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Die Tour de France ist – nach den Fußball-Weltmeisterschaften und den Olympischen Sommerspielen – das drittgrößte Sportereignis der Welt, unter den alljährlich stattfindenden Sportevents ist es sogar die Nummer eins weltweit. Die Tour de France ist aber auch eine Geschichten-Maschine, die seit ihrer Premiere im Jahr 1903 immer neue Helden gebiert, strahlende wie scheiternde. Ihr Erkennungszeichen ist das Gelbe Trikot, das der Beste tragen darf – ein Motiv, das längst ein eigener Mythos ist und das sehr viele andere Sportarten kopiert haben. 21 Etappen müssen die Fahrer auf ihrer Reise durch Frankreich bewältigen, sie kämpfen dabei mit der Hitze des Tages, manchmal mit Regen oder Hagelschauern, sie rasen auf engen Straßen und kämpfen sich über steile Berge dem Ziel entgegen. Stephan Klemm nähert sich dieser modernen Odyssee in 21 Kapiteln, die den Kosmos des Tourzirkus in all seinen Facetten ausleuchten. Besonderes Highlight: eine Insider-Reportage von der Tour 2024, bei der der Autor das Team Bora-hansgrohe mit dem Topfavoriten Primoz Roglic begleitet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 850
Vorwort von Christian Prudhomme
Prolog: Kein Berg zu hoch, kein Weg zu weit
1 Wie alles begann – die erste Tour de France 1903
2 Auf die Gelbe Tour – die Geschichte eines leuchtenden Trikots
3 Die Tour und ihr Parcours: Wie die Strecke der Frankreich-Rundfahrt entsteht
4 Drei Wochen auf den Straßen der Tour 2024 – ein Tagebuch
5 Die großen Sieger der Tour
Jacques Anquetil: Buchhalter mit Rechenschieber
Eddy Merckx: Gulliver im Land der Liliputaner
Bernard Hinault: Die Fabel von Le Blaireau, Frankreichs berühmtestem Dachs
Miguel Indurain: Die Leichtigkeit des Seins auf dem Rad
Lance Armstrong: Das Phantom
6 Raymond Poulidor, der Mann, dessen Pech sich in Glück verwandelte
7 Mit der Kraft der zwei Herzen: Italiens Campionissimi Gino Bartali und Fausto Coppi erobern die Radsportwelt
8 Karneval im Sommer:Die Werbekarawane der Tour
9 Die Direktoren der Tour
Henri Desgrange: Der Coup des Pioniers
Jacques Goddet: Volkstribun und Juli-Präsident
Jean-Marie Leblanc: Wirtschaftlich erfolgreich, machtlos gegen Doping
Christian Prudhomme: Der Architekt der neuen Tour de France
10 Blumige Sprache, faszinierende Schnelligkeit: Wie die „L’Équipe“ die Tour begleitet
11 Das Geschäft mit dem Mythos: Die Erfolgsgeschichte des Tour-Veranstalters ASO
12 Die Deutschen bei der Tour
Kurt Stöpel: Zweiter in Paris, ein Tag in Gelb, Schnee auf dem Galibier
Rudi Altig, Hennes Junkermann, Karl-Heinz Kunde, Rolf Wolfshohl: Neue deutsche Welle
Dietrich Thurau: Der Sommer des Didi Türoh
Team Telekom und Team T-Mobile: Das Ende einer Dienstfahrt
Jan Ullrich: Großes Talent, großer Sieg, großer Absturz
Marcel Kittel, André Greipel, Tony Martin: 30 Siege in sieben Jahren
13 Auf- und Abbau, jeden Tag, drei Wochen lang: Die Roadies der Tour, ein Job für Schwerarbeiter
14 Die Entdeckung der Berge
Tourmalet: Die Überwindung des Unmöglichen
Mont Ventoux: Ein Gott des Bösen
Galibier: Das Dach der Tour
Alpe d’Huez: Volksfest des Radsports
15 Mit allen Mitteln: Die Tour de France und Doping
16 Team inside: Hinter den Kulissen des Teams Red Bull-Bora-hansgrohe
17 Warten auf Hinault
18 Die Qual der Abgehängten: Ein Tag im Besenwagen
19 Die Bedeutung des Fernsehens für die Tour
20 Tour der Frauen: Gleichberechtigung auf den Straßen Frankreichs
21 Die Tour ist gar kein Radrennen
Literatur und Quellen
Dank und Bildnachweise
Wenn ich an die Tour de France denke, kommen mir als Erstes die Menschen in den Sinn, die das Rennen an den Straßenrändern verfolgen und dabei immer lächeln. 3500 Kilometer Lächeln, Freude, Begeisterung und Glück vom Anfang bis zum Ende, das ist für mich die Tour de France. Während der Tour begrüße ich jeden Tag zwei Gäste in meinem roten Auto mit der Nummer 1, und jedes Mal höre ich am Ende der Etappe das Gleiche: Die Besucher wussten zwar, wie groß und bedeutend die Tour ist, aber sie wussten nicht, dass sie während der Passage Menschen sehen werden, die beseelt vor Freude lächeln. Die ganze Zeit. Überall. Jeder und jede. Junge Menschen, Eltern, Großeltern, Frauen, Männer, ausländische Gäste, Franzosen. Das ist eine Begeisterung, die ansteckend ist und wirkt. Das vor allem ist mir wichtig, wenn es darum geht, zu ergründen, was für ein Phänomen die Tour de France ist.
Die Tour de France ist nach den Olympischen Spielen und den Fußball-Weltmeisterschaften das drittgrößte Sportereignis der Welt. Sie ist damit auch das größte und wichtigste Radrennen der Welt. Das ist ein Superlativ, der mir als Tour-Direktor grundsätzlich sehr wichtig ist, denn das soll auch so bleiben. Aber die Tour de France ist viel mehr als ein Wettkampf unter Sportlern. Sie ist ein Kulturerbe, das die Menschen verbindet. Sie ist fest im Alltag der Franzosen verankert. Sie ist ein Monument der französischen Gegenwartsgeschichte. Die Tour gibt es seit 1903, dieser Überlieferung fühlen wir uns verpflichtet. Aber wir blicken selbstredend in der Gegenwart auch in die Zukunft. Wir denken, die Tour ist sehr gut aufgestellt. Sie hat die dunklen Jahre mit den Schatten der Dopingskandale überstanden, die Einschaltquoten im Fernsehen sind nicht nur in Frankreich hervorragend.
Wir stellen tatsächlich fest, dass die Tour de France auch in anderen Ländern bestens angenommen wird. 2014 hatten wir den Grand Départ, den großen Aufbruch, nach Yorkshire in England vergeben – es war ein gigantisches Fest mit einem Zuschauerzuspruch, der uns umgehauen hat. Dasselbe erlebten wir 2022 in Dänemark, als wir von Kopenhagen aus gestartet sind, und 2023, als die Tour in Bilbao, im radsportbegeisterten Baskenland begann. Sowie zuletzt 2024 in Florenz, wo wir in der Radsporthochburg Toskana die Begeisterung der Italiener genossen haben. Auch in Deutschland spürten wir großen Enthusiasmus, als wir 2017 zum Auftakt zu Gast in Düsseldorf waren. Die deutschen Fans waren schier aus dem Häuschen.
Diese Verbindung, die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist für mich essenziell. Ohne starke und funktionierende deutsch-französische Beziehungen kommen wir in Europa nicht weiter. Davon bin ich absolut überzeugt, ob es sich um Sport, Politik oder Kultur handelt. Beide Länder bilden ein Paar, Europa ist abhängig von der deutsch-französischen Freundschaft. Der Grand Départ in Düsseldorf war auch ein Ausdruck dieser Beziehung und ein starkes Zeichen für mich. Ich bin gebürtiger Elsässer. In meiner Familie gibt es Leute, die Naas, Roth oder Wagner heißen. Meine Großeltern sind in Deutschland geboren, das Elsass war deutsch regiert in jener Zeit. Einer meiner Großonkel erhielt zwei Tapferkeitsmedaillen für seinen Einsatz in Verdun – eine von Deutschland, eine von Frankreich.
Die Tour de France hat großartige deutsche Champions hervorgebracht. Wir haben zudem in jedem Jahr eine sehr große Menge an Besuchern aus Deutschland bei der Tour. Die Amaury Sport Organisation, die auch die Tour organisiert, hat dieser Entwicklung Rechnung getragen und mit dem Bund Deutscher Radfahrer die Deutschland-Tour wiederbelebt. Die ASO richtet auch das Traditions-Radrennen in Frankfurt am 1. Mai und seit Neuestem die Cyclassics in Hamburg aus. All das zeigt die Bedeutung, die Deutschland für die Organisatoren der Tour de France und für mich als Tour-Direktor besitzt.
Doch die Tour lebt natürlich nicht nur von deutsch-französischen Geschichten. Sie ist ein globaler Mythos, eine Geschichtenmaschine, ein Fundus an Anekdoten und Legenden. Es lohnt sich unbedingt, sie aufzuschreiben. Und es lohnt sich zudem, zu ergründen, unter welch unglaublichen Bedingungen die erste Frankreich-Rundfahrt ausgetragen wurde. Mit welcher Ausrüstung und über welch archaische Wege die Fahrer sich fortbewegten. Warum das Gelbe Trikot eine so große Bedeutung besitzt. Wie ein Tour-Parcours entsteht. Was für Persönlichkeiten die großen Champions waren. Welche besondere Rolle Raymond Poulidor für die Tour spielte. Und was für ein Kosmos sich öffnete, als die Tour die Pyrenäen und die Alpen für sich entdeckte. All das erzählt mit Stephan Klemm nun ein deutscher Autor in seinem Buch über die Tour de France – und noch sehr viel mehr. Entstanden ist ein Werk, das es über die Frankreich-Rundfahrt in Deutschland in dieser überzeugenden Gründlichkeit und Ausführlichkeit noch nicht gegeben hat. Und das für mich an die deutsch-französische Verständigung anknüpft, die mir so wichtig ist.
Ich kenne Stephan Klemm seit 2006. Er ist mir vor allem als fließend Französisch sprechender deutscher Journalist aufgefallen, der mich immer wieder auch kritisch zu Themen befragt hat, die die Tour betreffen – von der Causa Doping über den zwischenzeitlichen Ausstieg der öffentlich-rechtlichen TV-Sender in Deutschland bis hin zur Problematik der Massenstürze in der Gegenwart. Vor allem aber ist er ein großer Radsport- und Tour-de-France-Experte. Und er hat eine Menge Geschichten zu erzählen in diesem Buch. Also: Vorhang auf.
Der französische Philosoph Roland Barthes war so fasziniert von der Tour de France, dass er ihr in den 1957 erschienenen „Mythen des Alltags“ einen viel beachteten Essay gewidmet hat1. In diesen Reflexionen über die Gegenwartskultur vergleicht Barthes die vielschichtige Aufgabenstellung der Frankreich-Rundfahrt mit einem Epos von Homer: „Wie in der Odyssee ist die Fahrt hier Rundfahrt von einer Prüfung zur nächsten und zugleich totale Erforschung der Grenzen der Welt.“ Diese Metapher ist sehr passend, denn auch hier, bei der Tour, wird der Einzelne in der Weite einer fordernden Welt ausgesetzt, um sich dort zu bewähren. Das Examen wird nach drei Wochen und 21 Prüfungen, Etappen genannt, auf den Champs-Élysées in Paris abgelegt. Eine Ausnahme von dieser Regel mit Gesetzeskraft gab es im Sommer 2024, da endete das Rennen wegen der Vorbereitung der Olympischen Spiele in Frankreichs Hauptstadt ausnahmsweise in Nizza.
Generationen von Fahrern berichten von der Mühsal der dreiwöchigen Reise durch das großes Land Frankreich. Der Mensch kämpft dabei auf dem archaischen Fortbewegungsmittel Fahrrad gegen die Natur, das Schicksal, Defekte, Stürze, die Gegner, seine nachlassenden Kräfte und um Siege und Triumphe. Kein Berg ist dabei zu hoch, kein Weg zu weit.
Ende Juni 2024 feierte die Frankreich-Rundfahrt ihren 121. Geburtstag, sie erlebte dabei ihre 111. Auflage. Bei ihrer Premiere 1903 war sie eine große Innovation, Etappenrennen gab es vorher noch nicht. Ihr Erfinder Henri Desgrange, Chefredakteur der Zeitung „L’Auto“, versprach sich von der Rundfahrt und der Berichterstattung darüber eine Auflagensteigerung seines Blattes. Und die Tour funktionierte tatsächlich sofort als Börse für große Reportagen, für Dramen und heroisch verklärte Abenteuer und Abenteurer. Siege, Niederlagen, nahezu unglaubliche Erlebnisse und Rückschläge – all das haben „L’Auto“ und ihre Nachfolgerin „L’Équipe“ oft mit Hilfe ausschweifender Fantasie zu Erzählungen ausgeschmückt, die begeisterte Leser erreichten. Die Auflagen der Zeitungen stiegen zunächst kontinuierlich und mit ihnen die Bedeutung der Tour de France.
Im Laufe der Jahre hat sich die Frankreich-Rundfahrt zu einem bestens organisierten, florierenden Wirtschafsunternehmen und viel besuchten Wanderzirkus durch ein Land voller Natur-Schönheiten, Sehenswürdigkeiten und inzwischen berühmter Tour-Orte entwickelt. Diese Prozession zieht Jahr für Jahr um die 13 Millionen Besucher an, sie kommen bei weitem nicht nur aus Frankreich. Wichtigster Vermittler der Tour-Botschaft sind die Livebilder des französischen Fernsehens, die in 190 Länder der Welt übertragen werden. Zum Fernsehangebot dieses Sommervergnügens gehören – nicht nur in Frankreich – kleine historische und kunstgeschichtliche Vorlesungen über Schlösser, Denkmäler und landschaftliche Besonderheiten, eine Rahmenhandlung, die sich zu einem zweiten Wettbewerb neben dem Radrennen entwickelt hat: Frankreich gucken. „Das Theater des Wettkampfes“ sei das ganze Frankreich, formulierte Barthes. Die Etappen, gegenwärtig 21, bildeten dabei die einzelnen Akte der großen Aufführung.
Diese Struktur ist auch die Grundlage für dieses Buch, das deshalb in 21 Etappen die Geschichte und viele Geschichten der Tour de France auf der Basis von aktuellen Recherchen und Zeitzeugen-Gesprächen nacherzählt, was nicht selten zu einer Neubewertung vermeintlicher Gewissheiten führt. Die aktuelle Frankreich-Rundfahrt des Jahres 2024 wird in Form einer Tagebuch-Reportage nacherzählt, ihre Ereignisse und Wendungen verraten viel über das Innenleben dieses Radrennens, seine Funktionsweise und die Entstehung von Stars und Legenden.
Die Tour hat viele Dopingskandale erlebt, die sehr nachdenklich stimmen, eine ganze Reihe sogar jährlich von 2006 bis 2010, 2012 kamen die Erschütterungen im Zusammenhang mit der Enttarnung von Lance Armstrong als Meisterdoper hinzu. Mit der Folge, dass die Tour-Veranstalterin Amaury Sport Organisation, die ASO, die sieben Erfolge des Texaners streichen musste. Sie erkor keinen Nachfolger, weil die in Frage kommenden Profis selbst in mindestens eine Affäre um leistungssteigernde Substanzen verwickelt waren. Doch die Tour, diese sich selbst reinigende Maschine, überstand diese existenzbedrohenden Turbulenzen. Vor allem, weil sie ein Kulturgut ist, das zu Frankreich gehört wie die Côte d’Azur, Edith Piaf oder der Eiffelturm. Ein Juli ohne Tour ist für Franzosen nicht denkbar.
Aus all den ertragenen und überwundenen Skandalen erwuchs für die Tour-Chefs die Erkenntnis, dass sie jede Form von Ärger einfach aussitzen können. Sie wissen: Ihr Rennen wird es immer geben, die Besetzung ist dabei sogar egal, denn die Tour formt die Stars, nicht umgekehrt
Im Laufe der Jahrzehnte wurde die Tour stets eine Spur wichtiger, attraktiver, lukrativer. Dank ihrer Reputation wirkt sie anziehend auf Sponsoren, auf die Stars und ihre Teams, die genau hier siegen und sich zeigen möchten, um wiederum ihren Marktwert zu steigern. Für die anderen Rad-Veranstaltungen bleibt nur ein geringer Rest an Einfluss, die Frankreich-Rundfahrt dominiert die Szene. Die Tour ist von den jährlich stattfindenden Events in der Welt des Sports sogar das größte von allen.
In 111 Ausgaben haben sich viele seitenfüllende Anekdoten, Volten und Schicksale ereignet, Berichte von großem Glück und fiesem Pech. Es gibt also sehr viel zu entdecken in diesem speziellen Kosmos: Viel Vergnügen beim Eintauchen in die bunte Welt der Tour de France.
1Roland Barthes: Mythen des Alltags. Berlin 2010
Zur leichten Leinenweste trägt Georges Abran an diesem heißen Mittwoch einen Panamahut. Die Sonne scheint grell, die Kopfbedeckung soll ein bisschen Schatten spenden. Hinter Abran haben sich vor dem Gasthaus Reveil Matin, gelegen an der Rue Jean Jaurès in Montgeron, 60 Radfahrer versammelt. Harte, knorrige Kerle, gewandet in seltsame Kleidung. Sie werden schon seit geraumer Zeit von ein paar Hundert Zuschauern bestaunt, die eine in der Sportzeitung „L’Auto“ angekündigte Sensation in die südöstliche Peripherie von Paris gelockt hat. Die 60 Männer sind an jenem 1. Juli 1903 vor dem Wirtshaus erschienen, um mit ihren um die 13 Kilogramm schweren Rädern in ein Abenteuer aufzubrechen, eine Reise ins Ungewisse, „L’Auto“ nennt sie „Tour de France“. Und Monsieur Abran, ansonsten Generalsekretär des Blattes, ist der offizielle Starter des Rennens.
Abgewunken werden die Fahrer aber erst gut 600 Meter die Avenue hinunter in Richtung Draveil im Südwesten, weil vor dem Reveil Matin Straßenarbeiten verrichtet werden und es nicht schon zu Beginn unnötige Zwischenfälle geben soll. Sie schieben also ihre Räder, begleitet von den Zuschauern, hinter das Hindernis. Das Reveil Matin ist dennoch der historische Punkt null der Frankreich-Rundfahrt, denn als Posten für die Einschreibung der Teilnehmer und als Organisationszentrale für die Reporter von „L’Auto“ ist der Gasthof unverzichtbar. Um 15:16 Uhr hebt Abran die gelbe Fahne mit dem schwarzen Aufdruck „L’Auto“, Applaus brandet am Straßenrand auf. Und dann senkt der Starter seine Flagge.
Die Zuschauer in Montgeron sehen bald nur noch aufgewirbelten Staub in der heißen Sommerluft. Die 60 Pioniere rasen Lyon entgegen, dem Ziel der ersten Etappe. Die Strecke verläuft im Uhrzeigersinn, vom Pariser Umland geht es nach Süden, von dort nach Westen und zurück nach Norden, dem Ausgangspunkt entgegen. Lyon, Marseille, Toulouse, Bordeaux, Nantes und Paris, präziser Ville d’Avray, ein westlicher Vorort der Hauptstadt, sind die sechs Tagesziele. In diesen sechs Teilstücken verstecken sich vom Anfang bis zum Ende mächtige 2428 Kilometer, verteilt auf 19 Tage. Pausen nach den Zielpassagen sind also vorgesehen. Wenigstens das.
Kaum ist die Flagge gesenkt, da hält es Hippolyte Aucouturier schon nicht mehr im Feld. Aucouturier, 26 Jahre alt, mächtiger Schnurrbart, ein berühmter Sieger von schweren Eintagesrennen und einer der Favoriten dieses neuartigen Spektakels, beschleunigt sofort und setzt sich an die Spitze des Feldes.
2428 Kilometer mit dem Fahrrad durch Frankreich, 1903 heißt das: Hoppeln über Schotter, Sand, Matsch, Gestein, Schlaglöcher und oft genug über Pflaster aus Kopfstein, was die Anstrengung noch steigert. Hinzu kommt ein Kampf gegen Wind und Wetter, nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht. Dynamos, die Fahrtlicht erzeugen könnten, gibt es allerdings noch nicht. Fast 18 Stunden benötigen die Besten für die 467 Premieren-Kilometer, so weit ist es von Montgeron nach Lyon, Etappe eins.
Die Tour de France ist geboren und gleich schon sehr vital, sie ist das improvisierte Kind der „L’Auto“-Redaktion und außerdem das Ergebnis eines Konkurrenzkampfes. Letztlich ist sie ein riskantes Unternehmen, aber auch die große Hoffnung eines Blattes, das um Auflage und Anzeigenkunden kämpft.
***
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert besitzen Radsport-Ereignisse in Europa im Allgemeinen und in Frankreich im Speziellen die Kraft, das Volk zu begeistern. Das gilt zunächst vor allem für spektakuläre Hetzjagden auf der Bahn. Im Laufe der Zeit aber etablieren sich auch Langstreckenrennen auf der Straße. Wobei „Straße“ in jener Zeit ein Euphemismus ist, der Zustand des Untergrunds ist in keiner Weise mit heutigen asphaltierten Wegen vergleichbar. Diese skurrilen Wettfahrten treffen nicht nur den Geschmack der Zuschauer, sondern auch den der Fahrradhersteller. Die von ihnen verpflichteten Fahrer können so demonstrieren, dass das Material auch den härtesten Prüfungen standhält.
Eine dieser Leistungsschauen ist Paris–Brest–Paris, ein surrealer Wahnsinn von 1196 Kilometern Länge, Austragungsmodus: alle zehn Jahre, ins Leben gerufen 1891 von Pierre Giffard, einem einfallsreichen Journalisten des „Petit Journal“. Giffard ist ein Prediger der Fortbewegung auf zwei mit Muskelkraft bewegten Rädern, sein Credo lautet: Das Fahrrad ist mehr als ein Sportgerät oder ein Fortbewegungsmittel. Es ist ein Segen für die Gesellschaft. Dieser Gedanke schließt eine bizarre Theorie ein: Das Fahrrad könne, so Giffard, ein wichtiger Bestandteil der nationalen Verteidigung werden und sei durchaus dazu geeignet, im Kriegsfall darauf sitzend das Vaterland zu retten.
Getrieben von seiner Leidenschaft und angefacht von dem riesigen Interesse, das Paris–Brest–Paris bei seinen Lesern ausgelöst hat, gründet Giffard am 1. Dezember 1892 die Zeitschrift „Le Vélo“, zu Deutsch: Das Fahrrad, die er auf grünem Papier drucken lässt. Tatsächlich bietet Paris–Brest–Paris Stoff für Heldengeschichten, etwa die des ersten Siegers Charles Terront, der für die nonstop zu absolvierende Strecke 71 Stunden und 37 Minuten benötigt, was fast exakt drei Tagen entspricht. Die ist er nach eigener Aussage ohne Schlaf durchgefahren. Wie kann das sein? Vor allem: Wie geht es ihm? Wie hat er das überstanden? Das sind nur die drängendsten Fragen des Publikums, die alle im „Petit Journal“ beantwortet werden.
Unglaubliche Geschichten wecken Sehnsucht und Interesse – diese Gleichung geht in jener Zeit stets auf. Mit Terront ist ein Star geboren, der fortan großzügige Startgelder verlangen kann und auch erhält. Schon in dieser Phase ist im Zusammenhang mit einer Radsport-Sensation jene ökonomische Symbiose zu beobachten, die sich aus dem erhöhten Absatz von Zeitungen, dem Zuwachs von Werbeeinnahmen für das Blatt, steigenden Verkaufszahlen für die siegreiche Radfirma sowie Ruhm und viel Lohn für die Protagonisten ergibt. Es ist dasselbe Geschäftsmodell, mit dem die Tour de France auch heute noch funktioniert.
Um 1900 besitzt „Le Vélo“ eine tägliche Auflage von 80.000 Exemplaren, und das in einem Markt, auf dem zu jener Zeit in Frankreich gleich 13 Sportzeitungen konkurrieren. Das hängt auch damit zusammen, dass Giffard innovativ bleibt. 1893 etwa übernimmt er die Wettfahrt von Bordeaux nach Paris, ein weiterer Irrsinn von 575 Kilometern Länge, für deren Bewältigung der erste Sieger, der Brite George Pilkington Mills, im Mai 1891 exakt 26 Stunden, 36 Minuten und 25 Sekunden benötigt. Auch bei der Initiierung von Paris–Roubaix 1896 war die Expertise von Giffards Redaktion gefragt. All diese Ausdauer-Verrücktheiten dürfen die Fahrer im Übrigen mit Windschatten spendenden Schrittmachern bewältigen, die ihnen von ihren Ausrüsterfirmen zur Verfügung gestellt werden. Schließlich wollen die ja zeigen, dass ihr Material das robusteste auf dem Markt ist. Kurzum: In Sachen Rennveranstaltungen besitzt Giffard ein Monopol, das ihm unter anderem erlaubt, auf dem Anzeigenmarkt immer höhere Summen aufzurufen.
Das geht so lange gut, bis sich einflussreiche Finanziers, selbst Werbekunden von Giffard, dazu entschließen, dass diese Preistreiberei ein Ende haben muss. Angeführt vom Fahrradkonstrukteur Adolphe Clément bildet sich ein Konsortium reicher Industrieller, unter ihnen der Reifenhersteller Edmond Michelin, der Comte Jules-Albert de Dion, Besitzer der Fahrzeugfabrik De Dion-Bouton, der Baron Zwilen de Nyevelt und der Comte de Chasseloup-Lambot. Sie gründen ihrerseits eine Sportzeitung namens „L’Auto-Vélo“ und bestellen den erfahrenen Radsport-Connaisseur Henri Desgrange zu ihrem Chefredakteur. Ziel der Unternehmer ist es, sich ein wohlgesinntes, günstiges und harmloses Werbeumfeld für ihre Produktreklame zu schaffen.
Desgrange, geboren 1865, ist gelernter Notarfachangestellter. Er hat sich mit einem Wechsel in die Werbeabteilung von Clément beruflich jedoch früh umorientiert. Journalistische Erfahrungen sammelt er nebenbei. Hinzu kommt, dass er ein Praktiker ist. Und was für einer: Der Bahnspezialist Desgrange erobert den ersten Stundenweltrekord – 35,325 Kilometer, gefahren am 11. Mai 1893 auf der Bahn von Buffalo in Paris. Er stellt sogar noch weitere Bestmarken auf. Dass die Wahl für den Chefposten der neuen Zeitung auf Desgrange fällt, ist daher alles andere als ein Zufall, es ist Kalkül. Am 16. Oktober 1900 erscheint Desgranges Zeitung zum ersten Mal, und zwar auf gelbem Papier, Preis: fünf Centimes. Damit ist ein Kampf der Farben eröffnet: Gelb fordert Grün heraus. Und Desgrange attackiert Giffard.
Die erste messbare Auseinandersetzung gewinnt Giffard, der erfolgreich einen Plagiatsprozess gegen den neuen Konkurrenten anstrengt. Mit Beschluss vom 15. Januar 1903 darf sich „L’Auto-Vélo“ nur noch „L’Auto“ nennen, um sich klar von seinem Konkurrenten abzugrenzen. Für einen Radsport-Enthusiasten wie Desgrange, der wie Giffard auf die Organisation von Radrennen setzen will, ist das ein schwerer Schlag.
Zuvor hat Desgrange seinerseits Giffard provoziert und in gewisser Weise ausgetrickst. Denn der Novize hat das „Petit Journal“ überredet, die Organisation der zweiten Auflage von Paris–Brest–Paris im Jahre 1901 doch bitte ihm, Desgrange, anzuvertrauen. Nun kann Desgrange in „L’Auto-Vélo“ ausführlich über ein Ereignis berichten, das landesweit Aufsehen erregt, und eine Leserschaft, die empfänglich für die heroischen Geschichten des Augenblicks ist und alles über wundgesessene Hintern, Krämpfe, die Schrecken der Nacht und kuriose Zwischenfälle auf dem Weg zum Ziel erfahren will, über den Rennverlauf aufklären. Außerdem richtet Desgrange 1902 dreisterweise ein eigenes Rennen von Bordeaux nach Paris aus, Bordeaux–Paris II, so dass es in jenem Jahr gleich zwei Veranstaltungen mit demselben Start- und Zielort gibt. Der Sieger seiner Veranstaltung, Maurice Garin, absolviert denselben Parcours schneller als Giffards Gewinner Édouard Wattelier, was Desgrange in seinen Berichten gekonnt herauskehrt. Hinzu kommt eine weitere Desgrange-Erfindung: ein Rennen von Marseille nach Paris, Distanz: 938 Kilometer, im Mai 1902. Der Ton der Auseinandersetzung ist damit gesetzt; freundlich ist er nicht.
Desgrange macht vom ersten Tag an deutlich, dass er sich in seiner Publikation jeden politischen Kommentars enthalten wird: „Seien Sie, liebe Leser, für oder gegen etwas, aber rechnen Sie niemals damit, dass ,L’Auto-Vélo‘ eine politische Meinung äußert.“ Damit setzt er sich bewusst von Giffard ab, der, politisch liberal und progressiv, in seiner Sportzeitung Partei für den Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus ergriffen hat, den ersten jüdischen Offizier im französischen Generalstab. Dreyfus musste sich wegen Hochverrats vor Gericht verantworten, der Vorwurf lautete Kollaboration mit den Deutschen, dem Erbfeind. Es gab allerdings nur problematische Beweise, das Verfahren stützte sich auf dürftige Indizien. Im Dezember 1894 erhielt Dreyfus sein gnadenloses Urteil: Degradierung, lebenslange Haft und Verbannung auf die Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana.
Kurz darauf wurde bekannt, dass konservative, antisemitische Kreise den Prozess mit gefälschten Belegen manipuliert hatten. Die Stimmung kippte zugunsten der Dreyfus-Partei, sein Schicksal bewegte das ganze Land, ehe Staatspräsident Émile Loubet den angeblichen Verräter 1899 begnadigte. Es sollte allerdings bis zum 11. Juni 1906 dauern, ehe der Fall ganz abgeschlossen war, dann erst wurde das Urteil annulliert und Dreyfus wieder in die französische Armee aufgenommen, als Major.
So mutig Giffards Einlassungen auch waren, sie belasteten das Ansehen seiner Zeitung, weil auch seine Leser in der Causa Dreyfus gespalten waren. Und so ist Giffards Parteinahme neben seiner Anzeigenpolitik mit ein Grund dafür, dass „Le Vélo“ den konservativen Teil seiner hochrangigen Werbekunden nicht hatte halten können.
Und dennoch: Nach dem verlorenen Plagiatsprozess sinkt die Auflage von Desgranges Blatt, sie stagniert bei 20.000 Exemplaren, während Giffard eine tägliche Auflage von 80.000 Zeitungen drucken lässt. Weil die Tendenz klar nach unten zeigt, ist Desgrange sorgenvoll darum bemüht, eine Neuheit zu finden, mit der er alle Konkurrenten ausstechen kann, nicht nur Giffard, um die Auflage zu steigern und Anzeigenkunden zu gewinnen. In dieser Situation erweist sich eine Personalentscheidung als wegweisend: Desgrange verpflichtet den ambitionierten Sportreporter Géo Lefèvre, Jahrgang 1877, der bis vor Kurzem ein Volontariat bei Giffard absolviert hat. Als Giffard von einem Gespräch zwischen Lefèvre und dem Konkurrenten Desgrange erfährt, wird der junge Lefèvre sofort gefeuert und von Desgrange mit Freuden eingestellt. Bald schon steigt Lefèvre zum Leiter der Radsport-Sektion von „L’Auto“ auf. Außerdem lernt Desgrange von seinem Neuzugang, wie Giffard denkt und arbeitet.
Desgrange bezieht seine Mitarbeiter in die Ideenfindung für neue sportliche Wettbewerbe mit ein. Jeder seiner Angestellten soll Vorschläge liefern: Was kann uns helfen? Womit können wir Giffard besiegen? Was verspricht Auflage? Es ist Géo Lefèvre, der die entscheidende sporthistorische Sensation präsentiert, plötzlich und unvermittelt.
Am 20. November 1902 ist ein Mitarbeitergespräch angesetzt, Desgrange empfängt Lefèvre im Pariser Redaktionshaus seines Blatts, beste Lage, Rue du Faubourg Montmartre Nummer 10, und fragt: „Na, Géo, was haben Sie sich überlegt?“ Lefèvre greift einen Gedanken auf, der ihn schon länger beschäftigt: „Monsieur, Eintagesrennen gibt es genug, damit steigern wir unsere Auflage nicht entscheidend. Wie wäre es also mit einer Rundfahrt durch Frankreich, einer Tour de France?“ Das sei der exakte Wortlaut gewesen, berichtet Reporter-Veteran Jacques Augendre, Jahrgang 1925, ein Chronist der Tour, der sie 55-mal als Journalist begleitet hat, im Gespräch: „So hat es mir Géo Lefèvre selbst erzählt.“ Desgrange habe daraufhin geschwiegen und Lefèvre nachgelegt: „Ich denke da an ein Rennen, sechs Etappen, länger und schwerer als alles, was es gibt. Wir sollten die großen Städte in der Provinz anfahren.“ Die Anzahl von sechs Teilstücken klingt zufällig gewählt, ist es aber nicht. Lefèvre nimmt damit Bezug auf die in jener Zeit sehr populären Sechstagerennen auf der Bahn. Er möchte nun diese sechs Tage auf die Straße verlegen, allerdings mit zeitlichen Abständen zwischen den einzelnen Etappen. Frankreich soll auf diese Weise eine riesige Radrennbahn werden.
Desgrange ist angetan – ein Straßenrennen auf dem Rad verteilt auf mehrere Tage, so etwas gibt es tatsächlich noch nicht. Er schlägt ein Arbeitsessen vor, sofort, in der Brasserie Zimmer, die nicht weit entfernt auf dem Boulevard Montmartre ihre Speisen anbietet. Heute heißt das Restaurant Le Madrid.
Desgrange entwickelt sehr bald eine klare Vorstellung von der sich anbahnenden Neuheit. Er ist womöglich auch deshalb so angetan von dem Vorschlag, weil er selbst schon einmal eine Art Tour de France erlebt hat. Davon erzählen die Autoren Wolfgang Gronen und Walter Lemke in ihrem 1978 erschienenen Standardwerk zur Geschichte des Radsports und des Fahrrads.2 Es geht um die fabelhafte Reise des Jean-Théodore Joyeux auf dem Rad durch Frankreich, die am 11. Mai 1895 begann. Joyeux legte 5500 Kilometer in 19 Tagen am Stück zurück. Je nach Quelle ist auch von 4500 gefahrenen Kilometern die Rede. Eine außergewöhnliche Leistung, mit der Joyeux demonstrierte, was mit diesem Fortbewegungsmittel alles möglich war. Zum Begleit-Tross des Pioniers gehörte, so das Autorenduo, auch Desgrange. Als Unterstützer in Zeiten der Not, der Verzweiflung und der körperlichen Erschöpfung half er mit Anfeuerungen aus einem Begleitfahrzeug heraus und überzeugte Joyeux in kritischen Phasen davon, sein Projekt fortzusetzen. Joyeux fuhr ein kettenloses Fahrrad, der Antrieb erfolgte zwischen Tretkurbel und Hinterrad über ein Zahnradgetriebe. Der Erfinder dieses Systems, die Firma Métropole, war der Sponsor des Projekts. Diese Spielart des muskelbetriebenen Zweirads setzte sich zwar nicht durch – der Kettenantrieb erwies sich als robuster und effizienter –, für Joyeux ging aber alles gut. Für seine Leistung erhielt der Ausdauerkönig eine Prämie von 2200 Francs von Métropole, dessen Markenbotschafter er fortan war.
Der Begriff „Tour de France“ war im Frankreich der Jahrhundertwende zudem äußerst populär, er entsprach dem Titel eines überaus erfolgreichen Kinderbuchs. 1877 erschien eine Fibel von Augustine Fouillée-Tuillerie, veröffentlicht unter dem Pseudonym G. Bruno, mit dem Titel: „Le Tour de France par deux enfants“ – Die Tour de France aus der Sicht von zwei Kindern. Sie baute sechs Jahre nach der militärischen Niederlage gegen den Nachbarn im Deutsch-Französischen Krieg das patriotische Empfinden der Franzosen mit einem Trick neu auf: Die Autorin beschreibt die Erlebnisse der beiden lothringischen Waisenkinder André und Julien Volden, die nach dem Tod ihres verwitweten Vaters eine Entdeckungsreise durch ihre französische Heimat unternehmen, auf der Suche nach einem Onkel väterlicherseits. Die beiden Jungen lernen dabei ihr Land, seine regionalen Besonderheiten und Vorzüge kennen und merken schließlich, dass Frankreich selbst ihre Erlösung ist, das prächtige Land ihrer Reisen und Erkenntnisse. Das Buch war ein Bestseller, bis 1914 erreichte die Erzählung, die bis in die 1950er-Jahre eine wichtige Schullektüre in Frankreich war, eine Auflage von 7,4 Millionen Exemplaren. Eine Tour de France für Radfahrer würde an diesen Gedanken einer Reise durch das gesamte Land anknüpfen und die Leser bei einer Ankündigung in „L’Auto“ auch daran erinnern.
***
Gleich nach dem Menü im „Zimmer“ überprüft Desgrange, zunehmend euphorisch, die Machbarkeit von Lefèvres Vorschlag. Für Investitionen benötigt er grundsätzlich die Zustimmung von Victor Goddet, dem Finanzchef der Zeitung. Doch das erweist sich als Selbstläufer, Goddet goutiert den Plan, es lasse sich machen, ein Notgroschen für solche Fälle sei vorhanden, Desgrange solle es versuchen. Daraufhin kommt Schwung in die Causa Tour de France.
Am 19. Januar 1903 – vier Tage nach der erzwungenen Umbenennung – verkündet „L’Auto“ in nur einer Spalte links unter dem Titel sein neues Projekt, Überschrift: „Die Tour de France“. Es stehe das „größte Radrennen der Welt überhaupt“ bevor – „Lyon–Marseille–Toulouse–Bordeaux–Nantes–Paris“, Preisgeld: 20.000 Francs, Start am 1. Juni, Ankunft am 5. Juli im Parc-des-Princes. Die Hauptstadtpresse nimmt die Ankündigung mit Erstaunen und Begeisterung auf, mit einer Ausnahme: Giffard ignoriert die Meldung zunächst. Er reagiert aber auf Lefèvres in „L’Auto“ geäußerten Protest über sein Verhalten dann doch. Mit allerdings nur elf Worten vermittelt Giffard auch den Lesern von „Le Vélo“, dass es eine Tour de France geben soll.
Doch das Unternehmen stockt, es fehlt an Schwung, das Interesse an der Ausschreibung ist mäßig, es mangelt vor allem an präzisen Angaben: Wo übernachten die Teilnehmer? Wer bezahlt die Unterkunft? Über einen Monat Radrennen und Entfernung von daheim sowie der Arbeitsstelle – gibt es eine Entschädigung für den Lohnausfall? Nur 15 Fahrer haben sich bis zum 21. April angemeldet, als Erster Maurice Garin, der deshalb die Startnummer 1 erhalten soll.
Desgrange reagiert, indem er im Mai die Modalitäten modifiziert: Die Tour soll nun am Mittwoch, dem 1. Juli 1903, in Montgeron beginnen, das Finale ist für den 19. Juli in Ville d’Avray vorgesehen, anschließend ist ein gemeinsamer Transfer auf dem Rad ins Velodrom des Parc des Princes geplant, das sich am südlichen Rand des Bois de Boulogne befindet. Es bleibt bei sechs Etappen und den genannten Zielorten. Die Anmeldegebühr beträgt zehn Francs, am Preisgeld von 20.000 Francs ändert sich nichts, davon sind 3000 Francs für den Sieger reserviert. Der französische Autor Jean-Paul Vespini ordnet diese Summe in seinem Buch „1903. L’épopée du premier Tour de France“3 – 1903, Das Epos der ersten Tour de France – ein, danach entspricht sie heute einem Wert von 9600 Euro, eine in der damaligen Zeit ungeheure Summe. Ein einfacher Arbeiter musste für diesen Betrag zweieinhalb Jahre arbeiten, errechnete der niederländische Soziologe und Radsport-Historiker Benjo Maso in seinem Buch „Der Schweiß der Götter“4. Es gibt noch weitere Preisgelder, die nach der Länge der Etappen gestaffelt sind: Zwischen 700 und 1500 Francs erhält der Gewinner eines Teilstücks. Hinzu kommen fünf Francs Prämien pro Tag für die ersten 50 des Klassements – das entspricht einem Arbeitslohn von 20 Stunden. Doch das Interesse an der Tour de France bleibt weiter gering.
Desgrange meldet sich schließlich noch einmal in „L’Auto“: „Die Hoteliers bieten Sonderpreise an und die Zuschüsse der Organisation sind großzügig. Unterwegs werdet ihr nicht mehr Geld brauchen als daheim. Und vergesst nicht, dass jeder, der etwas leistet, für seine zehn Francs Startgeld hohe Preise gewinnen kann. Zauderer, gebt eure Meldung ab!“ Die Wortmeldung zeigt tatsächlich Wirkung. Bis zum Stichtag am 15. Juni 1903 melden sich 80 Teilnehmer an, Vespini hat sie alle namentlich recherchiert. 60 von ihnen erscheinen schließlich am 1. Juli 1903 in Montgeron, mehr als die Hälfte sind reine Amateure. Unter den 60 Startern sind 49 Franzosen, vier Schweizer und vier Belgier, zwei Deutsche und ein Italiener.
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„L’Auto“ verfasst Durchführungsbestimmungen, die 30 Paragrafen umfassen. Das Rennen ist vor allem als individueller Wettkampf gedacht, Gruppen- oder Teamarbeit von einzelnen Delegierten einer Fahrradfirma sind verboten. Das bisher übliche Windschatten-Fahren mithilfe von engagierten Schrittmachern ist außer im Verlauf der finalen Etappe ebenfalls nicht gestattet. Hilfreiche Auto- und Eisenbahnfahrten während des Wettkampfs sind selbstverständlich untersagt, motorisierte Fahrzeuge dürfen nicht als Zugmaschine missbraucht werden. An festgelegten Kontrollpunkten müssen sich die Fahrer einfinden, absteigen und eine Unterschrift leisten. Detaillierte Preisgeldlisten werden erstellt, exakte Wegvorgaben ausgegeben, damit die Fahrer keinen Kontrollpunkt verpassen, Pfeile weisen den Weg. Desgrange hat ein Heer von Mitarbeitern die Strecke ausarbeiten und kurz vor dem Rennen abfahren lassen – allerdings mit dem Auto.
Bei Verstößen gegen die Bestimmungen droht der Ausschluss. Zwischen der Ankunft einer Etappe und dem Start der nächsten sind Ruhetage vorgesehen. Wer einen Abschnitt wegen eines Defektes, eines Sturzes oder Schwäche nicht zu Ende fahren kann, darf auf den folgenden Teilstücken trotzdem wieder starten, scheidet aber aus der Gesamtwertung aus. Es können sich auch Fahrer nur für einzelne Tageswertungen melden, dafür ist eine Einschreibegebühr von fünf Francs vorgesehen.
Am 1. Juli 1903 veröffentlicht Desgrange auf der Titelseite von „L’Auto“ einen Leitartikel, mit dem er seine Leser leidenschaftlich auf das Ereignis einstimmt. Die Überschrift lautet: „Die Saat“. Desgrange sät darin vor allem inhaltsschwere Sätze: „Mit dem großen und kraftvollen Elan, den Émile Zola in seinem Roman ,La Terre‘ seinen Bauern verleiht, lanciert ,L’Auto‘ als Zeitung der Ideen und der Taten heute ein Rennen durch Frankreich mit den herrlichsten und härtesten Vermittlern von Energie – unseren professionellen Straßenfahrern. Von Paris bis zum blauen Mittelmeer, von Marseille bis Bordeaux, durch sonnenverwöhnte Städte, durch die ruhigen Landschaften der Vendée und entlang der bedächtigen Loire werden diese wackeren Männer unablässig und leidenschaftlich um den Sieg streiten und auf den Straßen Frankreichs gewaltige Anstrengungen, neue Herausforderungen und heldenhaften Antrieb finden.“ Und die Teilnehmer fordert er auf: „Holt euch ein bisschen von dieser goldenen Ernte, die ich großzügig vor euch auslege.“
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Mit Garin und Aucouturier haben sich die beiden großen französischen Stars der frühen Epoche des Straßenradsports für die Tour gemeldet. Garin, geboren im italienischen Aostatal, später als Schornsteinfeger nach Lens emigriert, 1,65 Meter klein, 61 Kilogramm leicht, trägt zwei Arbeitsnamen: „die weiße Bulldogge“, wegen der Farbe seines Sportdresses, die er bewusst gewählt hat, damit es sich vom Schwarz seiner Arbeitskleidung abhebt, und „der kleine Schornsteinfeger“. 1897 und 1898 hat er Paris–Roubaix gewonnen, 1901 Paris–Brest–Paris. Er fährt für die französische Radmarke La Française. Auch Aucouturier, der den Spitznamen „der Schreckliche“ trägt und dessen Kennzeichen ein blau-rotes Trikot und sein Schnurrbart sind, reist in Topform an. Er hat 1903 schon zwei schwere Rennen gewonnen: Paris–Roubaix und Bordeaux–Paris. Der „Schreckliche“ geht für den US-Radhersteller ABC an den Start.
Aus Deutschland sind Ludwig Barthelmann und Josef Fischer nach Montgeron gereist, der Sieger der ersten Auflage von Paris–Roubaix 1896 und mit 38 Jahren bereits ein Veteran. Fischer hält bis zum Finale durch, er belegt Gesamt-Rang 15. Barthelmann beendet das Rennen nicht.
Auf der Titelseite von „L’Auto“ sind am 1. Juli Zeichnungen von den drei Fahrern abgedruckt, die das Blatt zu den Favoriten zählt: Neben Garin und Aucouturier ist auch Fischer zu sehen, was den Stellenwert des Münchners illustriert. Desgrange macht dennoch keinen Hehl daraus, dass für ihn Garin erster Anwärter auf den Tour-Sieg ist – wenn er in Ville d’Avray ankomme, dann als Erster.
Desgrange schaut sich den Start des Rennens in Montgeron an, doch gleich danach verlässt er den Pariser Vorort schon wieder. Selbst jetzt, wo er neben den 60 versammelten Fahrern steht, kann er noch nicht abschätzen, was passieren wird. Deshalb zieht er sein Büro im Zentrum von Paris als Beobachtungsposten vor, um im Erfolgs- oder Notfall sofort die richtigen publizistischen Maßnahmen einleiten zu können. Den anspruchsvollsten Job der ersten Tour hat Lefèvre, er ist gleich alles auf einmal: Renndirektor, Jury-Chef, Zeitnehmer, Statistiker und Reporter.
Sogar im Peloton rast dieser Tausendsassa mit. Er füllt den mittlerweile abgedroschenen Begriff des „rasenden Reporters“ für rund 60 Kilometer mit schweißtreibendem Leben. Aus der Mitte des Feldes setzt Lefèvre für den Folgetag einen ersten Rennbericht für „L’Auto“ ab, der von der Nähe zu dem Geschehen lebt, die in diesem Moment nur er bieten kann, der Korrespondent auf zwei Rädern. Denn solche modernen Dinge wie einen Live-Ticker oder Live-Übertragungen in Radio und Fernsehen gibt es längst noch nicht. Anschließend setzt er sich in den Schnellzug, um das Feld zwischen Nevers und Moulins zu beobachten.
Im Übrigen startet das Rennen nur deshalb nicht in der französischen Hauptstadt, weil der Präfekt der Kapitale, Louis Lépine, ein Verdikt ausgesprochen hat, wonach Radrennen nicht in Paris starten dürfen.
Neben Aucouturier ist auch Garin sofort an der Spitze des Feldes zu finden, das erfahren die Leser durch Lefèvre. Neben den beiden sind Léon Georget und Émile Pagie ganz vorne dabei. Drei Kontrollpunkte müssen die Fahrer ansteuern: in Nevers (Kilometer 227), in Moulins (Kilometer 281) und in Roanne (Kilometer 381). Zusätzlich müssen sie einigen Posten am Streckenrand bei voller Fahrt zurufen, wer sie sind. „L’Auto“ hat die enorme Anzahl von 542 Informanten aufgeboten, die Zwischenstände nach Paris telefonieren oder telegrafieren sollen. Dort wird der Film der Etappe zusammengeschrieben, so dass die Leser ihn am Folgetag in „L’Auto“ nachempfinden können. Die „L’Auto“-Reporter Alphonse Steinès und Abran, der Starter, der auch die Zielflagge schwenken soll, sind vom Start weg in den Zug nach Lyon gesprungen. Léon Manaud und Fernand Mercier, zwei weitere Korrespondenten der ausrichtenden Zeitung, verfolgen das Rennen in einem Begleitauto.
Gegen 22:56 Uhr erreichen Garin und Pagie den Kontrollpunkt in Nevers als Erste, auch Pagie fährt für La Française, an den Rahmen der Räder ist die französische Trikolore zu sehen – tagsüber ein Erkennungszeichen für die Zuschauer am Streckenrand. Georget ist nach einer Panne zurückgefallen, er hat über eine Stunde Verspätung. Die Fahrer werden von einer riesigen Menschenmenge empfangen.
Auf seinem Beobachtungsposten zwischen Nevers und Moulins hört und sieht Lefèvre schemenhaft – die Nacht ist längst hereingebrochen –, dass sich ihm zwei weiß gekleidete Gestalten auf dem Rad nähern. Der Reporter ruft: „Wer seid ihr?“ Antwort: „Garin und Pagie.“ Lefèvre fragt: „Wo sind die anderen?“ Antwort Garin: „Weiß ich nicht.“ Der Favorit, mittlerweile seit zehn Stunden im Sattel, sagt noch: „Was für ein Rennen ohne Schrittmacher. Es ist schwer, aber ich werde gewinnen.“
Kurz darauf, um 1:13 Uhr, erreicht das Duo Moulins und schreibt sich dort in die Kontrollzettel ein. Vor diesem Halt wäre es beinahe um Garin geschehen gewesen: Unachtsamkeit, Auffahrunfall mit dem vor ihm fahrenden Pagie, Garin stürzt, Überschlag, aus seinen Ellenbogen und Knien tropft Blut. Sein Rad ist zerstört. Doch das Glück ist auf seiner Seite: Er tauscht seine Maschine gegen das Rad eines anwesenden Monsieur Bourasier aus Moulins, was die Statuten ausdrücklich gestatten. Straßen- und Rennräder unterscheiden sich in diesen Tagen kaum, Gangschaltung hat keines dieser Fortbewegungsmittel.
Und Aucouturier? Hat schon bei Kilometer 174 hinter Cosnes-sur-Loire einen Materialschaden. Sein Sattel ist durchgebrochen. Er repariert das Malheur mit einer Seilkonstruktion. Über eine Viertelstunde verliert er dadurch und ist bereits entmutigt. Aber das ist noch nicht alles. Lefèvre, auf seinem Posten verharrend, bekommt das Drama um den Favoriten mit. Aucouturier sitzt auf einem Stuhl und sagt: „Kopf und Beine funktionieren. Aber mein Magen nicht mehr, ich habe ihn mir verdorben. Es ist vorbei.“ Lefèvre animiert den „Schrecklichen“ zur Weiterfahrt, was ihm auch gelingt. Aucouturier schafft es gut 50 Kilometer weiter bis Lapalisse. Dort steigt er ab. Gibt auf. Und nimmt den Zug nach Lyon. Er spielt für die Gesamtwertung keine Rolle mehr, will aber weiter auf die Jagd nach Tagessiegen gehen.
Garin und Pagie sind auch in Roanne noch vorne, nach 381 Kilometern Fahrt. Es ist 5:15 Uhr, als sie hinter Tarare, 46 Kilometer vor Lyon, eine besondere Erfahrung machen. Der erste Bergpass liegt vor ihnen. Er führt hinauf auf den Pin Bouchain in 760 Metern Höhe, gut zehn Kilometer Anstieg sind zu bewältigen. In der Tour-Literatur heißt es oft, der Col de la République, den die Fahrer auf der zweiten Etappe zu bewältigen haben, sei der erste schwere Berg gewesen, der ihnen im Wege gestanden habe. Doch Vespini verweist nun auf dem Pin Bouchain. Schwerer als der Anstieg fällt den Fahrern die Abfahrt, denn an den Maschinen befinden sich keine Bremsen. Das Führungsduo bewältigt auch diese Schwierigkeit.
Lyon ist erreicht. In der Stadt wartet Georges Abran am Quai de Vaise vor dem Haus mit der Nummer 33, direkt am Ufer der Saône, bereits mit seiner Zielflagge. Nicht vor Ort ist Géo Lefèvre, der es mit dem Zug nicht rechtzeitig zum Finale der ersten Etappe geschafft hat. Es ist 9 Uhr am 2. Juli 1903, als Garin schließlich als Solist als Erster über die Ziellinie fährt. Pagie kommt auf einer Brücke in Lyon zu Fall, er hat 55 Sekunden Verspätung. Géorget, Tagesdritter, wird mit fast 35 Minuten Rückstand im Ziel notiert.
Der siegreiche „kleine Schornsteinfeger“ erreicht Lyon umjubelt von einer großen Menge, die permanent größer wird, nach einer Fahrt von 17 Stunden, 45 Minuten und 13 Sekunden. Das entspricht einem erstaunlichen Schnitt von 26,30 Stundenkilometern.
Garin und Pagie begeben sich danach mit dem Auto zum Hôtel de Russie, dem ersten festen Aufenthaltsort der Tour-Pioniere. Die nach und nach eintrudelnden Fahrer, 37 schaffen es bis Lyon, befreien sich vom Staub, werden gepflegt und massiert, essen ausgiebig und legen sich ins Bett. Aus Paris meldet sich Desgrange und schreibt in „L’Auto“: „Maurice Garin erbringt bei jeder Gelegenheit den Beweis, dass er der beste und der furchterregendste von all unseren großen Radrennfahrern ist.“ Es handele sich bei ihm um „eine wahre Widerstandsmaschine“, ausgestattet mit einer „unwiderstehlichen Kraft“.
Eugène Brange aus Belleville-sur-Saône, 31 Jahre alt, erreicht Lyon als 37. und letzter der in Montgeron gestarteten Fahrer. Brange benötigt fast 21 Stunden mehr als Garin.
In ökonomischer Hinsicht scheint sich Lefèvres Idee auszuzahlen. Nach dem Erfolg von Garin werden 93.000 Exemplare von „L’Auto“ gedruckt. Eine enorme Steigerung der Auflage.
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Der nächste Programmpunkt: Pause. Ausruhen. Ausschlafen. Drei Übernachtungen sind vorgesehen, dann geht das Rennen weiter.
Die zweite Etappe beginnt mitten in der Nacht, Startzeit in Lyon: 5. Juli, 2:30 Uhr. 374 Kilometer Tagespensum liegen vor den Teilnehmern, dann werden sie Marseille erreicht haben, die große Stadt am Mittelmeer, den Schlusspunkt des zweiten Teilstücks dieser ersten Tour.
Von Lyon führt der Weg über Saint-Étienne der ersten historischen Barriere der Frankreich-Rundfahrt entgegen. Ein Anstieg ist zu bewältigen, der 17 Kilometer umfasst. Mitten in der Nacht steht der Anstieg auf den Col de la République bevor, nach dem Pin Bouchain der zweite Pass dieser Tour. Doch dieser Berg ist höher: Es geht hinauf auf 1161 Meter, womit die Fahrer schon auf der ersten Tour die 1000-Meter-Höhenmarke reißen. Es ist Aucouturier, nur noch als Etappenjäger dabei, der die Passhöhe als Erster überquert.
Garin ist zu diesem Zeitpunkt abgehängt, dieses Mal ereilt ihn blankes Pech, sein Rückstand wächst kontinuierlich an. Schon nach 34 Kilometern bremst ihn eine Panne aus. Bald darauf, vor Saint-Étienne, stürzt er schwer, kann aber weiterfahren. Später verliert Garin auch noch seinen Begleiter Pagie, der in Tournon, gut 140 Kilometer nach dem Start, gleich mehrere Pannen in Serie hinnehmen muss. Pagie steigt entnervt vom Sattel und gibt auf. Er reist mit dem Zug nach Montélimar, steigt dort, längst aus der Wertung genommen, wieder ins Rennen ein, indem er der Spitzengruppe zehn Kilometer entgegenfährt, umdreht und dann gemeinsam mit ihr wieder zurück nach Montélimar rast – ausdrücklich genehmigt von den Kontrolleuren des Rennens.
110 Kilometer vor dem Ziel führen Aucouturier und Léon Georget das Feld an. Die beiden unterstützen sich, helfen sich bei Pannen und sind dennoch dem Rest weit voraus. Den Zielbereich in Marseille, der wegen der Bahnschienen, die durch die Stadt führen, in einen Außenbezirk verlegt wird, erreichen die beiden gemeinsam. Aucouturier zieht den Sprint an, hält ihn durch und gewinnt vor einer erneut großen Zuschauermenge gegen 17:00 Uhr nach 14 Stunden, 29 Minuten und 53 Sekunden knapp vor Georget. Garin wird Tagesvierter, sein Rückstand auf den Sieger beträgt 26 Minuten und sieben Sekunden, was zur Folge hat, dass in der Gesamtwertung sein Vorsprung auf Georget, den Dritten von Lyon, arg geschmolzen ist und nun nur noch 8:52 Minuten beträgt.
Aucouturier sagt im Ziel: „Ich bin rehabilitiert.“ Er bedauert sein Ausscheiden vor Lyon, den schlechten Moment mit den großen Schmerzen, aber: „Dieser Erfolg hat mir eine höllische Moral zurückgegeben. Ich kann die Tour nicht mehr gewinnen, aber ich möchte auch bei den nächsten Etappen erfolgreich sein.“ Die Fahrer rollen nach der Zielpassage weiter auf die zwölf Kilometer entfernt liegende Bahn im Parc Borély, auf der sie ihre Ehrenrunde abhalten. 5000 Zuschauer sind zugegen.
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Das Rennen entwickelt sich prächtig, doch die Organisatoren haben ein großes Problem: Sie können die Einhaltung des Reglements nicht sicherstellen. Desgranges Konzept sieht zwar offiziell einen freiwilligen Aufpasser pro Kilometer auf allen Etappen vor, doch das ist nicht mehr als ein Wunsch. Umsetzen lässt sich dieser Plan nicht, es fehlt schlicht an Personal. An den wenigen festgelegten Prüf- und Meldestellen halten ein paar Gesandte der Französischen Veloziped-Union (UVF), dem Vorläufer des französischen Radsportverbandes, Wache. Hauptsächlich jedoch, um die Unterschriften der Fahrer einzusammeln, die die Passage gewisser Punkte nachweisen müssen, um in der Wertung zu bleiben. Die Fahrer registrieren diese Schwachstelle sehr schnell. Es gibt für sie viele Möglichkeiten, auf der von Aufpassern weitestgehend unbesetzten Strecke zu schummeln, erst recht in der Nacht. Heimliche Schlepperdienste von Autos, Schrittmacher-Einsätze und sogar Zugfahrten kann niemand ausschließen oder verhindern.
Desgrange, elektrisiert vom Erfolg seines Rennens durch Frankreich, ist daher gleichzeitig beunruhigt. Ihn erreichen immer mehr Meldungen, in denen von Tricksereien und Betrug die Rede ist. Kurzentschlossen macht er sich auf den Weg nach Toulouse, dem Ziel der dritten Etappe, um sich vor Ort selbst ein Bild zu machen. Schon vor dem Start gibt er eine Entscheidung bekannt, die das Feld im doppelten Sinne in zwei Gruppen teilt: Die Fahrer, die noch in der Gesamtwertung vertreten sind, sollen fortan eine Stunde vor den anderen Teilnehmern starten, die nur als Etappenjäger dabei sind. Das gefällt nicht jedem, vor allem Aucouturier beschwert sich, weil er fürchtet, mit schwächeren Fahrern an seiner Seite keine Chance mehr auf einen Tagessieg zu haben. Desgrange entscheidet sich zu diesem Schritt, um die beiden Gruppen besser kontrollieren zu können, er will Täuschungen wie Windschatten-Fahren ausschließen.
Die erste Gruppe verlässt Marseille am 8. Juli um 22:30 Uhr. Die dritte Etappe führt über 423 Kilometer nach Toulouse. Mit Aucouturier starten nur vier weitere Fahrer eine Stunde später, darunter Pagie, der Zweite von Lyon. Der aber gibt das Rennen nach 90 Kilometern erschöpft auf und verlässt die Tour endgültig. Kurz darauf ist von Aucouturiers Begleitern niemand mehr übrig. Allerdings sammelt er später einige abgehängte Klassementfahrer ein und ist dadurch wieder in Begleitung. Toulouse erreicht Aucouturier nach rasender Fahrt, geleitet von einer gewissen Wut, allerdings allein – und deutlich schneller als Garin und seine drei Gefährten Lucien Pothier, Eugène Brange und Julien Lootens.
Im Sprint dieses Trios, das um 16:57 Uhr das Ziel erreicht, belegt Garin Rang drei hinter Brange und Lootens. Doch Aucouturier ist 32:22 Minuten schneller als die Klassementfahrer – und gewinnt damit seine zweite Etappe in Folge. Er bewältigt die Strecke in 17 Stunden, 55 Minuten und vier Sekunden, was einem Schnitt von 23,61 Stundenkilometern entspricht. Georget, vom Pech verfolgt und an Magenproblemen leidend, stürzt einmal und muss drei Pannen hinnehmen. Er verliert 1:50 Stunden auf Garin und ist dennoch weiterhin Zweiter der Gesamtwertung mit knapp zwei Stunden Rückstand auf den Führenden. Auf Rang drei hat sich Lucien Pothier vorgeschoben. Wie Garin fährt er für La Française und liegt knapp drei Stunden hinter dem kleinen Schornsteinfeger.
Nach der allgemein als schwerstes Teilstück dieser Premieren-Tour angesehenen dritten Etappe von Marseille nach Toulouse ist die Tour bereits zur Hälfe vorbei, im Gesamtklassement sind nur noch 25 Fahrer vertreten, mehr als die Hälfte der 60 Starter ist bereits ausgeschieden. Auf dem letzten Platz rangiert Arsène Millocheau, 36 Jahre alt, ein Franzose aus Chartres. Sein Rückstand auf Garin beträgt knapp 34 Stunden.
Erneut begeben sich die Teilnehmer nach der Zielpassage ins örtliche Vélodrom, begleitet von Tausenden Radfahrern, die in Toulouse den Weg von der Place Saint-Michel zur Piste von Bazacle gemeinsam zurücklegen. Dort sind die Fahrer verpflichtet zwei Runden zu drehen, zur Freude der auch hier zahlreich erschienenen Zuschauer.
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„L’Auto“ ist bei Weitem nicht die einzige Zeitung, die über das neuartige Ereignis berichtet. Mit Alphonse Baugé hat auch Giffard einen Korrespondenten entsandt, der für „Le Vélo“ schreibt, dazu berichten – wie noch heute – auch die Blätter der durchquerten Regionen sehr ausführlich. Vor allem dann, wenn eine lokale Berühmtheit ihren Heimatort passiert, so wie Jean Dargassies, ein Schmied aus Grisolles, das nur 30 Kilometer vom Startort Toulouse entfernt liegt. Er ist einer der gefeierten Männer der vierten Etappe, die von Toulouse nach Bordeaux führt, Richtung Nordwesten also. Den Startern steht die kürzeste der sechs Tagesprüfungen bevor, 268 Kilometer stehen auf dem Streckenplan. Längst haben die Teilnehmer in den sie begleitenden Zeitungen jenen Rufnamen erhalten, der sie noch heute schmückt: „Géants de la route“, Giganten der Landstraße.
Abgewunken werden die Fahrer um Garin, die um den Gesamtsieg kämpfen, am Sonntag, dem 12. Juli, um 5 Uhr. Zur besseren Erkennung erhalten nun alle Teilnehmer verschiedenfarbige Armbinden. Die roten, die vom Start weg für alle ausgegeben wurden, hat die Sonne ausgebleicht. Die Klassementfahrer erhalten eine grüne, die eine Stunde später startenden Etappenjäger eine gelbe und die zugelassenen Amateure eine weiße Kennzeichnung. In allen Zeitungen ist zu lesen, dass eine überwältigend große Ansammlung von Zuschauern die Fahrer verabschieden will.
Bei Montech, 180 Kilometer vor dem Ziel, sorgt ein Hund für Chaos in der Gruppe der Klassementfahrer. Es gibt Stürze, denen Garin und Georget gerade noch ausweichen können, Fernand Augereau, der Sechste der Gesamtwertung, allerdings nicht. Er kracht heftig auf den Boden, sein Gesicht ist blutüberströmt und sein Rad zerstört. Er erhält ein Rad von einem Zuschauer, verliert durch seinen Unfall aber den Anschluss nach vorne.
Auch Aucouturier gerät unfreiwillig in Kontakt mit einem die Straße kreuzenden Hund. Es geschieht am Ortseingang von Golfech auf der N 113, 23 Kilometer vor dem Kontrollpunkt am Café Russe in Agen: Aucouturier, an der Spitze des Verfolgerfeldes, kann dem Tier nicht ausweichen, er stürzt und erleidet eine Beinverletzung. Der zweimalige Etappengewinner setzt seine Fahrt noch etwas fort, steigt aber knapp vier Kilometer später in Lamagistère von seinem Rad. An einem Bahnhof besteigt er den Zug nach Bordeaux. Es ist vorbei. Der große Star gibt auf.
Im Zielbereich von Bordeaux, vor dem Café du Petit Trianon, werden die Fahrer bereits gegen 13:50 Uhr annonciert. Es ist der Belgier Julien Lootens aus Brüssel, genannt „Samson“, der sich im Sprint vor dem Italiener Rodolfo Muller, Georget und Garin durchsetzt, die zeitgleich gewertet werden. Doch ist Lootens auch der Sieger? Die Auflösung erfolgt eine knappe Stunde später, als die Nachhut ins Ziel stürmt. Dabei stellt sich heraus, dass der Schweizer Charles Laeser, ein 23-jähriger Mechaniker aus Genf, vier Minuten schneller das Ziel erreicht hat als die Gruppe um Garin. Der Außenseiter Laeser gewinnt somit als erster Nicht-Franzose eine Etappe der Tour. Für die 268 Kilometer des vierten Tagesabschnittes benötigt er acht Stunden und 46 Minuten, was einem erstaunlichen Schnitt von 30,57 Stundenkilometern entspricht.
Erneut präsentieren sich alle in Bordeaux angekommenen Teilnehmer einer großen Zuschauermenge auf der örtlichen Radrennbahn, dem Vélodrome du Parc. Dort drehen die verbliebenen Tour-Teilnehmer drei Runden. Dann ziehen sie sich in das für sie reservierte Hôtel Lacassagne zurück, wo jedoch nur eine Übernachtung gebucht ist.
In der Gesamtwertung gibt es keine Veränderung, Garin verfügt weiter über einen Vorsprung von fast zwei Stunden auf Georget und nahezu drei Stunden auf Pothier. Augereau verliert mehr als eine halbe Stunde auf die Gruppe um Garin und fällt im Gesamtklassement von Rang sechs auf Platz sieben zurück.
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Die fünfte Etappe führt über 425 Kilometer von Bordeaux nach Nantes. Die Klassementfahrer sollen am 13. Juli um 23 Uhr starten, eine Stunde später als diejenigen, die auf einen Etappensieg spekulieren. Darunter ist diesmal auch Ambroise Garin, ein jüngerer Bruder des Führenden.
Der 14. Juli ist der französische Nationalfeiertag. Die Erinnerung an den Sturm auf die Bastille im Jahre 1789 am Beginn der Französischen Revolution ist Teil der nationalen Identität und wird überall im Land feierlich begangen. Am 14. Juli 1903 bekommen das auch die Tour-Teilnehmer zu spüren. Zu jeder Tages- und Nachtzeit sind die Zuschauer in den Orten, die sie durchfahren, in ausgelassener Stimmung. Fanfaren und Musikkapellen haben sich aufgereiht, um nicht nur diesen Tag zu feiern, sondern auch die von Staub bedeckten Radfahrer auf ihren schweren Maschinen.
Die Teilnehmer starten an der Place des Quatre-Pavillons, einem bekannten Ort, denn dort beginnt auch das Rennen Bordeaux–Paris. 2000 Zuschauer sollen sich laut Augenzeugenberichten versammelt haben, um das Spektakel zu beobachten, ein Orchester spielt, Lichter illuminieren die Szenerie.
Nachdem sie 177 Kilometer durch die Dunkelheit gerast sind, fahren in Saintes die vier Klassementfahrer Garin, Augereau, Gustave Pasquier und Lucien Pothier an der Spitze des Feldes, sie alle sind Repräsentanten von La Française. Allerdings fehlt in der Spitzengruppe Léon Georget, der Zweite der Gesamtwertung. Nach einer Panne hat er den Anschluss verloren. Die Gruppe um Garin macht weiter Tempo, erreicht das Ziel in Nantes, das auf dem Velodrom von Longchamp eingerichtet ist, aber nur zu dritt. Augereau ist nicht mehr dabei. Was er später über die Gründe für seinen Rückstand erzählen wird, klingt unglaublich.
Es ist 15:26 Uhr, als die drei Führenden das Velodrom von Nantes erreichen, auf dem sie zwei Runden zu absolvieren haben. Garin gewinnt die fünfte Tour-Etappe – nach 16 Stunden und 26 Minuten zeitgleich vor Pasquier und Pothier. Die Etappenjäger sind diesmal chancenlos.
Aber was ist mit Georget und Augereau?
Ein Fahrer namens Julien Girbe, der dreieinhalb Stunden nach Garin in Nantes eintrifft, berichtet vom Verbleib des abgehängten Georget. 15 Kilometer hinter der Kontrolle von La Rochelle habe er eine abgestellte Rennmaschine erspäht und daneben einen Fahrer, der unter einem Baum geschlafen habe: Georget. Er habe den Ruhenden geweckt und mit Erfolg zur Weiterfahrt animiert. Die beiden wählten ein langsames Tempo und seien gut 40 Kilometer miteinander gefahren, doch dann habe Georget zu weinen begonnen und zu verstehen gegeben, dass er nicht mehr könne und aufgeben werde. 127 Kilometer vor Nantes scheidet damit der Zweitplatzierte aus dem Rennen aus. Georget wird von dem gastfreundlichen Monsieur Balbeau, dessen Haus sich direkt an der Strecke befindet, eingeladen und legt sich dort in ein Bett.
Augereau erreicht das Ziel knapp elf Minuten nach Garin. Er ist verbittert und erzählt eine Geschichte, die am Tag danach, unter der Überschrift „Ein Drama auf der Straße“ in „Le Monde sportif“ zu lesen ist. Sie geht so: Nachdem Augereau nach einer Panne wieder Anschluss an die Spitzengruppe um Garin gefunden hatte, habe dieser ihm mitgeteilt, dass er alleine gewinnen wolle. Wenn Augereau sich darauf einlasse, erhalte er im Ziel eine Sonderbehandlung in Sachen Pflege. Augereau habe diese Einmischung allerdings abgelehnt. Daraufhin habe Garin seinen Kollegen Pothier aufgefordert, anzuhalten, abzusteigen und seine Maschine in die von Augereau zu schleudern, was auch geschehen sei. Daraufhin sei Augereau gestürzt, während Garin zusätzlich Augereaus Hinterrad traktiert und jedem Zuschauer, der nicht helfend eingreife, 100 Francs geboten habe. Mit einem geliehenen Fahrrad habe es der unverwüstliche Augereau, angetrieben von Wut und Verzweiflung, dennoch zurück an die Spitze geschafft. Garin, erschrocken und voller Ärger über den offenbar Unverwüstlichen, habe ihn daraufhin erneut bedroht. Augereau habe das ignoriert, habe aber eine weitere Panne hinnehmen und erneut das Rad wechseln müssen. Dieses zweite Leihfahrrad eines Passanten sei aber viel zu groß gewesen. So habe Augereau den Anschluss an die Spitze erneut verloren.
In „L’Auto“ ist von diesem Zwischenfall kein Wort zu lesen. Bei Vespini heißt es, Garins aggressives Verhalten sei einstweilen vertraulich behandelt und nicht weiterverfolgt worden.
Trotz der Sabotage wird Augereau in Nantes Vierter und steht damit auf Rang drei der Gesamtwertung. Garin führt das Klassement mit knapp drei Stunden Vorsprung vor Lucien Pothier an, einem 20-jährigen Metzger aus Sens. Augereau hat knapp viereinhalb Stunden Rückstand. Die Überlieferung schweigt zum Fortgang der Fehde zwischen Garin und Augereau. 21 Fahrer sind noch in der Wertung um den Tour-Sieg.
In der Sektion der Etappenjäger hat zwischenzeitlich Ambroise Garin in Führung gelegen, er hat einige Teilstücke der fünften Etappe also schneller als die Gruppe der Klassementfahrer um seinen Bruder absolviert. Doch der jüngere Garin ist die Etappe zu schnell angegangen, er verliert zunehmend an Kraft und während des Rennens gibt auf.
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Die Fahrer bleiben vier Tage in Nantes. Am Samstag, dem 18. Juli 1903, werden die Startvorbereitungen der nur noch 21 zugelassenen Fahrer – Desgrange gestattet keine Etappenjäger mehr – vor dem Café Continental auf der Place Royale von Nantes von gut 600 neugierigen Menschen beobachtet, die Athleten mit tiefbraunen Gesichtern und mageren Oberkörpern wahrnehmen. Die verbliebenen Teilnehmer bereiten ihre Maschinen für den letzten Ritt dieser Tour vor.
Garin, die „weiße Bulldogge“, trägt eine schwarze Weste über seinem milchweißen Trikot, er möchte nach der öffentlich gewordenen Auseinandersetzung mit Augereau nicht von dessen Fans erkannt werden. Die List geht auf, er kommt unbehelligt durch Nacht und Tag bis Ville d’Avray. Damit zeigt er aber auch sein schlechtes Gewissen wegen seiner unverzeihlichen, wenngleich nicht geahndeten Aktion gegen seinen Mannschaftskameraden bei La Française.
Hunderte Radfahrer aus Nantes begleiten die Tour-Teilnehmer auf ihrem Weg vom Café Continental zum Café Babonneau, das an einem Rondpoint liegt, von dem aus die Straße nach Paris führt. An dieser Stelle wartet eine Menschenmenge auf sie, die „L’Auto“ mit 10.000 Personen beziffert. Desgrange hat nicht nur solchen Fahrern den Start untersagt, die sich nur für einen Etappensieg interessieren. Er hat außerdem verfügt, dass es entgegen der ursprünglichen Ausschreibung doch keine Schrittmacher geben soll. Die Athleten seien bisher großartig ohne diese Helfer ausgekommen, er sehe nicht ein, warum sich das nun ändern solle, es schade nur der Reputation des jungen Rennens.
Es ist 19:53 Uhr, als Abran zum letzten Mal seine gelbe Startfahne mit dem schwarzen Aufdruck „L’Auto“ senkt: Abfahrt aus Nantes. 471 Kilometer sind zu bewältigen, die finale Etappe ist gleichzeitig auch die längste. Doch die Bedingungen sind günstig, Westwind rauscht vom Atlantik herein, die Fahrer haben Rückenwind.
Der Verlauf der Etappe ähnelt dem der vorherigen. Wieder bildet sich eine Spitzengruppe um den unermüdlichen Garin, sie beinhaltet mal sieben, mal acht Personen. Pothier und Augereau sind stets dabei. Die letzte Schwierigkeit des Tages, den Anstieg zur Côte de Picardie, keine vier Kilometer von Ville d’Arvray entfernt, nutzen Jean Fischer und Augereau, um sich von der Spitzengruppe abzusetzen. Der Vorstoß sitzt, doch er ist bald schon wieder vorbei. Fischer wird von einem die Fahrbahn kreuzenden Zuschauer touchiert, stürzt und verliert viel Zeit. Augereau muss kurz darauf einen Defekt an seinem Hinterrad hinnehmen. Diese Missgeschicke kann Garin ausnutzen. Er rast an den Pechvögeln vorbei und mit vollem Elan dem Ziel vor einem Restaurant namens Père Auto entgegen. Die vielen Zuschauer verhalten sich nicht viel anders als bei Bergetappen der Gegenwart: Sie lassen den Fahrern nur einen kleinen Spalt, sie wollen ihnen so nahe wie möglich sein. Alphonse Steinès schreibt in „L’Auto“ über das Zuschaueraufkommen in Ville d’Avray: „Überall Menschen – an den Fenstern, auf den Dächern, in den Bäumen, auf Fahrrädern, in Autos, auf Pferden, zu Fuß. Einen solchen Enthusiasmus hat man noch nicht gesehen.“
Gegen 14:16 Uhr gewinnt Garin an jenem Sonntag, dem 19. Juli, auch die sechste Etappe, seine dritte nach den Erfolgen von Lyon und Nantes. Augereau schafft es noch auf Rang zwei der Tageswertung, „Samson“, der belgische Hüne, wird Dritter, beide weisen zehn Sekunden Rückstand auf.
Alle 21 in Nantes Gestarteten kommen in die Wertung in Ville d’Avray. Pothier, der junge Mann aus Sens, wird Zweiter, sein Rückstand auf den Sieger beträgt 2:59,31 Stunden. Das ist bis heute der größte Vorsprung eines Tour-Siegers vor seinem ersten Verfolger. Augereau behält seinen dritten Platz, es bleibt bei fast viereinhalb Stunden Rückstand. Den letzten Rang belegt Arsène Millocheau, er ist 64 Stunden und 57 Minuten langsamer als Garin – das sind mehr als zweieinhalb Tage.
Im Garten des Gasthauses Père Auto wird Champagner gereicht, die Fahrer können sich dort pflegen und säubern. Vor ihnen liegt allerdings noch eine letzte Ausfahrt. Sie führt über neun Kilometer auf die Bahn des Parc des Princes. Begleitet wird diese Tour d’Honneur von Tausenden Radfahrern, die immer wieder ihre Arme heben und ihre Hüte schwenken. Im Parc des Princes warten 15.000 Menschen vor allem auf den Sieger Maurice Garin, den „kleinen Schornsteinfeger“ aus dem Aosta-Tal, der für Frankreich startet. Trommelwirbel ist zu hören, aus 21 Trompeten ertönen Fanfaren, unter dem Jubel der Zuschauer erklingt die „Marseillaise“. Garin wird eine blau-weiß-rote Schärpe umgehängt, er steigt ab und nimmt seinen acht Jahre alten Sohn in Empfang, der den Vater auf den letzten Metern auf einem Rädchen begleitet hat. Garin umarmt seinen Jungen, drückt ihn fest an sich, dann herzt er seine Frau und seine Mutter, die er in der Zuschauermenge entdeckt hat. Aber nicht nur Verwandte drängt es zu Garin. Er wird umlagert, angefasst, bestaunt. Steinès schreibt: „Für Garin war es nun an der Zeit, seinen Heldenruhm im Velodrom des Parc des Princes zu genießen.“
Es gibt ein Schwarz-Weiß-Foto, das Garin nach seinem Sieg in Paris zeigt: Schiebermütze auf dem Kopf, weißes Trikot mit einem Loch im rechten Arm, die Schärpe hängt über dem Oberteil, die Hose ist schwarz, das Rad blank geputzt, und unter dem Schnurrbart klebt eine Zigarette auf den Lippen. Rechts von ihm ist Garin junior zu sehen, links der Masseur Brillouet, der mit weißem Hemd und Schürze allerdings eher aussieht wie ein Metzger. Garin, der Sieger, erhält eine Gratis-Behandlung.
Garin benötigt 94 Stunden und 33 Minuten für die 2438 Kilometer von Paris nach Paris, das ergibt einen Gesamtschnitt von 25,68 Stundenkilometern. Unter den gegebenen Umständen ist das eine phänomenale Leistung. Géo Lefèvre bemüht einen Vergleich, um zu zeigen, was die Fahrer – diese Männer aus Eisen – während ihrer Tortour auf dem Rad durch Frankreich geleistet haben: Ein Zug hätte für die Strecke der ersten Tour 97 Stunden benötigt, fast drei mehr als Garin.
Millocheau erhält von den Organisatoren eine Sondergabe von fünf Francs pro Tag, weil er auf der gesamten Strecke keinen einzigen Centime an Preisgeld eingenommen hat. Das macht insgesamt 95 Francs. So viel Qual für so wenig Ertrag, 95 Francs reichen nicht einmal für ein ordentliches neues Fahrrad. Das kostet damals um die 200 Francs. Garin, der nicht nur die Gesamtwertung, sondern auch drei von sechs Etappen gewonnen hat, darf sich über ein Preisgeld von 6125 Francs freuen. Pothier bekommt 2450, Augereau 1975 Francs. Aucouturier sammelt 1800 Francs ein, auch für Etappenjäger kann diese Tour ein lohnendes Geschäft sein.