Tote sind auch nur Menschen - Andree Metzler - E-Book

Tote sind auch nur Menschen E-Book

Andree Metzler

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Bestatterin wider Willen Annelie reicht es: Schon wieder ist ein potentieller Traummann aus Versehen in den Leichenkeller ihres Vaters gestolpert und hat verstört das Weite gesucht. Sie muss endlich ausziehen, weg vom familiengeführten Bestattungsunternehmen in Thüringen. Doch kaum, dass sie zwei Tage außer Landes ist, erreicht sie die Nachricht, dass ihr Vater einen Schlaganfall hatte. Schweren Herzens kehrt Annelie zurück um den Laden wenigstens vorübergehend zu schmeißen. Doch nichts läuft wie es soll: Trauerredner Klaus ist mit seinen sozialistischen Reden einfach aus der Zeit gefallen und die Floristin kann leider Orange von Pink nicht unterscheiden. Und dann geht Annelie auch noch eine Leiche verloren. Gemeinsam mit dem gut aussehenden Max, dem Sohn der Verblichenen, macht Annelie sich auf die Suche nach der scheinbar sehr lebendigen Toten… 

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Tote sind auch nur Menschen

Der Autor

Andree Metzler, 1966 im Sternzeichen Zwilling geboren, erlernte zwei technische Berufe, um dann Jura zu studieren, jobbte als technischer Zugbegleiter auf einem Nachtzug, als Doorman im Hotel Adlon und Barkeeper in einem Musicaltheater. Nach dem Studium lockten die Medien. Er verfasste Käpt-Blaubär-Geschichten für eine Verkehrsfibel, war mit Santiano in Irland unterwegs und unternahm "Eine kulinarische Entdeckungsreise durch Brandenburg", begleitete die Entstehung der AIDAdiva ebenso wie einen Tunnelvortrieb von Herrenknecht. Für seinen Erstling recherchierte er eine ganz andere Branche: das Bestattungswesen. Er meditiert am liebsten beim Kochen, spielt Theater und ist mit einer Perserin liiert, alles in Berlin.

Das Buch

Annelie reicht es: Schon wieder ist ein potentieller Traummann aus Versehen in den Leichenkeller ihres Vaters gestolpert und hat verstört das Weite gesucht. Sie muss endlich ausziehen, weg vom familiengeführten Bestattungsunternehmen in Thüringen. Doch kaum, dass sie zwei Tage außer Landes ist, erreicht sie die Nachricht, dass ihr Vater einen Schlaganfall hatte. Schweren Herzens kehrt Annelie zurück um den Laden wenigstens vorübergehend zu schmeißen. Doch nichts läuft wie es soll: Trauerredner Klaus ist mit seinen sozialistischen Reden einfach aus der Zeit gefallen und die Floristin kann leider Orange von Pink nicht unterscheiden. Und dann geht Annelie auch noch eine Leiche verloren. Gemeinsam mit dem gut aussehenden Max, dem Sohn der Verblichenen, macht Annelie sich auf die Suche nach der scheinbar sehr lebendigen Toten…

Andree Metzler

Tote sind auch nur Menschen

Kriminalroman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAugust 2018 (2)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © Die Hoffotografen GmbH BerlinE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95819-209-6

Die Texte "Engel für die Ewigkeit" und "So geh nun deinen Weg" aus: Maibaum, Frank: Das Abschiedsbuch. J. F. Steinkopf, Stuttgart. 2. Auflage, 2015.

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Leseprobe: Hochzeitstorte mit Todesfall

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Cover

Titelseite

Inhalt

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1

Die Turmuhr der nahe gelegenen Stadtkirche Sankt Peter schlägt gerade zweimal, doch ihr heiliger Klang schafft es kaum, das Prasseln und Trommeln des schweren Regens zu durchdringen. Auf dem durchweichten Bergfriedhof oberhalb des Gotteshauses fällt ein bemooster Grabstein müde um.

Jonas wälzt sich hektisch aus dem Bett. Der Druck auf seiner Blase ist zu groß. Kurz sieht er zu ihr hinüber, sie schläft, mit einem seligen Lächeln. Im Schlaf sieht sie noch unschuldiger aus. Oder liegt es am sanft schmeichelnden Dämmerlicht der alten Straßenlaterne? Ohne weiter darüber nachzudenken, fangen seine Augen an zu suchen. Wo ist hier das Klo?

Leise öffnet er die niedrige Dachkammertür und stößt sich beim Hinausgehen, wie schon Stunden vorher beim Eintreten, die Stirn. Dem dumpfen Plock folgt ein »Scheiße«, das rücksichtslos aus ihm herauszischt. Er dreht sich ruckartig zu ihr, hofft, sie nicht geweckt zu haben. Sie rekelt sich, ohne aufzuwachen, und zuppelt sich ihre Bettdecke unter die Nase. Vorsichtig senkt er seinen Kopf und tritt durch die Kammertür hinaus in das stockdunkle Treppenhaus des alten Fachwerks. Er tastet. Nirgends ein Lichtschalter. Er arbeitet sich die enge Stiege von der Dachkammer hinab. Zaghaft, als würde er in einen frühlingskalten Badesee steigen. Bei jedem Schritt knarrt das alte, ausgetretene Stiegenholz. Hoffentlich ist hier niemand, denkt er, das Klo kann ja nicht weit sein. Im ersten Stock schiebt er eine knarrende Tür auf, jedoch findet er nur die Küche, ein buntes Sammelsurium von Mobiliar und Gerätschaften zurückliegender Epochen, das die Kochgerüche der letzten Jahre sicher konserviert hat. Verdammt. Genervt knipst er das Licht wieder aus, strebt weiter, um kurz darauf im Erdgeschoss erneut einen unbekannten Raum zu betreten. Im Dämmerschein der Laterne fällt sein Blick in eine Art Büro mit einem massiven, fast bedrohlich wirkenden dunklen Schreibtisch, einer schweren, eingesessenen Ledercouch und einem Regal voller bauchiger Vasen. Nein, auch hier keine Toilette.

Neben der Tür zum Büro ist die Haustür, hinter der sie sich vor wenigen Stunden noch so stürmisch geküsst haben. Allerdings währt dieser Gedanke nur kurz, der Druck ist nun unerträglich. Soll er kurz auf die Straße gehen? Nackt? In den Regen? Die Haustür ist nicht verschlossen. Als er gerade ins Freie treten will, hört er, wie eine Frau mit ihrem Hund den Gehweg entlangkommt.

»Los, Hasso, piss jetzt endlich, der Regen schafft’s doch auch«.

Leise und verzweifelt schiebt er die Tür zu und steigt nun weiter das Treppenhaus hinunter. Schmerzhaft kalte Steinstufen lösen die knarrenden Holzstiegen ab und zwingen ihn auf die Zehenspitzen. Vorsichtig gleitet er mit einer Hand das Geländer hinab, während er mit der anderen seine Männlichkeit knetet, um den immer heftiger werdenden Drang zu mildern.

Unten angekommen schiebt er sich an der Wand entlang und ertastet eine weitere Tür. Stahl. Solide und kalt. Komisch für eine Klotür, aber das muss sie sein, es gibt sonst keine Möglichkeit. Entschlossen drückt er die Klinke, bis er spürt, wie das Schloss seinen Halt verliert und die massive Metalltür einen Spalt aufspringt. Jäh wie ein Fausthieb drängt ihm ein grell-gelbes Neonlicht entgegen. Seine Augen schließen sich reflexartig, strömende Kälte erfasst seinen nackten Körper. Es riecht nun auch aufdringlich, nach Desinfektionsmittel und frischem Kaffee. Im Hintergrund läuft Schlagermusik. Der unerwartete Angriff auf Augen, Ohren, Nase und seine nackte Haut lässt ihn erzittern und fast seine ohnehin schon strapazierte Kontinenz verlieren. Er will nun endlich eine Toilette, und so blinzelt er gezielt in das Neonlicht und erkennt in einem verschwimmenden Meer aus weißen Fliesen nach und nach den Rücken eines stämmigen alten Mannes mit weißer Gummischürze, rotem Schal und grünem Filzhut, der summend an einem Tisch hantiert. Im nächsten Moment bückt sich der Alte und gibt den Blick auf den wuchtigen, metallisch blitzenden Tisch frei. O mein Gott! Dort liegt eine nackte Frau mit schlaffer Haut, offenem Mund und offenen Augen, ihr rechter Arm rutscht gerade über die Tischkante, gibt den Blick auf eine blutrot verklebte Braunüle frei und bleibt dann reglos hängen.

Ein Schrei durchzieht das alte Fachwerkgemäuer wie ein Blitz einen Sommergewitterhimmel. In ihrer Dachkammer schreckt Annelie hoch, sitzt aufrecht im Bett und lauscht einem angsterfüllten Jammern, welches sich panisch aus dem Keller nach oben drängt und dann fluchtartig entfernt. Dann fällt laut krachend die Haustür ins Schloss.

Oh, nicht schon wieder, denkt Annelie, nicht schon wieder so ein Abgang. Das mit den Männern kann ich mir in diesem Haus wohl abschminken. Enttäuscht schiebt sie ihre Hand neben sich auf die leere und reichlich zerwühlte Betthälfte, streichelt sehnsüchtig über die Falten, auf denen vor einigen Minuten noch sein gut gebauter Körper gelegen hat. Ist da noch seine Wärme? Nein. Traurig schaut sie aus dem Fenster auf die nahe gelegene Stadtkirche, die hell angeleuchtet dem Regen trotzt. Keine Reaktion vom Himmel. Auf dem alten Schreibtisch vor dem Fenster erkennt sie im schwachen Schein der Straßenlaterne seine Boxershorts, die er, als es so wunderschön zur Sache ging, nicht schnell genug loswerden konnte. Auf dem Boden verstreut liegen sein Sweatshirt, Jeans und Socken. Annelie schaut auf seine Hinterlassenschaften und weiß: Abschied! Jonas, den hübschen Typen, den sie am Abend auf dem Frühlingsfest im Nachbarort kennengelernt hat und der nun splitterfasernackt im strömenden Regen die abschüssige Straße der Altstadt entlangrennt, wird sie nie wiedersehen.

Annelie findet ihren zerknitterten Slip unter der Bettdecke und wirft ihn wütend Richtung Stiegenhaus. Verflixt noch mal, Hanno, ihr Vater, hat es versaut. Er hat erneut versäumt, die Tür zum Leichenkeller zu verriegeln. Wie oft hat sie ihn schon darum gebeten? Meistens aus allzu hoffnungsvoller Vorsorge, wenn sie mal wieder hübsch gestylt zu einem Stadtfest oder zur Kirmes aufbrach. Annelie ärgert sich in diesem Moment auch über sich selbst. Hätte sie Jonas den Weg zum Klo – ganz einfach durch die Küche – nicht vorher zeigen können? In ihrer wilden Gier nach Leben ist dafür keine Zeit geblieben. Sehr schade. Nun ist Jonas weg, und er hat sich doch so gut angefühlt.

Annelie steht auf, öffnet das Fenster und schaut suchend auf die Straße hinunter. Regentropfen verfangen sich in ihrem Haar. Das Kopfsteinpflaster glänzt nass, alles wirkt so friedlich, so als ob nichts gewesen ist. Den Schrei hat wohl niemand vernommen. Die frisch-feuchte Luft kühlt ihren warmen Körper ab. Sie schaut auf die beiden beleuchteten Türme der alten Stadtkirche und nimmt ein paar tiefe Atemzüge. So kann es nicht weitergehen. Gleich morgen früh wird sie mit Hanno sprechen. Sie will ihr Elternhaus, na eigentlich ist es ja nur noch ihr Vaterhaus, verlassen. Eine eigene Wohnung, ja, das will sie, vielleicht in einem Nachbarort. Hannos Leichen vertreiben ihr hier doch jeden Mann. Überhaupt, in Sonneberg ist sie schon seit ihrer Schulzeit, ach was, schon seit dem Kindergarten als Leichen-Anni bekannt. Von den Gleichaltrigen will jedenfalls niemand etwas mit ihr zu tun haben. Die Leute reden ja schon hinter ihrem Rücken: Na, Leichen-Anni bekommt hier bestimmt keinen Mann mehr ab. Wahrscheinlich haben sie sogar recht, und jetzt weiß auf jeden Fall auch der süße Jonas Bescheid. So was Blödes! Entschlossen schiebt sie die alten Fensterflügel zu, legt sich in ihr Bett und zieht mit einem Ruck ihre Bettdecke bis zum Kinn. »Gute Nacht!«

2

Am nächsten Morgen sammelt Annelie die zurückgebliebenen Klamotten von Jonas zusammen, faltet sie ordentlich, schichtet sie auf und legt sie zu den anderen männlichen Hinterlassenschaften in ihren Kleiderschrank. Obenauf heftet sie mit einer Sicherheitsnadel einen Zettel: Jonas, 3. Mai 2016. An den unteren Haufen befinden sich die Notizen Martin, 5. September 2015 und Kevin, 14. Januar 2013. Gedankenverloren streicht sie über die sanften Kanten der Päckchen. Ob sie diese Jungs je wiedersehen wird? Nach einem kurzen Augenblick macht sich Unverständnis in ihr breit. Nie würde sie ihre Sachen einfach so bei einem One-Night-Stand liegen lassen, nicht mal bei einem halben. Und warum ist der Leichenkeller für alle so ein Ort der Panik?

Sie weiß es noch genau, als sie das erste Mal dort unten gelandet war, als Kind, versehentlich natürlich, sie spielte mit ihrer Mutter gerade Verstecken. Damals hatte auf dem schweren Metalltisch ein Mensch ganz still unter einem großen weißen Tuch gelegen und sich nicht geregt. Toll, dachte Annelie, so schnell habe ich Mama gefunden. Fröhlich stupste sie die weiße Gestalt an: »Gefunden!« Trotzdem blieb diese total still liegen. Völlig reglos. »Gefunden ist gefunden!«, trötete Annelie nun ungeduldig und zerrte an dem Tuch, sodass zwei nackte, blasse und schrumpelig alte Füße zum Vorschein kamen. Das sind nicht Mamas Füße, dachte sie noch, dann eilte ihre Mutter herbei, nahm ihr liebevoll, aber bestimmt das Tuchende aus der Hand, bedeckte die Füße rasch wieder und führte sie aus dem Keller. Annelie drehte sich noch mal um und fand es schon komisch, dass für die weiße Gestalt das Versteckspiel weiterging, wohingegen es für Annelie nun zu Ende war. Später erzählte ihr die Mama, dass der Mann unter dem Tuch ganz müde sei und nun ganz lange schlafen müsse. Das nennt man tot sein, sagte sie. Ja. Annelie verstand das. Von Panik aber keine Spur. Nichts. Und auch später machte es Annelie nichts aus, wenn Hanno seine Kundschaft bearbeitete. Warum machen die Jungs dann so ein Drama aus dem Leichenkeller?

Zielstrebig überspringt Annelie beim Runtergehen jede zweite Stiege.

»Morgen.« Hannos Stimme klingt matt. Er sitzt etwas gekrümmt am Küchentisch, legt sein Messer beiseite und gießt Annelie sogleich Kaffee ein.

Annelie setzt sich vorwurfsvoll auf ihren Platz am Küchentisch gegenüber und zieht ruppig den Kaffeepott zu sich. »Papa, wir müssen reden! Ist wichtig!«

Hanno richtet sich auf, sein Gesicht erhellt sich. »Hast du’s dir überlegt?!«

»Nein, nein, nicht das! Ich mach das nicht mit der Übernahme und so, ich mag meinen Job, ich will nur auszi…«

Annelie verschluckt den Rest des Wortes, als sie sieht, wie Hanno plötzlich in sich zusammensackt und die Augen schließt. Sie spürt seine große Enttäuschung. Ach Mensch, ich weiß ja, dass du das Bestattungshaus nicht mehr so gut allein führen kannst wie früher. Du bist alt geworden und brauchst bald einen würdigen Nachfolger für das Familienunternehmen. Nur deine kleine Annelie fühlt sich nicht in der Lage, Bestatterin zu sein, merkst du das nicht? Dazu hat sie einfach noch zu wenig vom Leben gehabt, als dass ihre Familie nur noch aus den Toten im Leichenkeller und deren Angehörigen bestehen könnte. Versteh das doch.

»Ich kann das nicht!«

Nach einem Moment hebt Hanno den Kopf, schaut sie nachdenklich an und räuspert sich. »Die alte Frau Wächter ist schon was wackelig, was meinst du?«

Während er sein Brot mit Butter bestreicht, versteinert Annelies Gesicht. Nein, oder?! Es ist wie damals, als sie mit knapp vier Jahren und dem schönsten Blumenstrauß, den sie auf der Wiese vor dem Friedhof gepflückt hatte, nach Hause gelaufen kam: Papa, schau mal, was ich gesammelt habe, schau, ich ganz allein! Es ist wie damals, als er hinter seiner Zeitung ohne aufzuschauen nur ein Ja, Ja gemurmelt hatte.

Annelie fühlt sich mutterseelenallein, sie fröstelt, dann kommt ihr Frau Wächter in den Sinn. Die arme Frau Wächter. Annelie weiß genau, was nun geschehen wird. Hanno hat einen siebten Sinn dafür, wer als Nächstes in seinem Leichenkeller landet. Morgen würde er in seine Tischlerei gehen und einen Sarg zimmern. Zentimetergenau. Für die liebe Frau Wächter. Annelie versinkt in Gedanken: Sie war als Frau des letzten Pastors immer auch eine öffentliche Person. Alle im Städtchen hatten Vertrauen zu ihr, erzählten ihr gern von den eigenen Problemen und freuten sich über die Ratschläge, die sie parat hatte.

Hanno rührt gerade seinen Kaffee um und schlägt dann mit dem Löffel leicht auf den Tassenrand, um so die letzten Tropfen zu sichern. Jetzt ist genug. Diese neue Todesvorhersage kann Annelie überhaupt nicht gebrauchen. Verzeihen Sie, Frau Wächter, aber mit derzeitigen und zukünftigen Leichen reicht es mir im Moment wirklich!

»Papa, hör mir zu, is wirklich wichtig!«

Hanno blickt teilnahmslos auf die alte, vergilbte Küchenuhr über der Tür und stöhnt: »Oje, ich muss los, die Kapelle für Frau Klawitter ist noch nicht gerichtet!«

Annelie macht sich auf ihrem Stuhl lang, als könne sie Hanno dennoch zu einem Gespräch bewegen. Der steht aber schon, und wie immer, wenn es nicht nach seiner Nase geht, zieht er sich in seine Arbeit zurück. Pflichterfüllung nennt er das. Altersstarrsinn würde besser passen.

Hanno trinkt seinen letzten Schluck Kaffee im Stehen, stellt seinen Kaffeepott in die Spüle und zieht seinen abgewetzten Janker über. Dann ist er weg. Wortlos.

3

Das ausgeleierte Tretlager des alten Damenrades knackt bei jeder Umdrehung. Ihr langes schwarzes Haar flattert ungebändigt im Wind. Annelie rast in die Altstadt hinunter, vorbei an den alten Gründerzeitvillen und am Spielzeugmuseum, dem Wahrzeichen der Stadt. Nein, das war einmal, gespielt wird mit ihr nicht mehr. Kräftig tritt sie ihren Frust in die Pedale. So kräftig, dass sie an einer Kreuzung nicht mehr bremsen kann und in einem gekonnten Schlenker einem Kleintransporter die Vorfahrt nimmt. Dessen Hupkonzert quittiert sie mit einer eindeutigen Handbewegung. Heute sollte ihr besser niemand mehr in die Quere kommen.

Vor ihrem Arbeitsplatz, dem »Kleinen Kosmetikstübchen am Marktplatz«, knallt sie ihr Fahrrad harsch in den Fahrradständer. Als sie den Salon betritt, der mit seinen offenen Regalen und den unzähligen alten Braunglasflaschen immer ein wenig an eine Apotheke erinnert, sieht sie Frau Wächter auf einem der beiden Wartestühle sitzen. O nein, nicht auch das noch! Hannos Vorhersage lähmt sie. Und während sie zaghaft lächelt, versucht sie, sich die Gänsehaut auf ihren nackten Armen wegzustreicheln.

»Guten Morgen, Frau Wächter, wie geht es Ihnen heute? Geht es Ihnen gut?«

Frau Wächter schaut gütig und nickt. »Guten Morgen, Fräulein Annelie, ja, ganz gut!«

In dem Moment erscheint Ivonna aus dem hinten gelegenen Büro. Wie immer frisch blondiert, aufwendig geschminkt und auffällig gestylt, jedoch für die kleine Stadt mit ihrem eingeschränkten Männerangebot viel zu attraktiv. Kaum ein Mann hier findet den Mut, sie zu umwerben. Mit einem nervösen Wink fordert sie Annelie auf, ihr ins Büro zu folgen.

»Bin gleich wieder bei Ihnen, Frau Wächter. Nehmen Sie schon mal …«

Im Büro entdeckt Annelie zur ihrer Verwunderung leere und schon halb volle Umzugskisten.

»Annelie, es gehen nicht mehr!« Ivonnas harter polnischer Akzent klingt heute besonders bedrohlich. »Ich muss schließen Laden. Du sehen ja, drei altes Frauen am Tag, davon wir nicht können leben beide!«

»Ja, und nun?« Annelie schaut erstaunt zu, wie ihre Chefin zielstrebig ihre Sachen weiter packt.

»Ich machen zu heute Laden und morgen ich fahren nach München. Ein, äh, wie sagen, äh … Filmproduktion suchen Make-up-Artist dringend. Ich soll kommen schnell.« Dabei lässt sie gerade ein paar Ordner in einen der offenen Kartons rutschen, während Annelie kraftlos in Ivonnas klobigen Chefsessel sinkt und vier Kassenbücher vom vollen Schreibtisch reißt. Kommentarlos hebt Ivonna die Bücher auf und verstaut sie in einer der Kisten. Ihr Blick geht Richtung der alten Frau Wächter im Nebenraum, dann flüstert sie: »Du machen die Wächter, sonst wir haben Anmeldungen keine heute. Ich zahlen dir dieses Monat, mehr ich nicht kann machen!«

Die Stimme ihrer Chefin verhallt in der Ferne. Annelies Gedanken dümpeln, sie sucht nach etwas, woran sie sich festhalten kann. Dann greift sie nach den Armlehnen von Ivonnas Sessel. Ist sie überhaupt wach, oder träumt sie das alles bloß? Was ist denn nur los in ihrem Leben? Das Abschiednehmen macht wohl gerade Sonderschicht? Viele kleine Tode heute. Zu viele! Oder ist es ihr Nachname, der als böses Omen an ihr klebt wie zähflüssiger Honig: Kurz. Annelie Kurz. Alles ist kurz bei Annelie Kurz. Kurze Jobs, kurze Flirts, ja selbst One-Night-Stands sind kürzer als bei anderen.

Mit weichen Knien verlässt Annelie das Büro, und wie durch Watte hört sie Ivonna rufen, dass die Filmproduktion in München mehrere Maskenbildner sucht.

Frau Wächter hat es sich auf dem großen Kosmetikstuhl etwas umständlich bequem gemacht und lächelt erwartungsvoll. Wie ferngesteuert bereitet Annelie zunächst einen heißen Lappen vor und legt ihn der alten Frau aufs Gesicht. Als die zuckt, schrickt Annelie aus ihren Gedanken und reißt den Lappen weg.

»O Gott, zu heiß? Verzeihen Sie, verzeihen Sie vielmals!«

Frau Wächter schüttelt beruhigend den Kopf. »Nein, nein, alles gut, nur mein Rücken, Moment!«

Frau Wächter rückt sich schwerfällig zurecht, bis sie wie angetackert in dem alten und durchgelegenen Kosmetikstuhl liegt.

Annelie senkt den heißen Lappen erneut, nur diesmal viel vorsichtiger, auf ihr Gesicht herab. »Geht es Ihnen wirklich, wirklich gut, Frau Wächter?«

»Ja, schon …«, spricht die alte Frau gegen den nass-schweren Lappen. Annelie nimmt ihn ab. Dann öffnet Frau Wächter die Augen und schaut Annelie von unten herauf an. »Wissen Sie, es ist schon merkwürdig. Seit ein paar Tagen höre ich meinen verstorbenen Mann …«

Annelie hält erschrocken inne. »Pastor Hans …?«

»Ja, mein Hans, er ruft mich.«

Die beiden Frauen schauen sich nun direkt, aber um 180 Grad verdreht, in die Augen.

»Er ruft immer wieder meinen Namen, Adelheid, komm, komm, Adelheid … Er möchte mich wohl abholen.«

Während Frau Wächter still die Augen schließt, spürt Annelie, wie ihr die Tränen aufsteigen. Schnell wischt sie mit dem rechten Handrücken über ihre Wangen.

»Wissen Sie, Fräulein Annelie, Sie sollten mit Ihrer Chefin gehen!«

Annelie spürt in diesem Moment ihr Herz schlagen, sie spürt, wie eine unbekannte Energie sie erfüllt.

»Einer so jungen Frau steht die Welt wirklich offen. Was wollen Sie denn in dieser vergreisten Stadt?!«

So deutlich und so zugewandt hat Frau Wächter noch nie mit Annelie gesprochen. Sie fühlt sich am ganzen Körper gestreichelt.Sie fühlt sich gesehen. Wahrgenommen.

»Ihre Worte klingen in mir wie ein heilendes Gebet.«

Frau Wächter nimmt Annelies rechte Hand und drückt sie sanft. »Ich weiß. Ich wünschte, ich hätte damals so viele Möglichkeiten gehabt!«

Nun steigt Widerstand in Annelie auf. »Ja, aber so einfach ist das alles nicht.«

»Warum denn?«

Warum denn? Gerade als Annelie anfangen will, über ihren Vater zu reden, bemerkt sie, wie unnötig das ist. Es ist ihr Leben, da hat Frau Wächter völlig recht. Und warum nicht nach München? Das wäre es doch, aber da gibt es noch etwas: »Wer wird Ihnen dann Ihr Gesicht herrichten, wenn ich weg bin?«

Frau Wächter schaut gelassen zu Annelie herauf.

»Ich glaube, ich brauche das nicht mehr. Es war immer ganz wunderbar mit Ihnen, Fräulein Annelie, aber alles geht auch mal zu Ende!«

4

Max Guth steht mit seinem Handy aufrecht in seinem Berliner Büro am bodentiefen Fenster, lockert sich mit der linken Hand minimal die Krawatte und öffnet den Kragenknopf seines tadellos gebügelten Hemdes.

»Die Abstimmung im Bundestag is next Wednesday and wir müssen …«

Sein Blick wird starr, er mag keine Unterbrechung.

»Nein, Herr Lausten … we need … wir müssen noch mindestens drei CDUler gewinnen, noch mindestens drei, you know?!« Er schlägt mit der flachen Hand sachte gegen die Scheibe. »Wenn wir die nicht kriegen, geht die ganze Vote nach hinten los und wir können uns den Gesetzentwurf süßsauer einkochen!«

Im Spiegelbild der Scheibe sieht er, wie Jenny Rogall, seine attraktive Sekretärin, mit dem mobilen Festnetztelefon aus dem Vorzimmer zur Tür hereinkommt. Max dreht sich zu ihr und winkt sie freundlich weg. Jetzt nicht!

Dennoch bleibt sie stehen und deutet mit bedeutungsvoller Miene auf das Telefon. »Es ist wichtig!«, flüstert sie.

»Just a moment!« Max nimmt das Handy vom Ohr und hält es routiniert mit einer Hand zu. »Was ist denn?«, fragt er mit sanfter Stimme.

Jenny Rogall entschuldigt sich. »Es ist Hamburg, Ihre Mutter!«

»Hat das nicht Zeit bis später?«

Die Sekretärin schüttelt eindringlich ihren Kopf, nein, hat es nicht.

»Moment!« Max erklärt Herrn Lausten schnörkellos seinen baldigen Rückruf. Dann nimmt er das Festnetztelefon aus ihrer Hand und lächelt hinein. »Liebe Mama, du, ich bin wirklich busy …«

Jenny Rogall schließt leise die Tür hinter sich, ohne zu bemerken, wie ihr Chef irritiert die Stirn runzelt.

»Hallo? Wer ist da?«

Wie automatisch stellt er sich wieder aufrecht hin, eine Haltung, die ihm Souveränität verleiht.

»Oh, verzeihen Sie, Max Guth mein Name, was kann ich für Sie tun?«

Unruhig hört er zu.

»Was?«

»Nein!«

»Wann?«

Mit der flachen linken Hand stützt er sich an der Scheibe ab, ohne Haltung zu verlieren. »Das kann nicht sein …«

Er senkt seinen Blick mit jedem vernommenen Wort, als ob er nach dessen Bedeutung sucht.

»Danke! Ich danke Ihnen!«

Seine Stimme wird brüchig. Grußlos nimmt Max Guth das Telefon vom Ohr und drückt das Gespräch weg. Nun lockert er sich die Krawatte vollständig, das Telefon rutscht ihm aus der Hand. Er wird blass, sinkt plötzlich auf die schwarze Ledercouch nieder und ringt mit den Tränen. Aus der Hosentasche nestelt er sein frisch gebügeltes Stofftaschentuch, zieht es auseinander und fällt mit dem Gesicht hinein.

Mama ist tot. Herzstillstand. Einfach so. Das kann nicht sein. Seine Gedanken fahren Achterbahn, und Tausende Bilder schießen ihm nun durch den Kopf. Der letzte Besuch bei ihr vor ein paar Monaten, sie waren shoppen an der Alster. Und sie wirkte so glücklich, so zufrieden. Er sieht sich plötzlich als kleinen Jungen im großen Hamburg, sieht, wie sie beide mit Balu, ihrem jungen Golden Retriever, im Sand von Övelgönne herumtollen, dort, wo die großen Pötte fast den Strand durchpflügen. Er sieht sie lachen, sie war immer so eine fröhliche, so eine positive Person. Und nun, nun ist er allein. Ganz allein. Keine Familie, niemand mehr da. Die totale Leere.

Doch jetzt ist Schluss mit dem sentimentalen Kram, der Gesetzentwurf muss durch den Bundestag. Nächsten Mittwoch, das ist übermorgen, ist Stichtag. Das hat jetzt Priorität. Für Mutter kann ich eh nichts mehr tun. Max wischt sich die Tränen weg, richtet seine Krawatte, nimmt das Telefon und geht zielstrebig Richtung Vorzimmer.

5

In ihrer Dachkammer sitzt Annelie an ihrem kleinen Eichenholzschreibtisch vor dem geöffneten Fenster und betrachtet die majestätische Stadtkirche, deren Sandsteinfassade gerade im Sonnenlicht hell erstrahlt.

Liebe Mama, ich hoffe, es geht dir gut da oben!

Die Briefe an ihre Mutter beginnt sie immer so, wie sie auch vorher immer einen kurzen Blick auf die Kirche richtet, jenen Ort, an dem sie Abschied nehmen musste.

Mama, ich bin verzweifelt! Immer wenn ich einen Mann kennenlerne, ist der schneller wieder weg, als ich Sargdeckel sagen kann. Immer wieder erlebe ich diese kleinen Tode. Wie jetzt mit Jonas. Der ploppte auf dem Frühlingsfest drüben in Neustadt so unverhofft und süß in meinen Abend. Er sah toll aus, groß und dunkelhaarig, mit so einem niedlichen Grübchen am Kinn. Und dann kam er und … wir gingen bald … Schon beim ersten Kuss, an der Bushaltestelle, wurde mir ganz anders. Wir sind schnell zu mir, es war so wunderschön. Dann aber? Klosuche, Leichenkeller, weg! Wie immer. Und weißt du was? Ich glaube, ich muss hier auch weg.

Unten von der Straße hört Annelie plötzlich den Zweitaktmotor von Hannos alten Barkas-Leichenwagen aufheulen. Dieses typisch hektische Heulen der DDR-Zweitaktmotoren ist in Sonneberg selten geworden, denkt Annelie und freut sich, denn so erkennt sie immer, wenn Hanno mit seinem Barkas in den tieferliegenden Hof hinter dem Bestattungshaus rangiert.

Liebe Mami, ich muss Schluss machen. Hanno rangiert schon, und der Brief soll ja heute noch an dich raus. Eins noch: Was soll ich machen? Ich bin so unsicher. Soll ich wirklich weggehen nach München, so wie Frau Wächter meinte? Oder soll ich bleiben und Bestatterin werden, was meinst du? Gib mir ein Zeichen, wie immer, bitte! Und schnell! Ich drücke dich fest! Deine Anni

Routiniert faltet und verklebt Annelie den Brief. Küsst ihn flüchtig und rennt über jede zweite Stiege hinab in den Leichenkeller. Dort liegt der Leichnam von Frau Klawitter in einem rustikalen Holzsarg aus Eiche zum Abtransport in die Kapelle bereit. Die alte Frau war nach einem Herzinfarkt auf der Intensivstation verstorben. Hanno hatte auch diesen Tod zeitlich genau vorhergesagt. Obwohl sie Hannos außergewöhnliche Fähigkeit hinreichend kennengelernt hat, findet Annelie es immer noch gruselig. Dann ortet sie kurz, wo sich dem Geräusch nach der alte Barkas gerade befindet. Hanno braucht Gott sei Dank noch etwas Zeit, bis der Leichenwagen im Hof richtig steht. Annelie hebt den noch nicht verschraubten Sargdeckel geschickt an und will gerade einen Schraubenzieher dazwischenklemmen, da vernimmt sie, wie draußen der Motor abgestellt wird und die Autotür klappt. Schnell und dennoch behutsam lässt sie den Sargdeckel wieder hinunter. In dem Moment öffnet Hanno die Hoftür. Sein Blick ist ernst. Annelie weiß, dass ihm ihre Absage vom Morgen immer noch in den Knochen steckt. Sie kennt ihren Vater nur zu gut. Er vergisst nicht so schnell.

»Ich möchte mich von Frau Klawitter verabschieden! Nimmst du mich mit auf den Friedhof?« Annelies Ton ist zugewandt und friedlich.

»Hmm.«

Hanno öffnet wortlos den zweiten Türflügel zum Hof, während Annelie schon mal den Sargdeckel verschraubt. Gemeinsam schieben sie den Sargwagen Richtung Auto, Hanno hebt den Sarg routiniert in die schon etwas wackelige Führung des Leichenwagens und lässt ihn dann ins Innere gleiten.

Mit Mühe quält sich der alte Leichenwagen mit seinen 43 PS den Berg zur Friedhofskapelle hinauf. Annelie sitzt still neben ihrem Vater und staunt wieder mal, wie er die riskante Steigung meistert. Hanno weiß genau, wie er schalten muss. Zuvor hatte er wie immer den Sarg mittels einer extra Seilwinde besonders gegen Verrutschen gesichert.

Als sie auf den Parkplatz hinter der Kapelle einbiegen, warten die Weikerts schon stoisch auf ihren Einsatz. Annelie mag Hannos Helfer nicht besonders, sie sind ihr zu leblos. Als die Weikerts Hanno kommen sehen, lassen sie nacheinander ihre Zigaretten zu Boden fallen und treten sie aus. Die Anfang der Siebzigerjahre geborenen, eineiigen Sechslinge in ihren schwarzen, abgetragenen Anzügen haben sich mit ihrer Behäbigkeit über Jahrzehnte als Sargträger bewährt. Der um Minuten jüngste der sechs Brüder, Peter, ist seit Langem ihr Chef. Er schaffte damals sogar die achte Klasse und machte dann später bei Hanno den Job für sich und seine Brüder klar.

Hanno steigt aus, öffnet das Heck des Wagens und nickt Peter zu, der das Signal in Form einer laschen Handbewegung an seine Brüder weitergibt. Beim Rausheben und Tragen des Sarges dirigiert er sie mit unterschiedlicher Gestik und verschiedenen Brummgeräuschen bis in die Kapelle. Günther, Horst, Frank, Uwe und Manfred folgen diesen Anweisungen wortlos.

In der Kapelle bereitet sich derweil Klaus auf seine Rede vor. Seit Annelie denken kann, ist Klaus schon der Trauerredner in Hannos Team. Der Mittfünfziger mit dem blassen Teint und den wenigen Haaren steht eloquent im schwarzen Doppelreiher hinter dem Pult und überprüft seine Stimme in der Akustik der Kapelle. Annelie muss schmunzeln, als sie das mitbekommt, denn Klaus, der hier schon unzählige Trauerreden gehalten hat, kennt die akustischen Gegebenheiten nur zu gut. Annelie weiß, es ist seine Form der Eitelkeit, sich so vorzubereiten.

»Und? Alles klar?!«

Hanno winkt quer durch die Kapelle Klaus zu. Der grinst freudig und trötet ein gewaltiges »Jaaa« durch das Mikrofon. Als er Annelie hinter Hanno sieht, brummt er ein tiefes »Hallo, Annilein!« hinterher. Sie lächelt ihm zu. Sie mag Klaus, er ist schon immer wie ein lieber Onkel für sie. Stets fröhlich und zu Scherzen aufgelegt. Sie mag einfach seine lebendige Art, die er trotz seiner Arbeit mit Tod und Trauer nie zu verlieren scheint.

Hanno verlässt unterdessen die Kapelle für seinen obligatorischen Rundgang. Er kontrolliert den Weg zur Grabstätte und die Grube selber, prüft die Verschalung und die Balken, auf denen die Träger später stehen und den Sarg ablassen werden, auf Festigkeit.

Annelie setzt sich in die letzte Reihe und beobachtet nervös die Weikerts. Die Sechslinge sind für diese Arbeit wie geschaffen. Sie sind so einfältig, dass sie nie eine Miene verziehen. Mehr Pietät in einem Gesicht ist nicht möglich. Nicht mal Roboter wären so distanziert. Der Sarg ist nun aufgestellt, und die Brüder verlassen mit ihrer ganz eigenen Würde die Kapelle. Sie greifen jeder für sich in ihre Hosentaschen und holen ihre Zigarettenpäckchen hervor.

Ungeduldig lauert Annelie auf die Gelegenheit, ihren Brief an Frau Klawitter zu übergeben. Allerdings tritt nun Klaus erneut ans Pult und übt schon mal seine Trauerrede:

»Liebe Trauernde,

wir sind heute hier zusammengekommen, um von Elfriede Klawitter Abschied zu nehmen. Elfriede Klawitter wurde am 29. Oktober 1935 in Mürschnitz geboren. Ihre Kindheit und ihre Jugend waren unbeschwert, denn sie war die Tochter des beliebten Fleischereiehepaars Ernst und Selma Klawitter. Unbeschwert verlief auch ihr späteres Leben in der DDR. Sie fühlte sich dem Sozialismus als Fleischverkäuferin in der HO, der einzigen und besten Handelsorganisation unserer DDR, aufs Innigste verbunden. Hier hatte sie ihren festen Platz in unserer Stadt, war anerkannt und beliebt. Nach der Übernahme der DDR durch die BRD fiel ein dichter Schatten, der Kapitalismus, auf unsere Gesellschaft. So auch auf das Leben unserer teuren Toten. Jobverlust, finanzieller Abstieg, Einsamkeit. Elfriede Klawitter hatte tapfer gegen diese Entmenschlichung gekämpft, doch irgendwann, wenn die Gemeinschaft ihre Werte verliert, verlassen schließlich jeden von uns Kraft und Mut. Schön, dass sie es noch anders erleben durfte. Damals. In unserer Deutschen Demokratischen Republik.«

Klaus klingt mit seiner Stimme nun fast so wie Erich Honecker in seinen besten Tagen und setzt in diesem Moment zusätzlich zu großer Pose an, indem er seine Arme beschwörend hebt:

»Und ich sage euch: Ein Gespenst geht um, das Gespenst der sozialen Vereinsamung. Die Menschen werden sich selbst überlassen. Wo sind sie, die gesellschaftlichen Angelpunkte wie eine fortschrittliche Partei, eine vorbildliche Jugend- und Pionierorganisation oder die Deutsch-Sowjetische Freundschaft? Wo ist der starke Arm der Volkssolidarität? Und deshalb rufe ich euch zu, Brüder und Senioren aller Länder … vereinigt euch. Steht zusammen. Seid bereit, gemeinsam gegen den kapitalistischen Individualismus zu kämpfen. Gemeinsam sind wir stark!«

Die letzten Worte klingen durch die Kapelle wie ein Donnerhall. Klaus steht hinter dem Pult und hält den rechten Arm mit geballter Faust in die Höhe und genießt schon mal den später zu erwartenden Applaus. Nach einem langen Moment schaut er auf Annelie.

»Und?«

Sie weiß nicht so recht. »Welche fortschrittliche Partei meinst du? Die Grünen?«

Lautes Lachen erschallt. »Mensch, Anni, natürlich die SED – Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, schon mal gehört?«

Annelie dreht ihre Augen gen Himmel und wendet sich ab. Klaus rafft stolz sein Manuskript vom Pult und verlässt die Kapelle.

Wenig später, die Weikerts haben sich neben Klaus in ihre Raucherecke auf dem Parkplatz hinter der Kapelle zurückgezogen, nutzt Annelie die Gelegenheit und nähert sich vorsichtig dem Sarg. Jetzt aber schnell. Kaum hat sie die ersten Schrauben gelöst, trötet es von draußen. Hannos langjährige Floristin Bella, eine bis zur Unkenntlichkeit geschminkte und schrecklich extrovertierte Blumenhändlerin mit Hang zu aufdringlich floraler Kleidung, begrüßt überschwänglich die Raucher. Annelie könnte laut losschreien. Warum nur ist es diesmal so schwierig, den Brief an ihre Mutter aufzugeben? Soll sie ihre Frage etwa nicht stellen? Rasch verlässt sie den Altarraum und setzt sich wieder in eine der hinteren Kapellenbänke. Bella trägt nun ein überdimensionales Grabgesteck zum Sarg. Wie immer viel zu pink, denkt sich Annelie, aber sehr passend zu Bellas Gesicht. Ihre Schminkkunst verhinderte bislang konsequent jede ernstzunehmende Einschätzung ihres wahren Alters. Bella bemerkt Annelie nicht, fühlt sich unbeobachtet und schwingt das Blumengesteck in hohem Bogen auf den Sarg, richtet es aus und zupft die letzten Blüten lustlos zurecht. Dann verschwindet sie rasch wieder.

Jetzt! Annelie will sich gerade erheben, als Hanno zurückkommt, schnurstracks zum Sarg geht und das frische Grabgesteck erneut aufwendig zurechtrückt. Dabei fallen ihm die lockeren Sargschrauben auf. Mit einem unverständlichen Fluch schraubt er sie wieder hinein. Dann legt er die vorbereitete Musik-CD in die Anlage und zündet die Kerzen rund um den Sarg an. Annelie wird immer hibbeliger. Bald schon kommen die ersten Trauergäste, dann kann ich meinen Brief vergessen, und was dann? Als Hanno jedoch wie üblich vor jeder Trauerfeier noch einmal die Toilette aufsucht, ist die Gelegenheit günstig. Annelie eilt flink und so pietätvoll wie möglich nach vorn, nimmt dieses grelle und monströse Blumenetwas vom Sarg, schraubt schnell den Deckel lose und öffnet mit Herzklopfen den Sarg. Geschickt mit einer Hand den Sargdeckel haltend, schiebt sie mit der anderen Hand der toten Frau Klawitter den Brief sorgsam und ein wenig ehrfürchtig neben ihren Körper. Geschafft! Plötzlich ertönt ein Klingeln. Annelie erschrickt so, dass der Sargdeckel ins Zittern gerät. O mein Gott. Sie hat mit der Hand die Fahrradklingel, die Frau Klawitter zu ihrer rechten Seite liegen hat, aus Versehen betätigt. Scheu schaut sie auf zu Jesus, der allerdings völlig ungerührt an seinem Kreuz im Altarraum hängt, während das Geklingel schnell verhallt. Annelie beruhigt sich und muss schmunzeln, denn nun weiß sie, dass Hanno noch immer jedem Toten eine Fahrradklingel beilegt. Seine ganz persönliche Vorsorge gegen Scheintote. Einen Moment bleibt sie still und schaut in den Sarg. Vielen Dank für Ihr Verständnis, Frau Klawitter! Gute Reise, und grüßen Sie bitte meine Mama. Dann schließt sie den Deckel sanft und dreht die Schrauben rasch fest.

Die ersten Trauergäste betreten die Kapelle. Annelie kennt sie, es sind nicht die Angehörigen, sondern einige rüstige Senioren aus der Stadt, die sich keine Beisetzung entgehen lassen. Hanno nennt sie stets seine Trauertouristen. Die einen sehen sich in der Kleinstadt als große Familie und nehmen so Abschied von einem fernen Familienmitglied, die anderen erfreuen sich immer wieder aufs Neue an den mitreißenden Trauerreden von Klaus. Er hat seine Fangemeinde. Still und respektvoll nehmen sie in den hinteren Reihen Platz, da ist Annelie schon längst zum Seitenausgang der Kapelle nach draußen verschwunden.

6

Die am Ziel sind, haben Frieden.

MARIA KURZ

6. Juni 1960 – 12. April 1992

Annelie sitzt auf einer verwitterten Holzbank und starrt gedankenverloren auf den Grabstein ihrer Mutter. Du hattest in meinem Alter einen Mann, ein Kind und einen Job! Und was habe ich? Ich habe gar nichts! Warum ist das Leben so ungerecht? Ich tue wirklich mein Bestes! Aber alles geht den Bach runter. Ach, wenn du doch noch da wärst …

Mit ihrem Stofftaschentuch tupft sie sich ein paar Tränen aus dem Gesicht.

Du würdest mir sicher die Angst vor der Zukunft nehmen, würdest mich umarmen, so wie früher, wenn ich traurig war.

Laut hörbar schnäuzt sich Annelie die Nase.

Aber was weine ich eigentlich? Du bist ja für mich da, hast ja immer eine Antwort auf meine Fragen! Ich freue mich auf heute Nacht!

Die Glocke läutet. Annelie wischt sich die letzte Träne weg und sieht zwischen den Grabsteinen und Hecken hindurch den stillen Trauerzug von Frau Klawitter. Der nimmt gerade seinen Weg aus der Kapelle und zieht wenige Meter von ihr entfernt vorüber. Annelies Augen sind noch feucht, und so nimmt sie die Prozession nur verschwommen als schwarze Wand wahr. Trotzdem, es ist wie immer, das weiß sie. Hanno geht gemessenen Schrittes voran. Dahinter bewegen sich die Sechslinge mit dem Sarg auf den Schultern mühsam wie ein dicker Käfer. Dann die Angehörigen, die Gäste, darunter die Seniorengruppe, und zum Schluss Klaus. Hanno wirkt in dieser Phase immer angestrengt, denn das Geleit des Toten zum Grab ist für die Angehörigen ein wichtiger Gang, so erklärte er es einmal. Er sagte, das ist der letzte gemeinsame Weg auf Erden, die Angehörigen begleiten den Toten ein letztes Mal, und der geht nun schon mal voraus, voraus in seine ewige Heimat.

Annelie schluckt traurig. Abschied ist so bitter, denkt sie. Dann bemerkt sie, dass die schwarze Wand zum Halten gekommen ist, nun steht also der Höhepunkt kurz bevor, die Grablegung. Hanno ist nervös, das weiß sie. Wie oft sagte er schon: Eine Beerdigung kennt keine Generalprobe, und Annelie spürte jedes Mal, er hat einfach Angst, Angst, dass dem letzten Gang der Verstorbenen durch ein Missgeschick die Würde genommen wird. Dabei ist nie etwas passiert. Gut, tatsächlich einmal. Da ist einem der Sargträgerbrüder beim Ablassen der Urne die Hose geplatzt. Mitten in die stille Andächtigkeit der Hinterbliebenen hinein und genau über dem Hintern. Peinlich, aber der Stimmung der Trauergemeinde half das ungemein, denn dieses Missgeschick nahm so wunderbar die Schwere des Augenblicks. Beim anschließenden Leichenschmaus war das Malheur natürlich Thema Nummer eins gewesen. Jedem der Anwesenden war klar, dass der Tote das ganz sicher so gewollt, ja vielleicht sogar irgendwie initiiert hatte, denn er galt zu Lebzeiten als ein großer Witzbold.

Vom Grab von Frau Klawitter sind die letzten Worte des Sohnes zu hören: »Wir wissen nicht, wie die Ewigkeit ist, doch so wie du sie dir erträumst, so sei sie dir, das wünschen wir!«

Annelie trocknet ihre Augen und sieht dann, wie Peter, Horst, Uwe, Frank, Manfred und Günther ihre Position am Grab einnehmen. Alles wie immer, allerdings rutscht Manfred plötzlich, er ist der kleinste der sechs Brüder, auf einem kleinen, feuchten Sandhügel etwas ab. Der schwere Sarg gibt sofort nach und neigt sich bedrohlich in Manfreds Richtung. Die Trauernden raunen, und Hanno zuckt. Er will zu Hilfe eilen, doch Manfred findet schnell sicheren Stand und kann den Sarg wieder in Balance bringen. Oje, denkt Annelie, Hannos Blutdruck ist jetzt bestimmt auf 200, und das, wo er sowieso immer so aufgeregt ist.

Nach einem langen Moment beginnen die Sargträger den Sarg Zentimeter für Zentimeter abzulassen. Annelie ist inzwischen aufgestanden und schaut nun genau auf ihren Vater, sie ahnt etwas, und richtig, er kann es nicht lassen. Immer wenn ein Sarg in die Grube geht, nimmt Hanno zwei abgegriffene Bleistifte aus seinem Sakko und kreuzt sie hinter seinem Rücken. Dieses Kreuz soll ihn selbst vor dem Tod bewahren, der ja nun ganz in der Nähe ist, um Frau Klawitter abzuholen.

7

Hastig ausgestoßener Atem überflutet ihr Gesicht mit klebriger Nässe. Vermischt sich mit Schweiß. Samtweich ausgeschlagene Finsternis. Schluckt jedes Geräusch, hindert jede Bewegung. Hartes Knallen verhallt. Die Klingel. Die Klingel! Übertönt aggressiv aggressives Poltern. Stille. Panisches Lauschen. Unendliche Angst.

Schweißnass schreckt Annelie hoch, atmet heftig und versucht, sich zu orientieren. Wieder dieser Albtraum. Sie schaut zum Fenster hinaus. Die Kirchturmuhr zeigt kurz vor drei. Gut! Diesmal war der blöde Traum genau rechtzeitig. Ohne hinzusehen, drückt sie mit langem Arm den Wecker aus, denn sein kurz bevorstehendes Summen ist nun nicht mehr notwendig. Langsam dreht sie ihre Beine aus dem Bett, sucht nach ihren Pantoffeln. Dann steht sie auf, geht zum Fenster und öffnet es. Sie schaut wieder auf die Kirchturmuhr. Gleich wird sie dreimal schlagen. Der Countdown läuft für ihr himmlisches Zeichen.

Die kühle Nachtluft lässt Annelie etwas zittern, oder ist es vielleicht auch ihre Erwartung vor der Entscheidung? Was wird ihr Mutter raten? Da, der erste Schlag. Ein tiefer Ton durchbricht die Stille. Der zweite Schlag. Er setzt dem ersten abrupt ein Ende. Und der dritte. Dieser letzte Glockenklang breitet sich ungestört aus und streicht sanft über die Dächer der schlafenden Stadt. Annelie starrt gebannt auf die beiden Kirchturmspitzen, die jede für sich eine Bedeutung haben. Der rechte Turm ist der »Nein«-Turm, der linke der »Ja«-Turm. Annelie steht reglos, krallt sich mit den Fingern am Fensterrahmen fest und dann: Wie aus dem Nichts blinkt nun ein Stern, hell und deutlich. Überdeutlich positioniert er sich hinter dem »Ja«-Turm! Annelie reibt sich die Augen. Bist du sicher, Mama? Ganz sicher? Ihre Stirn wirft Falten. Ich soll gehen? Wirklich? Aber was wird mit Hanno? Sie verändert mit einer Kopfbewegung ihren Blickwinkel. Trotzdem scheint der Stern vollkommen klar, bleibt an seiner Position und spricht zu ihr: Denk an dich, Annilein, es ist dein Leben. Niemand außer dir kann es leben!

Annelie spürt sanfte Erleichterung, sie nickt leicht. Ja, na gut, wahrscheinlich hast du recht, es muss ja auch mal etwas passieren. Der Stern blinkt noch einmal, es ist wie ein zustimmendes Augenzwinkern. Mach’s gut! Dann ist er, so schnell wie er gekommen war, verschwunden. Annelie faltet kurz die Hände zum Gebet und lächelt Richtung Himmel. Danke, liebste Mama! Und gute Nacht! Dann schließt sie still das Fenster, streift ihre Pantoffeln ab und legt sich wieder ins Bett. In dieser Nacht macht sie allerdings kein Auge mehr zu.

8

Am nächsten Morgen steht Annelie sehr früh auf. Sie ist nervös. Weder Hanno noch Ivonna wissen, dass sie die Stadt heute verlassen wird. Sie ist ja selbst noch völlig überrascht von ihrem persönlichen Mama-Kirchturm-Orakel, dennoch fühlt sie, es ist der richtige Schritt. Ihre Reisetasche füllt sich schnell, sie stopft, ohne wirklich nachzudenken, Sachen hinein. Ihre Zeugnisse liegen ganz unten, darauf kommt das Bild ihrer lieben Mutter. Es zeigt sie als glückliche junge Frau oben auf dem Rennsteig mit Skiern im Schnee. Annelie wischt kurz über die Glasfläche und lässt es in die Tasche sinken. Nun das Bild von Hanno in seinem schwarzen Anzug als stolzer Bestatter vor der Kapelle. Beide Bilder polstert Annelie sicher mit ihrer Unterwäsche. Dann nimmt sie das kleine Schmuckkästchen ihrer Mutter, öffnet es kurz, um zu sehen, ob alle Ketten und Ringe da sind. Ja. Sie schließt den Deckel so sanft, als ob der Schmuck darin gerade friedlich schlafen würde. Bei ihrer Kleidung entscheidet sie spontan: Top oder Flop. Sie wird sich ein neues Leben aufbauen, was nutzen dann die alten Klamotten mit dem Leichenhausmief, der darin steckt, versucht sich Annelie zu beruhigen, als sie merkt, der Platz in der Tasche ist bald erschöpft. Sie legt noch ihren Laptop bereit, Kopfhörer, Kabel. Dann setzt sie sich kurz aufs Bett. Sie weiß, dass nun ein schwerer Weg auf sie wartet, der schwierigste. Langsam erhebt sie sich, steigt äußerlich ruhig jede einzelne der Stiegen hinab, die heute irgendwie traurig vor sich hin knarren.

Hanno schläft noch, und so bereitet Annelie in der Küche das Frühstück vor, das sonst immer Hanno anrichtet, da er der Frühaufsteher ist. Der Leichenschmaus von Frau Klawitter gestern hat wohl länger gedauert.

Annelie stellt zuerst die beiden großen Kaffeetassen auf den Tisch. Die eine trägt die Aufschrift Jemand muss den Job ja machen! und ist schon sehr abgenutzt, aber Hanno liebt seinen Pott, das weiß Annelie. Ihre Tasse trägt den gerade überhaupt nicht zutreffenden Spruch Der frühe Vogel kann mich mal! Dann füllen Marmelade, Aufschnitt und Käse den Tisch. Gerade als der Kaffee fertig ist und der frische Toast mit einem Ruck aus dem Toaster springt, tritt Hanno völlig verschlafen und ein wenig verkatert zur Tür herein. Freudig schaut er auf den gedeckten Tisch.

»Hab ich Geburtstag?«

Oje, nein, das wird sicher kein schöner Anlass. Annelie legt die Toastscheiben in den Brotkorb und schiebt ihn still auf den Tisch. Was macht sie hier bloß? Sie ist sich total unsicher. Wie soll sie es ihm sagen? Hanno setzt sich, und Annelie gießt ihm mit zittriger Hand Kaffee ein. Sein Blick fragt, ob alles in Ordnung ist.

»Deine Milch ist auch gleich so weit!«

Hanno mag seinen Kaffee mit viel heißer Milch, die auf dem alten Gasherd im nächsten Augenblick hochkocht. Annelie schreckt kurz auf, nimmt dann den Topf geschwind vom Herd. Mit einer weiß-dampfenden Milchlawine füllt sie ihrem Vater den Kaffeepott auf, während Hanno dankbar lächelt.

»Papa, ich muss dir was Wichtiges sagen!«