Toxische Familien - Thomas Hohensee - E-Book

Toxische Familien E-Book

Thomas Hohensee

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Beschreibung

Das Leben in vielen Familien ist geprägt von zermürbenden Dauerkonflikten und psychischen Belastungen. Belastungen, deren Nachwirkungen noch Jahrzehnte später spürbar sind, auch wenn man sich längst dieser Familiensituation entzogen hat. Kann man, geprägt von einer solchen toxisch wirkenden Umgebung, dennoch zu einem glücklichen Leben finden? Der Coach Thomas Hohensee meint ja. Und präsentiert ein übersichtliches und leicht nachvollziehbares Zehn-Schritte-Programm, das uns dabei hilft, die toxische Familie zu verstehen und den Umgang mit ihr zu lernen.

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Seitenzahl: 206

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Thomas Hohensee

Toxische Familien

Verwandtschaftsbeziehungen entgiften. Der 10-Schritte-Plan

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © Eugenia Porechenskaya / shutterstock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print 978-3-451-60127-9

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83109-6

Inhalt

Einleitung

Kann man in einer toxischen Familie glücklich werden?

Du bist nicht allein

Was ist eine toxische Familie?

Kennzeichen einer toxischen Familie

In den besten Kreisen

Wie toxisch ist deine Familie?

Was eine gesunde Familie ausmacht

Meine toxische Familie

Eine glückliche Kindheit

Das Paradies bekommt Risse

Grundkurs im Überleben und Aufblühen

Die wichtigste Beziehung ist die, die du zu dir selbst hast

Dir selbst Freund sein

Sobald du kein Kind mehr bist

Wann sind wir endlich erwachsen und können machen, was wir wollen?

Zehn Schritte, in einer toxischen Familie zu überleben und aufzublühen

Erster Schritt: Den Stress einer toxischen Familie bewältigen

Leicht ist es nicht, aber möglich

Der Schlüssel zur Stressbewältigung: mit allen Gefühlen zurechtkommen

Mit deinen eigenen Gefühlen fertigwerden

Dich von den Gefühlen der anderen nicht anstecken lassen

Wie man es schafft, unter Druck neue Kräfte zu sammeln

Was du sofort tun kannst

Zweiter Schritt: Rücksichtslos für dich selbst sorgen

Warum rücksichtslos?

Der Tendenz, selbst toxisch zu werden, entgehen

Dich von deiner toxischen Familie erholen

Was du sofort tun kannst

Dritter Schritt: Dich und deine toxische Familie verstehen

Warum Verständnis dir hilft

Wie jedes Familienmitglied so wurde, wie es ist

Verstehen allein reicht nicht

Was du sofort tun kannst

Vierter Schritt: Das zukünftige Verhältnis zu deiner toxischen Familie festlegen

Die Unverbesserlichen

Innerlich auf Abstand gehen

Begegnungen einschränken

Die toxische Familie verlassen

Ohne Drama

Was du sofort tun kannst

Fünfter Schritt: Sagen, was gesagt werden muss

Dein Recht auf Selbstsicherheit

Keine Rechtfertigungen, keine Entschuldigungen

Kritik äußern und entgegennehmen

Wünsche mitteilen und anhören

Was du sofort tun kannst

Sechster Schritt: Vollendete Tatsachen schaffen

Wenn Diskussionen nichts mehr nützen

Macht hat mit Machen zu tun

Mit Widerstand rechnen

Sich vor schlechtem Gewissen und Drohungen schützen

Was du sofort tun kannst

Siebter Schritt: Aufblühen in einer toxischen Familie

Trotz alledem

Glück lernen

Gelassenheit lernen

Lieben lernen

Dein eigenes Leben leben

Was du sofort tun kannst

Achter Schritt: Eine eigene, wohltuende Familie gründen

Du musst nicht so werden wie deine Familie

Die ständigen Beziehungsdramen beenden

Eine liebevolle Partnerschaft und Kinder

Wahlfamilie, Freundinnen und Freunde

Was du sofort tun kannst

Neunter Schritt: Inneren Frieden schließen mit der toxischen Familie

Wenn der äußere Frieden ein Traum bleibt

Deinen Körper beruhigen

Dich von toxischen Gedanken und Gefühlen befreien

Detox-Meditation

Was du sofort tun kannst

Zehnter Schritt: Über die Familie hinausgehen

Zeitperspektiven

Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben

Dein Lebensplan

Was du sofort tun kannst

Merkzettel für das Überleben und Aufblühen in einer toxischen Familie

Literatur

Über den Autor

Einleitung

Kann man in einer toxischen Familie glücklich werden?

Sicherlich gelingt es den allermeisten, in einer toxischen Familie zu überleben. Aber kann man in einer solchen Familie aufblühen, sich entwickeln, sein Potenzial ausschöpfen, zufrieden und glücklich werden?

Die Zweifel sind berechtigt. Wenn man sich umschaut, findet man mit Leichtigkeit zahlreiche Beispiele von Menschen, die an ihren Familien, an ihrer unglücklichen Kindheit zerbrochen sind.

Andere leiden ein Leben lang unter ihren schmerzlichen Erinnerungen. Sie scheinen unwiderruflich geprägt von ihren negativen Kindheitserlebnissen.

Doch auch das Gegenteil trifft zu. Menschen erweisen sich als erstaunlich robust, sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht. Die Selbstheilungskräfte vollbringen wahre Wunder. In dem wunderbaren Buch von Ben Furman Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben berichten Menschen, wie sie es geschafft haben, trotz eines schwierigen Beginns ihr Glück zu finden. Ihre toxische Familie wurde nicht zu ihrem Schicksal. Sie fanden Wege, sich von den Schatten ihrer Vergangenheit zu befreien.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass dies möglich ist. Auch viele meiner Coachingklienten litten unter ihren Eltern, Schwiegereltern oder anderen nahen Verwandten. Doch nach und nach gelingt es, in vielen kleinen Schritten und trotz wiederholter Rückschläge Alternativen zu eingeschliffenen Beziehungsmustern zu finden und dadurch den chronischen Stress in anhaltende Gelassenheit zu verwandeln. Sogar mitten in seiner toxischen Familie kann man ein eigenes Leben führen und, ja, sogar richtig glücklich werden.

In diesem Buch erfährst du, wie man den Dauerstress einer solchen Familie bewältigt, mit den eigenen negativen Gefühlen zurechtkommt (und denen der Eltern, Großeltern, Tanten oder Onkeln), und was man jederzeit tun kann, um gut für sich selbst zu sorgen.

Unter anderem werden die folgenden Fragen beantwortet:

Wie befreit man sich innerlich und äußerlich von seinen toxischen Familienangehörigen, und das ganz ohne Drama? Warum ist es wichtig, sich und die eigene Verwandtschaft wirklich zu verstehen? Und warum reicht dies dennoch nicht aus? Wie schafft man es, sich für seine Vorstellungen vom Leben nicht mehr zu rechtfertigen oder zu entschuldigen?

Wenn alles Reden nichts hilft, ist es unumgänglich, vollendete Tatsachen zu schaffen und seinen eigenen Weg allein zu gehen. Dabei man muss mit dem heftigsten Widerstand der Nächsten rechnen.

In zehn klaren und praktikablen Schritten zeige ich dir, wie man eine toxische Familie nicht nur überlebt, sondern in ihr sogar aufblühen kann. Am Ende steht die Erkenntnis, dass niemand einen aufhalten kann, glücklich zu werden und so zu leben, wie man es möchte.

Du bist nicht allein

Wen geht dieses Thema nicht an? Wie viele können von sich behaupten, aus einer wirklich liebevollen Familie zu stammen?

Schon die Märchen der Brüder Grimm berichten von Kindern wie Hänsel und Gretel, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt werden. Zwar handelten diese aus Not, was die Sache für die Kinder aber nicht besser macht.

Oder denken wir an Aschenputtel, die von ihrer Stiefmutter sehr schlecht behandelt wird. Auch wenn es am Ende Aschenputtel ist, die den Prinzen bekommt, macht dies ihre Kindheit nicht ungeschehen. Ich kenne Frauen, die von ihren Müttern ein Leben lang herabgesetzt wurden, Aschenputtel nicht unähnlich.

Würden toxische Familien nur in Volksmärchen existieren, wäre dies kein Problem. Doch sie sind leider in der Realität weit verbreitet. Märchen dramatisieren die wahren Geschichten nur noch etwas.

Familien streiten, zerfallen, reden nicht mehr miteinander, fügen sich körperliche und seelische Schäden zu. Konflikte, Probleme und Interessengegensätze beherrschen ihren Alltag. Das ist der Boden, auf dem Neurosen oder sogar Psychosen gedeihen.

Die Psychoanalytikerin Alice Miller hat in mehreren Büchern das Leiden der Kinder beschrieben und wie es sich im späteren Leben auswirkt. Sie war allerdings zu pessimistisch, was die Unabänderlichkeit der daraus entstandenen Probleme angeht. Ihre Analyse toxischer Familien ist jedoch beeindruckend. Dass Familien so giftig miteinander umgehen und besonders Kinder darunter leiden, ist keine Erscheinung der Neuzeit. Der Sozialwissenschaftler Lloyd deMause hat in seinem Buch Hört ihr die Kinder weinen? ausführlich dargestellt, wie grausam mit Kindern in der Vergangenheit umgegangen wurde. Toxische (Familien-)Verhältnisse waren eher die Regel als die Ausnahme.

Verglichen mit solchen Zeiten hat sich vieles zum Besseren gewandelt. Das heißt aber nicht, dass Familien heute nur noch liebevoll miteinander umgehen.

Als Coach stelle ich oft fest, dass meine Klienten noch als Erwachsene unter ihren Eltern, Geschwistern oder Schwiegereltern leiden. Toxische Familienbeziehungen wirken bis ins Erwachsenenalter fort und behindern ein selbständiges, erfüllendes Leben.

In jüngster Zeit sind toxische Partnerschaftsbeziehungen ein Trendthema geworden. Die Bücher hierzu verkaufen sich sehr gut. Was bisher fehlt, ist ein psychologisch fundierter Ratgeber zur toxischen Familie; denn es sind nicht immer nur die Partnerinnen und Partner, die einem zu schaffen machen. Auch das Verhältnis zu den Eltern ist nicht das einzige, das in einer Familie toxisch sein kann. Schön wär’s, könnte man mit einem bitteren Lächeln sagen.

Nein, es kommen in der Familie mehr Menschen vor, die einem das Leben schwer machen können: Geschwister, Onkel, Tanten, Großeltern, Schwiegereltern, Stiefväter und Stiefmütter. Manchmal üben sogar entferntere Verwandte ihren negativen Einfluss aus. Von den verstorbenen Ahnen gar nicht zu reden. Menschen, die man gar nicht persönlich kennengelernt hat, die aber in den Erzählungen der Familie noch immer eine andauernde toxische Rolle spielen, irgendein Ahnherr oder eine Ahnfrau, die ein fürchterliches Vermächtnis hinterlassen zu haben scheinen.

Viel wurde in den letzten zwanzig Jahren über Glück geschrieben. Dass es oft die eigene Familie ist, die diesem Glück im Weg steht, wurde dabei meist ausgeklammert. Die Voraussetzungen des Glücks sind nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen stehen die Faktoren, die es verhindern. Also lass uns über die toxische Familie reden!

Auch über Vergebung wurde viel veröffentlicht. Zweifellos ein wichtiges Thema! Doch wird es der Lebenswirklichkeit selten im notwendigen Maß gerecht. Im Gegenteil, Vergebung kann der Versuch sein, konkreten Auseinandersetzungen, auszuweichen, gerade auch denen mit schwierigen Familienmitgliedern.

Es reicht nicht, den inneren Weg zu gehen.

Niemand kommt auf Dauer darum herum, das Verhältnis zu den Nächsten zukünftig neu zu bestimmen und konsequent die dazu erforderlichen Schritte zu machen. Als Alternative bliebe nur, sich ein Leben lang von seiner toxischen Familie bestimmen zu lassen und das eigene mögliche Glück für immer preiszugeben.

Überleben und Aufblühen in einer toxischen Familie ist und bleibt ein aktuelles, brennendes Thema, solange Menschen ihren Nächsten das Leben zur Hölle machen, statt sie zu lieben.

Was ist eine toxische Familie?

Kennzeichen einer toxischen Familie

Ich habe nicht vor, die toxische Familie abschließend zu definieren. Definitionen haben es an sich, dass die erhoffte Abgrenzung ausbleibt. Es bleiben immer Grenzfälle übrig, über die man sich endlos streiten kann.

Was ich leisten möchte, ist vielmehr eine Umschreibung anhand von Kriterien. Je mehr dieser Kriterien zutreffen, desto sicherer handelt es sich um eine toxische Familie.

Als Erstes wäre das Vorherrschen negativer Gefühle zu nennen.

In einer toxischen Familie fühlt sich niemand wohl. Selbst die Hauptverantwortlichen des giftigen Klimas leiden darunter. Das muss nicht immer bewusst geschehen. Manchmal entwickeln Menschen einfach nur chronische stressbedingte Krankheiten, ohne den Stress bewusst zu spüren.

Doch in der Regel ist das Unwohlsein deutlich wahrnehmbar. Selbst vorübergehende Besucher bemerken es, wenn sie in die Atmosphäre einer toxischen Familie eintreten. Es herrscht ein Klima der Angst, der Depression oder der Wut.

In toxischen Familien sind Konflikte, Streit, Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze die Regel und nicht die Ausnahme.

Das unterscheidet sie von liebevollen Familien, in denen all das auch vorkommt, aber nur selten, kurz und leicht.

Toxische Familien streiten heftig und andauernd. Jederzeit kann es zu Gefühlsausbrüchen kommen. Schon um Kleinigkeiten wird gestritten. Die Konflikte kommen nie zu einem Ende. Pausen entstehen, so scheint es, nur, um neue Kräfte für die nächsten Kampfrunden zu sammeln.

Für Außenstehende wirken die Auseinandersetzungen oft anlasslos, was auch stimmt, da die negativen Gefühle lediglich ein Ventil suchen, um erneut zum Ausbruch zu kommen. Die Protagonisten sind die ganze Zeit geladen. Wen der Zorn trifft und aus welchem Grund, ist eigentlich bedeutungslos. Daher lassen sich derartige Streitigkeiten auch nicht beilegen. Sie sind von den Emotionen bestimmt und nicht von der Sache.

Anders in depressiven Familien. Dort ist der Energiepegel chronisch auf niedrigem Niveau. Auffällig ist eine ungute Stille, ein lähmendes Schweigen.

Auch ängstliche Familien weisen ein eher niedriges Energielevel auf. Ständige Besorgnis, endloses Misstrauen und Hinterfragen und negative Erwartungen herrschen hier vor. Niemand traut sich, keiner riskiert etwas, pures Sicherheitsstreben erstickt jede Vitalität.

Die Kommunikation ist gestört.

Wut, Ängstlichkeit und Depression verhindern, dass offen über Probleme gesprochen werden kann. Aber auch Gespräche über die schönen Dinge des Lebens sind selten. Manchmal fehlen sie ganz.

Die Mitglieder einer toxischen Familien versuchen, sich gegenseitig zu manipulieren. Wünsche und Bedürfnisse werden nicht offen kommuniziert. Stattdessen ist die Manipulation mit Angst und schlechtem Gewissen typisch. Einschüchterung, Entmutigung und Erpressung sind weitere Mittel dieser gestörten Kommunikation. Im Extremfall greifen einzelne Familienmitglieder zu körperlicher Gewalt, um ihre Ziele durchzusetzen.

Anzeichen von Herzlichkeit, Wohlwollen und Liebe sucht man in toxischen Familien vergeblich. Gerade der Mangel an Liebe ist es, der solche Familien kennzeichnet.

Umarmungen, Zärtlichkeit, aber auch Lachen und Heiterkeit fehlen. Man geht sich aus dem Weg, blafft sich an oder sucht Streit.

Von außen kaum zu erkennen ist, was sich in den Familienmitgliedern abspielt. Ihre Gedanken kreisen um vergangene negative Zusammenstöße und die Planung der nächsten Auseinandersetzungen. Die Konflikte werden verinnerlicht und setzen sich ständig fort. Die Gedanken und Gefühle der Familienangehörigen sind vorwiegend negativ. Aus ihnen speisen sich die destruktiven Äußerungen auf der Kommunikations- und Verhaltensebene.

Damit ist die toxische Familie in den wesentlichen Punkten beschrieben. Sie funktioniert auf keiner Ebene gut. Sowohl das Denken als auch das Fühlen, Reden und Handeln sind negativ geprägt. Der Umgang miteinander ist gestört. Ich habe hier bewusst auf Kriterien wie Mord und Totschlag, sexuelle und körperliche Gewalt verzichtet. All das kann in toxischen Familien auch passieren, aber es ist nicht typisch. Mir geht es um die ganz »normale« toxische Familie. Sie ist viel häufiger anzutreffen, sogar so häufig, dass die geschilderten Kriterien nicht als ungewöhnlich, sondern als weit verbreitet, üblich oder alltäglich gelten. Viele kennen es gar nicht anders. Es entspricht der gesellschaftlichen Norm und geht über Familien weit hinaus. In Schulen und Betrieben herrscht oft dasselbe Klima.

Der große gemeinsame Nenner ist das Leiden. Wenn Kinder, nicht selten noch als Erwachsene, immer wieder und anhaltend unter ihren Eltern leiden oder umgekehrt die Eltern unter ihren Kindern; wenn Menschen unter ihren Geschwistern leiden; wenn die Eltern untereinander leiden; wenn Enkel unter ihren Großeltern, Nichten und Neffen unter ihren Onkeln und Tanten, Paare unter ihren Schwiegereltern chronisch leiden: dann sind die Verhältnisse toxisch.

In den besten Kreisen

Ich stamme selber aus einer toxischen Familie und habe mich früher dafür geschämt. Bis ich gemerkt habe, dass ich mich in guter Gesellschaft befinde und viele Menschen in so suboptimalen Familien groß geworden sind.

Abgesehen von Freunden, Bekannten und Klienten, in deren Familien ich einen Einblick bekommen habe, scheinen auch viele Reiche und Berühmte in toxischen Familien zu leben. Ein prominentes Beispiel ist Buddha, auch wenn die meisten seine Lehre und Biografie nicht unter diesem Aspekt sehen. Doch schauen wir uns seine Herkunft einmal genauer an: Buddha wurde als Sohn eines Königs geboren. Er erhielt die Ausbildung und Erziehung, die für eine Kriegerkaste üblich war. Was genau in Buddhas Kindheit und Jugend vorgefallen ist, wissen wir nicht. Aber man kann aus seinem weiteren Lebensweg einige interessante Schlüsse ziehen.

Tatsache ist, dass Buddhas Mutter kurz nach seiner Geburt starb. Er wurde von der zweiten Ehefrau des Königs angenommen, die etwa zur selben Zeit entbunden hatte wie ihre Schwester. Zwar heißt es, dass sie ihr eigenes Kind einer Amme anvertraute und sich vorrangig um ihr Stiefkind kümmerte, aber es gibt rund um Buddhas Leben eine Menge Legenden. Daher könnte es sein, dass es genau andersherum war, nämlich dass sie ihr Stiefkind weggab und ihre Aufmerksamkeit dem eigenen Kind schenkte. Dies wäre für eine Stiefmutter nicht untypisch. Sie erfüllte damit ihre Pflicht, mehr aber auch nicht.

Siddharthas Vater dürfte mit anderen Dingen beschäftigt gewesen sein, als sich seinem Sohn zuzuwenden. Für Reiche und Mächtige ist es auch heute noch üblich, dass sie die Erziehung ihrer Kinder in die Hände von Angestellten legen. Warum sollte dies damals anders gewesen sein? Der König hatte mit dem Regieren und Verwalten seines Reichs genug zu tun. Zudem war er oberster Richter seines Staates.

Wie es der Tradition entsprach, wurde Siddhartha bereits mit sechzehn Jahren verheiratet. Der Sache nach war es eine Zwangsheirat, weil die wenigsten in so jungen Jahren auf die Idee kommen, eine Ehe einzugehen.

Siddhartha wurde also in ein Leben gepresst, das offenbar nicht seinen eigenen Interessen entsprach; denn auch die soldatische Erziehung, die aus Bogenschießen, Schwertkampf, Ringen, Wagenlenken und Elefantenreiten bestand, gefiel ihm wenig. Zum Nachfolger seines Vaters aufgebaut zu werden, hatte für ihn keinen Reiz.

Seine Ehe blieb dreizehn Jahre kinderlos, was am Königshof auch niemandem gefallen haben dürfte. Die Dynastie muss fortgesetzt werden. Von den Thronfolgern werden so schnell wie möglich Enkel erwartet.

Siddhartha galt als grüblerisch und gelangweilt. Vielleicht würde man ihn heute sogar als depressiv bezeichnen. Jedenfalls richtete sich sein Streben mehr und mehr darauf, dem Königshof und damit dem goldenen Käfig zu entfliehen.

Es ist nicht ganz klar, ob sein Vater die Geburt eines Enkels zur Bedingung dafür gemacht hatte, dass sein Sohn fortzog. Sicher ist nur, dass Siddharthas Frau ein Kind bekam und er bald danach das Weite suchte. Über die genauen Umstände gibt es zwei Versionen: Die eine besagt, dass er sich des Nachts davonstahl; die andere, dass er sich noch in Gegenwart seiner Eltern das Haar schor, eine Mönchsrobe anlegte und sich dann auf den Weg in eine ungewisse Zukunft machte. Unterstützung bekam er von keiner Seite. Niemand hieß seine Pläne gut.

Fassen wir zusammen: Früher Tod der Mutter, Annahme durch seine Stiefmutter oder eine Amme, Zwangsheirat mit sechzehn, ohne Einwilligung zum Nachfolger seines Vaters bestimmt, gegen seine Interessen Drill als Soldat, Langeweile, Depressionen, Ängste und Groll.

Dass zu seiner Familie keine Bindung bestand, sieht man daran, dass er später nur ein einziges Mal zurückgekehrt ist. Sein Vater fühlte sich dadurch gedemütigt, dass sein Sohn zum mittellosen Wandermönch geworden war und jeder in seinem Reich dies nun mit eigenen Augen sehen konnte. Siddharthas Ehefrau überschüttete ihn mit Vorwürfen und versuchte, seinen Sohn gegen ihn aufzuhetzen, indem sie diesem sagte, er solle von seinem mittellosen Vater sein Erbe verlangen.

Nur Siddharthas Stiefmutter schloss sich ihm später an. Mit seinem Einverständnis – allerdings nach mehreren Absagen und trotz erheblicher Vorbehalte Buddhas – gründete sie einen Nonnenorden.

Salopp könnte man sagen, Siddhartha war von seiner Familie gründlich bedient. Er lebte lieber in einer selbstgewählten Gemeinschaft von Menschen, die andere Interessen hatten als nur Geld und Macht.

Traditionell wird Siddharthas Leiden, das ihn auf die Suche nach Befreiung brachte, allein vor dem Hintergrund existenzieller Probleme wie Alter, Krankheit und Tod gesehen. Doch ist es nicht viel näherliegender, drängt es sich nicht geradezu auf, dass Siddhartha sich zunächst einmal von seiner toxischen Familie befreite, unter der er 29 Jahre lang gelitten hatte? Damit war er zwar nicht alle seine Probleme los, aber immerhin hatte er auf diese Weise die Voraussetzungen für seine endgültige Heilung geschaffen.

Viele Interpreten der Buddha-Lehre verschließen entweder ganz die Augen vor seinem Lebensweg oder sie reden die Ereignisse schön, sodass der Eindruck entsteht, alle hätten sich am Ende liebgehabt und miteinander ausgesöhnt. Sie betrachten Buddhas familiäre Verhältnisse offenbar als Makel, obwohl diese doch gerade der Anlass waren, einen Weg aus dem Leiden zu suchen.

Buddha selbst hat sehr offen und schnörkellos über seine Herkunft gesprochen. Es besteht also kein Anlass, Legenden zu schaffen.

Ich denke, dass man viel aus Buddhas Lebensweg lernen kann. Dieser enthält mehr konkrete Hinweise auf die Befreiung vom Leiden als seine abstrakten Lehrreden. Zugleich ist er eine Absage an die Vorstellung, der Befreiungsweg sei allein ein innerer.

Das bedeutet nicht, dass man es genauso wie Buddha machen muss. Niemand muss ohne Geld und Familie durch die Welt ziehen, um glücklich zu werden. Buddha hat selbst gesagt, dass man die Ziele seiner Lehre erreichen kann, ohne Mönch oder Nonne zu werden. Man versteht ihn ohnehin besser, wenn man ihn als (Menschheits-)Lehrer sieht statt als Bettelmönch oder überirdischen Heiligen.

Halten wir fest: Toxische Familien kommen in den besten Kreisen vor. Auch wenn man in eine hineingeboren wird, kann man es im Leben weit bringen und höchstes Glück erfahren.

Wie toxisch ist deine Familie?

Du kennst jetzt die fünf Kennzeichen einer toxischen Familie. Hier noch einmal kurz zur Erinnerung:

Negative Gefühle herrschen vor. Die Atmosphäre ist düster, aggressiv, bedrohlich oder ähnlich unangenehm.

Konflikte, Streit und Meinungsverschiedenheiten kommen häufig vor. Sie dauern lange und sind heftig.

Die Kommunikation ist gestört. Entweder wird gestritten oder geschwiegen. Versuche, Probleme gemeinsam zu lösen oder Konflikte beizulegen, werden nicht unternommen oder scheitern regelmäßig.

Umarmungen, Zärtlichkeit, Lachen und Heiterkeit sind selten.

Es besteht eine starke Tendenz zu negativem, pessimistischem Denken.

Wenn du deine Familie daran auf einer Skala von null bis zehn misst, wie toxisch ist dann deine Familie? Null bedeutet, dass es keine Anzeichen für Toxizität gibt. Zehn heißt, dass es schlimmer nicht sein könnte.

Dies ist kein psychologischer Test, sondern einfach deine subjektive, momentane Einschätzung. Und du kannst damit auch einzelne Familienmitglieder einschätzen, zum Beispiel: Wie toxisch ist dein Vater? Wie toxisch ist deine Mutter? Wie toxisch sind deine Geschwister? Deine Kinder? Deine Großeltern? Deine Schwiegereltern? Die Familie deines Mannes/deiner Frau?

Auch Entwicklungen lassen sich damit beurteilen: Wie toxisch war deine Familie vor fünf Jahren, vor zehn Jahren? Wie toxisch ist sie heute? Ist es besser geworden oder schlechter? Hat sich nicht viel verändert?

Du selbst bist ein Teil deiner Familie. Wie steht es mit dir? Wie toxisch bist du?

Falls du vollkommen frei geblieben bist von den toxischen Einflüssen deiner Familie, kannst du dich beglückwünschen. Leider wird dies selten der Fall sein. Die Frage ist nicht, ob man negatives Denken, Fühlen, Handeln und Kommunizieren übernommen hat, sondern vielmehr, wie sehr.

Sei nicht so streng mit dir. Du konntest am wenigsten dafür. Schließlich hast du toxische Vorbilder gehabt, und es wäre ein Wunder, wenn du nichts von ihnen übernommen hättest. Verständnis für deine schwierige Situation ist daher wichtig. Und Nachsicht: Es ist, wie es ist. Die Vergangenheit kannst du nicht mehr ändern. Entscheidend ist, wie es jetzt weitergeht. Darauf hast du großen Einfluss. Du kannst deine Entwicklung in die eigenen Hände nehmen. Dabei brauchst du aber Geduld. Du kannst nicht von heute auf morgen ändern, was sich in vielen Jahren aufgebaut hat. Im Laufe von Wochen, Monaten und Jahren kannst du dich allerdings von den toxischen Einflüssen deiner Familie so weit befreien, dass du mehr Glück, Freude, Entspannung und Liebe erfährt als je zuvor.

Deine Geschichte kannst du nicht ablegen. Sie wird immer ein Teil von dir bleiben. Aber sie wird nicht mehr dein Leben bestimmen. Dafür kannst du sorgen.

Oft glaubt man, dass niemand sonst in toxischen Familien lebt oder Teile seines Lebens in einer verbracht hat. Deshalb wäre es gut, wenn du – wieder auf einer Skala von null bis zehn – einschätzt, wie toxisch andere Familien sind. Unterhalte dich mit anderen über ihre Familien. Frag genau nach, soweit es angemessen ist. Denk nicht automatisch, dass bei anderen alles fantastisch läuft. Und vergleich dich nicht nur mit gesunden, glücklichen Familien. Du brauchst nur ein paar Wochen lang die Zeitungen lesen. Dann hast du eine Menge Beispiele für Familien zusammen, mit denen du bestimmt nicht tauschen möchtest.

Auf der anderen Seite wäre es verkehrt, sich zu sagen: Was soll’s? Familien sind eben toxisch. Da lässt sich nichts machen.

Du kannst etwas machen!

Deine Zukunft muss nicht so aussehen wie deine Vergangenheit oder Gegenwart. Sie kann für dich von jetzt an Tag für Tag ein bisschen besser werden (Rückschläge selbstverständlich eingeschlossen!).

Was eine gesunde Familie ausmacht

Gesunde, glückliche Familien sind seltener als toxische, aber es gibt sie. Diese Tatsache ist ein Grund zur Freude; denn alles andere wäre deprimierend. Warum sie so selten sind, verstehen wir, wenn wir uns die Kriterien einer glücklichen Familie vor Augen führen. Dafür braucht man lediglich die Merkmale einer toxischen Familie ins Positive zu wenden:

In einer glücklichen Familie sind positive Gefühle häufiger als negative.

Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass in einer gesunden Familie niemand jemals traurig, ängstlich, besorgt, neidisch, eifersüchtig oder wütend wäre. Mehr noch: Damit würde man glückliche Familien ins Land der Utopien verweisen. Negative Gefühle sind Teil der menschlichen Existenz. Sie werden erst zum Problem, wenn sie zum Dauerzustand werden.

In einer glücklichen Familie haben alle gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen. Sie machen sich nicht ständig gegenseitig dafür verantwortlich, unglücklich zu sein. Diejenigen, die sich ärgern oder ängstigen, wissen, wie sie sich davon allein wieder befreien können.

Deshalb ist die Grundstimmung in einer gesunden Familie positiv. Lachen, Spaß miteinander haben, jeden und jede auf ihre oder seine Weise glücklich werden lassen ist für alle Familienmitglieder eine Selbstverständlichkeit.

Die positive Grundstimmung ist echt und nicht gekünstelt, wie dies in toxischen Familien häufig vorkommt, um bei anderen, vor allem Dritten, den Eindruck zu erwecken, es sei alles in Ordnung. Das Glück ist in einer glücklichen Familie keine Fassade.

Das Zusammenleben in einer gesunden Familie ist harmonisch.

Konflikte werden beigelegt, Probleme gelöst, Streit geschlichtet. Keiner trägt dem anderen lange etwas nach. Unterschiedliche Meinungen werden toleriert. Es ist normal, dass Menschen nicht in allem übereinstimmen. Dies muss jedoch kein Anlass sein, sich zu streiten oder gar zu entzweien.

Die Mitglieder einer glücklichen Familien wissen, dass die anderen es gut mit ihnen meinen. Deshalb empfinden sie Meinungsverschiedenheiten nicht als persönliche Angriffe. Es geht um die Sache. Da kann man durchaus mal unterschiedlicher Ansicht sein. Mit gutem Willen lassen sich jedoch immer Lösungen finden, die alle Beteiligten zufriedenstellen.

Dass manchmal Kompromisse geschlossen werden müssen, beeinträchtigt die Harmonie nicht. Es ist einfach der Preis für das Zusammenleben und wird durch die vielen positiven Interaktionen mehr als aufgewogen.

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, was der amerikanische Psychologe John Gottman über funktionierende Paarbeziehungen herausgefunden hat. In glücklichen Beziehungen überwiegen die positiven Gefühle und Aktionen die negativen bei weitem, laut Gottman in einem Verhältnis von mindestens 5:1. Das ist insofern interessant, dass manche glauben, es genüge, einen negativen Vorfall mit einem positiven auszugleichen. Das reicht aber nicht. Vereinfacht könnte man sagen, dass ein glückliches Paar eine Menge Spaß miteinander hat, ein unglückliches dagegen wenig.