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Die toten Frauen von Sylt: Der zehnte Fall für das sympathische Ermittler-Trio von Sylt-Krimi-Königin Eva Ehley Die Strandkörbe sind weggeräumt, Nebel hüllt die Insel ein. Da schreckt ein Mord die Westerländer Gemeinde auf: Eine Frau wurde erschlagen und nackt an einen Baum im Wald gefesselt. Und während die Kommissare Silja Blanck und Bastian Kreuzer fieberhaft nach Motiv und Täter suchen, geschehen weitere Morde. In den Kreis der Verdächtigen gerät dabei auch jemand, der den Kommissaren nicht unbekannt ist … Kann der suspendierte Sven Winterberg seinen Kollegen helfen, das Rätsel zu lösen? Nervenkitzel pur mit der Sylt-Krimi-Reihe: Band 1: Engel sterben Band 2: Frauen lügen Band 3: Männer schweigen Band 4: Mörder weinen Band 5: Mädchen töten Band 6: Sünder büßen Band 7: Falscher Glanz Band 8: Einsames Grab Band 9: Böser Abschied Band 10: Toter Blick
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Seitenzahl: 431
Eva Ehley
Kriminalroman
So hatten sich Silja und Bastian den Morgen nach ihrer Hochzeit auf dem Hörnumer Leuchtturm nicht vorgestellt: Das Telefon klingelt noch vor dem Aufstehen, und Bastian wird über den Fund einer brutal ermordeten Frau im Südwäldchen unterrichtet. Er glaubt zunächst an einen schlechten Scherz in der Hochzeitsnacht. Doch es ist wahr. Der Fall ruft auch Staatsanwältin Elsbeth von Bispingen auf den Plan, die mit einem Verdacht konfrontiert wird, der ihre Gefühle auf eine harte Probe stellt. Wem kann sie noch trauen?
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Eva Ehley studierte Literaturwissenschaften und Mathematik und arbeitete als Lehrerin. In ihren Texten erzählt sie allerdings von Dingen, über die man in der Schule nichts lernt. Hier werden Neurotiker leicht zu Mördern, während Egoisten unter Umständen ein Helfersyndrom entwickeln. Eva Ehleys Sylt-Krimis sind klassische Whodunnits mit Tendenz zum Psychothriller. Und sie sind nicht nur an der Nordsee Kult. Ehleys Texte wurden vielfach preisgekrönt u.a. mit dem Agatha-Christie-Krimipreis. Die Autorin lebt in Berlin. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.
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Prolog
Sonntag, 2. November, 05.00 Uhr, Südwäldchen, Westerland
Sonntag, 2. November, 08.50 Uhr, Drosselstieg, Westerland
Sonntag, 2. November, 09.11 Uhr, Südwäldchen, Westerland
Sonntag, 2. November, 09.27 Uhr, Norderstraße, Westerland
Sonntag, 2. November, 10.15 Uhr, Südwäldchen, Westerland
Sonntag, 2. November, 12.07 Uhr, Fitnessstudio Body Cult, Westerland
Sonntag, 2. November, 13.41 Uhr, Staatsanwaltschaft, Flensburg
Sonntag, 2. November, 14.19 Uhr, Hafenstraße, Rantum
Sonntag, 2. November, 16.33 Uhr, Südwäldchen, Westerland
Sonntag, 2. November, 17.03 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Sonntag, 2. November, 21.19 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt
Montag, 3. November, 09.37 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Montag, 3. November, 11.10 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt
Montag, 3. November, 13.53 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Montag, 3. November, 15.48 Uhr, Bahnhof Westerland
Montag, 3. November, 16.21 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Montag, 3. November, 16.53 Uhr, Norderende, Archsum
Montag, 3. November, 16.57 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt
Montag, 3. November, 20.22 Uhr, Norderstraße, Westerland
Dienstag, 4. November, 06.55 Uhr, Bahnübergang Reitkoog, Archsum
Dienstag, 4. November, 07.31 Uhr, Bahnhof Westerland
Dienstag, 4. November, 07.37 Uhr, Norderende, Archsum
Dienstag, 4. November, 07.52 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Dienstag, 4. November, 08.22 Uhr, Norderende, Archsum
Dienstag, 4. November, 09.11 Uhr, Bahnübergang Reitkoog, Archsum
Dienstag, 4. November, 11.57 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt
Dienstag, 4. November, 12.34 Uhr, Gymnasium Sylt, Westerland
Dienstag, 4. November, 13.17 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Dienstag, 4. November, 15.50 Uhr, Redaktion Sylter Anzeiger, Tinnum
Dienstag, 4. November, 17.11 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Dienstag, 4. November, 17.25 Uhr, Norderende, Archsum
Dienstag, 4. November, 17.52 Uhr, Fitnessstudio Body Cult, Westerland
Dienstag, 4. November, 18.00 Uhr, Gosch Parkplatz, Wenningstedt
Dienstag, 4. November, 19.20 Uhr, Pizzeria Toni, Westerland
Mittwoch. 5. November, 06.45 Uhr, Braderuper Weg, Kampen
Mittwoch, 5. November, 06.49 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt
Mittwoch, 5. November, 07.12 Uhr, Norderende, Archsum
Mittwoch, 5. November, 07.50 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Mittwoch, 5. November, 08.15 Uhr, Redaktion Sylter Anzeiger, Tinnum
Mittwoch, 5. November, 08.30 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt
Mittwoch, 5. November, 08.31 Uhr, Bahnübergang Reitkoog, Archsum
Mittwoch, 5. November, 11.53 Uhr, Redaktion Sylter Anzeiger, Tinnum
Mittwoch, 5. November, 15.37 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Mittwoch, 5. November, 21.02 Uhr, Weststrandhalle, List
Mittwoch, 5. November, 23.37 Uhr, Möwenberg, List
Donnerstag, 6. November, 00.22 Uhr, Möwenberg, List
Donnerstag, 6. November, 07.10 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Donnerstag, 6. November, 07.54 Uhr, Möwengrund, List
Donnerstag, 6. November, 08.28 Uhr, Staatsanwaltschaft, Flensburg
Donnerstag, 6. November, 08.39 Uhr, Möwengrund, List
Donnerstag, 6. November, 09.22 Uhr, Fisch Blum, Wenningstedt
Donnerstag, 6. November, 09.49 Uhr, Im Gaadt, Wenningstedt
Donnerstag, 6. November, 09.50 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt
Donnerstag, 6. November, 10.24 Uhr, Elkes Spielhalle, Westerland
Donnerstag, 6. November, 13.03 Uhr, Braderuper Straße, Kampen
Donnerstag, 6. November, 13.29 Uhr, Listlandstraße, List
Donnerstag, 6. November, 16.11 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Donnerstag, 6. November, 18.23 Uhr, Twedter Feld, Flensburg
Donnerstag, 6. November, 19.04 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt
Donnerstag, 6. November, 21.19 Uhr, Norderstraße, Westerland
Donnerstag, 6. November, 22.42 Uhr, Twedter Feld, Flensburg
Freitag, 7. November, 06.17 Uhr, Norderstraße, Westerland
Freitag, 7. November, 09.33 Uhr, Möwengrund, List
Freitag, 7. November, 10.19 Uhr, 1. FC Sylt, Westerland
Freitag, 7. November, 10.42 Uhr, Norderende, Archsum
Freitag, 7. November, 11.37 Uhr, Südwäldchen, Westerland
Freitag, 7. November, 11.55 Uhr, Möwengrund, List
Freitag, 7. November, 12.11 Uhr, Lister Straße, Kampen
Freitag, 7. November, 12.20 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland
Freitag, 7. November, 12.43 Uhr, Möwengrund, List
Freitag, 7. November, 13.09 Uhr, Staatsanwaltschaft, Flensburg
Freitag, 7. November, 13.36 Uhr, Fährhafen List
Freitag, 7. November, 14.18 Uhr, Große Tonnenhalle, List
Freitag, 7. November, 14.41 Uhr, Norderende, Archsum
Sonntag, 9. November, 11.07 Uhr, Nordseeklinik, Westerland
Sonntag, 16. November, 10.22 Uhr, Drosselstieg, Westerland
Die Sylt-Krimi-Reihe von Eva Ehley
Es ist Anfang November, die Natur hat längst die Macht über Sylt und seine Einwohner zurückerobert. Jetzt sind die meisten Touristen verschwunden, die Strände leer, die Strandkörbe abgeräumt und sicher verwahrt. Viele Andenkenläden und Modeshops haben ihre Schaufenster verrammelt, die Gastronomen bereiten sich auf den Rummel zum Jahreswechsel vor, und selbst die Möwen warten auf bessere Zeiten. Die Sonne ist schon vor Stunden untergegangen. Über der Nordsee steigt die Feuchtigkeit in fetten Schwaden auf, wabert über den verlassenen Strand, schwebt die Dünen hinauf, füllt Täler und Mulden, ergießt sich über die Heide und hüllt die ersten Reetdachhäuser ein. Konturen verschwimmen, Baumwipfel und Dachfirste versacken im Dunst.
Dann erreicht der Nebel die Inselmitte. Auf der Verbindungsstraße zwischen Westerland und Wenningstedt treiben Nebelfetzen. Ein stumpfgraues Huschen auf nassglänzendem Asphalt. Tonlos und scheu. Nur selten stört ein Wagen das Schleierballett, frisst sich auf milchiger Scheinwerferbahn durch die Nacht. Das Röhren des Motors hallt durch den Dunst, der den Schall nur wenige Meter weit trägt, ihn dann einkreist, niederkämpft und unschädlich macht. Nebelstille folgt. Weißes Schweigen. Erst Minuten später nähert sich der nächste Wagen, bewegt sich in seinem Kokon aus Licht und Geräusch, erscheint und verschwindet, als habe es ihn nie gegeben.
Auf dem Radweg neben der Straße kämpft sich eine dunkel vermummte Gestalt durch die Kälte. Gebückt tritt sie in die Pedale, während der Wind an ihrer Kapuze zerrt und einzelne Wassertropfen an ihrer Öljacke entlangtreibt. Niemand hört ihr Keuchen und die gemurmelten Flüche.
Niemand kommt der Gestalt entgegen, und niemand fährt hinter ihr, denn keiner, der nicht einen guten Grund dafür hat, hält sich bei diesem Wetter noch im Freien auf. Und darum wird auch niemand beobachten können, was nur wenige Minuten später im Schutz der Dunkelheit geschieht.
Im Westerländer Süden liegt ein breiter Grünstreifen zwischen den Dünen und der Inselmitte. In Reih und Glied gepflanzte Nadel- und Laubbäume schirmen das Straßennetz zur Nordsee hin ab und bieten den Anwohnern der schlichten Doppel- und Reihenhäuser eine gern genutzte Oase der Ruhe und Erholung.
Zu dieser frühen Stunde liegt das Wäldchen noch im Dunkeln. Nieselregen tropft durch Baumkronen, zarte Schleier hängen wie Spinnweben auf Farnen und Zweigen. Es riecht nach Pilzen und Moder, frisch, erdig und ein wenig nach Verwesung.
Eine fast vollkommene Stille lässt die Nähe der bebauten Straßen vergessen. Auch das Rauschen der Wellen hinter der Dünenkette ist hier nicht zu hören. Stattdessen kann das geübte Ohr andere Geräusche wahrnehmen. Ab und an raschelt es im Unterholz, huschend bewegen sich winzige Tiere im Schutz der Nacht. Käferkolonnen schieben sich unter der Blätter- und Nadelschicht hindurch, die den Boden bedeckt. Fliegenschwärme surren durch die Dunkelheit. Ihr Ziel ist ein dicker Baumstamm, der abseits des Weges steht.
An seine rissige Rinde ist ein menschlicher Körper gefesselt. Fest umschlungen von einem neongrünen Kunststoffseil schmiegt eine nackte Frau Rücken, Kopf, Arme und Beine an den Baumstamm, als wolle sie sich in einer rückwärtigen Umarmung mit ihm vereinen. Die kleinen blassen Brüste werden vom Seil in je zwei welke Hälften geteilt, während die knochigen Hüften weit hervorstehen und das graue Dreieck der Schamhaare wie ein Ausrufezeichen wirken lassen. Die Achseln der Frau sind sauber rasiert, das Haupthaar ist sportlich kurz geschnitten und von einem künstlich wirkenden Schwarz. Regen tropft darauf, läuft über Gesicht und Hals, staut sich vor der Hürde, die das grüne Seil dort bildet, wo es den Hals sehr eng umschließt. Das Stocken wiederholt sich überall dort, wo das Seil den Körper einschnürt. Erst nach einer Weile läuft das Wasser über und fließt in schmalen Rinnsalen an Schultern, Brüsten, Hüften und Beinen hinab.
Die weit geöffneten Augen der Frau starren mit totem Blick ins Leere, ihre Bindehaut ist nicht mehr hell, sondern weist eine gelblich braune Färbung auf. Der Unterkiefer hängt tief herab, als sei der Mund zu einem Schrei geöffnet. Am Hinterkopf befindet sich eine klaffende Wunde, aus der Blut und Hirnmasse getreten sind.
Am Boden zwischen Gräsern und Moosen direkt vor den blau gefleckten Füßen der Toten liegen eine schwarze Jeans, ein dunkelgrüner Kapuzenpulli, eine graue Regenjacke und hautfarbene Baumwollunterwäsche sowie ein Paar Sneakers, in denen zusammengerollt hellgelbe Socken stecken. Die grelle Farbe der Socken wirkt ebenso wie das neongrüne Kunststoffseil auf eine irritierende Weise deplatziert zwischen den verwaschenen Farben des Herbstes, die sich in der restlichen Kleidung zu wiederholen scheinen. Ein Ausrufezeichen, dessen Sinn es zu ergründen gilt.
Doch noch ist es dunkel und einsam im Südwäldchen. Noch gibt es keine morgendlichen Jogger und schon gar keine Spaziergänger, niemand führt seinen Hund aus, so dass bisher noch kein menschliches Auge den sorgfältig platzierten Frauenkörper entdecken und niemand sich Gedanken über die merkwürdige Farbwahl machen konnte.
In der gemütlichen Küche von Meret und Hannes Winterberg riecht es nach frischem Hefegebäck, warmer Milch und aromatischem Tee. Das Ehepaar hat seine beiden Enkelkinder übers Wochenende zu Besuch, weil deren Eltern am Samstag zu einer Hochzeitsfeier eingeladen waren. Der hölzerne Küchentisch ist liebevoll mit blau-weißem Porzellan gedeckt, selbst gemachte Marmeladen stehen neben Wurst und Käse bereit. Die zwölfjährige Mette und der bald zweijährige Max sitzen plaudernd am Tisch und lassen sich die ofenwarmen Hefeteilchen schmecken, die ihre Oma Meret selbst zubereitet hat. Die grauhaarige schlanke Mitsechzigerin mit den fröhlichen blitzenden Augen freut sich über den Appetit der Kinder und ermuntert sie, noch einmal zuzugreifen. Hannes Winterberg, ein korpulenter Mann mit dichtem schlohweißem Haupthaar und einem grauen Schifferbart, beobachtet die Szene amüsiert.
»Nicht dass du die Lütten so vollstopfst, dass sie nachher Bauchgrimmen haben«, ermahnt er seine Frau halb scherzhaft.
»Lass stecken, Opa«, gibt Mette übermütig zurück. »Max und ich haben riesige Mägen, jedenfalls wenn es um Oma Merets Hefekringel geht.«
»Kingel! Mas mer kingel«, kräht auch der kleine Max fröhlich und greift nach dem nächsten Stück.
Vorsichtig windet Meret Winterberg ihrem Enkel das Hefestück aus der Hand. »Wir teilen es, okay? Du darfst jetzt noch ein Halbes essen und nachher, wenn du vom Spielplatz kommst, die andere Hälfte.«
Die Erwähnung des Spielplatzes lässt Max sofort das Interesse an dem Süßgebäck verlieren. »Bipa, Bipa«, fordert er mit energischer Stimme.
Hannes Winterberg wirft einen besorgten Blick durchs Küchenfenster nach draußen, wo schon den ganzen Morgen ein leichter Nieselregen niedergeht. »Nicht dass die Kinder sich in dem Schietwetter noch eine Erkältung holen«, murmelt er.
»Aber Opa! Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. Sagst du doch selbst immer.«
»Bipa! Lok!«, kräht Max und bringt seine Großmutter zum Schmunzeln.
»Die tolle rote Eisenbahn wartet bestimmt schon auf dich. Schließlich bist du der Lokführer.«
»Bipa, Mas, Lok«, bestätigt der Kleine eifrig nickend.
»Also gut, ich bin überstimmt.« Hannes Winterberg schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. »Kinners, nur noch die Zähne putzen, dann könnt ihr euch in die Gummistiefel und die Regenjacken werfen, und los geht’s.«
Zehn Minuten später steht die kleine Truppe abmarschbereit an der Tür des Reihenhauses. Mette trägt einen knallroten Regenmantel und ziemlich ramponierte grüne Gummistiefel, der kleine Max einen dunkelblauen wasserfesten Matschanzug mit passenden funkelnagelneuen Stiefeln. Beide Kinder haben die Kapuzen über die Ohren gezogen und warten ungeduldig darauf, dass ihr Großvater endlich seine Öljacke zugeknöpft und die Mütze aufgesetzt hat.
»Los geht’s«, ruft Hannes Winterberg schließlich und stößt die Tür auf.
Ein kalter Luftstoß dringt ins Haus und lässt Meret erschauern. »Bleibt nicht zu lange«, ruft sie ihrem Mann und den Enkeln hinterher. »Sonst muss ich euch alle drei gleich anschließend in die heiße Wanne stecken.«
»Keine Sorge, Omi, wir bewegen uns ja. Da friert man nicht so schnell.«
Während der kleine Max an der Hand seines Großvaters bleibt, läuft Mette übermütig voraus. Sie kennt den Weg zum Spielplatz genau. Zwei Straßenkreuzungen sind zu überqueren, und dann geht es ein Stück durchs Südwäldchen, in dessen Mitte der Spielplatz liegt. Die Zwölfjährige hat sich als kleines Kind oft genug hier vergnügt und kommt immer noch gern mit, um neben dem Bruder wie wild zu schaukeln oder allein durchs Unterholz zu streifen, während ihr Opa aufpasst, dass sich Max beim Klettern in der roten Holzeisenbahn nichts tut.
Als Mette das Wäldchen erreicht hat, blickt sie sich um. Ihr Opa und Max begutachten gerade eine verlassene Baustelle, neben der ein Bagger und ein Schuttcontainer am Straßenrand stehen.
»Ich geh schon mal vor«, ruft Mette ihnen zu und läuft los, ohne auf eine Antwort zu warten.
Zwischen den Bäumen ist es dunkler und kälter als auf der Straße. Nebelschwaden hängen in den kahlen Kronen, Tau glitzert auf den Ästen. Im Vorbeigehen schlägt Mette gegen einzelne Zweige und lässt die Tropfen sprühen. Abenteuerlustig verlässt sie den Weg, der zum Spielplatz führt. Ihre Gummistiefel versinken im nassen Laub. Fast stolpert sie über eine Wurzel und heftet deshalb ihren Blick lieber auf den Boden. Leise summt sie vor sich hin, während sie überlegt, was es wohl zum Mittagessen geben wird. Bratwürste, fällt es ihr ein, und dazu Kartoffelpüree. Und am Nachmittag kommen dann die Eltern zum Kaffeetrinken und um sie und Mäxchen abzuholen.
Als eine eifrige Käferkolonne Mettes Aufmerksamkeit erregt, vergisst sie die Eltern und konzentriert sich darauf, zu beobachten, wie die Kriechtiere mit Blättern und anderen Hindernissen umgehen. Immer wieder verschwinden mehrere von ihnen aus Mettes Blickfeld, weil sie offenbar in tiefere Schichten ausweichen. Manchmal schaffen es die winzigen Kerle sogar, ein besonders trockenes Blatt aus dem Weg zu schieben. Es dauert ein wenig, bis Mette klar wird, dass die Tiere nicht wahllos durch die Gegend krabbeln, sondern ein bestimmtes Ziel verfolgen. Alle bewegen sich in die gleiche Richtung, auch wenn sie manchmal Umwege in Kauf nehmen müssen. Mit gesenktem Kopf verfolgt Mette die Spur der Käfer vorbei an Baumstämmen und einzelnen Sträuchern.
Dann sieht sie etwas leuchtend Gelbes am Fuß eines Baumes.
Socken in einem Paar Turnschuhen.
Drum herum liegen Kleidungsstücke am Waldboden.
Und hinter der Kleidung stehen zwei blaue Füße.
Im ersten Moment glaubt Mette an einen Spaß. Da hat jemand blau gefärbte Gummifüße hingestellt, um ahnungslosen Waldbesuchern Angst zu machen.
Doch die Füße münden in sehnigen Beinen und darüber …
Mette erstarrt.
Sie schließt die Augen und will sie nie wieder öffnen. Jemand soll kommen und sie einfach von hier wegtragen. Sie will das nicht sehen, aber sie kann auch nicht weglaufen, denn dafür müsste sie die Augen wieder aufmachen.
»Opa!«, schreit Mette durch den menschenleeren Wald. »Opa, komm her, bitte! Ganz schnell.«
Sie lauscht in die Stille. Nichts.
Aber er muss sie doch hören!
»Opa, hier bin ich!«
Wieder keine Antwort.
»Opa … Opa … Opa!«
Und als er immer noch nicht reagiert, fügt sie mit sich überschlagender Stimme hinzu: »Hier ist eine Frau an einen Baum gebunden. Sie ist nackt, und sie hat geblutet, und sie ist tot.«
»Opa … Opa … Opa!«
Hannes Winterberg hört Mettes Rufen und weiß sofort, dass ihr etwas geschehen ist. Wahrscheinlich ist Mette gestürzt und hat sich weh getan. Das Kind ist mutig und draufgängerisch, da passiert das schon mal. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes!
Hannes Winterberg greift sich den kleinen Max, der sich nur widerstrebend von der genauen Untersuchung des Baggers abhalten lässt.
»Mette hat gerufen. Wir müssen hinlaufen und gucken, was da los ist.«
»Mas Bagga«, beharrt der Kleine.
»Nein, Max geht jetzt mit Opa zu Mette. Komm, ich nehm dich auf den Arm, das magst du doch so gern.«
Zufrieden schmiegt sich der Kleine an seinen Großvater und beginnt mit dem Reißverschluss der Öljacke zu spielen. Schnaufend fällt Hannes Winterberg in einen schnellen Trab. Mäxchen ist ein ganz schöner Brocken und er selbst nicht mehr der Jüngste. Doch schon hat er den Waldrand erreicht, jetzt muss er nur noch Mette finden. Suchend blickt er sich um. Nichts. Nur Bäume, nass vom Regen, und ein schlammig aufgeweichter Weg, der direkt zum Spielplatz führt. Schon hastet Hannes den Weg entlang, als Mettes Stimme noch einmal an sein Ohr dringt.
»Hier ist ein Pfau an einen Baum gebunden.«
Gott sei Dank, denkt er, ihr ist nichts passiert. Weiß der Himmel, was Mette da wieder entdeckt hat.
Hannes kann die nächsten Worte seiner Enkelin nicht richtig verstehen, aber er blickt in die Richtung, aus der ihre Stimme kommt, und tatsächlich schimmert ihre rote Jacke durch die Bäume. Mette steht ganz still und bewegt sich nicht. Merkwürdig, das passt gar nicht zu ihr, denkt Hannes noch. Wenn sie aufgeregt ist, hüpft sie doch meistens von einem Bein aufs andere.
»Mette, was ist denn? Ich bin gleich bei dir.«
Zügig und konzentriert stapft er durch das Unterholz. Jetzt bloß nicht stolpern, Mäxchen sicher auf dem Arm halten, alle störrischen Zweige beiseiteschieben. Mette sagt gar nichts mehr, sehr merkwürdig.
Endlich hebt Hannes den Blick. Und erstarrt.
Nein, das kann nicht sein! Das ist ganz und gar unmöglich!
Hannes Winterbergs Gedanken überschlagen sich. Hat Mette wirklich diesen Anblick in all seiner Grausamkeit aufgenommen? Den klaffenden Mund, die toten Augen. Den entblößten, gefesselten Körper. Den zertrümmerten Hinterkopf.
In einer spontanen Geste hält Hannes seinem Enkel die Augen zu. Der kleine Max begreift nicht und wehrt sich entschieden. Während Hannes sich bemüht, den Kleinen ruhig zu halten, läuft er die letzten Schritte zu Mette.
Jetzt sieht er, dass sie ihre Augen fest zugekniffen hat. Hannes Winterberg setzt Mäxchen ab, fasst ihn an die eine und seine Enkelin an die andere Hand und murmelt: »Alles wird gut, min Deern. Wir gehen jetzt ganz langsam nach Hause. Und dann rufen wir die Polizei. Du musst die Augen nicht aufmachen, ich führe dich.«
Mette nickt kaum wahrnehmbar und setzt sich mit tastenden Schritten in Bewegung. Sie kommen lähmend langsam voran. Max stolpert neben ihm her und will nun doch wieder getragen werden. Während Mette leise zu schluchzen beginnt, bemüht sich Hannes, die eigene Verstörung zu verdrängen und das Entsetzen nicht zuzulassen.
Welches Schwein macht so etwas?
Kein Wunder, dass die Lütte wie betäubt wirkte. Sie zittert am ganzen Leib, Hannes spürt es an ihrer kleinen Hand.
»Es wird alles ganz bald wieder gut«, wiederholt er, wohl wissend, dass gar nichts gut werden wird, und bald sowieso nicht. Hannes verflucht sich selbst dafür, dass er wieder mal das Handy nicht mitgenommen hat. Jüngeren Leuten würde das nicht passieren. Aber er ist eben noch aus einer anderen Generation. Analog und nicht digital, schießt es ihm durch den Kopf. Auf was für abwegige Gedanken ich verfalle, während meine Enkelin vielleicht den größten Schock ihres Lebens verarbeiten muss, tadelt er sich gleich darauf selbst.Dann realisiert er, dass auch er unter Schock steht und vermutlich froh sein kann, wenn es ihm gelingt, die beiden Lütten heil nach Hause zu bringen.
»Alles wird gut«, sagt er zum dritten Mal, als könne er mit dieser Beschwörung irgendetwas bewirken. »Wir gehen jetzt zurück zu Oma Meret, und dann rufen wir die Polizei. Du bist sehr tapfer gewesen, Mette, und du kannst jetzt auch deine Augen wieder aufmachen, sonst stolperst du noch.«
Mette schüttelt energisch den Kopf. »Die Frau«, stammelt sie, »war die tot?«
»Ja, Mette, das war sie. Sie hat nichts mehr gespürt.«
»Aber vorher. Das tut doch weh, wenn man so festgebunden wird.«
Mette schluchzt noch einmal, öffnet aber wenigstens die Augen, um ihren Großvater fragend anzusehen.
»Sie war schon tot, als sie in den Wald getragen wurde«, antwortet Hannes tröstend, doch seine Stimme ist brüchig. Woher will ich das wissen?, fragt er sich. Mein Sohn ist zwar bei der Kriminalpolizei, aber ich habe mich doch nie mit solchen Dingen beschäftigt. Ich sehe noch nicht mal die Krimis im Fernsehen.
Allerdings scheint die Antwort ihres Großvaters Mette gutzutun. Sie hört auf zu weinen und fragt nach einer Weile nachdenklich: »Warum musste die Frau an den Baum gebunden werden, wenn sie doch tot war? Die gehört doch in einen Sarg, oder?«
»Dafür wird jetzt auch gesorgt.«
Mäxchen langweilt sich, und will nicht mehr laufen. Und deshalb muss ich auch so schnell wie möglich zu einem Telefon. Ich muss jetzt durchhalten, ich darf nicht schlappmachen. Noch eine Ecke und dann die Straße rauf. Als Mäxchen sich gerade tonnenschwer macht und sich weigert, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu tun, taucht zum Glück schon das Haus von Hannes und Meret Winterberg am Ende der Straße auf. Hannes lässt Mettes Hand los und nimmt den Kleinen wieder hoch. Ein schmerzhafter Stich fährt durch seine Brust. Jetzt nur noch ein paar Schritte, dann die Klingel drücken, und es ist geschafft.
»Opa, ich habe dich was gefragt«, insistiert Mette.
Hannes hat keine Ahnung, was das gewesen sein soll, aber zum Glück öffnet Meret jetzt die Tür.
»Ihr seid aber schnell wieder zurück«, beginnt sie, um Sekunden später zu begreifen. »Was ist passiert? Du bist ganz blass. Meine Güte, hattest du wieder Herzprobleme?«
Hannes schiebt Mette durch die Tür und lässt Max auf den Boden gleiten.
»Ruf Sven an, sofort«, keucht er, dann sackt er selbst zu Boden und bleibt neben seinem verdutzten Enkel sitzen.
»Sven? Was soll denn Sven ausrichten? Ich rufe den Notarzt. Mit dir stimmt was nicht, das sehe ich doch.«
»Oma, im Wäldchen ist eine tote Frau, und ich habe sie entdeckt, und sie war ganz blau an den Füßen, und der Mund war …«
»Mette, was redest du?«
»Die Lütte hat recht«, fällt Hannes seiner Frau ins Wort. »Ruf jetzt endlich Sven an, danach erkläre ich dir alles.«
Kriminalhauptkommissar Bastian Kreuzer kann nicht schlafen.
Gestern hat er seiner großen Liebe Silja Blanck das Versprechen für ein gemeinsames Leben gegeben. Silja ist ebenfalls Kommissarin auf Sylt, also haben sich die beiden gegen eine offizielle Trauung entschieden und nur symbolisch geheiratet, um berufliche Konsequenzen zu vermeiden. Die Zeremonie hat im kleinen Kreis stattgefunden, denn oben auf dem Hörnumer Leuchtturm sind nur wenige Hochzeitsgäste zugelassen. Umso fetter war die abendliche Party im Keitumer Friesensaal. Silja und Bastian haben bis fünf Uhr morgens ausgelassen getanzt und gefeiert. Erst seit vier Stunden liegen sie im Bett ihrer gemeinsamen Wohnung. Während Silja quasi bei Kissenberührung eingeschlafen ist, war Bastian so aufgedreht, dass er bis jetzt wachgelegen hat.
Gerade lässt der Hauptkommissar noch einmal die halbe Stunde Revue passieren, die Silja und er umhüllt von Nebelschwaden auf dem Leuchtturm verbracht haben. Man konnte zwar nicht wie erhofft den Weitblick über die Insel genießen, aber dafür herrschte eine fast magische Atmosphäre. Es war, als würden alle Anwesenden über den Dingen schweben, inmitten eines federleichten Dunstes, umschwirrt von einem sagenhaften Möwenballett und umbrandet vom Rauschen und Brausen des Meeres tief unter ihnen.
Als Trauzeugen waren Sven Winterberg und seine Ehefrau Anja mit dabei. Die beiden sind nicht nur gute Freunde, sondern Sven ist auch ein Kollege, nämlich der dritte Kommissar bei der Westerländer Polizei. Gemeinsam mit ihm haben Silja und Bastian in der Vergangenheit schon einige spektakuläre Morde erfolgreich aufgeklärt. Allerdings ist Sven zurzeit vom Ermittlungsgeschehen abgezogen und versieht stattdessen Schreibdienste auf der Wache. Im vergangenen Sommer hatte er seine Dienstwaffe zu einem privaten Treffen mitgenommen, eine Aktion, die einen Toten zur Folge hatte und Sven selbst in Lebensgefahr gebracht hat.
Ihre Freundschaft konnte Svens Degradierung zum Glück nicht erschüttern, so dass sich Sven und seine Frau mit großer Freude als Trauzeugen zur Verfügung gestellt haben.
Ursprünglich sollte das feierliche Eheversprechen auf dem Hörnumer Leuchtturm schon im Spätsommer stattfinden, aber einen Termin an dieser sehr nachgefragten Location zu buchen, hat sich als äußerst kompliziert erwiesen. Also sind Silja und Bastian auf den November ausgewichen. Der 1.11. ist doch ein tolles Datum, hatte Silja nach einigem Hin und Her energisch erklärt und sich gegen alle Vernunft sofort nach der Terminbuchung ein sündhaft teures cremefarbenes Kaschmirkleid mit passendem Mantel zugelegt. Bastian wollte nicht nachstehen und ist ebenfalls mit Kaschmirmantel, wenn auch in Dunkelblau, erschienen. Für die anschließende große Sause haben sich beide dann etwas luftigere Kleidung besorgt. Das silberne Cocktailkleid im Zwanziger-Jahre-Stil, mit dem Silja ihn auf der Party überrascht hat, war einfach umwerfend, fand Bastian. Und er findet es immer noch, denn das Kleid hat Silja bei der Heimkehr direkt neben ihrem großen Bett nachlässig über einen Stuhl geworfen.
Gerührt lässt Bastian seinen Blick vom Kleid zurück zur schlafenden Silja wandern. Ihr langes dunkles Haar liegt ausgebreitet wie ein glänzender Schleier neben ihrem schmalen Gesicht, und ein kleines Lächeln spielt um ihren Mund. Ich werde dich immer lieben, verspricht ihr Bastian gerade insgeheim. Und als könne sie im Schlaf seine Gedanken lesen, vertieft sich Siljas Lächeln.
Bastian dreht sich auf den Rücken, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und schließt die Augen. Heute ist Sonntag, und wir bleiben den ganzen Tag im Bett. Es ist schließlich unsere Hochzeitsnacht.Also entspann dich endlich und sieh zu, dass du noch einen Happen Schlaf bekommst. Die drei Espressi, die du nach Mitternacht hattest, werden ja wohl nicht ewig wirken.
Und tatsächlich legt sich bald eine angenehme Ruhe über ihn, sein Atem geht langsamer, und ebenso flüchtige wie sinnlose Szenen, die schon halb ins Traumland verweisen, huschen durch seinen Kopf. Bastian dreht sich zur Seite und schlingt seinen Arm um Silja, bereit, sich vollständig dem Schlaf zu überantworten.
Das Schrillen des Telefons erwischt ihn nur Sekunden später. Tief verwirrt richtet er sich auf. Welcher Idiot wagt es, jetzt hier anzurufen?, denkt er erbittert und wäre ganz sicher nicht ans Telefon gegangen, wenn er nicht hätte befürchten müssen, dass das Klingeln auch Silja aus dem Schlaf reißen wird.
Also wuchtet er seinen massigen Körper aus dem Bett, denkt flüchtig an seinen Vorsatz, das Fitnesscenter, in dem er schon länger Mitglied ist, diesen Winter häufiger aufzusuchen, und tapst in die Wohnküche, wo das Telefon steht. Die Tür zum Schlafzimmer schließt er sorgfältig hinter sich.
»Ja. Kreuzer hier. Was ist denn los?«, murmelt Bastian verschlafen in den Apparat.
Am anderen Ende meldet sich ausgerechnet Sven, der doch bis zum Schluss mit ihnen gefeiert hat und jetzt ebenso erschöpft sein müsste wie Silja und Bastian.
»Ich hatte gerade einen Anruf von meinem Vater.«
»Kommt der mit euren Kindern nicht klar, oder was? Und wenn ja, was habe ich damit zu tun?«, unterbricht ihn Bastian ungnädig. Undeutlich erinnert er sich daran, dass Mette und Mäxchen über das Hochzeitswochenende zu Svens Eltern ausquartiert worden sind.
»Heute früh ist mein Vater mit beiden Kindern im Südwäldchen unterwegs gewesen. Und ausgerechnet Mette hat mitten im Wald eine übel zugerichtete Tote entdeckt. Nackt an einen Baum gefesselt.«
»Das ist jetzt einer dieser ganz üblen Scherze, um Silja und mir die Hochzeitsnacht zu verderben. Besten Dank auch.« In Bastian kocht die Wut hoch. »Dass du dich nicht schämst, bei so etwas mitzumachen. Ich dachte, dafür sind wir nun wirklich zu alt«, poltert er.
»Echt nicht. Ich schwöre. Mein Vater muss fast einen Herzkasper gekriegt haben, wenn man meiner Mutter glauben darf. Er hat es gerade noch geschafft, die beiden Lütten nach Hause zu bringen, dann ist er zusammengeklappt.«
»Lass stecken, Sven. Ich fall auf so einen Blödsinn nicht rein. Wenn ich jetzt im Südwald aufkreuze, stehst du doch nur mit ein paar Kumpels dort und lachst dich schlapp über mich. Oder vielleicht habt ihr auch nur ein fettes Schild mit euren schadenfroh grinsenden Visagen in die Bäume gehängt. Ohne mich, mein Lieber. Schlaf einfach weiter und lass mich in Ruhe.«
Mit diesen Worten unterbricht Bastian die Verbindung und geht grummelnd zurück zum Schlafzimmer. Doch bevor er die Klinke herunterdrücken kann, klingelt das Telefon erneut.
»Jetzt reicht’s aber«, schimpft Bastian und will gerade den Stecker des Festnetzanschlusses aus der Buchse ziehen, als auch Siljas Handy schellt, das auf dem Couchtisch liegt. Wütend greift er sich das Teil, um den Anruf wegzudrücken, da sieht er, dass diesmal nicht Sven am anderen Ende ist, sondern ein Kollege aus der Dienststelle.
Jetzt ist Bastian wirklich sauer. »Hey Leute, was soll der Scheiß?«, blafft er ins Handy. »Habt ihr nichts Besseres zu tun, als frisch Verheiratete um ihre wohlverdiente Hochzeitsnacht zu bringen?«
»Chef, die Sache hier sieht gar nicht gut aus.«
»Lass mich raten: Ihr steht im Wald direkt vor dieser angeblichen Leiche und wartet auf mich.«
»Stimmt genau.«
»Ich glaube dir kein Wort.«
Anstelle einer Antwort ploppt wenige Sekunden später ein Foto auf Siljas Display auf. Kahle Bäume im Morgennebel. Eine nackte Frau mit eingeschlagenem Schädel. Eine neongrüne Leine, mit der die Tote an einem der Stämme festgebunden ist.
Bastian atmet einmal ganz tief durch.
»Das ist jetzt keine Fotomontage, oder?«
»Leider nicht. Willst du noch ein Video? Sollen wir vielleicht persönlich durchs Bild tanzen, damit du uns glaubst?«
»Entschuldigt, Leute, ich mache mich gleich auf den Weg. Aber eines sage ich euch: Wenn ich das Schwein erwische, das mir die Hochzeitsnacht versaut hat, dann gnade ihm Gott.«
Der Mann in brauner Cordhose und hautfarbenem Anorak trägt eine abgewetzte geräumige Tasche in der Hand und kommt langsam den Waldweg entlang. Trotz seines verdrießlichen Gesichtsausdrucks geht ihm Silja Blanck mit ausgestreckter Hand entgegen.
»Schön, dass Sie so schnell hier sein konnten, Dr. Bernstein.«
Die Oberkommissarin ist froh über die Ankunft des Rechtsmediziners am Tatort, denn so kann sie der Leiche kurzzeitig den Rücken kehren, ohne dass die Kollegen tuscheln. In der Regel hat sie keine Mühe, von privat auf beruflich umzusteigen. Und auch ein schauriger Anblick haut sie nicht so schnell vom Hocker. Aber den Tag nach ihrer Hochzeit hat sich Silja Blanck wahrlich anders vorgestellt. Anstatt im Bett mit ihrem frischgebackenen Ehemann Bastian zu kuscheln, steht sie hier in Nebel und Kälte und soll den Mord an einer übel zugerichteten Frau aufklären.
Immerhin scheint sogar Bernstein von der gestrigen Festlichkeit zu wissen. »Erst mal alles Gute für Sie und Ihren Kollegen«, erklärt er und lässt sich, als er ihre Hand ergreift, sogar zu einem kleinen Lächeln hinreißen. »Hoffentlich machen Ihnen jetzt nicht die Flensburger Kollegen Scherereien. Ehen innerhalb der Kripo und dann gemeinsam ermitteln, das mögen die ja nicht so gern.«
»Es war nur eine freie Trauung. Und es wäre schön, wenn Sie das der Staatsanwältin gegenüber nicht erwähnen würden.«
»Kein Problem.« Der Rechtsmediziner blickt sich suchend um. »Wo haben wir denn das Schätzchen?«
Silja, die die zuweilen sehr flapsigen Kommentare des Rechtsmediziners schon gewöhnt ist, weist kommentarlos zu dem Grüppchen uniformierter Kollegen, die vor dem Baumstamm mit der Toten stehen und die Sicht versperren.
»Da wird sich die Spurensicherung aber freuen, wenn Sie hier alles platt trampeln«, mosert Bernstein.
»Wir sind nicht besonders nah herangegangen. Außerdem hat der Mord eindeutig nicht hier, sondern irgendwo anders stattgefunden.«
Ein zweifelnder Blick trifft Silja. »Übernehmen Sie jetzt meine Aufgaben, oder wie? Dann hätte ich vielleicht besser zu Hause bleiben und in Ruhe zu Ende frühstücken sollen.«
»Sorry, nein, so war das nicht gemeint. Aber sehen Sie doch selbst.«
Als die beiden sich nähern, bilden die Kollegen eine Gasse, an deren Ende die Tote und der Baumstamm aus dem Nebel grüßen. Silja und Bernstein bleiben mit leichtem Abstand vor dem festgebundenen Opfer stehen. Ein grellgrünes Seil fixiert Hals, Torso, Oberarme und Beine. Augen mit beinahe schwarzen Bindehäuten starren ihnen über einem Mund mit weit herabhängender Kinnlade entgegen. Scharen von Fliegen umschwirren den weichen Inhalt der Wunde am Hinterkopf. Andere Insekten interessieren sich mehr für die Augenhöhlen der Toten oder kriechen bis tief in ihren Rachenraum. In den Mundwinkeln der Frau sitzen winzig klein die ersten Maden. Bernstein stellt seine Tasche ab, zieht die Latexhandschuhe über und scheucht die Fliegen mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. Dann nähert er sich der Leiche vorsichtig. »Die Hornhauttrübung ist schon ziemlich fortgeschritten«, murmelt er. Anschließend bückt er sich schnaufend und presst seinen Daumen fest auf einen der blau angelaufenen Knöchel. »Die Leichenflecken lassen sich nicht mehr wegdrücken. Der Eintritt des Todes dürfte also mindestens drei Stunden her sein.« Ächzend richtet der Rechtsmediziner sich auf, hebt anschließend vorsichtig einen Unterarm des Opfers an und bewegt ihn mühelos. »Noch keine Leichenstarre. Länger als vierundzwanzig Stunden ist sie keinesfalls tot.«
»Wahrscheinlich sogar erheblich kürzer«, traut sich Silja hinzuzufügen.
Sofort runzelt Bernstein die Stirn. »Wie kommen Sie darauf?«
»Da hinten ist ein Spielplatz. Der ist auch im Winter viel besucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es niemand bemerkt haben sollte, falls die Tote gestern Nachmittag schon hier festgebunden war.«
»Es gibt einiges zwischen Himmel und Erde, was wir uns nicht vorstellen können«, murmelt Bernstein und beginnt, ohne auf eine Antwort zu warten, die Kopfwunde zu inspizieren. »Aber mit einem liegen Sie richtig«, gibt er nach einer Weile nachdenklich zu. »Wäre die Frau hier erschlagen worden, müsste überall viel mehr Blut sein.«
»Können Sie etwas über die Tatwaffe sagen?«, erkundigt sich Silja. Ihre Stimme klingt hohl und zittert leicht, ein Umstand, für den sie sich augenblicklich schämt. Aber die Umstellung von der ausgelassenen Hochzeitsfeier gestern Abend auf die Ermittlungen zu dieser Gräueltat fällt ihr immer noch schwer.
»Die Tatwaffe war schwer und stumpf, das sieht man an den Wundrändern. Nichts Scharfes, Glattes jedenfalls.« Nachdenklich betrachtet der Rechtsmediziner die Kopfwunde. »Außerdem sind hier so kleine helle Bröckchen, die bestimmt nicht aus dem Hirn der Toten stammen.« Er löst ein unregelmäßig geformtes Plättchen aus dem Wundrand und dreht es zwischen den Fingern. »Das ist hart, aber irgendwie auch porös. Damit muss sich die Spurensicherung genauer beschäftigen. Wo bleiben die Kollegen eigentlich?«
»Sind unterwegs. Aber Sie wissen ja, die müssen erst mal mit dem Autozug rüberkommen.«
Bernstein murmelt etwas Unverständliches und mustert anschließend Nacken, Rücken und Gesäß der Toten so gründlich, wie es ihre Position am Baumstamm erlaubt. »Soweit ich das erkennen kann, ist die Frau aber sehr schnell nach Eintritt des Todes an diesem Baum festgebunden worden. Sonst hätten wir auch auf dem Rücken Leichenflecken. Es würde sich also lohnen, wenn Sie im näheren Umkreis nach Blutspuren suchen.«
»Da ist mein Kollege schon dran.«
Silja blickt sich suchend um, und tatsächlich nähert sich Bastian gerade mit eiligen Schritten. Bernstein gratuliert auch ihm zur Eheschließung. Doch Bastian kommentiert die Gratulation lediglich mit einer ungeduldigen Handbewegung.
»Wir haben den vermutlichen Tatort gefunden«, erklärt er aufgeregt. »Keine fünfzig Meter von hier entfernt gibt es jede Menge Blut auf dem Waldboden.«
»Haben sie auch etwas Helles, Schweres, möglicherweise Poröses entdeckt?«
Bastian nickt und fragt verwundert: »Woher wissen Sie das?« Als Bernstein stumm auf die hellen Brösel in der Kopfwunde weist, fügt der Kommissar hinzu: »Ja, das könnte passen. Ein weißer Ytong-Stein, der aus einem Abrisshaus stammen muss, lag mitten in der Blutlache.«
»Am Rand vom Südwäldchen ist eine Baustelle«, fällt Silja ein. »Wir sind vorhin daran vorbeigefahren. Ich glaube, ich habe auch einen Schuttcontainer gesehen.«
»Sollte der Stein tatsächlich von dort stammen, klingt das nicht gerade nach einer sorgfältig geplanten Tat«, überlegt Bastian.
»Wer im Affekt jemanden umbringt, hat in aller Regel weder die Zeit noch die Nerven und schon gar nicht das Material zur Hand, um so eine Inszenierung, wie wir sie hier sehen, zu veranstalten«, widerspricht Bernstein.
»Da haben Sie auch wieder recht«, muss Bastian zugeben. »Aber wir sind ja erst ganz am Anfang. Übrigens liegt am Tatort ein Fahrrad im Gebüsch.«
»Und Sie glauben, es hat ihr gehört?« Der Rechtsmediziner weist mit einer vagen Geste zu der Toten am Baum.
»Wir sind fast sicher. Es ist ein Damenrad, und der Vorderreifen ist total verzogen, als habe jemand von der Seite dagegengetreten und damit die Frau zum Umfallen gebracht.«
Bernstein bedenkt Bastian mit einem seiner berühmten abschätzigen Blicke und kommentiert lakonisch: »Wenn Sie alles schon selbst wissen, brauchen Sie mich ja gar nicht mehr. Ihre Kollegin hier war auch schon recht vorlaut.«
Spielerisch schnippt er gegen die rechte Hand des Opfers, wo die Farbe der Finger bereits ins Bräunliche tendiert, und erklärt übergangslos: »Die Hände des Opfers sind im Moment am interessantesten für mich.«
»Warum das?«, erkundigt sich Silja beflissen. Sie weiß genau, wie sehr Bernstein es schätzt, wenn man ihn ein wenig hofiert und vor allem seinen Urteilen nicht vorgreift.
Der Blick, den der Rechtsmediziner ihr zuwirft, ist jetzt auch deutlich freundlicher. Er hebt beide Hände der Toten an und mustert sie gründlich. »Ich kann hier nichts erkennen, was auf einen Sturz hindeuten würde«, doziert er. »Keine Abschürfungen, keinerlei Hautverletzungen. Wer vom Rad fällt, fängt sich aber in der Regel mit den Händen auf. Übrigens scheint es auch keine Abwehrverletzungen zu geben. Alle Fingernägel sind sauber, die Haut ist makellos glatt.« Er tritt einen Schritt zurück und lässt den Blick langsam von den Füßen bis zum Kopf der Toten wandern.
»Hast du deinen Mörder gekannt?«, fragt Bernstein leise. »Hattest du vielleicht sogar Vertrauen zu ihm, dass du dich so gar nicht gewehrt hast, als er sich dir genähert hat? Selbst als du ihm den Rücken zugewandt hast, hast du nicht geahnt, dass er dich Sekunden später erschlagen würde.«
»Dann wäre unsere Tote freiwillig von Rad gestiegen und die Acht im Vorderrad erst entstanden, als der Mörder es ins Gebüsch geworfen hat?«, fragt Bastian leise.
»Ich habe das Rad ja noch nicht gesehen. Und die Spurentechnik war auch noch nicht hier. Aber bisher spricht nichts dagegen, oder irre ich mich?«
»Vielleicht hat sie Handschuhe getragen. Bei der Kälte wäre das normal«, wendet Bastian ein.
»Guter Punkt«, gibt Bernstein widerwillig zu. Dann bückt er sich und hebt vorsichtig die Kleidungsstücke am Boden an. »Keine Handschuhe«, stellt er mit zufriedenem Gesichtsausdruck fest.
»Wenn sich Opfer und Täter gekannt haben, könnte das auch das Seil erklären«, fällt Silja ein. »Es reichte dem Täter nicht, zu morden. Er musste auch noch bestrafen.«
»Oder zur Schau stellen«, ergänzt Bastian. »Dafür muss er sie aber nicht unbedingt gekannt haben.«
»Allerdings sollten wir noch überprüfen, ob etwas gestohlen worden ist. Aber wer spät am Abend mit dem Fahrrad unterwegs ist, führt wahrscheinlich keine Wertsachen mit sich«, überlegt Silja.
»Für mich sieht die Kleidung eher nach Training aus. Also entweder eine Radsportbegeisterte oder …«
»… sie kam aus einem Fitnesscenter«, fällt ihm Silja ins Wort. Ihr amüsierter Blick gleitet über Bastians füllige Körpermitte, die sich unter der Daunenjacke abzeichnet.
»Hey, das habe ich gesehen«, beschwert er sich sofort. »Dr. Bernstein, Sie sind mein Zeuge. Kaum bin ich verheiratet, beginnt die Dame meines Herzens, an mir herumzumäkeln.«
»Krieg dich wieder ein, der Blick war liebevoll.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihre internen Scharmützel woanders auszutragen und mich meine Arbeit machen zu lassen?«, mosert Bernstein, der immer noch mit der Kleidung des Opfers beschäftigt ist. Plötzlich richtet er sich mit einem triumphierenden Blick auf. »Was haben wir denn hier?« Vorsichtig nimmt er ein Schlüsselband hoch, an dem die Zugangskarte für einen Fitnessclub befestigt ist. »Body Cult«, liest er mit missbilligender Stimme. »Immer diese Anglizismen. Kennen Sie den Laden?«
»Das ist der größte Club hier auf der Insel. Liegt in der Nähe des Flughafens im Industriegebiet. Ich bin selbst dort angemeldet, komme allerdings viel zu selten zum Trainieren. Bringt der Job so mit sich«, klärt Bastian ihn auf.
Silja verdreht die Augen und verkneift sich jeden Kommentar.
»Angela Ludwig« liest Bernstein jetzt den Namen der Toten von der Karte ab. »Merkwürdig. Irgendwas klingelt da bei mir.« Nachdenklich runzelt er die Stirn, während er die Tote noch einmal eingehend mustert. Silja und Bastian wechseln irritierte Blicke. Es ist höchst ungewöhnlich, dass sich der Rechtsmediziner für etwas außerhalb seiner beruflichen Sphäre interessiert. Doch schon schüttelt Bernstein resigniert den Kopf. »Ich komme einfach nicht drauf. Ist ja auch nicht meine Aufgabe. Wenn Sie mich dann mal machen lassen.« Er bückt sich und fummelt ein Thermometer aus seiner Tasche. »Ist der Fotograf schon fertig? Dann könnten wir sie losbinden, damit ich die Rektaltemperatur messen und im Anschluss vielleicht Genaueres zum Todeszeitpunkt sagen kann.«
Bastian und Silja nicken sich zu und entfernen sich dezent. Sie wissen genau, wie wenig es Bernstein schätzt, wenn man ihn allzu lange von der Arbeit abhält. Während beide hinüber zum mutmaßlichen Tatort gehen, macht Bastian eine Personenabfrage bei den Kollegen auf der Wache.
»Angela Ludwig«, verkündet er wenig später, »55 Jahre alt, wohnhaft in der Hafenstraße in Rantum.«
Irritiert blickt Silja ihn an. »Das ist auf der Wattseite. Und das Fitnessstudio liegt im Osten Westerlands. Warum um alles in der Welt fährt sie bei Nacht und Nebel nicht den direkten Weg nach Hause, sondern macht den Schlenker nach Westen über das Südwäldchen?«
»Gute Frage. Vielleicht war sie verabredet?«
»Vermutlich mit ihrem Mörder«, murmelt Silja und kann nicht verhindern, dass ihr ein Schauer über den Rücken läuft.
Silja und Bastian stehen am Eingang des größten Fitnessstudios auf der Insel. Hinter dem sanft geschwungenen Tresen erstrecken sich vier Reihen mit unterschiedlichen Geräten. Stepper, Crosstrainer, Rudergeräte und Fahrräder, daneben die Kraftmaschinen mit ihren Gewichtsstapeln. Bastian lässt den Blick über die Geräte schweifen, von denen etwa die Hälfte besetzt ist. Er fühlt eine unwillkürliche Erleichterung bei dem Gedanken daran, dass er sich heute hier nicht schinden muss, sondern ganz locker nur ein paar Fragen stellen wird.
Die meisten Trainierenden sind zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Sie haben Stöpsel in den Ohren und wirken sehr auf sich selbst konzentriert und angestrengt. Nur sehr wenige beobachten die Bildschirme, die von der Decke hängen. Das Fernsehprogramm scheint vorwiegend aus Nachrichten und Kochshows zu bestehen. Niemand nimmt von Bastian Notiz, als er seine Clubkarte durch das Lesegerät zieht. Erst als er die Karte an Silja weiterreichen will, damit sie ebenfalls die Sperre passieren kann, erregt er die Aufmerksamkeit der jungen Frau hinter dem Tresen.
»Nur Mitglieder bitte«, sagt sie energisch und weist auf ein entsprechendes Schild.
Bastian präsentiert seinen Dienstausweis und deutet auf Silja. »Schon in Ordnung. Sie ist eine Kollegin.«
Mit missbilligender Miene öffnet die junge Frau die Sperre für Silja. Sie hat die Haare zu vielen Rastazöpfen geflochten, die stachelartig von ihrem Kopf abstehen. Auf dem schlanken Körper trägt sie eine pinkfarbene enganliegende Sporthose und darüber ein knappes schwarzes Top. Ihre grellbunten Sneakers scheinen alle Farben des Regenbogens in sich zu vereinen.
»Hallo erst mal«, versucht Silja, das Misstrauen zu mildern. »Wir haben nur ein paar Fragen zu einem Ihrer Mitglieder.«
»Datenschutz?«, ist die unfreundliche Antwort.
»Kriminalpolizei?«, blafft Bastian zurück und hält ihr noch einmal die Ausweiskarte unter die Nase. Dann mustert er mit zusammengezogenen Brauen das Namensschild der jungen Frau. »Also, Dörte, damit wir uns von Anfang an richtig verstehen. Ich bin zwar bei euch Mitglied, und eigentlich müsstest du mich kennen, aber heute bin ich ausschließlich beruflich hier. Und es wäre für uns alle am angenehmsten, wenn du uns unsere Fragen einfach und schnell beantworten würdest.«
Dörte denkt einen Moment nach, dann fast sie einen Entschluss. »Augenblick bitte, ich rufe den Chef.«
»Kannst du gern machen, aber du bist mit Sicherheit diejenige, die uns eher weiterhelfen kann. Schließlich stehst du regelmäßig am Empfang, oder irre ich mich?«
»Worum geht es denn überhaupt?«, fragt sie verunsichert.
»Angela Ludwig. Sagt dir der Name was?«
»Angela, ja klar«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. »Der neue Werbestar unseres Clubs.«
»Wie bitte?«
»Die Talkshow. Die müsst ihr doch gesehen haben.« Langsam taut Dörte auf. »Vorletzte Woche im NDR, beste Sendezeit, zwanzig Uhr fünfzehn. Ein Moderator und drei Gäste. Eine davon war Angela. Sie war eine echt geile Botschafterin für unseren Club. Ich glaube, der Chef hat ihr eine kostenlose lebenslange Mitgliedschaft angeboten.«
»Leider wird sie von der nicht mehr viel haben«, wirft Silja ein.
»Warum das denn?«
»Angela Ludwig ist tot.«
»Wie? Was? Verstehe ich nicht.«
»Wir auch nicht, jedenfalls noch nicht. Sie wurde nämlich ermordet«, setzt Silja kühl hinzu.
Dörte schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Ihr Unterarm ist mit chinesischen Schriftzeichen tätowiert. Dann murmelt sie mit weit aufgerissenen Augen: »Das ist ja furchtbar. Wann war das denn?«
»Letzte Nacht. Daher ist es für uns sehr wichtig zu wissen, ob sie gestern Nachmittag hier war.«
»Angela? Ja, ich glaube schon.«
»Glauben reicht nicht.«
»Okay, sorry, war nur so gesagt. Ich bin sicher. Nach dem Training habe ich ihr noch einen Shake verkauft, und den hat sie direkt hier am Tresen gekippt. Alle anderen setzen sich wenigstens kurz oder quatschen noch ein bisschen.«
»Angela nicht?«
»Nein, nie.«
»Als sie dann ging, war sie auch allein?«
»Ja. Wie immer.«
»Wann war das etwa?«
»So gegen halb acht würde ich sagen.« Sie überlegt kurz und fügt dann hinzu: »Doch, das passt. Um acht habe ich Schluss gemacht.«
»Habt ihr eigentlich eine Aufzeichnung der Fernsehsendung?«, will Bastian jetzt wissen.
»Die ist in der Mediathek abrufbar. Aber der Chef hat das Ganze sicher auch aufgenommen.«
»Na schön, wir kümmern uns später darum. Erst mal weiter zu Angela Ludwig: Seit wann ist sie hier Mitglied?«
»Seit einem Jahr schätzungsweise. Nicht viel länger jedenfalls.«
»Wie oft hat sie trainiert und mit wem?«
»Sie war jeden Tag hier, meist mehrere Stunden. Also inklusive Sauna und so. Deswegen kennen wir sie ja auch alle.«
»Hatte sie feste Trainingspartner? Oder einen Personal Trainer?«
Dörte schüttelt den Kopf, so dass ihre Rastazöpfe fliegen. »Nein, nichts von beidem. Sie war …« Die junge Frau stockt. »Also sie war irgendwie schon ein bisschen komisch. Eigenbrötlerisch, würde ich sagen. Hat kaum geredet. Also gegrüßt und so schon, aber darüber hinaus kam nie was.«
»Das sind aber nicht die besten Voraussetzungen für die Teilnahme an einer Talkrunde«, gibt Silja zu bedenken.
»Es ging um Sport im Alter, und der Sender hat direkt bei uns angefragt, ob wir jemanden empfehlen können. Na ja, und da war Angela eindeutig die beste Kandidatin. Jedenfalls in der Sparte fünfzig plus.« Dörte wirft einen vorsichtigen Blick zu den Geräten hinüber, an denen sich auch einige ältere Herrschaften abmühen. Dann zuckt sie die Schultern. »Ihr könnt ja selbst sehen, wie das in dem Alter läuft. Immer schön sachte und die Gelenke schonen. Ist eher ein Alibi als ein echtes Training.« Sie lächelt herablassend. Dann bekommt ihre Stimme eine bewundernde Färbung. »Aber Angela war anders. Die hat sich richtig gequält. Der war ihr Körper heilig. Nur Eiweißdiäten und Sport, das war ihr Leben.«
»Ach du Schande«, entfährt es Bastian, was ihm einen tadelnden Blick von Dörte und einen spöttischen von Silja einträgt.
»Was denn?«, kommentiert er grinsend, wird aber schnell wieder ernst. »Wir wüssten noch gern, ob sie regelmäßig zu bestimmten Zeiten trainiert hat oder ob sie immer zu unterschiedlichen Zeiten hier aufgeschlagen ist.«
»Meistens war sie am Nachmittag hier, also so wie gestern. Von vier bis acht etwa, aber beschwören würde ich das jetzt nicht.«
»Das reicht uns so schon mal.« Bastian blickt sich nachdenklich um. »Und sie hatte wirklich zu niemandem hier näheren Kontakt? Ich meine, wenn sie täglich hier war, dann müsste sich doch mal irgendwas ergeben haben. Ein längeres Gespräch, ein gemeinsamer Saunabesuch oder so.«
Die Antwort ist von einem Achselzucken begleitet. »Gesehen habe ich so etwas nie. Und ich glaube, auch meine Kollegen nicht, sonst hätten wir ja nicht so häufig darüber ge…, also wir haben manchmal ein bisschen gelästert.«
»Sie war nicht besonders beliebt?«, hakt Bastian nach.
»Sie wirkte eben irgendwie komisch.«
»Und trotzdem hat dein Chef Frau Ludwig in diese Talkrunde geschickt.«
»Sie war voll fit, wie gesagt.«
»Verstehe. Mit wem hat sie denn dort auf der Bühne gesessen?«
»Muss ich mal überlegen. Das waren zwei Typen auf jeden Fall. Der eine schon älter, also wie Angela etwa. Ziemlich drahtig, der schwor auf Schwimmen und Radfahren und hatte für unser Studio nur abfällige Bemerkungen übrig. Und für Angela übrigens auch. Das hat sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen.«
Bastian wechselt einen kurzen Blick mit Silja, enthält sich aber jeden Kommentars. »Und der andere Talkgast?«
»War jünger und sah ziemlich gut aus. Also sehr muskulös und auch sonst ganz schnuckelig.«
»Den Namen weißt du nicht durch Zufall?«
»Jasper«, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
»Ist der auch hier Mitglied?«
»Äh, nein, das nicht.« Amüsiert beobachtet Bastian, wie eine tiefe Röte Dörtes Gesicht überzieht.
»Und was heißt jünger genau?«, will Silja jetzt wissen.
»Na ja, um die dreißig vielleicht.«
»Warum sollte er sich dann zu Sport im Alter äußern?«
»Er trainiert die Altherren-Fußballmannschaft hier auf der Insel.«
»Verstehe. Weißt du auch den Nachnamen?«, erkundigt sich Bastian.
Ein Kopfschütteln ist die Antwort.
»Noch mal zu dem Älteren«, mischt sich Silja ein. »Er hieß nicht zufällig Fred Hübner und war Journalist?«
Dörte runzelt kurz die Stirn, dann nickt sie sichtlich überrascht. »Ich dachte, Sie haben die Sendung gar nicht gesehen.«
»Haben wir auch nicht«, wiegelt Bastian ab. »Aber wir kennen diesen ziemlich streitbaren Burschen ganz gut. Ihn und seine Passion fürs Radfahren.« In schneller Folge zischen Erinnerungen durch Bastians Hirn: Fred Hübner, der sich mit einem Straftäter zusammentut, um seine journalistische Karriere auf Trab zu bringen. Das war Siljas und sein erster gemeinsamer Fall. Jahre später mussten sie den Journalisten sogar einmal widerwillig in die Ermittlungstätigkeiten einbeziehen, um voranzukommen. In einem anderen Fall ist Hübner allerdings direkt in ihrer Arrestzelle gelandet. Bastian muss jedes Mal ein Grinsen unterdrücken, wenn er daran denkt. Jetzt schiebt er aber die Erinnerungen zur Seite, um das Gespräch mit der Fitnesslady fortzusetzen. »Wo wir gerade beim Radfahren sind: Kam Angela Ludwig vielleicht auch manchmal mit dem Rad?«
»Keine Ahnung. Einen Helm hatte sie jedenfalls nicht dabei, auch gestern nicht, das wüsste ich sonst.«
»Warum?«
»Die Helme passen nicht in unsere Spinde. Deshalb müssen wir sie hier unter dem Tresen deponieren.«
»Alles klar. Und danke erst mal, das hat schon sehr geholfen«, erklärt Bastian und wendet sich ab. Im Hinausgehen raunt er Silja zu: »Einen Helm haben wir bei der Toten auch nicht gefunden. Das passt also. Aber viel interessanter finde ich etwas anderes: Angela Ludwig hat sich in aller Öffentlichkeit mit Fred Hübner gezofft. Und jetzt ist sie tot.«
Doch Silja schüttelt nur den Kopf. »Ich weiß, dass du ihn nicht magst. Aber das ist noch lange kein Grund, ihn des Mordes zu verdächtigen.«
Seufzend legt Staatsanwältin Elsbeth von Bispingen das Telefon zurück in die Halterung und anschließend die beiden Blätter mit ihren Gesprächsnotizen in eine frische Kladde. Die üppige Mitfünfzigerin lässt sich in ihrem Schreibtischstuhl nach hinten fallen und streicht sich nachdenklich die langen roten Locken aus dem Gesicht.
Seit Hauptkommissar Bastian Kreuzer vor einigen Jahren nach Sylt versetzt worden ist, häufen sich dort die Verbrechen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dieser Kommissar zieht die Morde an, denkt Elsbeth sarkastisch. Ein erschossener Gastronom in den Hörnumer Dünen, ein Mädchenskelett in der Morsumer Heide, eine erwürgte Frau beim Keitumer Biikebrennen, ein erschlagener Kampener Galerist.Und das sind noch lange nicht alle Fälle, die Kreuzer in den letzten Jahren federführend bearbeitet hat.
Nicht zuletzt ist auch Elsbeths eigene Nichte vor fast zwei Jahren zum Opfer eines Gewaltverbrechens auf der Insel geworden. Seitdem ist ihr ohnehin schon loser Kontakt zu ihrem Bruder und seiner Familie ganz abgerissen. Ein Todesfall in der Familie verändert alles, denkt sie betrübt und nimmt sich nicht zum ersten Mal vor, den Bruder und dessen alkoholkranke Frau bei ihrem nächsten Sylt-Aufenthalt zu besuchen.
Und der steht ganz sicher irgendwann bevor. Vielleicht schon früher, als ihr lieb ist. Denn wie ihr Hauptkommissar Kreuzer gerade am Telefon berichtet hat, ist in der letzten Nacht in Westerland eine Frau brutal erschlagen und anschließend mit einem Seil an einen Baum gefesselt worden. Wenn sich die Ermittler nicht täuschen, wenigstens post mortem, denkt Elsbeth und seufzt noch einmal. Das gibt ordentlich Arbeit.
Es würde Elsbeth allerdings auch die Gelegenheit bieten, Fred Hübner wiederzusehen. Seit dem vorletzten Februar sind Elsbeth und der Journalist ein Paar und haben in den fast zwei Jahren ihrer Beziehung schon einige Höhen und Tiefen erlebt. Da Elsbeth beruflich sehr eingespannt ist, sehen sie sich nicht allzu häufig. Doch ab und an verschlägt es die Staatsanwältin aus Ermittlungsgründen auf die Insel. Da sind dann Treffen außer der Reihe möglich. Leider weiß Elsbeth genau, wie gern sich Fred in laufende Ermittlungen einmischt, und hat sich darüber auch schon oft mit ihm gestritten. Normalerweise würde sie sich also hüten, Fred vorzeitig über den Mord zu informieren. Doch in diesem Fall liegen die Dinge anders.
Hauptkommissar Kreuzer hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er Fred vernehmen wird. Und so, wie Elsbeth Kreuzer kennt, wird er ihn nicht mit Glacéhandschuhen anfassen. Die beiden sind kampferprobte Kontrahenten und sich durchaus ebenbürtig. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen möchte Elsbeth gern die Erste sein, die mit Fred Hübner über diesen Fall redet.