Tote vergessen nicht - Stephen Kelly - E-Book
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Tote vergessen nicht E-Book

Stephen Kelly

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Beschreibung

England, 1940: Der Zweite Weltkrieg überschattet ganz Europa. Auch die englische Bevölkerung leidet unter den Angriffen deutscher Kampfflugzeuge, unter Angst und Entbehrungen. Im vermeintlich idyllischen Quimby herrscht außerdem noch anderer Aufruhr. Als dort ein Landarbeiter grausam ermordet wird und sich kurz danach ein zweiter Mord ereignet, muss DCI Thomas Lamb die Verbindung der beiden Fälle aufdecken. Während der Leidensdruck auf die Menschen wächst, versucht er alles, um zumindest den Mörder in den eigenen Reihen zu stellen ...

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

ERSTER TEIL: Die Hex’ ist tot

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

ZWEITER TEIL: Ein blauer Schmetterling

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Danksagung

Über den Autor

Stephen Kelly begeisterte sich schon immer für die englischen Krimimeister wie Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie. Bevor er selbst mit dem Schreiben von Kriminalromanen anfing, arbeitete er knapp dreißig Jahre als Journalist, unter anderem für die Baltimore Sun und The Washington Post. Kelly war außerdem als Dozent für Journalismus tätig. Er lebt mit seiner Familie in Columbia, Maryland. Tote vergessen nicht ist sein Debütroman.

Stephen Kelly

Tote vergessen nicht

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Michael Neuhaus

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Stephen KellyTitel der amerikanischen Originalausgabe: »The Language of the Dead«Originalverlag: Pegasus Books LLC, New York

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Christina Neuhaus, ArnsbergTitelillustration: © getty-images/Ekaterina Nosenko; © Arcangel/David & MyrtilleUmschlaggestaltung: www.buerosued.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2995-7

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für die drei Menschen, die ich am meisten liebe – Cindy, Anna und Lauren – und für meine verstorbenen Eltern, Edythe und Omer Kelly.

ERSTER TEILDie Hex’ ist tot

1. Kapitel

An einem Tag Ende Juli 1940 ließ sich auf einer Wiese oberhalb der Ortschaft Quimby in Hampshire ein Schmetterling, ein Himmelblauer Bläuling, auf einem Geißblattzweig nieder und begann, die Blüte auszusaugen.

Peter Wilkins bemerkte die Anwesenheit des Geschöpfs, bewegte sich jedoch nicht.

Ich muss, dachte er.

Die Worte entfalteten sich in seinem Geist wie sich öffnende Flügel. Die Jungen waren in dem Baum. Die Krähen krächzten von den Ästen eines abgestorbenen Ahorns, der ein Stück weiter unten am Manscome Hill stand. Unverwandt blickte Peter an dem alten Baum vorbei auf den Ort.

In dem Moment kam über den uralten Pfad, der den Wald säumte, Will Blackwell aus Richtung Quimby den Hügel hinauf. Es war ein strahlender, heißer Sommertag, und langsam setzte Will unter der Last der Heugabel und der Sense, die auf seiner rechten Schulter ruhten, einen Fuß vor den anderen. Er erreichte den alten Ahornbaum, in dem die Krähen hockten; seit zwei Wochen sprachen die Krähen zu ihm, und die Botschaft, die er in ihrem rauen Gekrächze vernahm, beunruhigte ihn. Er kannte die Viecher als Aasfresser, als Knochenpicker. Als er unter dem Baum vorbeiging, senkten die Vögel ihre Köpfe in Wills Richtung und beschossen ihn, gleichsam wie mit Pfeilen, mit ihrem verhöhnenden Geschimpfe.

Weiter hügelaufwärts bewegte sich Peter. Aufgeschreckt breitete der blaue Schmetterling seine Flügel aus und floh.

*

David Wallace saß in der Fallen Diva, die Hand um ein Pint regionales Bitter gelegt.

Vierzig Minuten zuvor hatte er sich aus dem Polizeirevier verabschiedet für etwas, das er den Kollegen als ein vorgezogenes Abendessen verkauft hatte. Tatsächlich hatte der Detective Sergeant jedoch keinen Bissen gegessen, sondern in weniger als fünfzehn Minuten zwei Pints Ale heruntergespült und saß nun vor seinem dritten. Er hatte sich für seine kleine Auszeit an einen Tisch in einer Ecke zurückgezogen und mit keinem der anwesenden Gäste gesprochen, um die Chance zu erhöhen, dass ihn niemand erkannte. Sicher, er fühlte sich leicht im Kopf, aber weit von dem Zustand entfernt, den er betrunken genannt hätte. Obschon es langsam Zeit wurde, wieder zu seiner Arbeit zurückzukehren.

Eine junge Frau betrat den Pub und nahm an dem Tisch neben seinem Platz, ein gutes Stück abseits vom Fenster. Sie hatte blasse Haut, grüne Augen und kastanienbraunes Haar, zudem war sie drall und vollbusig. Sie trug ein schlichtes moosgrünes Wollkostüm und schwarze hochhackige Schuhe. Wallace nahm an, dass sie auf jemanden wartete; von seinem Versteck in der Ecke aus beobachtete er sie eine Weile. Immer wieder huschten ihre Blicke durch den Raum – nervöse Blicke, wie Wallace fand –, als hoffte sie, nicht aufzufallen. Schließlich wandte sie sich in Wallaces Richtung, und ihre Augen trafen sich. Er lächelte; sie schaute rasch weg. Kurz zog er in Erwägung, sie anzusprechen, entschied sich dann aber dagegen. Er war jetzt schon viel zu lange fort aus dem Revier und hatte noch an die fünfzehn Minuten Fußweg vor sich; er zählte darauf, dass der kleine Marsch ihn rasch wieder nüchtern werden ließ. Das Mädchen war recht attraktiv, aber nach dem fast einen Jahr, das der Krieg inzwischen währte, war Winchester voll von einsamen Frauen, die auf der Suche nach einer schnellen Nummer waren.

Er erhob sich und ging Richtung Tür. Als er an dem Tisch der Frau vorbeikam, sah sie ihn an. Zu seiner Überraschung lächelte sie. Höflich tippte er sich mit zwei Fingern an die Hutkrempe. Mit einem raschen Blick sondierte er ihre linke Hand und stellte erleichtert fest, dass sie keinen Ehering trug. Was er auf keinen Fall wollte, war, irgendeine arme Sau in Uniform zum Hahnrei zu machen.

Allerdings musste er sich jetzt wirklich sputen. Sein Faible für Alkohol jagte ihm neuerdings ein wenig Angst ein, und bisweilen wurde er von der Vorstellung heimgesucht, wie er selbst auf den Grund einer Flasche sank. Er trat durch die Tür und in einen warmen, klaren Abend hinaus, wurde von einem angenehmen Hochgefühl erfasst. Zwanzig Minuten später, als er die Stufen zum Polizeirevier emporstieg, versicherte er sich, dass er völlig Herr seiner Sinne war.

Er steuerte seinen Schreibtisch an, wo er die letzten Stunden seiner Schicht mit Papierkram zu verbringen gedachte. Darüber, dass sein angetrunkener Zustand jemandem auffiel, glaubte er sich keine allzu großen Sorgen machen zu müssen. Tatsächlich war Chief Inspector Lamb – die einzige Person, die imstande war, es ihm anzumerken – bereits nach Hause gegangen. In den vergangenen Wochen hatte Wallace in dem Verhalten des Chief Inspectors ihm gegenüber gelegentlich eine seltsame Mischung aus Verärgerung und Mitgefühl wahrgenommen. Er war sich sicher, dass Lamb es wusste. Und dennoch hatte er nie etwas gesagt – keinen Rat geäußert, keine Warnungen, kein Ultimatum. Im Endeffekt hatte Lambs Schweigen Wallace mehr erschreckt als beruhigt.

Auf seinem Schreibtisch schrillte das Telefon und ließ ihn jäh zusammenfahren. Ruhig, Junge, ganz ruhig. Er nahm den Hörer ab. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war die von Evers, dem Diensthabenden vorn am Empfangstisch.

»Ich hab hier einen Anruf, den Sie, glaube ich, annehmen sollten, Sarge.«

Verfluchte Kacke. Wallace wollte keinen Anruf. Er wollte seinen Papierkram erledigen und dann nach Hause. Dort wartete eine Flasche Gin auf ihn. Er hatte vor, sich vom Radio in den Schlaf lullen zu lassen.

»Stellen Sie durch«, sagte Wallace.

»Hier ist Constable Harris aus Quimby«, sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Schießen Sie los, Harris.«

»Nun, Sir, es ist etwas kompliziert.«

Verdammter Mist. Und los geht’s. »Inwiefern ›kompliziert‹, Harris?«

»Na ja, Sir, wir haben hier eine Leiche. Einen toten Mann.«

»Moment mal«, entgegnete Wallace. »Sagten Sie Quimby?«

»Ja, Sir – Quimby. Das ist gleich westlich von …«

»Ich weiß, wo das ist, Harris, danke. Bleiben Sie dran, ich suche mir nur schnell was zum Schreiben.«

Unter den Stapeln auf seinem Schreibtisch wühlte er einen Stift und ein leeres Blatt Papier hervor und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ein Toter in Quimby. Keine Frage, er musste Lamb anrufen; auch wenn er versuchen würde, vor dem Chief Inspector am Tatort zu sein, um erforderliche Maßnahmen einzuleiten, sodass, wenn Lamb eintraf, bereits alles geregelt sein würde. Er stieß einen Seufzer aus und stellte irritiert fest, dass sein Atem nach Bier roch.

»Sprechen Sie weiter, Harris«, sagte er. »Ich höre.«

*

Knapp eine Meile östlich von Quimby schob Emily Fordham nahe der Ortschaft Lipscombe, wo sie mit ihrer Mutter lebte, ihr Fahrrad von der Straße. Sie ließ es ins satte Gras auf den Seitenstreifen sinken und suchte sich eine bequeme Stelle zum Sitzen, um sich Peters neueste Zeichnung anzuschauen.

Die Zeichnung wie die Fotografie, die Peter beigefügt hatte, ließen deutlich genug erkennen, dass der Junge immer noch aufgewühlt war von dem, was Thomas im letzten Sommer widerfahren war. Thomas’ kurzzeitiges Verschwinden hatte sie alle in Aufruhr versetzt. Aber das war vor einem Jahr gewesen, und überdies war Thomas wieder zurückgekehrt. Peter war das bekannt. Aber bei Peter konnte man wahrlich nie wissen.

Sie betrachtete die Zeichnung für mehrere Minuten, doch sie konnte immer noch nicht viel damit anfangen. Eine Spinne, die einen Schmetterling frisst. Was hatte das zu bedeuten? Frustriert faltete sie das Bild zusammen und steckte es in ihre Tasche. Sie musste durchaus die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Peter ihr die Zeichnung nur geschickt hatte, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie wusste, dass Peter sie liebte, auf seine Weise, auch wenn er das Konzept »Liebe« nicht begriff – nicht in der Lage war, zu verstehen, inwiefern Liebe sich von Freundschaft unterschied. Sie nahm sich vor, Lord Pembroke um ein Treffen in dieser Angelegenheit zu bitten. Er würde am besten wissen, wie man an Peter herankam. Sie wollte auf keinen Fall die Gefühle des Jungen verletzen.

Die vergangenen fünf Morgen war sie mit Übelkeit aufgewacht und direkt aufs Klo gewankt, um sich zu übergeben. Obwohl sie danach mehrmals abgezogen hatte, hatte sie fürchterliche Angst gehabt, ihre Mutter könne den Geruch bemerken und die Wahrheit erahnen. Und ihre Mutter durfte auf keinen Fall erfahren, dass sie Charles’ Baby in sich trug.

Bis jetzt hatte sie nicht einmal Charles von dem Kind erzählt. Sie wollte ihn nicht noch mit einer weiteren Sorge belasten. Stattdessen betete sie jeden Tag für seine sichere Rückkehr aus den Himmeln. An manchen Tagen zwangen die Deutschen seine Staffel zwei- oder gar dreimal in die Luft. Sie hasste die Deutschen und ihren dummen Krieg. Und doch, wäre der Krieg nicht gewesen, hätte sie Charles niemals getroffen.

Sie beschloss, sich wegen Peter nicht zu viele Gedanken zu machen. Peter und alles, was er repräsentierte, waren zu Bruchstücken ihrer Vergangenheit geworden.

Jetzt sorgte sie sich nur noch um die Zukunft, um Charles und um das Baby, das in ihr heranwuchs.

2. Kapitel

Detective Chief Inspector Thomas Lamb setzte sich mit seiner Frau Marjorie zum Abendessen, das aus dünnem Kaffee, zwei verlorenen Eiern für jeden und trockenem Toast bestand. Die noch halb volle Dose Marmelade in ihrer Speisekammer teilten sie sich ein – einen Tag mit und einen Tag ohne. Heute war ein »trockener« Tag. Lamb hob seine Kaffeetasse in Richtung seiner Frau.

»Zum Wohl«, sagte er grinsend. Vor drei oder vier Tagen hatte er beim Abendbrot mit den Trinksprüchen angefangen, eine Art trotzige Humoreinlage angesichts der Verknappung in Zeiten des Krieges. Kaum mehr als zehn Monate waren seit Kriegsbeginn vergangen, und in dieser Zeit war beinahe alles von wie auch immer geartetem Wert zur Mangelware geworden – Lebensmittel, Lachen, Komfort, Sicherheit. Doch noch während er ihr zuprostete, fragte sich Lamb, ob Marjorie seiner halbherzigen Demonstrationen von Unbeschwertheit nicht allmählich überdrüssig war. Selbst der Vorrat an Ironie ging, während der Krieg sich hinzog, langsam zur Neige; der sehr zur Schau getragenen Leichtigkeit schien ein Hauch von Bedrückung anzuhaften, sie hatte etwas vom Pfeifen im Walde.

Marjorie hob ihre Tasse und lächelte schwach. »Zum Wohl«, sagte sie.

Lamb hatte kurzgeschnittenes Haar, das an den Schläfen vorzeitig ergraut war, und ein joviales Lächeln. Es täuschte ein wenig hinweg über die Intensität in seinem Blick, die auf einen hellwachen Verstand hindeutete. Ihm war nach einer Zigarette, aber er hatte es sich schon vor langer Zeit abgewöhnt, am Tisch zu rauchen, weil seine Frau den Qualm nicht vertrug. Er stieg ihr in die Nase und brachte sie zum Niesen, ließ ihre Augen tränen. Und der Gestank der verdammten Dinger durchdrang einfach alles. Lamb schätzte, dass er nicht eine Krawatte, nicht ein Hemd oder eine Hose und nicht einen Mantel besaß, die nicht nach kaltem Rauch stanken. Und so hatte er vor einer Woche den Beschluss gefasst, die Scheißdinger einfach aufzugeben. Sie ruinierten einem die Lungen und waren ein zuverlässiger Weg in ein frühes Grab.

Wenngleich seine Bemühungen bisher von wenig Erfolg gekrönt waren. Er konsumierte immer noch mehr als eine Packung am Tag – und das in einer Zeit, in der Zigaretten zu einer Frage von Patriotismus geworden waren. Man war angehalten, keine Stiefel, Wolldecken oder haltbare Nahrungsmittel zu horten; alles wurde an den Frontlinien gebraucht. Dasselbe galt für Benzin. Und jetzt machte die Regierung ein großes Trara um die beschissenen Kippen. Allerdings wusste Lamb aus seinem Dienst im ersten Krieg, wie wichtig Zigaretten und Alkohol für die Soldaten an der Front waren. Rum und Nikotin ermöglichten es dem Durchschnittsmann, trotz aller Gräuel weiterzumachen. Vor zwei Tagen hatte er sich eine Dose Karamellbonbons gekauft, mit dem Vorsatz, sich jedes Mal, wenn ihn nach einer Zigarette gelüstete, eines in den Mund zu stecken. Jetzt, als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, fischte er die Dose aus seiner Tasche und versagte sich, wonach es ihn wirklich verlangte.

Mit einem leichten Gefühl von Beklommenheit schlug er die Abendausgabe der Hampshire Mail auf. Abends sah er für gewöhnlich die Rennbahnergebnisse durch, außer an den Tagen, an denen er sicher war, dass er verloren hatte. An diesem Morgen hatte er für das vierte Rennen in Paulsgrove, Portsmouth, zwei Pfund auf ein Pferd namens Winter’s Tail gesetzt und fast augenblicklich ein schlechtes Gefühl wegen der Wette gehabt. Instinktartige Anwandlungen wie diese befielen ihn gelegentlich, er hatte keine Ahnung, wieso, und oftmals kamen sie verflixt noch mal zu spät. Er brachte es nicht über sich, das Ergebnis des Rennens nachzuschauen. Er wusste, er hatte verloren. Zwei verdammte Pfund zum Teufel. Er und Marjorie konnten sich das nicht leisten – nicht wirklich. Obwohl er nicht an Glück glaubte, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass es mit seinem Glück im Moment nicht weit her war.

Er verzichtete auf die Bestätigung dessen, was er ohnehin schon wusste, und wandte sich stattdessen der üblichen Flut von düsteren Kriegsnachrichten zu. Vor weniger als einem Monat hatten die Deutschen Frankreich besiegt und das Britische Expeditionskorps bei Dünkirchen zum Ärmelkanal hin eingekesselt. Dann hatten die Deutschen ihre Offensive unterbrochen, eine untypische Pause, die es den Briten ermöglicht hatte, mehr als dreihunderttausend Männer aus Frankreich zu evakuieren. Gleichwohl war die Britische Armee eine geschlagene Armee. Dann, drei Wochen später, hatten die Deutschen damit begonnen, beinahe täglich Südengland zu bombardieren. Der Grund dafür war die geplante Invasion Großbritanniens von Frankreich aus. Falls es dem Feind gelang, die Herrschaft über den Luftraum über dem Ärmelkanal zu gewinnen, würden sie Männer und Waffen hinüberschicken, um in Großbritannien einzumarschieren – um es niederzuwerfen, in der gleichen Weise, wie sie Frankreich und den größten Teil des restlichen Europas okkupiert hatten.

In vier der vergangenen acht Nächte hatte die deutsche Luftwaffe die Blenheim-Flugzeugwerke – die Bomber herstellten und etwa fünfundzwanzig Meilen südöstlich lagen – angegriffen, wenn auch ohne großen Erfolg. Keine der Kriegsparteien hatte bis jetzt so ganz herausgefunden, wie man in der Dunkelheit effektive Luftmanöver flog, daher hatten die deutschen Bomber ihr Ziel oft verfehlt, und das mitunter gehörig. Rund um das Werk schienen sie mindestens ebenso viele Felder und Weiden hochgejagt zu haben wie legitime Angriffsziele. Dies lag zum Teil daran, dass den gegnerischen Messerschmitt, welche die schwerfälligen Bomber zum Schutz eskortierten, die Treibstoffkapazität fehlte, um für die Dauer des Angriffs in der Nähe zu bleiben, hatte die deutsche Armada erst einmal die Insel erreicht. Also machten sie kehrt und ließen ihre Bomber für die deutlich schnelleren britischen Kampfflugzeuge – die Spitfires und Hurricanes – wie auf dem Präsentierteller zurück. Infolgedessen drehten jede Nacht mehr als nur ein paar deutsche Bomber Richtung Heimat ab und warfen ihre Last ziellos und unkoordiniert ab. Die Presse sprach in diesem Zusammenhang gern von »abladen und verduften«.

Vor einem Monat hatte Vera, die achtzehnjährige Tochter der Lambs, eine Stelle in Quimby angenommen. Sie war nun der einzige Luftschutzwart des Ortes und damit die alleinige Zuständige für den Zivilschutz. Angesichts der täglich ankommenden deutschen Bomber hatten selbst die winzigsten Käffer entlang der Küste damit begonnen, eine Vollzeitkraft für Zivilschutz abzustellen. Quimby lag auf der Route, der die deutschen Angreifer von Frankreich aus über den Ärmelkanal und zur Hafenstadt Southampton folgten, die ebenfalls zu einem ihrer Hauptziele geworden war. Lamb und Marjorie befürchteten, dass der kleine Ort zu einem Ziel werden könnte, auf das angsterfüllte, erfolglose deutsche Piloten einfach ihre Fracht abwarfen, bevor sie wieder abdrehten Richtung Frankreich.

Lamb faltete die Zeitung zusammen. Er wusste, dass Marjorie das mit der Bombardierung von Bristol in der vergangenen Nacht gelesen und dass der Bericht in ihr wahrscheinlich dieselben Ängste heraufbeschworen hatte wie bei ihm. Trotzdem verlor keiner von ihnen darüber ein Wort; sie hatten das Thema »Veras Entscheidung«, wie sie es nannten, schon lange erschöpft.

Vorn in der Diele läutete das Telefon. Lamb ging hin und nahm ab.

»Lamb.«

Es war Wallace. »Wir haben eine Leiche, Chef, ein alter Mann, über siebzig. Ziemlich brutal, wie es scheint. Jemand hat ihm eine Heugabel durch die Gurgel gerammt.«

»Wo ist das passiert?«

Wallace zögerte einen Moment. Er wusste von Vera Lambs Zivilschutz-Job. »Quimby. Die Leiche wurde auf einem Hügel oberhalb der Ortschaft gefunden.«

Diese Neuigkeit überraschte Lamb. Er hatte sich gesorgt wegen verirrter deutscher Flieger, die ihre Bomben über Quimby abluden. Mit einem wahnsinnigen Heugabel-Mörder, der dort sein Unwesen trieb, hatte er nicht gerechnet.

»Wer hat die Sache gemeldet?«

»Der Ortspolizist. Ich habe Harding und den Doktor angerufen und mir Larkin gegriffen. Ich mache mich jetzt auf den Weg.«

»Kennt man den Namen des alten Mannes?«

»William Blackwell. Ein Landarbeiter. Der Polizist meinte, er sei sich ziemlich sicher, dass die Heugabel Blackwell selbst gehörte. Ein Bauer namens Abbott hatte den Alten angeheuert, die Hecke, die sein Grundstück abgrenzt, zu stutzen. Blackwell wohnte wohl zusammen mit seiner Nichte im Ortskern, und als er nicht abends zum Tee erschienen ist, hat sie sich aufgemacht, um zu sehen, wo er bleibt. Sie ging zu Abbott, und der hat sie zu der Hecke geführt. Dort haben sie den alten Mann gefunden. Abbott hat versucht, dem armen Kerl die Heugabel aus dem Hals zu ziehen, woraufhin die Nichte zusammengebrochen ist.«

»In Ordnung, David. Wir müssen die Leiche da wegschaffen, bevor es dunkel wird. Ich sehe Sie dann am Tatort in … sagen wir, vierzig Minuten.«

»Da ist noch etwas, Chef. Wer immer den Alten umgebracht hat, hat außerdem ein Kreuz in seine Stirn geritzt und ihm die Brust mit einer Sense durchbohrt.«

Verflucht und zugenäht, dachte Lamb. »Ein Kreuz?«, fragte er. »War dieser Blackwell religiös, lässt sich darüber schon was sagen?«

»Nicht dass ich wüsste – obwohl, laut dem Polizisten halten ihn einige im Ort für eine Hexe.«

»Eine Hexe?«

»Ja, Sir. Genau so hat sich der Polizist ausgedrückt.«

»Aber sind Hexen nicht weiblich?«

»Ich weiß nicht, Sir. Vielleicht war der alte Knabe eine von den Hexen, die lieber eine Forke als einen Besen benutzen.« Kaum waren die Worte heraus, da wusste Wallace, dass der Scherz nicht so ankommen würde wie gehofft. Er gab sich selbst den Rat, den Bogen nicht zu überspannen. Und er hoffte, dass Lamb nicht bemerkt hatte, dass er, Wallace, noch vor kurzem quietschfidel in einem Pub gesessen hatte.

Lamb kehrte zum Esstisch zurück. »Ich muss leider noch mal los«, sagte er zu Marjorie. »Irgendjemand hat in der Nähe von Quimby einen alten Mann umgebracht.« Das »in der Nähe« betonte er besonders.

Marjorie hatte sich schon vor Jahren daran gewöhnt, dass ihr Mann zu ungewohnter Stunde das Haus verlassen musste. »Was ist passiert?«, fragte sie.

Wie immer bemühte sich Lamb, seiner Frau die blutrünstigen Einzelheiten des Mordfalles, in dem er gerade ermittelte, zu ersparen. »Das Übliche, fürchte ich«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er mit irgendwem aneinandergeraten.«

»Okay«, erwiderte Marjorie. »Wenn du Vera triffst, grüß sie von mir. Und sieh zu, dass es nicht zu spät wird.« Sie stand auf, drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange und begann das Geschirr abzuräumen.

Lamb klemmte sich die Mail unter den Arm, schnappte sich seinen Hut und begab sich dann zu seinem in die Jahre gekommenen schwarzen Wolseley, der auf der Straße vor dem Haus parkte. Er gehörte zu den wenigen Männern seines Dienstranges, die ihr eigenes Auto fuhren. So war es ihm lieber: Selbst lenken gewährte ihm mehr Bewegungsfreiheit. Wenngleich der Wagen es sich vor etwa einem Monat angewöhnt hatte, je nach Laune nur mehr widerwillig zu starten; manchmal musste er die Karre sieben oder acht Mal kitzeln, bis sie endlich in Gang kam. Er war sich nicht sicher, was das Problem war – dafür verstand er zu wenig von Autos. Aber er hatte bisher nicht die Zeit gefunden, das Ding in die Werkstatt zu bringen und durchchecken zu lassen. Wenn er jedoch ehrlich war, so hatte er Angst, dass sie ihm die alte Rostlaube wegnehmen würden, und er wollte sie nicht verlieren. Er hatte sich an sie gewöhnt, trotz ihrer Launenhaftigkeit. Natürlich war ihm klar, dass diese übermäßige Anhänglichkeit in Bezug auf ein beschissenes Auto idiotisch war. Aber so war es nun mal.

Er setzte sich hinters Steuer und zündete sich eine Zigarette an. Eingedenk des Umstands, dass er im Begriff stand, sich einen alten Mann mit einer Mistgabel in der Kehle und einer Sensenklinge in der Brust anzusehen, würde ein Karamellbonbon nicht reichen. Außerdem hatte er allmählich genug von seiner Feigheit – entschlossen schlug er die Mail auf, suchte die Seite mit den Rennergebnissen und stellte verblüfft fest, dass sein Instinkt ihn getäuscht hatte: Winter’s Tail hatte das vierte Rennen in Paulsgrove gewonnen. Anstatt zwei Pfund leichter war er nun vier Pfund reicher.

Er betätigte den Anlasser, und der vorsintflutliche Wolseley erwachte stotternd zum Leben – beim ersten Versuch!

Lambs Mundwinkel verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.

Wahrhaftig, das nenn ich Glück.

3. Kapitel

Vor Will Blackwells Naturstein-Cottage in Quimby brachte Lamb den Wolseley zum Stehen. Mehrere weitere dunkle Fahrzeuge, allesamt Eigentum der Polizei Hampshire, parkten vor dem Haus. So auch die dunkelblaue Buick-Limousine, die dem Polizeiarzt, Anthony Winston-Sheed, gehörte, und der Transporter, in dem Blackwells Leiche zum Krankenhaus in Winchester gebracht werden würde.

Etwa ein Dutzend Einheimische schlichen in Gruppen bei dem Häuschen herum und unterhielten sich leise. Lamb konnte förmlich spüren, wie sich ihre Blicke auf ihn richteten, als er aus seinem Auto ausstieg. Quimby war, wie er wusste, eine ehemalige Stadt der Mühlen, in der viele der älteren Bürger die Polizei noch immer als den verlängerten Arm der Mühlenbesitzer ansahen, obwohl diese den Ort bereits vor mehr als vierzig Jahren verlassen hatten. Er schaute sich in den Menschengrüppchen nach Vera um, konnte sie aber nirgends entdecken.

Ein Kinder-Trio – Gassenjungen in zerrissener Kleidung – rannte an ihm vorbei, hätte ihn um ein Haar umgeworfen und verschwand dann im Halbdunkel eines Fußwegs nahe der schmalen, jahrhundertealten Steinbrücke, die sich in der Mitte des Dorfes befand. Die Brücke leitete Quimbys High Street über den Mills Run hinweg, der vom Manscome Hill in den Ort hinabführte.

Ein Polizeibeamter eilte herbei. »Inspector Lamb?«, fragte der Mann. Er blieb stehen und salutierte. Er wirkte gut durchtrainiert und jugendlich frisch, auf keinen Fall älter als Anfang zwanzig. Erstklassiges Kanonenfutter, dachte Lamb unwillkürlich. Das Gesicht des jungen Polizisten war unbewegt.

»Constable Harris, Sir. Sergeant Wallace bat mich, Sie abzuholen.«

Harris deutete auf das Haus der Blackwells. »Das ist das Cottage des Verblichenen, Sir«, fuhr er fort. »Seine Nichte, Lydia Blackwell, befindet sich im Haus. Sie haben dort etliche Jahre zusammengewohnt. Miss Blackwell ist ziemlich mitgenommen, fürchte ich, sie hat die Leiche des Verblichenen gesehen. Auf Anordnung von Mr. Winston-Sheed, der auf dem Weg zur Untersuchung des Verblichenen bei ihr vorbeigesehen hat, ruht sie sich momentan aus. Sergeant Wallace hat einigen uniformierten Constables Anweisung erteilt, beim Haus zu bleiben und niemandem außer Ihnen und anderen amtlichen Gesetzesvertretern Zutritt zu gewähren. Er bat mich, Sie zum Tatort zu führen. Ich fürchte, es geht ein wenig bergauf.« Er zögerte einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Es sei denn, Sie möchten zuerst mit Miss Blackwell sprechen.«

Harris’ flotte Gründlichkeit beeindruckte Lamb, obwohl er es irritierend fand, dass der Polizist das Opfer fortwährend als den »Verblichenen« bezeichnete. Er fragte sich, ob Harris immer so sprach, als würde er als Zeuge bei einer Gerichtsverhandlung aussagen.

»Nein, nein«, sagte er. »Gehen Sie bitte voran, Harris.«

Harris salutierte erneut und wies mit dem Arm auf den Weg bei der Brücke. »Hier entlang, Sir.«

Als Lamb sich dem Hügel zuwandte, hörte er Vera rufen. »Dad!«

Er drehte sich wieder um und sah sie die High Street hinaufhasten. Sie kam aus westlicher Richtung, wo sie im Gemeindehaus von Quimby ihre tägliche Wache schob und Ausschau hielt nach irgendwelchen Anzeichen für eine deutsche Invasion. Sie trug den Drillich-Overall und das leichte Schiffchen, wie sie freiwillige Mitglieder der Bürgerwehr von der Regierung gestellt bekamen.

Ein junger Mann in dunklen Hosen und einem elfenbeinfarbenen Sweater versuchte mit ihr Schritt zu halten. Ihm fehlte der rechte Unterarm, und der entsprechende Ärmel seines Pullis war an der Schulter festgesteckt. Er schien nicht viel älter als zwanzig zu sein. Lamb fragte sich, ob er seinen Arm bei Dünkirchen verloren hatte – obwohl Dünkirchen ja gerade erst stattgefunden hatte.

Vera umarmte ihren Vater flüchtig und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie hatten sich seit über einer Woche nicht mehr gesehen, das letzte Mal, als Vera fast einen ganzen Sonntag bei Marjorie und Lamb daheim in Winchester verbracht hatte.

»Hallo, Vera«, sagte er lächelnd. Er vermisste ihre Anwesenheit zu Hause. Dennoch hielt er seinen Ton nüchtern, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. »Deine Mutter lässt dich grüßen.«

Vera erwiderte sein Lächeln. »Liebe Grüße zurück«, sagte sie. Sie war ein schlankes Mädchen mit einem jugendfrischen Gesicht, wenngleich Lamb lange Zeit geglaubt hatte, dass sie das besaß, was die Leute manchmal eine »alte Seele« nannten – eine mit einem ausgeprägten Pragmatismus einhergehende Abgeklärtheit, wie sie ihrem Alter ganz und gar nicht entsprach. Sie hatte große hellbraune Augen und lächelte oft. Dennoch war sie zu bemerkenswerter Hartnäckigkeit fähig, wenn es für Ideen oder für Menschen, die sie liebte, einzutreten galt. Sie schaute hinüber zu Blackwells Haus. »Schrecklich, was passiert ist.«

»Ja«, sagte Lamb. »Kanntest du ihn?«

»Nicht wirklich. Aber ich hab gehört, dass er nur ein friedlicher alter Mann gewesen sein soll.«

»Er war ein bisschen mehr als das«, sagte der junge Mann. Auch er war rank und schlank und, wie Lamb feststellen musste, recht attraktiv mit seinem vollen schwarzen Haar, das er etwas länger trug, als es der Norm entsprach, und den dunklen, von Leidenschaft befeuerten Augen.

»Dad«, sagte Vera, »das ist Arthur Lear. Er und sein Vater haben in der Nähe des Orts einen Hof.« Vera lächelte Arthur Lear in einer Weise an, die bei Lamb ein leichtes Gefühl der Beunruhigung auslöste.

Arthur streckte seine einzige Hand aus – die linke – und lächelte. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Sir.«

»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte Lamb und schüttelte Arthurs Hand.

»Okay, ich denke, wir sollten dich jetzt gehen lassen, Dad«, sagte Vera. »Ich bin sicher, du bist ziemlich beschäftigt, und wir möchten dich nicht aufhalten. Wir haben von der Sache vor etwa einer Stunde gehört.«

Unerwarteterweise löste die Begegnung mit ihrem Vater in Vera einen inneren Widerstreit aus. Vielleicht hätte sie ohne Arthur herkommen, ihn verschweigen sollen. Wahrscheinlich wäre das besser gewesen. Ihre Gefühle für ihn hatten seit kurzem eine andere Qualität angenommen, und sie fragte sich immer häufiger, ob es richtig gewesen war, sich so rasch auf ihn einzulassen.

»Nun, ich freue mich, dass du gekommen bist«, sagte Lamb. »Wenn es die Zeit zulässt, mach ich später bei deinem Quartier noch kurz halt.«

Sie lächelte. »Nicht nötig, Dad. Du hast viel zu tun, und mir geht es gut.«

Lamb fragte sich, ob Vera vorhatte, zusammen mit dem jungen Mann nach Hause zu gehen. »Na schön«, sagte er. Er hätte sie gern auf die Stirn geküsst – doch das wäre ihr vermutlich peinlich gewesen. »Ich richte deiner Mutter deine Grüße aus.« Dann wandte er sich Arthur zu, der mit Sicherheit ein Auge auf Vera geworfen hatte, befand Lamb. Es tat ihm leid, dass er seinen Arm verloren hatte, aber ihm war durchaus bewusst, dass ein verlorener Arm auch für Arthur arbeiten konnte.

Vera nickte ihrem Vater zum Abschied zu, dann gingen sie und ihr Begleiter zurück die High Street hinunter in Richtung ihres Quartiers. Während er den beiden nachsah, wurde Lamb bewusst, dass Vera in ihrem Leben an einem Punkt angelangt war, wo sie für ihn beinahe unerreichbar geworden war. Merkwürdigerweise hatte er diesen Moment nicht kommen sehen, so wie es eigentlich hätte sein sollen.

Er drehte sich zu Harris um. »Gehen wir, Constable.«

*

Über einen Bereich, der linker Hand von Wiesen und Hecken und rechter Hand von einem kleinen Gehölz gesäumt wurde, stapften Lamb und Harris den Manscome Hill hinauf.

Die Luft war kühler geworden in der heraufziehenden Dämmerung und duftete nach Wildblumen und Gras. Emsig machten sich Bienen und Schmetterlinge auf den Auen zu schaffen, und die ersten Fledermäuse tauchten auf. Hier und dort schossen kleine Vögel aus dem Dickicht hervor, um sich auf durchhängenden Zäunen niederzulassen. Die Sonne war auf ihrem Lauf hinter die höchsten Wipfel der Bäume gesunken und warf lange Schatten über den Weg.

Nicht lange, und sie erreichten ein Tor. Dahinter zweigte ein Pfad vom Weg ab, der zu George Abbotts Bauernhof führte. Festen Schrittes marschierten sie in eine Herde wohlgenährter Schafe hinein, die daraufhin blökend vom Weg herunter auf eine Wiese trippelten.

»Sie waren der Erste, der zum Tatort gerufen wurde?«, fragte Lamb Harris.

»Ja, Sir. Die Leiche wurde von Miss Blackwell und Mr. Abbott gefunden. Miss Blackwell hatte ihren Onkel vermisst, weil er nicht zum Abendessen erschienen war. Nach Auskunft seiner Nichte war der Verblichene ein ausgesprochener Gewohnheitsmensch, der niemals sein Abendbrot verpasste. Nachdem Miss Blackwell ihre Mahlzeit beendet hatte und er immer noch nicht aufgetaucht war, begann sie sich Sorgen zu machen und ging den Hügel hinauf zu Mr. Abbott, der den Verblichenen angeheuert hatte, um die Hecken bei einem seiner Felder zu schneiden.«

»Demnach machten sie sich also gemeinsam auf die Suche nach Mr. Blackwell?«, fragte Lamb.

»Ja, Sir. Miss Blackwells Angabe zufolge begab sich Mr. Abbott auf direktem Wege zu der betreffenden Stelle. Anschließend haben sie mich vom Pub aus angerufen – ich wohne in Moresham – und sind dann zu Miss Blackwells Cottage gegangen, wo ich die beiden angetroffen habe. Das war so gegen halb sieben. Als ich eintraf, befand sich Miss Blackwell immer noch in einem äußerst aufgewühlten Zustand. Sie führten mich zum Tatort, woraufhin ich Mr. Abbott bat, er möge bei sich zu Hause warten. Dann brachte ich zunächst Miss Blackwell wieder zurück zu ihrem Haus. Anschließend rief ich auf dem Revier an und sprach mit Sergeant Wallace.«

Sie kamen an einem großen, längst abgestorbenen Ahornbaum vorbei, unweit einer schmalen Holzbrücke über den Mills Run. Von hier aus verlor sich der kleine Fluss in dem Wald zu ihrer Rechten, durchschnitt ihn und trat an der anderen Seite wieder heraus. Dort hatte er einst eine Getreidemühle angetrieben, die nun seit annähernd fünfzig Jahren verwaist war und verfiel.

Nachdem sie die Brücke überquert hatten, führte Harris Lamb von dem Weg hinunter auf die Wiese, und sie erklommen die sanfte, sich auf etwa hundert Meter erstreckende Steigung zu der Stelle hinauf, wo Will Blackwells sterbliche Überreste lagen. Mehrere Menschen standen in einem großen Kreis um die Leiche des alten Mannes herum. Einer von ihnen war Wallace, der Lamb nun entdeckte und ihm entgegenkam.

»Guten Abend, Sir«, sagte er und berührte den Rand seines Filzhuts. Wie üblich war Wallace in einen schicken dunklen Anzug gekleidet. Dazu trug er eine gelbe Seidenkrawatte und teuer wirkende schwarze Lacklederschuhe, die leider, leider nun dreckverschmiert waren.

»Was haben wir?«, fragte Lamb.

»Einen verzwickten Fall, fürchte ich. Die Leiche und die unmittelbare Umgebung haben wir fotografiert. Wir versuchen mit allem, was hier vor Ort zu tun ist, vor Einbruch der Dunkelheit fertig zu werden.«

Neben der Leiche kniete der Doktor, Winston-Sheed, während Cyril Larkin, der Mann von der Forensik, danebenstand. Lamb und sie begrüßten sich mit einem knappen Kopfnicken, dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Toten zu.

Will Blackwells Arme standen wie in einer überschwänglichen Willkommensgeste vom Körper ab, und seine Beine waren weit auseinandergespreizt. Die Position der Extremitäten ließ Lamb an ein Kind denken, das im Neuschnee lag und einen Schnee-Engel machte. Die linke Zinke einer rostigen Forke mit abgegriffenem, verwittertem Stiel war Blackwell mitten in den Hals gestoßen worden, und aus seiner Brust ragte eine Sense mit gebogener, rund zwanzig Zoll langer Klinge – letztere ebenfalls teilweise verrostet. In dem Gras um die Leiche herum hatte sich reichlich Blut angesammelt, und die Augenhöhlen des alten Mannes füllte ein fleischiger Brei.

»Meiner derzeitigen Einschätzung nach ist der Tod vor etwa sechs oder sieben Stunden eingetreten«, sagte Winston-Sheed. »Ein Kampf scheint nicht stattgefunden zu haben. Ich vermute, dass er zunächst bewusstlos geschlagen wurde, wahrscheinlich von hinten. Dann hat der Mörder die Sense und die Heugabel in ihn hineingerammt. Angesichts der Blutmenge um Kopf und Nackenbereich würde ich sagen, die Heugabel zuerst. Dass vergleichsweise wenig Blut aus der Brust ausgetreten ist, spricht dafür, dass er bereits tot war, als der Mörder ihm die Sense hineingestoßen hat. Dennoch, das eine wie das andere hätte ihn auf der Stelle getötet. Die zweite Maßnahme wäre vollkommen überflüssig gewesen, hätte der Mörder lediglich die Absicht verfolgt, Mr. Blackwell ins Jenseits zu befördern. Beide Gerätschaften stecken auffallend tief im Körper, was Anlass zu der Annahme gibt, dass der alte Mann auf dem Rücken lag und sich nicht gewehrt hat, als die Stöße ausgeführt wurden.«

Winston-Sheed stand auf und holte ein angelaufenes silbernes Zigarettenetui aus seiner Westentasche. »Irgendwann hat der Mörder ihm ein Kreuz in die Stirn geritzt, ebenfalls post mortem«, fuhr er fort. »Möglicherweise mit der Spitze der Sense. Was die Augen angeht, so sieht es so aus, als wären sie ihm ausgehackt worden. Krähen, wahrscheinlich. Würde mich nicht wundern, wenn wir hier, sollten wir uns diese Sauerei morgen noch mal bei Tageslicht ansehen, überall ihre widerwärtigen kleinen Fußabdrücke auf dem Boden entdeckten. Die schwarzen Mistviecher saßen bei der Show quasi in der ersten Reihe.«

Winston-Sheed deutete mit dem Kopf auf den abgestorbenen Ahorn, der etwa hundert Meter den Hügel hinab stand. Still hockten in den krummen Ästen acht oder neun Krähen. Offenbar, so schien es Lamb, warteten sie darauf, dass die menschlichen Eindringlinge wieder verschwanden, damit sie ihr Festmahl fortsetzen konnten. Die Vögel erinnerten ihn an die Ratten, die durch die Schützengräben an der Somme und über die verfaulenden Leiber gehuscht waren, die im Niemandsland lagen – Parasiten des Todes. Plötzlich flog eine der Krähen auf und über die Wiese davon, als hätte sie Lambs Blicke bemerkt und fühle sich schuldig.

Winston-Sheed bot Lamb aus seinem Silberetui eine Zigarette an. »Danke, nein«, sagte Lamb. Der Schmerz, der mit der Ablehnung einherging, war beinahe physisch. Unwillig griff er in seine Jackentasche, fand die Dose mit Karamellbonbons und schob sich eins in den Mund.

Lamb betrachtete einen Moment lang die Leiche, während er das Bonbon in seinem Mund hin und her rollte. Fast schien es, als habe der Mörder den alten Mann vorsätzlich in seine jetzige Position gebracht, dachte er. »Das sieht mir alles zu verdammt offensichtlich aus«, sagte er schließlich, mehr zu sich selbst als zu Winston-Sheed. »Zu gestellt.«

Winston-Sheed zündete sich seine Zigarette an. Er war ein großer, hagerer Mann von vielleicht vierzig Jahren. Sein Vater war irgendein Adliger – Lamb wusste darüber aber nichts Genaues. Winston-Sheeds Auftreten, seine Ausdrucksweise und seine Umgangsformen ließen die saloppe Eleganz des geborenen Aristokraten erkennen. Wenngleich er sich nicht zu schade dafür war, sich bei einer Tatortbesichtigung die Hände schmutzig zu machen, und unermüdlich war in seiner Arbeit, die er im Auftrag der Polizei verrichtete. Jetzt stieß er den Rauch seiner Zigarette aus und blickte in den dunkler werdenden Himmel. In Quimby, wie in ganz England, würde bald die Verdunklung einsetzen. Das bedeutete, sämtliche Außenbeleuchtungen wurden abgeschaltet und alle Fenster und Vorhänge geschlossen. Keine Taschenlampen. Sogar von Zigaretten wurde abgeraten, aus Angst, dass ihr Glühen den deutschen Bombern vielleicht ein Ziel bieten könnte.

Fast zärtlich betrachtete Winston-Sheed seinen Glimmstängel. »Ich hoffe aufrichtig, die hier hetzt uns nicht die Stukas auf den Hals«, sagte er. »Wie unzivilisiert, auch nur in Erwägung ziehen zu müssen, auf die eine Zigarette zu verzichten, nur um nicht die Aufmerksamkeit von ein paar Bombern auf sich zu ziehen.« Genüsslich sog er den Rauch ein, und Lamb wurde ganz neidisch. »Auf jeden Fall ist die Sache von einer ziemlich barocken Lasterhaftigkeit«, sagte der Doktor, sich wieder dem Grund seines Hierseins zuwendend.

»Der Tiefe der Wunden nach zu schließen, muss der Mörder ein Mann gewesen sein, richtig?«, fragte Lamb.

»Ich denke schon«, sagte Winston-Sheed. »Entweder das oder eine äußerst kräftige und brutale Frau.«

Lamb untersuchte Blackwells Kleidung, durchwühlte seine Hosen- und Jackentaschen, beförderte außer einem Stück Papier, auf das jemand – vermutlich Blackwell – mit zittriger Hand »hole Baum« gekritzelt hatte, jedoch nichts zutage. Er hielt die Notiz hoch, sodass Wallace und Winston-Sheed sie lesen konnten. »Was halten Sie hiervon?«, fragte er.

»Ich hab keinen blassen Schimmer«, sagte Wallace. »Hat vielleicht was mit Gartenarbeit zu tun. Eventuell hat er irgendwo ’n Bäumchen pflanzen wollen.«

»Möglich«, erwiderte Lamb nachdenklich. Er zog eine Brieftasche aus seiner Jacke und legte den Zettel hinein. Sein Blick ging gen Himmel; ihnen blieb noch etwa eine Stunde bei hinreichend Licht. Sie würden sich auf das beschränken müssen, was in der Kürze der Zeit zu schaffen war, und den Rest auf morgen verschieben.

»Haben Sie bis auf Weiteres alles, was Sie brauchen?«, fragte er Winston-Sheed.

»Fürs Erste, ja«, sagte der Arzt.

Lamb trat von der Leiche zurück. »Also gut, Mr. Larkin – Sie sind dran«, sagte er zu dem Forensiker. »Wir müssen uns ranhalten.«

Larkin war ein großer, spindeldürrer junger Mann, dessen Anzüge ihm nie so ganz passen wollten; die Hosenbeine und die Jackenärmel schienen immer einige Zoll zu kurz zu sein. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und schwerem Rahmen, die ihm andauernd von der Nase rutschte. Als Lamb Larkin zum ersten Mal begegnet war, hatte er gedacht: Der Scheißforensiker kann nichts sehen! Doch er hatte rasch festgestellt, dass Larkin eine vortreffliche Tatkraft besaß und seine Pflichten sehr ernst nahm.

Larkin war vor zwei Monaten zur Polizei gekommen, nachdem Hampshires langjähriger Forensiker, Harold Llewellyn, der Royal Air Force als Sanitätsoffizier beigetreten war. Lamb hatte Llewellyn gemocht und ihm vertraut und war nicht glücklich darüber gewesen, ihn zu verlieren. Doch er wusste auch, dass Llewellyn nur der erste von vielen zuverlässigen, qualifizierten Männern war, die der Krieg aufsaugte. Zuerst würden die erfahrenen, körperlich fitten Männer ins Gefecht abrücken, um von den weniger erfahrenen und fitten ersetzt zu werden. Dann, sofern sich die Sache länger hinzog, würde auch diese zweite Garnitur zum Kampf antreten, um ersetzt zu werden durch – ja, durch wen? Er sah eine Zeit kommen, in der die Aufklärung inländischer Verbrechen, sogar Morde, auf der Prioritätenliste so weit nach unten rutschte, bis sie fast keine Rolle mehr spielte.

Viel schlimmer jedoch als der Verlust Llewellyns war für Lamb, dass sein erster Stellvertreter und guter Freund Detective Inspector Richard Walters zur Army gegangen war. Er und Dick Walters waren bei der Polizei Hampshire zusammen den Kinderschuhen entwachsen. Vor zwei Monaten dann, als die Deutschen kurz davorstanden, Frankreich zu besiegen, hatte Walters in einem jähen Anflug von Patriotismus seinen Polizeidienst quittiert und war als Captain dem Abwehrdienst der Army beigetreten. Lamb bewunderte Walters’ Kampfgeist und teilte ihn sogar bis zu einem gewissen Grad. Aber er hatte nicht vor, für irgendein Schlachtfeld im Ausland Marjorie und Vera allein zu lassen. Er hatte seinen Beitrag schon im letzten Krieg geleistet. Police Superintendent Anthony Harding hatte Walters’ Stelle bis jetzt noch nicht wieder besetzt, obwohl er Lamb vor etwa einer Woche berichtet hatte, dass bald jemand aus dem Norden herkommen würde.

Larkin trat vor und schob sich die Brille hoch. Er sah Lamb an und lächelte, zweifellos erfreut, in dieser Sache eingeschaltet worden zu sein. »So einen Fall kriegen wir nicht alle Tage«, sagte er mit aufrichtigem Enthusiasmus.

»Nein«, entgegnete Lamb. »Ganz sicher nicht.«

Während er sprach, erhob sich krächzend die Krähenschar, die in dem entfernten Ahornbaum hockte, in die Lüfte und verschwand im Wald.

4. Kapitel

Langsam bewegte sich die Prozession mit Will Blackwells Leiche auf dem alten Fußweg den Manscome Hill hinab.

Larkin hatte die Mordwaffen eingesammelt, wenngleich Wallaces Hilfe vonnöten gewesen war, um sie aus dem Körper des alten Mannes zu ziehen. Sodann hatten sie den Körper in einen Leinensack gesteckt und auf eine Tragbahre gelegt. Vier uniformierte Constables trugen die Bahre den Hügel hinunter, begleitet von den anderen. Nur mehr ein schmaler Lichtstreifen lugte über den Horizont im Westen, und man konnte bereits die Sterne erkennen. Ungeachtet der angeordneten Verdunklung ging Winston-Sheed mit einer Taschenlampe voran, ihr Lichtkegel tanzte über den Weg, im gleichen Rhythmus wie die rot glühende Spitze der Zigarette zwischen seinen Lippen.

Als sie das Tor erreichten, durch das der Pfad scharf in Richtung Abbotts Haus abbog, hielt Lamb die Gruppe an. Er bat Winston-Sheed, mit der Leiche vorauszugehen, und wies Harris an, Blackwells Nichte auszurichten, dass er in Kürze wieder unten im Ort sein würde, um mit ihr zu sprechen.

Lamb und Wallace durchschritten das Tor und gingen den Pfad hinab zu Abbotts Haus, das sich gleich hinter der Wiese zwischen eine Gruppe Eichen schmiegte. Dieselbe Herde fetter Schafe, die Lamb und Harris bereits auf dem Hinweg aufgeschreckt hatte, trottete abermals geräuschvoll zur Seite, ihre weißen Körper halb verschwommen im Zwielicht, was ihnen die Anmutung von Wölkchen verlieh, die an einem dunklen Himmel entlangzogen.

»Was hat Ihnen Abbott im Wesentlichen erzählt?«, fragte Lamb Wallace. Nachdem Wallace am Tatort eingetroffen war, hatte er Abbott und Will Blackwells Nichte, Lydia, kurz befragt.

»Er hat den alten Mann häufig für Aufgaben dieser Art kommen lassen – sagt er jedenfalls«, erwiderte Wallace. »Er legte jedoch Wert auf die Feststellung, dass er Blackwell im Grunde gar nicht hätte beschäftigen müssen – dass die Hälfte der Arbeiten genauso gut hätte warten können oder sogar unnötig war. Aber er meinte, dass Blackwell sonst nicht viel hatte. Klang fast so, als wäre er Blackwells Wohltäter.«

Gewandt hüpfte Wallace über einen Haufen Schafmist hinweg und bewahrte so seine Schuhe und seine Hosenaufschläge davor, noch schlimmer verunreinigt zu werden. Er war jetzt seit mehr als zwei Stunden nüchtern und fühlte sich für den Augenblick frei und klar.

»Abbott sagte, die Nichte sei zur Teezeit bei ihm erschienen und habe ihm berichtet, dass Blackwell überfällig war«, fuhr Wallace fort. »Offenbar war der alte Bursche normalerweise pünktlich wie die Feuerwehr, wenn es ums Essen ging. Also hat Abbott sie den Hügel rauf zu der Hecke geführt, und da haben ihn die beiden dann gefunden. Laut Abbott ist die Nichte vollkommen zusammengebrochen. Er wollte sie zurückhalten, um ihr den Anblick zu ersparen, aber sie hat sich von ihm losgerissen. In dem Bemühen, sie zu beruhigen, so seine Worte, habe er versucht, die Heugabel und die Sense aus dem Toten zu entfernen. Nachdem ihm dies jedoch nicht gelang, hielt er es für angebrachter, nichts weiter anzurühren und alles so zu lassen, wie es war. So sagte er mir zumindest. Schließlich schaffte er es, so weit auf das Mädchen einzuwirken, dass sie wieder mit ihm in den Ort zurückgehen konnte. Ich hab Larkin seine Fingerabdrücke nehmen lassen, weswegen er ziemlich rumgeschimpft hat. Dieser Abbott scheint mir ein typischer Vertreter des verbitterten alten Arschlochs vom Lande zu sein. Aber ich hatte den Eindruck, er ist kein Idiot.«

Sie waren fast bei dem Haus.

»Was ist mit der Nichte?«, fragte Lamb.

»Als der Doc eintraf, hat er sie sich kurz angesehen und ihr ein Beruhigungsmittel gegeben – obwohl ich glaube, es war eher ein Placebo. Natriumtabletten vielleicht. Auf jeden Fall schienen sie ihren Zweck insofern zu erfüllen, als sie sich nach der Einnahme ein wenig beruhigte.«

»Was war ihre Geschichte?«

»Die gleiche wie Abbotts. Sie begann sich Sorgen zu machen, als der alte Mr. Blackwell nicht nach Hause kam, und ist daraufhin zu Abbott gegangen. Beide sind gemeinsam den Hügel hinauf, um nach Blackwell zu suchen, und sie sah die Leiche ihres Onkels und den Zustand, in dem sie war. Als ich ihre Aussage aufnahm, begann sie zu weinen – sich regelrecht in Tränen aufzulösen –, also hab ich es vorerst sein lassen.«

Das war der Punkt, an dem Wallace, wie er befürchtete, die Sache noch vor Lambs Ankunft womöglich vermasselt hatte. Er war weich geworden in einem Augenblick, wo es nicht angebracht gewesen war. Er wandte sich zu Lamb um. »Sie wirkte so außer sich, dass ich es für unwahrscheinlich hielt, für den Moment noch viel Nützliches von ihr zu erfahren.«

Lamb wäre es lieber gewesen, Wallace hätte so viel wie möglich aus der Nichte herausbekommen, um ihr keine Zeit zu verschaffen, ihre Geschichte gegebenenfalls wasserdicht zu machen. Aber er ließ den Fehler durchgehen.

Sie kamen an der Tür von Abbotts Haus an. Ein junger Constable, den Lamb nicht kannte, machte ihnen auf Wallaces Klopfen hin auf.

»Ich nehme an, unser Mann hat sich in der Zwischenzeit nicht aus dem Staub gemacht?«, sagte Wallace zu dem uniformierten Kollegen.

»Auf keinen Fall, Sarge. Er ist in der Küche und trinkt Tee. Hat mir auch ’ne Tasse angeboten, aber ich hab abgelehnt.« Der Constable grinste Wallace an. »Wollte nicht, dass er denkt, ich wäre in der Stimmung, Freundschaften zu schließen.«

»Sehr gut, Pearson«, sagte Wallace. »Sie können jetzt wieder in den Ort runtergehen.«

»Jawohl, Sir«, sagte Pearson. Sogleich stiefelte er los Richtung Tor, wobei er die Schafe ein weiteres Mal aus dem Weg trieb.

Als Wallace und Lamb eintraten, erschien Abbott in der Wohnstube. Wallace stellte dem Hausherrn Lamb vor. »Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen«, ging Wallace gleich in medias res.

Abbott grunzte; seine beiden dicken Zehen ragten durch identische Löcher aus seinen schmutzigen grünen Wollsocken. »Kann sowieso nicht schlafen«, erwiderte er, als hinge die Angelegenheit seiner Befragung von seinen Befindlichkeiten ab. »Nicht nachdem ich Will so gesehen hab.«

Abbott war ein kleiner, stämmiger Mann mit kantigen Schultern. Trotz seines fortgeschrittenen Alters – Lamb schätzte ihn auf Anfang sechzig – erweckte er den Eindruck körperlicher Kraft. Sein Auftreten, die Art, wie er dastand, als wappnete er sich gegen einen Schlag, ließ Lamb an einen Boxer denken. Abbott hatte dichtes, wirres und ungewaschenes graues Haar, tiefliegende dunkle Augen und ergrauende Stoppeln an seinem Kinn. Er hatte eine Tasse Tee in der Hand und eine Zigarette zwischen den Lippen. Einmal mehr griff Lamb nach seiner Dose Karamellbonbons.

Abbott machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder in seine kleine Küche, die in der Mitte von einem runden Holztisch dominiert wurde. Eine offene Flasche Whiskey stand darauf. Lamb konnte keinerlei Anzeichen für eine weibliche Präsenz in Abbotts Leben entdecken, und doch vermochte er sich vorzustellen, dass Abbott möglicherweise einen nicht unerheblichen Einfluss auf eine einsame Junggesellin wie Lydia Blackwell haben konnte.

Abbott setzte sich an den Tisch und kippte sich einen Schuss Whiskey in den Tee. Er hielt die Flasche hoch und wedelte damit in Lambs und Wallaces Richtung. »Auch ein Schlückchen?«, fragte er.

Wallace betrachtete die Flasche. Er hätte viel für einen kleinen Drink gegeben.

»Sergeant«, sagte Lamb und deutete mit einem Nicken auf die Tasse. Wallace schnappte sich Abbotts Tee vom Tisch und schüttete ihn in den Ausguss. Dann nahm er mit einer raschen Bewegung auch die Flasche an sich.

»Mein schöner Tee!«, protestierte Abbott.

Lamb sah den Landwirt mit kaltem Blick an. »Ich würde es vorziehen, wenn Sie nüchtern blieben, während ich Sie befrage, Mr. Abbott«, sagte er.

»Ihr habt kein Recht, mir meinen Tee wegzunehmen.«

Lamb ignorierte ihn und setzte sich hin. Wallace wischte sich an einem Handtuch an der Spüle die Hände ab und nahm ebenfalls an dem Tisch Platz.

»Wie lange haben Sie Will Blackwell gekannt?«, begann Lamb.

Abbott drückte in einer vor Stummeln überquellenden Keramikschale seine Zigarette aus. Sogleich fischte er sich aus einer Packung auf dem Tisch eine neue und schob sie sich zwischen die Zähne. Dann steckte er sie mit einem Streichholz, das er an seiner Schuhsohle anriss, mit zusammengekniffenen Augen in Brand. Er ließ einen Moment verstreichen, bevor er antwortete – eine Nummer, die er, wie Lamb klar war, abzog, um zu demonstrieren, dass er sich nicht einschüchtern ließ, und wenn sie ihm seinen Tee dreimal wegnahmen.

»Mein ganzes Leben – wie ich Ihrem Mann da schon gesagt hab, als er vorhin dasselbe von mir wissen wollte«, sagte Abbott schließlich mit einem Nicken in Wallaces Richtung.

»Waren Sie mit ihm befreundet?«

»Jo – jedenfalls so weit, wie ein Mann mit Will befreundet sein konnte.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Na ja, Will blieb meistens lieber für sich. Hat sich nie viel aus anderen Leuten gemacht, Sie verstehen?«

»Sie hatten Will angeheuert, heute Ihre Hecke zu schneiden?«

»Jo.«

»Und wann hat er sich aufgemacht, den Job zu erledigen?«

»Ich hab ihn ungefähr um halb zwölf von seinem Cottage den Hügel raufkommen sehen. Aber ich hab ihn dann nicht weiter im Auge behalten, nicht wahr? Bin ja nicht sein Aufpasser gewesen. Hab ihm nur gesagt, was getan werden musste, und er hat’s dann in seinem eigenen Tempo erledigt.«

»Und Will hat immer sein eigenes Arbeitsgerät mitgebracht?«

Abbott blies eine Rauchwolke an die Decke. »Korrekt.«

»Und das ist auch bei diesem Auftrag so gewesen?«

»Ja, die Sachen gehörten Will.« Er grunzte. »Kann ich einen Tee haben, wenn ich nichts anderes reintue als Milch und Zucker?«

Lamb nickte Wallace zu. »Geben Sie ihm bitte einen Tee, Sergeant«, sagte er. Dann wandte er sich wieder Abbott zu. »Als Miss Blackwell zu Ihnen kam, haben Sie sie direkt zu seiner Leiche geführt, ist das richtig?«, setzte er die Befragung fort.

»Jo.«

»Woher wussten Sie, dass Will dort sein würde?«

»Na ja, ich hab ihn doch selbst dorthin geschickt, nicht wahr? Er sollte ebendiese Hecke für mich schneiden.«

»Aber hätte er mit der Arbeit nicht schon Stunden vorher fertig sein sollen? Was ließ Sie annehmen, dass er sich um fast sechs Uhr abends immer noch dort befand?«

»Nun, ich wusste es nicht. Ich hab’s vermutet, nicht wahr? Hab den gesunden Menschenverstand benutzt, den Gott mir gegeben hat. Dachte, dass ihn vielleicht sein Herz im Stich gelassen hatte – dass die anstrengende Arbeit womöglich zu viel für ihn gewesen ist. Deshalb bin ich zu der Hecke. Und als ich die Krähen gesehen hab, die von ihm aufstoben, wusste ich, was Sache war.«

Wallace stellte eine Tasse Tee vor Abbott ab.

»Hätte es Ihnen gefallen, Will dort oben eines natürlichen Todes sterben zu sehen, Mr. Abbott?«, fragte Lamb. »Sie sagten gerade, dass sie dachten, die Arbeit hätte ihn möglicherweise umgebracht. Und dennoch haben sie ihn da raufgeschickt. Hofften Sie, dass er starb?«

Lamb fischte im Trüben. Er rechnete damit, dass Abbott protestierte. Stattdessen jedoch verengten sich die Augen des Landwirts zu Schlitzen, und er fragte: »Worauf wollen Sie hinaus?«

Lamb ignorierte die Frage. »Sie haben Will heute also nur ein einziges Mal gesehen, und das war, als er den Hügel heraufgekommen ist?«

»Wie ich bereits sagte.« Er beugte sich ein Stück über den Tisch und umschloss seine Tasse mit den Armen.

»Sie sind den ganzen Tag über nicht rauf auf den Hügel gegangen, um nach ihm – danach, wie er seine Arbeit machte – zu sehen?«

»Ich hatte keinen Grund dazu. Will konnte selbst auf sich aufpassen.«

»In welcher Beziehung stehen Sie zu Miss Blackwell?«

Abbott starrte in seine Tasse. »Ich habe nichts mit ihr.«

»Nein?«, fragte Lamb. »Sie sind ein alleinstehender Mann, und sie ist eine alleinstehende Frau? Sie wohnt gleich unten am Hügel? Und es ist niemals etwas vorgefallen zwischen Ihnen? Sie haben niemals Miss Blackwell angesehen und bei sich gedacht: ›Ein bisschen von der Medizin könnte ich schon brauchen‹? Und dann ist eins zum anderen gekommen, so wie es nur natürlich wäre?«

»Nein!«, entgegnete Abbott in einem Tonfall, der nahelegte, dass er die Frage als Beleidigung empfand. »Ich hab die Frau nie auch nur angerührt. Hatte niemals ’nen Anlass dazu noch das Verlangen.«

»Oh, jetzt kommen Sie, Mr. Abbott«, mischte Wallace sich ein. »Niemand würde es Ihnen verübeln, wenn es so wäre. Eine jüngere, ungebundene Frau und eine einsame Seele wie Sie? Jeder Mann in Ihrer Lage würde ja dazu sagen. Wie der Inspector schon festgestellt hat, es wäre nur natürlich, nicht wahr?«

»Ich sagte Ihnen bereits – ich habe sie nie angerührt!«, gab Abbott zurück. Obwohl in den Augen des Mannes der Zorn funkelte, merkte Lamb, dass er versuchte, seine Wut unter Kontrolle zu halten, vielleicht aus Sorge, dass es sonst so aussehen könnte, als würde er sich verteidigen wollen. Abbott nahm einen tiefen Lungenzug und stieß dann langsam den Rauch aus.

»Haben Sie und Mr. Blackwell sich in der letzten Zeit wegen irgendetwas gestritten?«, fragte Lamb.

»Nein«, sagte Abbott. Er hielt den Blick stur auf die Tischplatte gerichtet.

»Wie viel haben Sie Will für diese Aufträge, die er für Sie erledigte, bezahlt?«

»Um die zwei Shilling. Manchmal mehr, manchmal weniger, kam ganz auf den Job an.«

»Und wie häufig griffen Sie auf seine Dienste zurück?«

»Wann immer es etwas zu tun gab. Ein paarmal im Monat.«

»Haben Sie Will diese ganzen Gelegenheitsjobs zukommen lassen, weil Sie ihm etwas schuldig waren? Aus früheren Zeiten vielleicht?«

»Nun, Will hatte nichts anderes, nicht wahr?«, erwiderte Abbott. »Er war zu alt, um so zu arbeiten, wie er es früher getan hat. Niemand aus dem verdammten Ort stellte ihn noch für irgendwas ein. Die ganze Saubande scherte sich einen Teufel um ihn. Hätte ich ihm nicht ab und zu etwas Arbeit zukommen lassen, hätte er gar nichts gehabt.«

»Und warum ist das so?«

Abbott zögerte – dann lachte er laut auf. »Sie wollen also tatsächlich sagen, Sie wissen nicht, warum?«

»Wieso klären Sie mich nicht auf?«, entgegnete Lamb.

»Na ja, es ist allgemein bekannt, dass einige im Ort glaubten, Will wäre eine Hexe.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Lamb. »Eine Hexe?«

»Genau das, was ich gesagt hab. Eine Hexe. Sie wissen schon – eine von denen, die auf Besen rumreiten und Tränke aus Krötenohren brauen.« Er schlug mit der Hand auf den Tisch und lachte. »Rühre, rühre, eins-zwei-drei, fertig ist der Teufelsbrei, was?«

»Ich habe keine Zeit für Ihre Witze, Mr. Abbott«, sagte Lamb. »Um ehrlich zu sein, hätte ich fast Lust, Sie festzunehmen und Anklage gegen Sie wegen Mordes an Will Blackwell zu erheben.«

Wallace gab sich Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Abbott dagegen wirkte geschockt.

»Was reden Sie da?«, stieß der Landwirt hervor. »Ich hab Ihnen doch gesagt, ich hab Will nicht ermordet! Ich hab nur versucht, ihm zu helfen!«

»Ich zweifle nicht daran, dass wir auf den Tatwaffen Ihre Fingerabdrücke finden«, sagte Lamb.

»Was soll das?« Abbott sah ihn fassungslos an. »Hab nur versucht, sie aus Will rauszuziehen! In der Absicht, Lydia zu beruhigen! Als sie ihren Onkel sah, wurde sie völlig hysterisch.«

»Das behaupten Sie. Aber ich finde die Erklärung doch um einiges zu praktisch, Mr. Abbott.«

»Ich sag es noch einmal – ich hatte mit dem Mord an Will nichts zu tun!«

Lamb donnerte seine Faust auf den Tisch. »Dann beantworten Sie meine verdammten Fragen!«, schrie er den Mann an. Er ließ das Schweigen, das daraufhin entstand, ein paar Sekunden im Raum stehen. Dann sah er Abbott an und ergriff erneut das Wort: »Und jetzt erzählen Sie mir, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen, die Leute hätten geglaubt, Will wäre eine Hexe.«

»Nun ja«, antwortete Abbott mit leiser Stimme, »er hat den Black Shuck gesehen, nicht wahr? Den schwarzen Hund. Als er zehn war. Und kurz darauf ist plötzlich seine Schwester gestorben, und keiner wusste, warum.«

»Den Black Shuck?«, fragte Lamb.

»Genau«, erwiderte Abbott. »Den Höllenhund. Der Hund, der denen erscheint, die dem Teufel Einlass in ihre Seele gewährt haben.«

»Und wo hat Will der Geschichte nach diesen Hund gesehen?«