Tote brauchen keinen Himmel Band 2 - Max Balladu - E-Book

Tote brauchen keinen Himmel Band 2 E-Book

Max Balladu

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Beschreibung

Inhalt Band 1 und 2: Der Leser lernt drei Paare kennen mit deren Freunden, Feinden, vielen kleinen oder großen Sorgen und Freuden. Der Roman besteht aus zwei Bänden mit je zwei Teilen. Band 1 Teil 1: Zwei junge Menschen, Nina Nitz und Felix Normu, beide im Jahr 2002 geboren, treffen zum ersten Mal in Seeleben aufeinander. Teil 2: Susanne Cremer, Mutter einer erwachsenen Tochter und der geschiedene Schotte, Vater zweier Söhne, Finley McAskill, lernen sich in Merseburg kennen. Band 2: Teil 3: Die dreißigjährige Medizinerin Dorothea Ruge und der fünf Jahre ältere Ingenieur Michael Stolz begegnen sich im Jahr 2017 in der Leporin-Klinik. Teil 4: Recherchen halten die Story zusammen, ergeben Zusammenhänge, die letztendlich bei dem jungen Mann Kevin zusammenlaufen

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Seitenzahl: 452

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Personen, Handlungen und Örtlichkeiten dieses fiktiven Romans entstammen der Fantasie des Autors. Einzelne Personen sowie die chemische Fabrik finden sie auch in früheren Büchern von Balladu. Die Lehranstalten, das Haus ‚Mischwaldland‘ und das Haus ‚Dachsbau‘ sind ebenso frei erfunden.

Auftretende Ähnlichkeiten mit dem realen Leben sind beabsichtigt, bleiben aber fiktiv, subjektiv aus der Sicht des Autors.

Autor:

Max Balladu wurde in Neutitschein geboren. Er arbeitete über zwanzig Jahre in einem chemischen Großbetrieb in der DDR, nach der Wende 1989 zehn Jahre in der BRD. Balladu wohnte in Neutitschein, Schernikau, Osterburg, absolvierte seine Militärzeit am Oderhaff, studierte in Merseburg, wohnte in Osterburg/Altmark, Halle (Saale) und ab 1996 im Salzatal.

Inhalt Band 1 und 2:

Der Leser lernt drei Paare kennen mit deren Freunden, Feinden, vielen kleinen oder großen Sorgen und Freuden. Der Roman besteht aus zwei Bänden mit je zwei Teilen.

Band 1

Teil 1: Zwei junge Menschen, Nina Nitz und Felix Normu, beide im Jahr 2002 geboren, treffen zum ersten Mal in Seeleben aufeinander.

Teil 2: Susanne Cremer, Mutter einer erwachsenen Tochter und der geschiedene Schotte, Vater zweier Söhne, Finley McAskill, lernen sich in Merseburg kennen.

Band 2:

Teil 3: Die dreißigjährige Medizinerin Dorothea Ruge und der fünf Jahre ältere Ingenieur Michael Stolz begegnen sich im Jahr 2017 in der Leporin-Klinik.

Teil 4: Recherchen halten die Story zusammen, ergeben Zusammenhänge, die letztendlich bei dem jungen Mann Kevin zusammenlaufen

INHALTSVERZEICHNIS

Namensverzeichnis

Teil 3 - Ruge, Stolz, Lust

19- Dorothea-Leporin-Klinik

20 - Hilfsschwester Doro

21 - Der Skiläufer

22 - Gemeinsam - getrennt

Teil 4 Recherchen - Zusammenhänge - Kevin

23 - Der Spanner

24 - Großvaterssünden

25 - Ist Mordlust menschlich?

26 - Der zweite Mann

27 – Traumatische Ereignisse

28 - Zwiespalt

29 - Zerreißprobe

30 – Die Stunde null

31 – Am nächsten Tag

Epilog

Quellennachweis

Der Dank des Autors gilt

Ramona M.,

Doris und Ulf Z. sowie

Harald K.

Außerdem schuldet der Autor Frau Helene Paetz und H. F. Moritz Dank für die Zurverfügungstellung der Zeichnungen auf der Titel- sowie Rückseite, Frau Anni Kloß gilt der Dank fürs Lektorat ebenso, wie Frau Elvira W. für die kritischen Hinweise.

Informationen über Max Balladu sowie zu allen Büchern von ihm, finden sie auf der Webseite:

https://www.mensch0815.de

NAMENSVERZEICHNIS

Hauptpersonen

Nina Nitz

Jugendheim; Schülerin

Felix Normu

Schüler

Kevin Aldo

Schüler

Horst Wichmann

Hulk, Schüler

Susanne Cremer

Operator D-Schicht

Finley McAskill

Leiter Plastfabrik

Harvey McAskill

2. Sohn von Finley

Michael Stolz

Ingenieur

Dorothea Ruge

Ärztin

Mitglieder des ZKV e. V.

(in allen Büchern)

Emil Balla

Anlagenfahrer

Günther Hossa

Anlagenfahrer

Lena Faber

Journalistin

Dr. Thomas Prost

Rentner, † 11.5.2018

Ernst Wolf

Detektiv

Paula Peters

Detektivin

Wolfgang Schreyer

Kommissar i. R.

Dr. Helene Schenk

Gerichtsmedizinerin

Giesela Schulz

Rechtsanwältin

Arnold Storl

Einsatzleiter Feuerwehr

Eduard Ceh

Kriminalkommissar

Jens Reiter

Leiter Plastfabrik i. R.

Weitere Personen:

Ilse Schäfer

Küchenhilfe im KZ

Sergej Wlassow

Häftling im KZ

Eliwon Lemma

Kraftfahrer

Rosa Claudier

Leiterin Haus ‚Mischwaldland‘

Sara Franke

Erzieherin

Timo Bresicke

Erzieher

Markus Aldo

Onkel von Kevin

Christian Aldo

Vater von Kevin

Simone Tusch

Leiterin Gymnasium-KGS

Claudia Normu

Mutter von Felix

Amadeus Hoffmann

Lehrer in Osterburg

Stefani Ricks

Freundin von Stolz

Olivia McAskill

Mutter von Harvey

William McAskill

Bruder von Finley

Maria Schmidt

Kindermädchen von Harvey

Svenja Cremer

Tochter von Susanne

Max Drews

Schichtleiter in Plastfabrik

Angela Beier

Mutter von Hulk

Otto Heine

Geheimdienst

Björn Hamsun

Vorarbeiter

Sandra Huber

Enkelin von Otto Heine

Nikolai Karst

Journalist

Bernd Höhne

Schiffbauingenieur

Björn Hamsun

Vorarbeiter Aldo UG

Erik Balder

Angestellter Aldo UG

Natali Radek

Obdachlose

Alexander Dombrowski

Obdachloser

Heinrich Becker

Obdachloser

Fromme Helene

Einsiedlerin

TEIL 3 - RUGE, STOLZ, LUSTTE

19- DOROTHEA-LEPORIN-KLINIK

Montag, 23. Januar 2017

„Mein Name ist Stolz,“ der junge Mann schob seinen ehemaligen Chef im Rollstuhl, den er sich bei seiner Ankunft im Klinikum besorgt hatte, der vor ihm stehenden Frau direkt vor die Füße. „Das ist Dr. Prost. Er hat im Betrieb plötzlich starke Schmerzen im linken Bein bekommen. Er wollte selbst in diese Klinik fahren, aber weil das nicht ging, habe ich ihn hierher-gebracht.“

„Warum haben sie keinen Krankenwagen gerufen?“ fragte die schlanke, dunkelhaarige, vielleicht fünfzigjährige Frau, auf deren Schild am weißen Kittel, Oberärztin Dr. Pannwitz stand, während sie bereits den Patienten untersuchte.

„Dr. Prost war sich nicht sicher, ob der Notdienst ihn auch genau hierher, zu ihnen, gefahren hätte. Also habe ich das übernommen.“

„Verstehe. Das war richtig so Herr ...“ sie sah dem jungen Mann fragend ins Gesicht.

„Stolz, Michael Stolz.“

„... Herr Stolz. Wir kennen Herrn Prost und sein Problem. Meine Assistenzärztin wird den Patienten gleich übernehmen.“

„So lange warte ich noch.“

„Wie sie wollen.“ Die Ärztin drückte dem Mann kurz die Hand und verließ den Behandlungsraum.

Kurz danach betrat eine junge Frau, ebenfalls im weißen Kittel mit Namensschild, das Zimmer. Sie blieb kurz stehen, sah erstaunt auf den großen, breitschultrigen, etwa gleichaltrigen Mann mit der athleti-schen Figur, wandte sich dann aber sofort dem Patienten zu. Sie war überrascht, weil sie nur an den sieb-zigjährigen Patienten gedacht hatte, doch nun sah sie zuerst den viel Jüngeren, attraktiven Mann. Der Gesichtsausdruck des Mannes wirkte sehr angenehm auf sie. Andere würden auf den ersten Blick eher sagen, ein herber, nicht besonders schöner Mann. Der erste Eindruck entstand durch die weiße, glattrasierte Haut des Gesichts, mit den vielen unsystematisch verteilten Sommersprossen, den einfach halblang geschnittenen, dunkel-braunen, leicht rötlichen Haaren. Interessanterweise verschwand durch die Brille der etwas stupide Eindruck. Die eindrucksvolle Größe und Statur des Mannes korrigierten das Bild ins Positive. Dorothea zog den Schluss, ein attraktiver Mann. Nachdem sie den Patienten begrüßt hatte, sah sie lächelnd zu Stolz auf. „Ich bin die Assistenzärztin Dorothea Ruge. Sind sie der Sohn?“

Stolz war so in den Anblick der Frau vertieft, dass die Frage, wenn auch mit dunkler, angenehmer, einprägsamer Stimme gesprochen, nur wie aus der Ferne zu ihm kam. Ihm gefiel alles, was er sah, die gut proportionierte Figur mit dem wohlgeformten Busen, die leicht welligen, dunklen, fast schwarzen Haare im Bubikopf Schnitt, das ebenmäßiges Gesicht mit den braunen Augen - nur die Nase wirkte, wenn man die Frau direkt von vorn betrachtete, etwas zu breit geraten. Sogar dieser kleine Schönheitsfehler gefiel Stolz. Irgendetwas zog ihn magisch zu dieser Erscheinung hin. Dabei hatte er sie doch gerade zum ersten Mal gesehen.

Plötzlich spürte der Mann Prosts Hand an seinem Arm, erwachte aus seinen Gedanken, erinnerte sich der an ihn gestellten Frage. „Nein, nein,“ Stolz lachte kurz auf, „Dr. Prost ist ein ehemaliger Kollege. Aber, wenn sie so wollen, bin ich auch ein Nachfahre von ihm, denn ich arbeite genau da, wo früher der Doktor gearbeitet hat.“

„Und das ist, wenn ich fragen darf?“ Wieder lächelte die Frau.

„C-V-Anlage bei OPA-Industrial, aber ich bin nur Fachingenieur. Der Doc war dort der Chef.“

„Das kann ja noch kommen, Michael,“ mischte sich der Patient ein, „so, wie ich Harry Kupfer verstanden habe, bist du absolut dazu geeignet.“

„Gut, dass sie uns erinnern Herr Dr. Prost, dass sie hier eigentlich die Hauptperson sind. Ich bringe sie jetzt auf ihr Zimmer. Sie sollen gleich morgen früh operiert werden, aber vorher müssen wir noch einiges erledigen.“

„Kann ich dann morgen schon den Doc besuchen?“ Stolz sah nur die Frau an.

„Das ist doch nicht nötig,“ sagte Prost grinsend, weil die spontane, offen zu Tage tretendende Bewunderung seines Kollegen für die, auch aus seiner Sicht attraktive Frau, seinen Schmerz wohl etwas verdrängt hatte. Natürlich wusste er, dass Stolz nur wegen der Ärztin wiederkommen wollte.

„Doch, doch,“ stammelte Stolz, „ich muss ihnen noch zur Anlage ein paar Fragen stellen.“

„Nein, morgen wird das nichts,“ sagte die Ruge, „die OP ist nicht ganz einfach, kann also lange dauern, dann folgt die Aufwachphase, die bis in die frühen Morgenstunden dauern kann. Kommen sie am besten übermorgen.“

Die dreißigjährige Dorothea Ruge war in Fried-richsbrunn im Harz geboren, wuchs in Mahlwinkel auf, wo sie die ersten vier Jahre von 1993 bis 1998 zur Schule ging. Ab 5. bis 8. Klasse, musste sie mit dem Bus nach Angern fahren. Fürs Gymnasium hatte sie die Mutter in Osterburg angemeldet, weil es da eine gute Internatsunterbringung gab. Danach arbeitete die Ruge drei Jahre als Krankenpflegerin im Osterburger Krankenhaus und begann 2010 ihr Medizinstudium in Magdeburg, das sie 2015 als Diplommedizinerin abschloss. Seit 1. September 2015 arbeitete sie als Assistenzärztin an der Klinik ‚Dorothea Leporin‘ in Halle (Saale).

„Sind sie dann auch wieder im Dienst Frau Doktor?“ Stolz blickte hoffnungsvoll auf die Ärztin.

„Ich muss sie enttäuschen,“ sagte die Ruge, wieder mit dem gleichen charmanten Lächeln, und Prost beobachtete amüsiert, wie das Gesicht seines jungen Kollegen ein Hauch von Traurigkeit überflog.

„Den Titel habe ich noch nicht verdient,“ fuhr die Frau fort, „ich bin erst dabei, meine Doktorarbeit zu schreiben. Aber, na klar bin ich übermorgen da.“

‚Schon strahlt er wieder‘, registrierte Prost, der zur mehrfachen Wiederholung seines Titels und die vordergründige Betonung ‚Chef‘, nur geduldet hatte, weil er natürlich wusste, dass Stolz das nur tat, um bei der Frau Eindruck zu schinden. „Dann mach dich mal schnell wieder in die Anlage, Michael, sonst tanzen deine Anlagenfahrer noch auf den Tischen.“

„Das sind doch keine Schü…,“ Stolz hüstelte verlegen, als er merkte, dass Prost ihn nur hatte auf den Arm nehmen wollen. „Also, ich geh dann. Auf Wiedersehen Dr. Prost,“ er sah zur Ärztin, „und bis übermorgen.“

Stolz ging dicht an der Frau vorbei zur Tür und verschwand. Der Blick, mit dem die junge Frau seinem begegnete, ließ den Mann innerlich jubeln, so dass er einen Luftsprung auf dem Flur vollführte, sich dann aber schnell versicherte, dass ihn niemand beobachtet hatte. Die zwei Krankenpflegerinnen schienen so beschäftigt, dass sie wohl nichts bemerkt hatten. Schnell verließ der Ingenieur die Krankenstation.

Zwei Tage später, am Mittwoch, den 25. Januar, betrat Stolz erneut die Station der Klinik, in der die an der sogenannten Schaufensterkrankheit leidenden behandelt wurden. Inzwischen hatte der Mann sich im Internet kundig gemacht und wusste deshalb, dass es sich um eine periphere arterielle Verschlusskrankheit, also eine Arteriosklerose in den Beingefäßen handelte, die vor allen Dingen im Alter ab 55 Jahre auftritt. Das typische Symptom dieser Verengung der Schlagadern sind starke Schmerzen in den Beinen. Diese äußerten sich vorrangig bei körperlicher Anstrengung, weshalb die Betroffenen beim Gehen häufig Pausen einlegen müssen. Meistens wird diese Krankheit zu spät entdeckt und dann hilft nur eine Operation. Die besondere Gefahr dieser Krankheit liegt darin, dass die verminderte Durchblutung die Wunden der betroffenen Körperteile schlechter heilen, das Gewebe kann absterben und muss schnell entfernt werden, da sonst eine lebensgefährliche Blutvergiftung drohen würde, die bis zur Amputation führen könnte. Das machte diese Krankheit für die Betroffenen noch brisanter. Obwohl Rauchen als eine Hauptursache beizeiten erkannt worden ist, hält diese Aussicht viele Menschen nicht davon ab, weiter zu rauchen.

Stolz ging langsam den Flur entlang, an Prosts Zimmer vorbei bis zum Schwesternzimmer, das sich an einen mit großen Glasfenstern zum Flur hin abgetrennten Raum anschloss und auf Stolz den Eindruck machte, wie der Empfang in einem Hotel, nur eben nüchterner, was schon allein die weiße Farbe bewirkte. Die Tür, aber auch die Fenster zum Flur, standen offen. Stolz sah zwei Schwestern, die eine saß in der Mitte des Raumes am Tisch und schrieb, während die andere in der Nähe des offenen Fensters am Computer saß. „Entschuldigung, ich suche Frau Dorothea Ruge,“ Stolz wartete auf eine Reaktion und als die Schwester ihren Kopf zu ihm drehte, fügte er noch erklärend hinzu, „sie wollte noch mit mir sprechen.“

„Sie wird sicher im Arztzimmer sein,“ die Schwester zeigte nach rechts den Gang hinunter.

„Danke.“

Es war nur zwei Türen weiter auf der rechten Seite. Davor befand sich das Zimmer der Oberärztin Dr. Pannwitz.

Stolz war sich nicht sicher, ob er einfach anklopfen sollte, ging erst einmal weiter und überlegte, was er wohl sagen könnte. Plötzlich hörte er hinter sich, wie eine Tür geöffnet wurde, drehte sich um und sah Dorothea auf den Flur treten.

Sie bemerkte ihn sofort. „Hallo Herr Stolz, das Zimmer von Dr. Prost liegt doch in der anderen Richtung,“ schmunzelnd fügte sie noch hinzu, „vergessen?“

„Ach, ich war so in Gedanken, da bin ich wohl vorbeigelaufen.“ ‚Sie hat sich deinen Namen gemerkt‘, jubilierte es in ihm. Er musste sich zusammenreißen, denn er wollte nicht, dass sie ihm seine Freude darüber ansehen könnte.

„Kommen sie, ich wollte auch gerade…“ sie zögerte einen Moment „…zu ihrem Vorfahren?“ Lachend dreht sie sich um und schritt voraus, während Stolz ihr schnell folgte.

„Hallo Herr Prost, wie geht es ihnen?“ Die Assistenzärztin blieb an der Stirnseite des Bettes stehen.

„Abgesehen davon, dass die vielen Schläuche, die scheinbar aus meinem Körper zu kommen scheinen, mir Angst machen, ganz gut. - Ich muss sie etwas fragen.“

„Aber gerne, bitte fragen sie.“

Inzwischen stellte Stolz sich schweigend neben das Bett, murmelte nur, „Tag Doc,“ während er mit kribbelndem Gefühl zur Ruge sah.

Prost warf nur einen kurzen Blick auf seinen Besuch, „hallo Michael,“ dann konzentrierte er sich wieder auf die Ärztin. „So eine Halbnarkose war für mich eine vollkommen neue Erfahrung. Ich habe nur die Schatten der zwei Frauen gesehen, die mich operiert haben, und das auch nur auf dem Tuch vor meinem Gesicht. Ihre Worte, die die beiden gewechselt haben, konnte ich nicht verstehen. Dennoch, diese OP hat mich beeindruckt, denn alles lief so ruhig und überlegt ab, so dass ich vollkommen entspannt bleiben konnte. Die vier Stunden OP sind relativ schnell vergangen.“

„Ich weiß, dass haben sie uns gestern gleich nach der OP auch gesagt und sich bedankt. Das kommt nicht so oft vor und hat uns sehr gefreut.“

„Ja, leider hatten sie ja noch die OP-Tücher vor dem Gesicht, so dass ich sie gar nicht erkennen konnte. Sagen sie, wer war die zweite Frau?“

„Frau Oberärztin Dr. Pannwitz hat die OP geleitet.“ Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu, „ich habe nur assistiert“, fügte sie bescheiden hinzu.

„Ich sage ihnen noch einmal, danke schön. Die OP war für mich eine neue Erfahrung und außerdem für mich, den Patienten, fast - ein Kinderspiel.“

„Das ist doch unsere Aufgabe Herr Prost,“ während sie sprach, begutachtete sie den Verband, der das gesamte linke Beine von oben bis unten umgab, „wichtig wird sein, wie sich alles weiterentwickelt und wie letztendlich der Effekt für sie sein wird.“

„Sie haben recht Frau Ruge, ich bin gespannt.“ Prost warf einen kurzen Blick zu seinem Kollegen, doch der hatte nur Augen für die Ruge. „Es ist schön, dass sie meine eigene Ader wiederverwenden konnten.“

„Ja, das hat uns auch überrascht, weil wir nach Auswertung der Röntgenbilder eigentlich nicht erwarten konnten, dass es klappen könnte.“ Sie begutachtete die Schläuche, die unter dem Verband her-vorkamen und in kleinen Beutelchen endeten. Als letztes warf sie einen Blick auf den Katheder in dem sich der Urin sammeln konnte. „Aber so, mit ihrer eigenen Ader, ist es tatsächlich besser, weil auf diese Art der angestrebte Effekt noch günstiger ausfallen könnte.“

„Ich werde Frau Pannwitz morgen bei der Visite das auch noch einmal sagen.“ Prost sah die Ruge an, „na, alles in Ordnung?“

„Ja, ja. Alles okay. Ich lasse sie jetzt mit ihrem Besuch allein. Danach muss ich noch den nächsten notwendigen Schritt mit ihnen besprechen.“ Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.

„Dr. Prost…,“ Stolz wollte ein Gespräch beginnen, obwohl er gar nicht recht wusste, was er sagen sollte.

„Michael,“ Prost unterbrach sofort seinen Kollegen, „erstens habe ich dir von Anfang an gesagt, dass du natürlich auch du zu mir sagen kannst, wenn ich das tue, denn andernfalls muss ich dich auch wieder siezen.“ Prost hob kurz die rechte Hand, um Stolz am Sprechen zu hindern, „und zweitens muss du dich nicht lange hier bei mir aufhalten. Geh der Ruge hinterher, bevor sie irgendwohin verschwindet. - Ihr passt beide gut zusammen, glaube ich,“ fügte Prost lächelnd hinzu.

„Hm, du hast recht Doc. Ich bin wohl wirklich nur wegen Dorothea…“

Prost lachte laut.

„…hier…“ erschrocken über seine ehrlichen Worte sah er Prost entsetzt an.

Doch der sagte weiter lachend, „sag ich doch.“

„Die alten Hasen in der Anlage haben schon recht mit ihrer Meinung zu dir…“

„Genug, jetzt hau schon endlich ab.“ Prost drehte den Kopf auf die Seite, mehr traute er sich noch nicht zu bewegen.

Stolz überlegte noch einen kurzen Moment. „Mach’s gut Doc.“ Dann verließ er leise den Raum.

Der Flur war leer. ‚Verdammt.‘ Stolz überlegte kurz, ging dann zurück zum ‚Empfang‘ und atmete auf, als er die Ruge sah.

Die hatte wohl genauso auf ihn gewartet, denn sie kam gleich auf den Flur zurück, „ich habe noch ein paar Minuten, gehen wir da hinten in den Besucherraum?“

„Ja, natürlich. Mein Doc hat…“

„Scheint ein erfahrener Mann zu sein - dein Doc.“ Die Ruge lächelte, so dass Stolz ganz schwummrig wurde.

Er sah die Frau an. „Und hat er recht?“

„Ich kann zwar nur raten, was er gesagt hat, aber da du, entschuldige…“

„Ach was entschuldige. Das du gefällt mir gut. - Und ja, er hat mich dir gleich hinterhergeschickt,“ fügte er lachend noch hinzu.

„Die OP war für mich eine gute Erfahrung.“ Die beiden standen auf dem Flur der Station und sahen sich in die Augen. „Eine derart lange Arterie können wir nicht allzu oft so komplett retten.“

„Was ist eigentlich die Ursache für die Schaufensterkrankheit?“ Die Frage war ihm einfach so rausge-rutscht, denn sein Blick verlangte nach etwas ganz anderem.

„Arteriosklerose entsteht,“ begann die Ruge mit leicht leuchtenden Augen sofort zu erklären, obwohl ihr der Blick des Mannes nicht entgangen war, „wenn Fett in die Gefäßwände eingelagert wird, was vor allem durch zu hohe Blutfettwerte begünstigt wird, die durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel oder durch genetische Defekte bedingt sein können. Ebenso erhöhen Rauchen, Bluthochdruck, Diabetes mellitus und Übergewicht das Risiko für eine Gefäß-verengung.“

„Ist nach der OP alles wieder im Lot oder was muss der Patient tun?“ Stolz blieb beim Thema, weil er mit Erstaunen feststellte, dass ihm diese Art von Gespräch mit der schönen Frau gefiel.

„Nein, zum ersten Teil der Frage,“ das Leuchten der Augen der Frau verstärkte sich. Es kam ihr darauf an, dem sie immer mehr interessierenden Mann überzeugend zu antworten, „denn, wenn es erst einmal so weit gekommen ist, dass operiert werden musste, dann ist die Krankheit schon so vorange-schritten, dass sie nur noch eingedämmt, aber nicht mehr vollständig ausgeräumt werden kann.“ Die Ru-ge dachte kurz nach, ohne ihren Blick zu senken. „Zum zweiten Teil deiner Frage kann ich nur so viel sagen, dass alles Weitere ab jetzt maßgeblich von ihm selbst abhängt. Bewegung, Bewegung, Bewegung. Das ist das A und O.“

„In Bewegung bleiben ist sicher für jeden Menschen in jedem Alter wichtig,“ stellte Stolz trocken fest.

„Ja, richtig,“ bestätigte die Ruge, „aber im Alter, und erst recht bei einer solchen Krankheit, ist das umso wichtiger.“

„Ich denke, das sollte für den Doc kein Problem sein.“ Und weil die Ärztin ihn fragend ansah, ergänzte er noch, „wenn das, was ich von meinen Kollegen über ihn gehört habe, stimmt, wird er diese Forderung auf alle Fälle erfüllen.“

„Das würde mich für ihn freuen.“ Die Ruge senkte nur kurz den Blick, um dann mit neuem Leuchten in den Augen fortzufahren, „aber jetzt möchte ich gern dir eine Frage stellen.“

„Nur zu.“

Beide mussten zur Seite treten, weil ein Krankenpfleger mit einem Patienten im Bett den Flur ent-langkam. Erst dann redete die Ruge weiter. „Was macht ihr denn in eurem OPA-Industrial und was speziell machst du?“

„Wir produzieren VC,“ Stolz bemerkte den fragenden Blick der Ruge und fuhr lächelnd fort, „das ist der Grundbaustein für einen speziellen Plast, also in unserem Falle wird daraus durch Polymerisation PVC, kurz Poly-VC genannt, hergestellt. Ich arbeite in der V-Fabrik als Ingenieur zur Betreuung der Anlage.“

„Darüber würde ich gern mehr erfahren, wenn es erlaubt ist.“ Die Ruge sah Stolz fragend an.

„Es ist erlaubt. Außerdem würde ich hier und jetzt nichts lieber tun.“ Er beobachtete den interessiert gespannten Gesichtsausdruck der Frau und hatte plötzlich das Empfinden sofort etwas dafür tun zu müssen, damit er sie nicht wieder aus den Augen verlieren konnte. „Und doch habe ich vorher eine Frage an dich.“ Er wartete eine Sekunde, „darf ich dich zu einem gemütlichen Essen einladen, Dorothea?“

„Doro, meine Freunde sagen alle Doro zu mir. Ja. Und egal, ob Essen oder nicht, wir sollten uns treffen. Jetzt ich muß mich möglichst schnell auf der Station zurückmelden.“

„Morgen …“

„Morgen kann ich leider nicht, aber am Sonnabend habe ich frei.“

„Dann könnten wir uns ja schon früher treffen?“ Stolz sah die junge Frau an. Da er nichts Gegenteiliges aus ihrer Miene ablesen konnte, fuhr er fort, „vielleicht um 14 Uhr am Händeldenkmal auf dem Markt?“

„Einverstanden.“ Die Ruge reichte dem Mann die Hand, „also dann bis Sonnabend. - Auf Wiedersehen.“

Und schon war sie verschwunden.

„Tschüss!“ rief er ihr hinterher, „murmelte dann nur noch, „ich freue mich.“

Langsam ging Stolz den Flur zurück Richtung nord-östlichen Ausgang. Dort verließ er glücklicher Mann die Klinik.

Halle, Sonnabend 30. Januar 2018

„Errichtet von seinen Verehrern in England und Deutschland,“ unbemerkt war die Ruge an Stolz herangetreten, der in die Betrachtung der circa drei Meter hohen Händelstatue versunken schien, „1859 zum hundertsten Todestag aufgestellt.“

„Mich beeindruckt das Zusammengehen der Musikliebhaber der beiden Länder,“ mit diesen Worten drehte sich der Mann der Frau zu, „ich freue mich sehr dich zu sehen, Doro.“

„Völkerverständigung wurde in der DDR schon in der Schule intensiv vermittelt,“ als die Ruge Stolz in die Augen sah, bemerkte sie dessen fragenden Blick, „meine Mutter war Grundschullehrerin in der DDR. Sie ärgert sich, wenn die Wessis heute so tun, als wäre das Schulsystem im Osten schlechter gewesen als im Westen. Sie bestreitet das eminent.“

„Aber du kennst doch die DDR gar nicht mehr…“ Stolz sah die Frau erstaunt an.

„Meine Wurzeln liegen aber da und … muss man denn mir … meiner Mutter und mir, diese Wurzeln wegnehmen?“

„Nein, das ist falsch,“ stimmte Stolz schnell zu, „denke ich.“

„Für mich heißt das, dass die Mächtigen in diesem vereinigten Land immer noch Angst vor der DDR haben… oder?“

„Vielleicht nicht mehr vor der DDR, aber...“ Stolz brach ab, weil er nicht recht wusste, wie er den begonnen Satz präzisieren konnte, ohne ins Fettnäpfchen zu treten.

„Aber?“ fragte die Ruge, sah jedoch, dass der Mann nicht weiterwusste. Deshalb setzte den angefangenen Satz fort, „der materialistischen, marxistischen Philosophie, die sowohl die Welt ohne Religion vernünftig erklärt als auch sich eindeutig gegen Kriege wendet und - im Besonderen - die Ausbeutung abschaffen will.“

„Hmm, das klingt interessant. Leider wird heute zu viel Gutes, vielleicht sogar wertvolles, mit Müll zugedeckt,“ Stolz sah lächelnd zur Ruge, „aber lass uns von etwas Schönerem reden.“

„Ja. - Außerdem sollten wir ein Stückchen laufen,“ die Frau sah sich um, „was meinst du, in welche Richtung wollen wir gehen?“

Stolz zeigte in Richtung Marktkirche ‚Unser lieber Frauen‘, „neben der Kirche führt eine Treppe zum Hallmarkt runter, geradeaus geht’s weiter zur Hän-delhalle, über zwei Saalearme bis zum Saline Museum.“

Er drehte sich nach rechts, zeigte nach Norden zur Großen Ulrichstraße, „da entlang geht es zum Neuen Theater, zur Martin-Luther-Uni und zum Kunstmuseum Moritzburg.“

„Und nach Osten,“ übernahm die Ruge, sich in diese Richtung drehend, „über die Leipziger Straße, den sogenannten Boulevard, über den Hansering hinweg, am Leipziger Turm vorbei - übrigens ganz in der Nähe befindet sich der Gottesacker - kommt man zum Hauptbahnhof, während nach Süden,“ sie zeigte mit der Hand in diese Richtung, „man an der schönen und großen Buchhandlung vorbeikommt, man trifft auf den Eselsbrunnen und gelangt durch die Rannische Straße bis zu den Franckeschen Stiftungen.“

Beide dachten einen kurzen Moment nach, sahen sich an, wollten gleichzeitig sprechen, brachen ab, schwiegen kurz, bis Stolz der Ruge zu nickte, „du zuerst.“

„Das Programm des Neuen Theaters würde mich interessieren,“ sagte die Ruge langsam, als würde sie noch nach etwas anderem in ihrem Gedächtnis suchen, „und ist da nicht auch das Händelhaus in der Nähe?“

„Ja,“ antwortete Stolz knapp, dachte nach und fügte noch hinzu, „von da könnten wir zur Händel-halle schlendern und sehen, was die so anzubieten haben.“

„Gute Idee,“ stimmte die Ruge zu, „und dann wandern wir vielleicht zu den Franckeschen Stiftungen?“

„An deiner Arbeitsstelle vorbei? - Okay und danach sehen wir weiter?“

„Lass uns gehen.“ Die Frau nahm die Hand des Mannes, spürte dessen einverständlichen Druck und sie wanderten los.

Nach ein paar Metern begann die Ruge zu erzählen. „Ich mag dich, Michael. Es ist mir wichtig, dass wir uns gut verstehen.“ Dorothea Ruge überlegte bevor sie langsam weitersprach, „deshalb will ich dir eine kleine Geschichte über mich aus dem Jahr 2005 erzählen.“

20 - HILFSSCHWESTER DORO

Osterburg, Freitag, 12. August 2005

Hilfsschwester Dorothea Ruge schnappte sich den Wagen mit den Frühstückstabletts, um sie an die Patienten zu verteilen.

Es war ihr letzter Arbeitstag im Krankenhaus Osterburg, weil ab Montag, eigentlich erst ab Dienstag, ihr Mutterschaftsurlaub begann. Den einen Tag hatte die Oberschwester auf ihre Kappe genommen.

Die Schwangerschaft war der Grund, dass sie bereits am 1. Juli diese Arbeit als Hilfsschwester begann, damit sie finanziell unabhängig sein konnte. Ihre Mutter würde sie zwar immer wieder unterstützen, aber das wollte sie nicht. Die Ruge war der Meinung, ihre Mutter hätte schon genug für sie getan. Auf gar keinen Fall aber wollte sie von dem Vater ihres Kindes abhängig sein. Während Schwester Dorothea mit ihren Tabletts von einem Zimmer zum anderen fuhr, schweiften ihre Gedanken immer wieder zurück zu den Ereignissen der letzten Wochen und Monate.

Im 10. Schuljahr erhielt Ruges Klasse, ausgerechnet in ihrem Lieblingsfach Deutsch, einen neuen Lehrer, den dreißigjährigen Amadeus Hoffmann. Der mittelgroße, schlanke Mann mit seinem schwarzen Lockenkopf, war schon eine auffällige Erscheinung, mit den langen Koteletten wurde dieser Eindruck mindestens verdoppelt. Die Mädchen der Abiklasse hatten ihm schnell den Spitznamen Puschkin verpasst.

Dorothea dachte damals, ‚fehlt eigentlich nur der Bart, dann wäre… nein, das würde den Effekt eher abschwächen.‘ Sie war gespannt auf den Unterricht und wurde, wider Erwarten, nicht enttäuscht. Zumindest ihr gefiel sowohl die Art der Unterrichtsgestaltung als auch der Inhalt dieser Schulstunden. Das lag vielleicht auch daran, dass sie sich, nachdem sie lesen gelernt hatte, mit wachsendem Interesse immer mehr mit Literatur beschäftigt hatte, ohne je damit aufzuhören. Im Moment war gerade Thomas Mann ihr Dichterfavorit. Die kleine Geschichte von Mario und dem Zauberer imponierte ihr. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie damals aus diesem Stück für sich mitgenommen hatte. ‚Um sich einer Hypnose zu entziehen, genügte es also nicht, einfach nur nicht zu wollen, sondern man musste auch ein Motiv, eine Theorie gegen die fremde, sich aufdrängende Abhängigkeit finden, mit der man dem äußeren Einfluss entgegensteuern könnte.‘ Als dieser Lehrer Anfang 2003 einen Zirkel für Literatur eröffnete, war die Ruge die erste Teilnehmerin. Sie ahnte damals nicht, dass sie selbst der eigentliche Grund für Hoffmann war, dem die Aufsätze des jungen Mädchens von Anfang an besonders gefallen hatten, diese Arbeitsgemeinschaft ins Leben zu rufen.

Osterburg, Dienstag, 11. März 2003

„Ich hoffe, dass mich mein Gefühl nicht täuscht, wenn ich davon ausgehe, dass wir uns im zurückliegenden Jahr, gut zusammengerauft haben.“ Nach diesem Satz sah sich Hoffmann in der Klasse um. Er glaubte bei der Mehrheit seiner Schüler-innen, in deren Gesichtern Zustimmung ablesen zu können. Zum Schluss blieb sein Blick an Dorothea Ruge hängen. Ihre Augen sahen ihm offen und aufmerksam entgegen. Mit diesem Wissen fuhr Hoffmann fort, „ich beabsichtige für die Klassen 9 und 10 der Se-kundarstufe 1 und allen Klassen der Sekundarstufe 2, einen Literaturzirkel zu gründen.“ Wieder sah Hoffmann in die Gesichter seiner Schüler. Wie nicht anders zu erwarten, traf dieser Vorschlag natürlich nur bei wenigen Schülern auf Interesse. „Ich lasse zum Unterrichtsschluss hier vorn eine Liste liegen,“ Hoffmann legte demonstrativ ein Blatt Papier auf den Lehrertisch, „wer Interesse hat, kann sich ja eintragen… dann werden wir ja sehen.“

‚Die begabte Ruge trägt sich ein,‘ da war sich der Lehrer ganz sicher. Er warf einen flüchtigen Blick in ihre Richtung und registrierte mit Genugtuung, dass sich das junge Mädchen offensichtlich über seinen Vorschlag freute. „Hat vielleicht gleich jemand eine Frage dazu?“

Nach ein paar Sekunden meldete sich ein Schüler. Hoffmann nickte ihm zu, „ja Andreas?“

„Wann, wo und wie oft trifft sich der Zirkel?“

„Steht hier auf dem Blatt. Wir treffen uns vorerst einmal pro Woche am Dienstag jeweils 16 Uhr. Start ist nächste Woche, also am 18.“

Etwas zögerlich hob die Ruge ihren linken Arm in die Höhe, begann dann aber ohne Aufforderung zu reden, „geht es da nur um bereits fertige Literatur oder auch um neue, sozusagen noch nicht geschriebene?“

Diese Frage weckte offensichtlich auch das Interesse einiger anderer Schüler-innen, denn deren Köpfe hoben sich, wandten sich Hoffmann zu.

„Gute Frage, Dorothea, bisher habe ich nur an vorhandene Literatur gedacht.“ Das stimmte zwar nicht ganz, denn Hoffmann hatte sehr wohl darauf gehofft, dass sich der Zirkel auch zum Selbstschreiben hin entwickeln könnte, doch er hatte nicht vorgreifen wollen. Jetzt musste er sich wohl äußern, „ja - das ist eine gute Anregung. Selber schreiben, kreativ sein.“

Hoffmann dachte nach, um dann noch hinzuzufügen, „allerdings mache ich keine Nachhilfe fürs Aufsatzschreiben.“ Den Satz hätte er sich wohl schenken sollen, denn sofort sank das Interesse wieder. Außerdem lag es auf der Hand, dass ein solcher Zirkel natürlich auch, indirekt, eine Hilfe fürs Aufsatzschreiben sein würde. Er konnte sich nicht entschließen, dazu eine Bemerkung zu machen. Hoffentlich würde er damit nicht zu viele abschrecken.

Osterburg, Freitag, 12. August 2005

Während die junge Hilfsschwester ihren Rollwa-gen mit den Frühstückstabletts der Patienten über den Flur ins nächste Zimmer schob, ließ sie weiter ihren Gedanken freien Lauf.

Der Literaturzirkel erhöhte die Berührungspunkte zwischen Lehrer Hoffmann und der Schülerin. Ohne, dass die Ruge es merkte, war sie sich dem Mann im Verlaufe des letzten Jahres immer nähergekommen. Sie schrak zusammen, als einmal zufällig seine Hand ihren nackten Arm berührte. Eine feurige, nie vorher erlebte Welle fuhr durch ihren Körper. Das Gefühl war so überwältigend, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte, ja auch eigentlich gar nicht wusste, wie sie das hätte tun können oder tun müssen? Den Mann, der bereits beeindruckt war von der Intelligenz, der Fähigkeit literarischen Verstehens der Schülerin Dorothea Ruge, erstaunte die sexuelle Ausstrahlung dieser sehr jungen Frau. Hoffmann wusste, dass er das in ihm aufflackernde Verlangen sofort hätte bekämpfen müssen. Immerhin war Dorothea Ruge noch minderjährig und - sie war seine Schülerin.

Osterburg, Samstag 1. Weihnachtsfeiertag 2004

Kurz vor Weihnachten 2004 wies der Hausarzt Doros Mutter in ein Magdeburger Krankenhaus ein. Am 25. Dezember fuhr die Tochter in die Klinik, um sie zu besuchen und erfuhr, dass ihre Mutter immer noch sehr schwach war. Sie musste wohl noch mindestens zwei bis drei Wochen in der Klinik zubringen. Die Ruge war von Mahlwinkel mit der S-Bahn bis zur Landeshauptstadt gefahren. Als sie nach dem Besuch wieder zum Bahnhof zurückging, schoss ein Gedanke durch ihren Kopf, von dem sie nicht wieder loskam.

Der Fahrplan der Deutschen Bundesbahn kam ihr dabei entgegen. Ehe sie sich versah, saß sie im Zug Richtung Osterburg. Als Erstes schickte sie Pusch-kin, so nannten ihn inzwischen sowohl die sechs Zir-kelmitglieder als auch die anderen Schüler der Schule bei denen dieser Lehrer unterrichtete, über WhatsApp eine Nachricht. In siebzig Minuten würde sie auf dem Bahnhof in Osterburg ankommen. Sollte er die Nachricht nicht gelesen haben, dann stand sie eigentlich auf der Straße. Über Weihnachten war das Internat abgeschlossen, weil alle Schüler die Feiertage zu Hause verbringen sollten. Allerdings… kein Internat der Welt, auch nicht das Mädcheninternat in dem idyllischen Kleinstädtchen, ließ sich hundertprozentig abriegeln. Man musste nur die gut versteckte Möglichkeit kennen… und … Dorothea kannte sie.

Plötzlich fand sie ihren spontanen Einfall nicht mehr gut, im Gegenteil, er war total hirnrissig. Sie sackte auf dem Sitz zusammen, grübelte stumpfsinnig vor sich hin.

Amadeus Hoffmann war 32 Jahre alt, zwar nicht verheiratet, aber er lebte in einer mehr oder weniger festen Beziehung mit einer Frau zusammen. Hoffmann wollte keine Familie, obwohl oder vielleicht gerade, weil er sexuell hyperaktiv war. Seine derzeitige Partnerin liebte ebenso den häufigen sexuellen Kontakt in allen nur denkbaren Spielarten, sie akzeptierte es, keine Kinder zu gebären, sie duldete, wenn auch widerwillig, seine zeitweiligen Seitensprünge.

Als die Ruge in Osterburg um achtzehn Uhr dreißig ausstieg, wusste sie schon, dass eine halbe Stunde später ein Zug zurück nach Magdeburg, über Mahl-winkel, abfahren würde. Sie war fest entschlossen, nur einen kurzen Spaziergang zu machen, um dann gleich wieder nach Hause zu fahren. Dieser Entschluss löste sich blitzartig in Luft auf, als sie Pusch-kin auf dem Bahnhof stehen sah. In zwei Stunden fuhr der nächste, der letzte Zug, fast genau um 24 Uhr.

„Auf so einen Gedanken kannst auch nur du kommen Dorothea,“ begrüßte Hoffmann die Schülerin mit lächelndem Gesicht, „wie geht es deiner Mutter?“ Er nahm ihren Kopf in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ich komme direkt vom Krankenhaus,“ fast hätte die junge Frau gestottert, so beeindruckt war sie von der doch eher flüchtigen Berührung mit dem Mann, „meine Mutter muss dort noch ein paar Wochen zubringen, sagen die Ärzte.“ Die Ruge sah Puschkin in die Augen und rätselte, was dem Mann wohl jetzt durch den Kopf gehen könnte.

Hoffmann legte ihr kurz einen Arm auf die Schulter, „komm, lass uns ein Stück vom Bahnhof weggehen.“ Er drehte sich zur Seite und ging los.

„Hast du das Buch von Yann Martel schon gelesen, Doro?“ Hoffmann warf ihr einen kurzen Blick zu, ging aber weiter.

„Na klar.“ Ab sofort wusste die Ruge, was ein Kosename ist, und sie genoss es.

„Und was sagst du dazu?“ wieder ein kurzer Blick.

„Ist schon eine außerordentliche Story, ‚Schiffbruch mit Tiger‘, gut lesbar, nicht langweilig.“ Die Ruge registrierte, dass der eingeschlagene Weg sie zur Gleisüberführung lenkte. Von da aus verlief, parallel zu den Bahnsteigen, aber bereits außerhalb des Bahnhofsgeländes, ein mit Bäumen links und rechts abgeschirmter, idyllischer, sehr gern von Liebespaaren genutzter Spazierweg, der im Volksmund Bahnsteig 4 genannt wurde, denn der Bahnhof selbst besaß nur 3. „Aber auch ein wenig viel Fiction, für meinen Geschmack.“

Sie mussten an den geschlossenen Schranken stehen bleiben, denn der Zug, mit dem die Ruge gekommen war, fuhr noch bis Wittenberge und passierte in diesem Augenblick den Übergang.

Die Schranken hoben sich wieder, die beiden gingen vorerst schweigend weiter, bevor Hoffmann die Stille durchbrach. „Manfred Allié…“

„…der Übersetzer.“ Die Ruge wollte mit ihrem Wissen brillieren.

„… hat wohl mit seinem, von ihm gewohnten, guten Deutsch, ein ganz Teil dazu beigetragen, dass Martell dieses Jahr den deutschen Bucherpreis erhalten hat.“

„Bei dem Wort Übersetzer, fiel mir sofort das Buch von Ishiguro ‚Was vom Tage übrigbleibt‘ ein.“ Dorothea drehte sich zu Hoffmann um, sah an seiner Mimik, dass er den Autor selbstverständlich auch kannte. Sie fuhr fort, „der Roman, von Hermann Stiehl übersetzt, hat sich für mich wunderbar leicht gelesen. Ganz abgesehen vom Inhalt, hat mir allein das Lesen Spaß gemacht.“

„Bei dir wundert mich das nicht Doro,“ Hoffmann lächelte erneut, „aber vielen anderen ist die Thematik zu trivial.“ Er machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr, „dagegen ist doch ‚Bambiland‘ ein ganz anderes Kaliber.“

„Ist das von der Jelinek?“

„Du kennst das Stück nicht?“

„Ja … das heißt nein. Ich hatte es nur einmal in der Hand und wusste, dass sie den Nobelpreis …“

„…nicht dafür, aber ja, Elfriede Jelinek hat ein Drama, parallel zum Irakkrieg geschrieben, es ist von ‚schlechten Eltern, von den Medien‘ geschrieben, sagt sie selbst zu ihrem Stück.“

Inzwischen waren sie schon am beleuchteten Bahnhof jenseits der Gleise vorübergegangen, als Hoffmann sich mit einer entschlossenen Wendung vor die Ruge hinstellte, seine Arme auf ihre Schultern legte, ihr stumm in die Augen sah, um dann zuerst seinen Mantel, dann ihren zu öffnen. Ohne, dass er sie besonders ziehen musste, schmiegte sich die Frau an den Mann. So blieben sie stehen, verloren jedes Zeitgefühl…

Die Ruge genoss die zarte Berührung ihrer Körper, während er damit kämpfte das Verlagen nach mehr, in ihm zurückzudrängen. Ganz vertreiben ließ es sich ohnehin nicht mehr. Das Wetter war schon den ganzen Tag ungemütlich, nasskalt bei Temperaturen knapp über Null Grad.

Hoffmann wusste, dass sie beide es nicht so lange hier draußen aushalten würden, ohne vielleicht eine Erkältung zu riskieren und erst recht könnten, na ja könnten schon, aber hier draußen wollte er keinen Sex haben. Dafür war er einfach nicht mehr jung genug. Aber sein Verlangen danach, sich mit dieser jungen, intelligenten erotischen Frau zu vereinigen wurde immer stärker, drängender, immer weniger beherrschbar.

Also, was tun?

Die junge Frau fühlte die Exaltation des Mannes, ja, sie spürte seine Erregung direkt, durch das inzwischen erigierte Glied, dass auch in ihr sexuelles Verlangen entbrannte. So stark hatte sie das bisher noch nie erlebt. Sie hielt Hoffmann ihren Mund hin, er küsste sie zart, vorsichtig, als könne er sie verletzen. Das wiederum löste in Doro den Impuls aus, aktiver zu werden. Sie schob langsam ihre Zunge in seinen Mund, drückte ihren Bauch an das männliche Glied, fühlte wenig später, wie er mit einer Hand nach ihren Brüsten griff, während sich die andere unter dem Mantel hinter ihrem Rücken bewegte, die Schnalle des BHs ertastete und sie ziemlich schnell öffnete. Doro drehte sich ein wenig, um es dem Mann zu erleichtern, mit seiner Hand ans Ziel zu gelangen. Nur wenig später fühlte sie die kalte Berührung auf ihrer Brust. Ein heißer Schauer fuhr über ihren Körper, obwohl sie das nicht zum ersten Mal erlebte. Die Frau spürte, wie die Hand auf ihrem Rücken tiefer rutschte, bis sie auf ihrem Po landete und diesen fest, eher massierte, als streichelte, aber die sexuelle Wirkung war beträchtlich. Bei beiden beschleunigte sich der Atem. Trotz kalter Umgebung schienen sie zu fiebern.

Plötzlich löste sich die Frau, „nicht hier,“ murmelte sie, küsste den Mann leicht auf die Lippen.

Hoffmann sah die Ruge fragend an, aber er schwieg. Was sollte er auch sagen? ‚Zu mir können wir nicht?‘ Er wusste keinen Ausweg.

„Im Internat ist zurzeit niemand,“ flüsterte die Frau, obwohl sie hier ja ohnehin niemand hören konnte.

‚Das wird doch abgeschlossen sein,‘ dachte der Lehrer, denn er kannte Mutter Weber, die Heimleiterin des Mädcheninternats.

„Ich glaube, ich weiß, wie wir da reinkommen.“

Das klang für den Mann mehr wie eine Frage, obwohl er sich denken konnte, dass die pfiffigen Schülerinnen sich eine Möglichkeit, eine Chance für einen illegalen Zugang, geschaffen hatten. Aber er war sich nicht sicher, ob Doro das wusste, denn sie gehörte sicher nicht zu den Mädchen, die das bisher in Erwägung gezogen haben, geschweige denn, genutzt hatten.

„Komm,“ sagte die Frau nun doch etwas lauter, es klang sehr entschlossen.

Schweigend gingen sie Hand in Hand den Weg zurück, überquerten erneut die Gleise an derselben Stelle, bereits nach fünf Minuten trafen sie am Internat ein, das menschenleer und ruhig, nur von einer matten Straßenlampe beleuchtet, von einem eineinhalb Meter hohen Gitterzaun umgeben, vor ihnen lag.

Doro zog den Mann an die dunkelste Stelle des Zaunes, kletterte so schnell darüber hinweg, dass Hoffmann verblüfft, stehen blieb.

„Komm,“ flüsterte es von der anderen Seite.

Der Lehrer schob alle Bedenken zur Seite, kletterte flugs über den Zaun, folgte der Ruge, die an der vorderen Hausseite entlang pirschte und um die Ecke verschwand. Als Hoffmann hinter der Hauswand hervorlugte, sah er, dass die junge Frau, auf einem Mauervorsprung stehend, bereits an einem schmalen Fenster hantierte, das sich hinter Gitterstäben befand.

‚Durch das Gitter pass ich niemals durch‘, dachte Hoffmann, doch da sprang Doro leichtfüßig vom Sims runter. Es sah so aus, als hielte sie irgendetwas Kleines zwischen ihren Fingern. Hoffmann warf einen kurzen Blick zurück und bemerkte erst jetzt das kleine Vogelhäuschen an der Seitenwand des Fensters. Die Frau ließ ihm keine Zeit zu langem Überlegen, sie griff nach seiner Hand, zog ihn weiter, erneut um eine Hausecke herum und steuerte auf ein ebenfalls vergittertes Kellerfenster zu.

Für Hoffmann sah es so aus, als ob nicht nur das Gitter, sondern auch die Größe des Fensters für ihn ein unüberwindliches Hindernis sein würde. Doch als er näherkam, bemerkte er die kleine Mulde zum Fenster hin, die zumindest die Größe der Öffnung passierbar machte, aber das Gitter? Mit Neugier betrachtete er daher die Handlung der Ruge, denn die hantierte etwas vorgebeugt an dem Gitter, was genau sie tat konnte er nicht sehen, aber plötzlich drehte sie das Gitter zur Seite und öffnete tatsächlich das Fenster.

Er trat näher, um sich die Sache genauer zu betrachten. Jetzt fiel ihm ein, warum dieses Gitter, im Unterschied zu allen anderen, nicht in die Mauer eingelassen, sondern bewusst mit Scharnieren versehen worden war. Der Grund war trivial. Die Kohle für die Heizung gelangte nur hier, durch diese Luke, in den Kohlenkeller. Deshalb mussten Gitter und Fenster leicht zu öffnen sein. Aus Geldmangel wurde für dieses Gebäude immer noch die veraltete mit Kohle befeuerte Dampfheizung verwendet. Damit Unbefugte nicht so ohne weiteres über diesen Weg ins Haus gelangen konnten, hatte der Hausmeister das Gitter mit einem Vorhängeschloss gesichert. Das Fenster dahinter zu öffnen, stellte keine besondere Schwierigkeit dar, weil es ein Doppelflügelfenster war und offensichtlich der Riegel in der Mitte sich leicht aus seiner Vertiefung drücken ließ. Dabei hatten die Heiminsassinnen natürlich auch ein bisschen nachgeholfen, aber so, dass es bis jetzt noch niemand bemerkt hatte. Den Schlüssel für das Schloss hatten die Mädchen dem Hausmeister stibitzt. Als der bemerkte, dass ein Schlüssel fehlte, glaubte er selbst Schuld zu haben, denn manchmal trank er ein wenig zu viel Wodka, dann wurde er vergesslich, also hatte er einfach einen Schlüssel nachmachen lassen.

Erneut sah die Frau den Mann an, nickte nur kurz und schwang sich durch das Fenster in den Keller hinein.

„Komm Alex!“ rief die Frau leise und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Natürlich kannte der Lehrer seien Spitznamen Puschkin bei den Schülern, allerdings hatte noch niemand die Kurzform des Vornamens für ihn verwendet. Deshalb überraschte den Mann die Anrede Alex, die Doro zum ersten Mal ihm gegenüber gebrauchte. Das schürte das Feuer in ihm. Als er Doros Hand ergriff, loderte es hell auf in ihm. Kaum hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, zog er die Frau an sich, spürte hautnah ihren bebenden Busen auf seiner Brust, offensichtlich hatte sie irgendwann den BH ganz abgestreift, ohne dass er es bemerkt hätte, er presste seine Lippen auf ihren Mund. Ohne aufzuhören sich zu küssen, liebkosen, zogen die beiden sich gegenseitig den Rest ihrer Kleidung aus. Doro ließ sich nach hinten fallen, er hielt sie fest, sah sich um, bemerkte im Halbdunkel eine alte Matratze auf dem Kellerfußboden liegen, direkt hinter der jungen Frau. Sehr vorsichtig, um der Geliebten nicht weh zu tun, bettete er sie so gut es ging, auf dieser fragwürdigen Unterlage, die sich unerwartet weich anfühlte. Genau darauf lagen nur wenig später die beiden Liebenden eng umschlungen, aufs Innigste vereint. Die alte, sicher auch verdreckte, Matratze spielte keine Rolle mehr. Langsam hob und senkte der Mann seinen Körper. Doro stöhnte auf, er hielt inne, doch sie flüsterte, „es ist so schön, komm weiter, immer wieder.“ Sie flüsterte lustvolle, zärtliche, aufreizende Worte. Der Mann bewegte sich erneut, die anziehenden Worte, die kleinen Seufzer, das leise Stöhnen, reizte ihn so, dass auch er brummte und leise ächzte. Die Zeit schien stehenzubleiben. Die zwei genossen einander, sie hatten das Gefühl nie mehr damit aufhören zu können, fast fanden sie es schade, als es zum Orgasmus kam, denn damit ließ auch die Lust langsam nach.

Als Hoffmann nach einiger Zeit wieder die Umgebung wahrnahm, inzwischen hatten sich die Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt, wurde ihm bewusst, dass sie direkt neben einem riesigen, zumindest aus dieser Perspektive, riesigen Kohlenberg ge-bumst hatten. Es war schon lange her, dass er eine solche Befriedigung nach einem Samenerguss verspürt hatte. Insofern machte er sich auch keine Sorgen um seine Sachen. Ja, wo waren die überhaupt? Er warf einen Blick in die Runde, sah ihre und seine Kleidung bunt durcheinander herumliegen, auf dem Boden im Staub, einem alten Regal und einige waren sogar bis auf den Kohlenberg geflogen.

Auf einmal hörte er ein Kichern neben sich, drehte sich zu Doro, sah ihre strahlenden Augen und den zum Lächeln verzogenen Mund, „du siehst aus, wie ein Schornsteinfeger,“ sie betrachtete ihre vom Kohlenstaub schwarz gefärbten Hände, „kann ich mal meine Hände bei dir abwischen?“ und sofort fuhr sie ihm damit über seine nackte Haut, „so jetzt fehlt nur noch ein Zylinder?“

Hoffmann stand auf, sah an sich herunter, überall befanden sich, vom Kohlenstaub schwarzgefärbte Hautstücke, sogar der durch die zärtlichen Berührungen wieder im Wachsen begriffene Penis, wies ein paar schwarze Flecken auf. Er zog die nackte, auch nicht mehr nur weiße Frau nach oben, streifte ebenfalls seine schwarzen Hände, vor allen Dingen an den vollen weißen Brüsten ab und nur Sekunden später trieb die Libido ihre Körper erneut zusammen, sie küssten sich lustvoll, er packte ihre Pobacken mit beiden Händen, während Doro ihm half, dieses Mal im Stehen, in sie einzudringen. Ihnen schien, als wäre diese Vereinigung noch tiefer, inniger … unlösbarer …

Osterburg, Freitag, 12. August 2005

Die Ruge schob den inzwischen leeren Paletten-wagen zum Schwesternzimmer, ließ ihn dort stehen und rannte zur Toilette. Sie spürte nicht nur Wehen, sondern ihr war auch richtig schlecht und zu allem Übel hatte sie auch noch das Gefühl, als sei ein Durchfall kaum noch aufzuhalten. Sie schaffte es bis aufs Klo. Kaum saß sie da auf der Brille, war alles wieder wie weggeblasen. Nur ein leichtes Zittern zog in kleinen Schüben alle 10 Sekunden über ihren Körper. Hier auf der Brille sitzend fühlte sie sich erleichtert und sicherer, weil ihr so auf alle Fälle Peinlichkeiten erspart blieben, wenn Übelkeit und Durchfall zurückkommen sollten. Die Gedanken, die sich ihr jetzt aufdrängten, beunruhigten sie auf andere Art und Weise.

Osterburg, Sonntag, 19. Juni 2005

Einen Tag nach dem Abiball, den die Ruge nur kurz zur Zeugnisübergabe besucht hatte, wollte sie sich mit Hoffmann treffen.

Inzwischen ahnte, nein wusste sie eigentlich, dass der von ihr geliebte Mann, keine Kinder, auch nicht von ihr, wollte, aber noch fand sie sich damit nicht ab.

Als Hoffmann an der verabredeten Stelle nicht eintraf, fing sie an ihn zu suchen.

Vergeblich.

Sogar in seiner Wohnung fragte sie nach, aber die Lebensgefährtin schien ebenso keine Ahnung zu haben, wo der Gesuchte sich aufhalten könnte. Vielleicht wollte sie aber ihrer Nebenbuhlerin nur keine Auskunft geben. Nach kurzem Überlegen schlug die Ruge den Weg zur Schule ein, obwohl heute Sonntag war. Für die meisten hatten bereits die Ferien begonnen.

Die Tür zum Hauptgebäude stand offen. Also betrat sie das Gebäude, stieg automatisch die zwei Treppen bis in ihr Klassenzimmer hinauf und betrat den Raum, wo sie die letzten vier Jahre, etwa ein Viertel des Tages, verbracht hatte, meistens mit Interesse und Lust. Sie hing einen kurzen Augenblick ihren Erinnerungen nach, dann verließ sie schnell wieder den Raum. Hier würde sie Hoffmann nicht treffen. Sie stieg wieder eine Treppe nach unten, weil sich da das Lehrerzimmer befand, doch die Tür war verschlossen. Sie dachte einen Moment nach, erinnerte sich, dass vor ein paar Wochen Hoffmann sie in ein kleines Zimmer gezogen hatte, weil sie sich beide unbedingt küssen mussten. Wo war des gleich gewesen? Irgendwie hatte das mit dem Chemie-Physikraum zu tun, obwohl Hoffmann mit diesen Fächern nichts zu tun hatte. Aber ja, jetzt fiel es ihr wieder ein, Hoffmann war eine Minute vor Unterrichtsschluss in die Chemiestunde geplatzt, hatte den jungen Lehrer Jablonski beschimpft, weil der im Raum des Literaturzirkels irgendwelche Diagramme aufgehängt hatte, die Hoffmann gar nicht in den Kram passten. Das Klingeln zur Pause beendete den kurzen Streit, die Schüler und ihr Lehrer verließen den Raum. Plötzlich waren Hoffmann und die Ruge allein… Genau, so war das damals, und direkt neben der Tafel gab es eine Tür, die in den kleinen Vorbe-reitungsraum für Physik- oder Chemieexperimente führte. ‚Aber was sollte Hoffmann heute da zu suchen haben?‘ Dennoch ging sie weiter in diese Richtung, traf nach ein paar Sekunden im Chemieraum ein und öffnete ohne besondere Erwartung die Tür zu diesem kleinen Nebenraum. -

Das Gesicht der jungen Frau erstarrte im auffla-ckernden Lächeln, da sie tatsächlich Hoffmann erblickte, aber erst eine Sekunde später begriff, was sie da außerdem sah. Ein junger Mann, vielleicht sogar noch ein Schüler, kniete vor Hoffmann und bearbeitete dessen erigierten Penis mit seinem Mund. Nur eine Sekunde später stöhnte Hoffmann laut auf, es hörte sich an wie ein Gemisch aus Lust, Schmerz und Entsetzen, das der Ruge durch ihren ganzen Körper fuhr. Sie machte schlagartig kehrt, rannte aus dem Unterrichtsraum, raste die Treppen abwärts, lief kopflos aus dem Haus. Ein Wunder, dass sie nicht auf den Treppen gestürzt war. Erst etliche Meter von der Schule entfernt verfiel sie in Gehen, atmete tief durch, während ihre Gedanken nach wie vor um das gerade Gesehene kreisten.

Obwohl die Ruge schon vorher gewusst hatte, dass Hoffmann bisexuell war, hatte sie dummerweise geglaubt …

Osterburg, Freitag, 12. August 2005

Plötzlich setzten die Wehen mit solcher Intensität ein, dass die junge Frau verzweifelte Schreie ausstieß. Eine Kollegin hörte das, eilte herbei, versuchte die Ruge zu beruhigen, doch als sie das Blut im Toilet-tenbecken sah, lief sie sofort los, um einen Arzt zu Hilfe zu holen.

Der Mediziner brauchte nur ein paar Sekunden. „Eine Frühgeburt! Holen sie eine Krankentrage oder besser einen Rollstuhl. Dorothea muss sofort in den OP!“

Die Schwester flitzte davon, kam Sekunden später mit dem Rollstuhl zurück, gemeinsam setzten sie die wimmernde Frau in das Gefährt und eilten zum Fahrstuhl. Nur ein paar Minuten später lag die Ruge im OP.

Stunden danach erwachte Dorothea Ruge aus der Narkose, öffnete die Augen, sah den Chefarzt der Station und wollte etwas sagen. Sie bewegte auch die Lippen, aber die Worte waren nicht zu hören.

„Ganz ruhig Dorothea,“ der Arzt legte beruhigend eine Hand auf den Arm der Frau, „es tut mir sehr leid,“ der Mann atmete noch einmal tief durch, „aber sie hatten leider gerade eine Fehlgeburt. Wir konnten das Kind nicht mehr retten, ohne ihr Leben zu gefährden.“

Der Arzt schwieg einen Augenblick, dann fügte er ruhig hinzu, „aber sie selbst sind vollkommen wieder hergestellt.“

Halle, Sonnabend 30. Januar 2016

„Heute habe ich es zum ersten Mal geschafft, die ganze Geschichte zu erzählen, ohne in Schwermut zu verfallen.“ Mit diesen Worten beendete die Ruge ihren Lebensbericht. Sie hatte sich schon während des Erzählens immer wieder am Gesichtsausdruck des Mannes versichert, dass der ihre Worte nicht nur hören wollte, sondern auch zu verstehen schien. - Soweit ein Mann das, bei einem nur für eine Frau möglichen Zustand, überhaupt kann.

„Das Nachzuempfinden ist für einen Mann wohl unmöglich,“ sagte Stolz langsam, mit nachdenklicher Mine, als hätte er ihre Gedanken erraten, „aber offensichtlich ist, dass so eine Schwangerschaft eine Beziehung radikal verändern, im schlechtesten Fall sprengen kann. Deine damalige Situation scheint es mir besonders krass. Das dich ständig quälende Bild des schockhaften Betrugs des Geliebten, die Fehlgeburt, der Tod des Kindes, das ist eindeutig zu viel. – Wie hast du es nur geschafft aus diesem expressiven Zusammenbruch wieder herauszufinden?“

„Da hilft eigentlich nur die Zeit und eine intensive, eine fordernde Beschäftigung.“ Die Ruge schien ihren Worten nachzulauschen. „Sexuelle Leidenschaften, einschließlich der daraus folgenden Handlungen, haben die vielfältigsten Seiten,“ die Ruge sah auf den Schaukasten an der Wand, vor dem sie stehen geblieben waren, „und leider sind viele davon ganz und gar nicht - schön, um es einmal vorsichtig auszudrücken.“

Inzwischen hatten die zwei schon längst das Neue Theater erreicht, waren im Hausdurchgang zu den Theatersälen an einem der Schaukästen stehen geblieben, ohne die Hinweise zum Spielplan und die Fotos von einzelnen Theaterszenen zu beachten.

„Ja, so dicht liegen Freud und Leid beieinander,“ sinnierte Stolz, „und das bei wohl allen Menschen.“

„Grund genug,“ setzte die Ruge die Gedanken fort, „dass sich jede oder jeder, intensiv bemüht, gerade in einer Beziehung aufmerksam und rücksichtsvoll zu sein.“

„Stimmt,“ sagte Stolz nachdenklich.

Danach herrschte Stille.

Die Ruge hing scheinbar weiter ihren Gedanken nach, während Stolz den Spielplan zu studieren begann.

„Sieh mal hier Doro,“ der Mann zeigte auf eine bestimmte Stelle im Schaukasten, „am 6. Februar ist Premiere von ‚Frühlingserwachen‘.“

„Ah. Wedekind. Das Thema passt zu unserem Gespräch.“

„Und hier im November 2016 ‚Die Kleinbürgerhochzeit‘ von… weißt du das auch Doro?“

„Bertolt Brecht, 1919 mit 21 Jahren verfasst, 1926 in Frankfurt uraufgeführt.“

„Also vor 90 Jahren.“

„Und immer noch aktuell, an dem angeblich ‚schönsten Tag des Lebens - der ‚Hochzeit‘ - wird in dem Brechtstück nicht nur das Mobiliar, sondern auch der Ruf der Braut total zerstört.“ Die Ruge schüttelte missbilligend ihren Kopf.

„Ja, stimmt. - Und ich habe so den Eindruck das boomt heute wieder, ich meine die übertriebene Hochzeitszeremonie, einschließlich der beknackten, getrennten Zeremonien am Vorabend für Braut und Bräutigam. Aber…“ Stolz stockte.

„Aber?“ fragte die Ruge verwundert.

„Aber, das Wort an dieser Stelle, ist Quatsch,“ Stolz lachte kurz auf, „ich war mit meinen Gedanken schon wieder weiter. - Ich glaube, dass gerade das sexuelle Verlangen, das nicht nur bei allen Menschen vorhanden ist, sondern sogar wie ein Instinkt funktioniert, und die sexuelle Befriedigung dieser Lust sehr, sehr vielfältig ist…“

„…und es tausend Klippen gibt, wovon viele sich die zivilisierte Welt selbst geschaffen hat,“ fuhr die Ruge fort, „sie können die Menschen daran hindern, diese Lust, ohne jemanden zu verletzen, zu befriedigen.“

„Ja,“ Stolz sah der Ruge in die Augen, „genau. Und die unerfüllte Begierde staut sich an, belastet Körper und Geist, kommt vermutlich spontan zum Durchbruch. Das kann für denjenigen selbst und deren Partner zu hässlichen Folgen führen.“

„Weißt du Micha, ich finde es am schlimmsten, dass den Sex betreffend von den Menschen selbst zu viel verschleiert, zum Teil sogar verteufelt wird, durch Unkenntnis, mangelnde Aufklärung, religiöse Einschränkungen, Gebote und Verbote.“

„Genau das,“ Stolz sah der Frau aufmerksam ins Gesicht, „ist mir vorhin beim Ansehen des Aushangs von Brechts Theaterstück durch den Kopf gegangen, denn zu den Einschränkungen gehört, die quasi per Gesetz verordnete, soziale monogame Beziehung. - Oder wie siehst du das Doro?“

Weil die Ruge schwieg, fügte er noch schnell hinzu, „das ist natürlich kein Freibrief fürs Fremdgehen, - für die Frau genauso wenig, wie für den Mann. Es werden in jedem Fall Menschen tief verletzt.“