, auch wenn die Großkopferten, vor allen Dingen die das Money anhimmelnden Wessis …“
„… davon gibt’s inzwischen auch schon genug Ossis“, unterbrach Soitz.
„…alles, was mit DDR zu tun hat, schlechtmachen wollen. Dabei scheint es ihnen egal zu sein, dass sie uns Ossis damit auch gleich anscheißen.“
„Vor allen Dingen die Spitzenpolitiker fast aller Parteien übertreffen sich dabei gegenseitig.“
„Trotzdem werden diese Idioten gewählt.“ Balla schüttelte den Kopf. „Die, die den Reichen und künstlich Schönen am besten in den Arsch kriechen können, sind heutzutage die Angesehensten.“ Der Seemann winkte ab, „solche Leute könn mich mal …“
„Da hast du auch wieder Recht. - Mach’s gut Seemann. - Vielleicht sehen wir uns ja heute Abend?“
„Vielleicht“, sagte Balla und fügte grinsend hinzu, „ich bin der Viertausendste von links. - Von der Bühne aus gesehen.“
Soitz winkte seinem Kollegen lachend zu und ging in Richtung Straße, während der andere durch den engen Pfad zwischen den beiden Felsen hindurch in Richtung Galgenbergschlucht verschwand.
16. Juni 2002, Galgenberg, zwei Stunden vorher
„Angriff war und ist eben immer noch die beste Verteidigung“, sagte der inzwischen schon 68-jährige Geheimdienstveteran Wilhelm Vurtsch, während er interessiert die Gedenktafel in der Galgenbergschlucht studierte, „ich hätte nicht gedacht, dass es hier ein solches Denkmal gibt. Das erinnert doch auch an die Anfänge des Nationalsozialismus.“
„Gut für uns, Wilhelm.“ Schröder deutete auf die Namen der zwanzig, im März 1920 bei erbitterten Kämpfen zwischen Kapp-Putschisten und halleschen Arbeitern, Getöteten, zu denen auch Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei gehörten. „Wir wollen mit unserer Ideologie mehr in die Tiefe gehen und der Anfänge gedenken. Deshalb kann ich nicht verstehen, wieso du diesem Antrag für ein Verbotsverfahren der NPD, der auch noch von dem doch eigentlich ganz auf unserer Seite stehenden - zumindest glaubte ich das bisher - bayerischen Innenministers Günther Beckstein gestellt worden ist, etwas Gutes abgewinnen kannst!“
„Sieh dir doch den Verlauf der Bearbeitung dieses Antrages an, Horst. Die ganze Sache wird als Fiasko für die an der Regierung befindlichen Sozis enden. Das ist für alle, die rechts von denen stehen, gut. Verstehst du?“
„Du meinst also, dass bei der Sache die Roten vor die Hunde gehen?“
„Ha, ha!“, Vurtsch lachte, „das zwar leider nicht, aber auf den Hund kommen, werden sie dabei auf alle Fälle.“
„Je mehr ich darüber nachdenke, umso besser verstehe ich dich. - Hm, dann habe ich die Formulierungen auf dem Flugblatt ja doch richtig getroffen.“
„Kann ich mal sehen?“
„Na klar.“ Schröder griff in seine Jackentasche und holte ein rotes Papier hervor, das mit weißer Schrift bedruckt war. „Hier.“
Vurtsch las: