Tragödie in drei Akten - Agatha Christie - E-Book

Tragödie in drei Akten E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Als Pfarrer Babbington auf einer Party an seinem Cocktail nippt, bricht er tot zusammen. Wenig später kommt es bei einem Dinner zur nächsten Tragödie, und auch der hoch angesehene Arzt Sir Bartholomew Strange stirbt. Poirot hegt keinen Zweifel daran, dass die beiden Unglücksfälle miteinander zusammenhängen. Denn immerhin waren bei beiden Anlässen dieselben Gäste zugegen.  Doch wer von ihnen hatte ein Motiv für gleich zwei Morde?

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Seitenzahl: 285

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Agatha Christie

Eine Tragödie in drei Akten

Ein Fall für Poirot

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Atlantik

Für meine Freunde,

Geoffrey und Violet Shipston

Regie:

SIR CHARLES CARTWRIGHT

Regieassistenz:

MR SATTERTHWAITE

MISS HERMIONE LYTTON GORE

Kostüme:

AMBROSINE LTD.

Beleuchtung:

HERCULE POIROT

Erster AktVerdacht

1Crow’s Nest

Mr Satterthwaite saß auf der Terrasse des Crow’s Nest und sah zu, wie sein Gastgeber, Sir Charles Cartwright, den Pfad vom Meer zu ihm heraufstieg.

Das Crow’s Nest war ein moderner Bungalow der besseren Art, ohne Fachwerkbalken, Giebel und all jene Auswüchse, die das Herz drittklassiger Bauunternehmer höher schlagen ließen. Es handelte sich um ein weißes solides und schlichtes Gebäude, das wesentlich größer war, als es von außen wirkte. Sein Name verdankte sich seiner Lage hoch über dem Hafen von Loomouth; an einer Ecke grenzte die von einem stabilen Geländer geschützte Terrasse direkt an die steil abfallenden Klippen. Das Crow’s Nest lag eine Meile von der Stadt entfernt. Die Straße führte zuerst ins Binnenland und verlief dann in scharfen Kurven hoch über dem Meer. Zu Fuß konnte man das Haus auf dem steilen Fischerpfad, den Sir Charles Cartwright soeben erklomm, in sieben Minuten erreichen.

Sir Charles war ein gutgebauter, sonnengebräunter Mann in den besten Jahren. Er trug eine alte graue Flanellhose und einen weißen Pullover, ging mit schlenkernden Schritten und ballte dabei halb die Faust. Neun von zehn Personen hätten gesagt: »Seemann im Ruhestand – ganz unverkennbar.« Die zehnte, aufmerksamere Person aber hätte verwirrt gezögert, weil irgendetwas nicht zu diesem ersten Eindruck passte, und im nächsten Moment hätte ihr vielleicht ein Bild vor Augen gestanden: ein Schiffsdeck, wenn auch nicht das eines echten Schiffes, sondern eines, das von dicken, festen Vorhängen gerahmt war, und ein Mann, Charles Cartwright, der breitbeinig auf diesem Deck stand, in einem Licht, das eindeutig kein Sonnenschein war, die Finger halb zur Faust geballt und mit der angenehm sonoren Stimme eines englischen Seemanns und Gentlemans, nur dass er betonter sprach als üblich.

»Nein, Sir«, sagte Charles Cartwright, »ich fürchte, dass ich diese Frage nicht beantworten kann.«

Dann schlossen sich die Vorhänge mit einem Rauschen, die Lichter flammten auf, ein Orchester setzte zu einer jazzigen Melodie an, und Mädchen mit übertrieben großen Schleifen im Haar riefen: »Pralinen? Limonade?« Der erste Akt des Stückes Der Ruf der See mit Charles Cartwright als Commander Vanstone war vorbei.

Mr Satterthwaite, der die Aussicht von der Terrasse genoss, musste lächeln.

Er war ein verschrumpeltes, kleines Kerlchen, dieser Mr Satterthwaite, ein Förderer des Theaters und der Künste, ein waschechter, aber umgänglicher Snob, der bei keiner wichtigen Party oder Gesellschaft fehlte (die Worte »und Mr Satterthwaite« bildeten den unvermeidlichen Schluss einer jeden Gästeliste). Insgesamt gesehen ein äußerst intelligenter Mann und außerdem ein gewiefter Beobachter von Menschen und Dingen.

Nun murmelte er kopfschüttelnd: »Das hätte ich nie für möglich gehalten. Nein, das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten.«

Als hinter ihm auf der Terrasse Schritte erklangen, drehte er sich um. Dem breiten grauhaarigen Mann mittleren Alters, der einen Stuhl heranzog, stand sein Beruf deutlich in das kluge, freundliche Gesicht geschrieben: »Arzt« und »Harley Street«, die Straße der Mediziner in Westminster, London. Sir Bartholomew Strange war ein weithin bekannter und sehr erfolgreicher Fachmann für Nervenleiden, der vor kurzem – anlässlich des Geburtstages der Königin – in den Ritterstand erhoben worden war.

Er setzte sich neben Mr Satterthwaite und sagte: »Was hätten Sie nicht für möglich gehalten? Heraus damit.«

Mr Satterthwaite zeigte lächelnd auf die Gestalt, die mit schnellen Schritten den Pfad hinaufeilte.

»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Sir Charles so lange zufrieden ist in seinem – äh – Exil.«

»Ganz meine Meinung! Das hätte ich auch nicht für möglich gehalten!« Sir Bartholomew Strange warf lachend den Kopf in den Nacken. »Ich kenne Charles seit meiner Kindheit. Wir haben zusammen in Oxford studiert. Er hat sich nie verändert – privat war er immer ein besserer Schauspieler als auf der Bühne! Ja, er spielt ständig. Er kann gar nicht anders, es liegt ihm im Blut. Charles verlässt einen Raum nicht, sondern er ›tritt ab‹, und dafür braucht er immer eine gute Pointe. Aber er mag Rollenwechsel. Er mag sie sogar sehr. Vor zwei Jahren hat er sich von der Bühne zurückgezogen, weil er ein einfaches Leben auf dem Land führen wollte, fern der Großstadt, am Meer, das er immer geliebt hat. Also hat er sich dieses Haus erbauen lassen, das seiner Vorstellung von einem schlichten Landhaus entspricht: Drei Badezimmer und der allerneueste Schnickschnack! Mir ging es wie Ihnen, Satterthwaite: Ich dachte auch nicht, dass er es hier lange aushält. Charles ist ja auch nur ein Mensch, und er braucht sein Publikum. Zwei oder drei pensionierte Kapitäne, ein paar alte Frauen und ein Pfarrer – das füllt keinen Saal. Ehrlich gesagt habe ich erwartet, dass dieser ›einfache Bursche und Freund der See‹ nach einem halben Jahr die Nase voll von der Idylle hätte und das Handtuch werfen würde. Ich habe geglaubt, seine nächste Rolle wäre die des gelangweilten Mannes von Welt in Monte Carlo oder die eines Gutsherren in den schottischen Highlands – Charles ist sehr vielseitig, wissen Sie.«

Der Doktor verstummte. Er hatte viel erzählt. Nun betrachtete er den ahnungslosen Mann, der den Pfad erklomm, mit einem zugleich liebevollen und belustigten Blick. In wenigen Minuten wäre er bei ihnen.

»Wie auch immer«, fuhr Sir Bartholomew fort. »Wir haben uns offenbar geirrt. Das einfache Leben scheint immer noch einen starken Reiz auf ihn auszuüben.«

»Einen Mann, der sich stets zu inszenieren weiß, schätzt man gelegentlich falsch ein«, sagte Mr Satterthwaite. »Man merkt nicht, wann es ihm ernst ist.«

Der Doktor nickte. »Ja«, sagte er nachdenklich. »Das ist wahr.«

Charles Cartwright lief mit fröhlichem Hallo die Treppe zur Veranda hinauf.

»Die Mirabelle hat sich selbst übertroffen«, sagte er. »Sie hätten mitsegeln sollen, Satterthwaite.«

Mr Satterthwaite schüttelte den Kopf. Er war oft auf dem Ärmelkanal gesegelt und wusste aus leidvoller Erfahrung, dass das offene Meer seinem Magen nicht gut bekam. Er hatte die Mirabelle heute Morgen von seinem Schlafzimmerfenster aus beobachtet. Eine steife Brise hatte das Segel gebläht, und Mr Satterthwaite hatte dem Himmel inständig dafür gedankt, festen Boden unter den Füßen zu haben.

Sir Charles trat an das Wohnzimmerfenster und bat um Drinks.

»Du hättest mitkommen sollen, Tollie«, sagte er zu seinem Freund. »Du verbringst doch dein halbes Leben damit, in der Harley Street zu sitzen und deinen Patienten weiszumachen, wie gut ihnen das Leben auf dem wellengepeitschten Meer tun würde.«

»Als Arzt genießt man den großen Vorteil«, erwiderte Sir Bartholomew, »dass man nicht verpflichtet ist, seine eigenen Ratschläge zu befolgen.«

Sir Charles lachte. Er spielte unbewusst weiter die Rolle des jovialen, derben Seemanns. Er war ein außergewöhnlich gutaussehender, wohlproportionierter Mann mit schmalem, humorvollem Gesicht. Seine ergrauenden Schläfen verliehen ihm Würde, und man spürte sofort, dass er zuerst Gentleman und dann Schauspieler war.

»Bist du allein gesegelt?«, fragte der Doktor.

»Nein.« Sir Charles wandte sich ab und nahm seinen Drink von dem Tablett, das ein adrett gekleidetes Hausmädchen brachte. »Ich hatte einen Leichtmatrosen. Ein Mädchen, um genau zu sein – Egg.«

Die leichte Verlegenheit, die in seiner Stimme mitschwang, ließ Mr Satterthwaite aufhorchen.

»Miss Lytton Gore? Sie ist eine erfahrene Seglerin, nicht wahr?«

Sir Charles lachte reumütig.

»Sie gibt mir immer das Gefühl, eine absolute Landratte zu sein, aber ich mache Fortschritte – dank ihr.«

In Mr Satterthwaites Kopf jagte ein Gedanke den anderen:

»Ich frage mich … Egg Lytton Gore … Vielleicht hat er deshalb noch nicht die Nase voll … In seinem Alter … Ein riskantes Alter … In diesem Alter kommt immer eine junge Frau ins Spiel …«

Sir Charles fuhr fort: »Das Meer … Es ist unvergleichlich. Sonne, Wind und Wasser – und ein schlichter Shanty, den man auf der Heimfahrt singt.«

Er betrachtete hocherfreut den weißen Bungalow, der mit drei Badezimmern ausgestattet war, heißem und kaltem Wasser in allen Schlafzimmern, der modernsten Zentralheizung und der neuesten Elektrik. Außerdem gab es einen ganzen Stab von Bediensteten: Hausmädchen, Zimmermädchen, Köchin und Küchenhilfe. Sir Charles’ Vorstellung von einem einfachen Leben sah wohl doch nicht ganz so einfach aus.

Eine hoch aufgeschossene und sehr hässliche Frau kam aus dem Haus auf sie zu.

»Guten Morgen, Miss Milray.«

»Guten Morgen, Sir Charles. Guten Morgen.« (Sie würdigte die anderen Männer kaum eines Nickens.) »Hier ist das Menü für das Dinner. Haben Sie diesbezüglich vielleicht Änderungswünsche?«

Sir Charles nahm das Menü und murmelte:

»Mal sehen. Cantaloupe-Melone, Borschtsch, frische Makrele, Moorhuhn, Soufflé Surprise, Canapé Diane … Ich finde das hervorragend, Miss Milray. Alle Gäste treffen mit dem Zug um sechzehn Uhr dreißig ein.«

»Holgate weiß schon Bescheid. Ach übrigens, Sir Charles – wenn es Ihnen nichts ausmacht, sollte ich heute Abend wohl besser mit Ihnen speisen.«

Sir Charles wirkte verblüfft, erwiderte aber höflich: »Ich wäre natürlich hocherfreut, Miss Milray – aber – äh …«

Miss Milray setzte gelassen zu einer Erklärung an:

»Ohne mich wären es dreizehn Personen bei Tisch, Sir Charles, und es gibt so viele abergläubische Leute.«

Ihr Unterton deutete an, dass sie diesen Aberglauben absurd fand und jederzeit bedenkenlos dreizehn Personen an einen Tisch gesetzt hätte.

»Ich denke, es ist für alles gesorgt«, fuhr sie fort. »Ich habe Holgate gesagt, dass Lady Mary und die Babbingtons mit dem Auto abgeholt werden sollen. Trifft das zu?«

»Gewiss. Ich wollte Sie gerade darum bitten.«

Miss Milray zog sich zurück, wobei sich ein feines Lächeln der Überlegenheit auf ihrem unansehnlichen Gesicht zeigte.

»Eine bemerkenswerte Frau«, sagte Sir Charles ehrfürchtig. »Ich befürchte immer, dass sie mir eines Tages auch noch die Zähne putzen will.«

»Die Effizienz in Person«, sagte Strange.

»Sie arbeitet seit sechs Jahren für mich«, erklärte Sir Charles. »Anfangs, in London, war sie meine Sekretärin, und hier ist sie die unangefochtene Herrin des Hauses. Unter ihrer Leitung läuft alles wie am Schnürchen. Und nun will sie mich verlassen. Unfassbar, wie?«

»Warum?«

»Angeblich …« – Sir Charles rieb sich zweifelnd die Nase – »… angeblich hat sie eine bettlägerige Mutter. Ich persönlich glaube das nicht. Frauen dieser Art haben nie eine Mutter gehabt. Sie sind die Töchter von Maschinen. Nein, es muss einen anderen Grund geben.«

»Höchstwahrscheinlich«, sagte Sir Bartholomew, »gab es Gerede.«

»Gerede?« Der Schauspieler starrte ihn an. »Gerede? Über was denn?«

»Mein lieber Charles. Du weißt, was Gerede heißt.«

»Meinst du Gerede über sie – und mich? Bei diesem Gesicht? Und bei ihrem Alter?«

»Sie ist sicher noch unter fünfzig.«

»Ja, gut möglich.« Sir Charles dachte über die Sache nach. »Aber mal im Ernst, Tollie, ist dir ihr Gesicht aufgefallen? Sie hat zwei Augen, eine Nase und einen Mund, aber es ist nicht das, was man unter einem Gesicht versteht – jedenfalls unter einem weiblichen Gesicht. Selbst die skandalsüchtigste alte Klatschbase könnte ein solches Gesicht nicht ernsthaft mit sexueller Leidenschaft in Verbindung bringen.«

»Du unterschätzt die Phantasie der britischen alten Jungfer.«

Sir Charles schüttelte den Kopf.

»Nein, unmöglich. Diese fast monströse Art von Ehrbarkeit, wie Miss Milray sie ausstrahlt, kann sogar eine alte, britische Jungfer nicht übersehen. Sie ist die Tugend und Ehrbarkeit in Person – und eine verflucht nützliche Frau. Ich wähle immer nur Sekretärinnen aus, die mich nicht in Versuchung führen.«

»Sehr weise.«

Sir Charles war einige Minuten tief in Gedanken versunken. Um ihn abzulenken, fragte Sir Bartholomew: »Wer ist zum Dinner eingeladen?«

»Zunächst einmal Angie.«

»Angela Sutcliffe? Wie schön.«

Mr Satterthwaite beugte sich neugierig vor, denn er wollte unbedingt wissen, wer noch zur Party kam. Angela Sutcliffe war eine bekannte Schauspielerin, nicht mehr ganz jung, aber mit fesselnder Bühnenpräsenz, gefeiertem Scharfsinn und Charme. Sie wurde als Nachfolgerin von Ellen Terry, der berühmten Shakespeare-Darstellerin, gehandelt.

»Außerdem kommen die Dacres.«

Mr Satterthwaite nickte wieder. Mrs Dacres gehörte die Ambrosine Ltd., eine erfolgreiche Damenmodefirma. Man las den Namen häufig in Programmheften: »Im ersten Akt trägt Miss Blanks Kleider der Ambrosine Ltd., Brook Street.« Ihr Mann, Captain Dacres, war – im Jargon der Pferderennen formuliert – ein Außenseiter, der immer für eine Überraschung gut war. Er war oft auf der Rennbahn und hatte selbst am Grand National teilgenommen. Damals hatte es Ärger gegeben. Niemand wusste genau, was passiert war, aber es kursierten Gerüchte. Man hatte zwar nie offiziell gegen ihn ermittelt, und es war auch nichts nach außen gedrungen, aber bei der Erwähnung von Freddie Dacres lüpften die Leute trotzdem leicht die Augenbrauen.

»Und Anthony Astor, der Dramatiker.«

»Ah, natürlich«, sagte Mr Satterthwaite. »Sie hat das Stück Einbahnstraße geschrieben. Ich habe es zweimal gesehen. Es war ein großer Erfolg.«

Er tat sein Wissen, dass Anthony Astor das Pseudonym einer Frau war, mit einigem Stolz kund.

»Richtig«, sagte Sir Charles. »Ich habe ihren wahren Namen vergessen – Wills, glaube ich. Ich bin ihr nur einmal begegnet. Ich habe sie Angela zu Gefallen eingeladen. Und das sind sie – die Gäste der Party, meine ich.«

»Und die Einheimischen?«, fragte der Doktor.

»Oh, die Einheimischen! Tja, da sind zunächst einmal die Babbingtons. Er ist der hiesige Pfarrer, ein umgänglicher Mensch und Gott sei Dank kein frömmelnder Pfaffe. Seine Frau ist sehr sympathisch. Sie berät mich in Gartenfragen. Außerdem kommen Lady Mary und Egg. Das sind alle. Ah, nein – da ist noch ein junger Kerl namens Manders, ein Journalist oder so. Hübscher Bursche. Damit ist die Party komplett.«

Mr Satterthwaite war methodisch veranlagt. Also zählte er die Personen.

»Miss Sutcliffe – eins. Die Dacres – drei. Anthony Astor – vier. Lady Mary und ihre Tochter – sechs. Der Pfarrer und seine Frau – acht. Der junge Bursche – neun. Mit uns macht das zwölf. Da hat sich jemand verzählt. Entweder Miss Milray oder Sie selbst, Sir Charles.«

»Miss Milray ganz bestimmt nicht. Sie irrt sich nie. Lassen Sie mich überlegen … Ja – Sie haben recht. Ich habe tatsächlich einen Gast ausgelassen. Er war mir entfallen.« Er lachte leise. »Und das würde er mir sicher verübeln, denn er ist der eitelste kleine Halunke, dem ich je begegnet bin.«

Mr Satterthwaites Augen funkelten. Er war stets der Ansicht gewesen, dass Schauspieler die eitelsten Männer überhaupt seien, und Sir Charles Cartwright war seiner Meinung nach keine Ausnahme. Er fand es amüsant, dass hier der Schwanz mit dem Hund wedelte.

»Wer ist dieser Egoist?«, fragte er.

»Ein komischer Vogel«, sagte Sir Charles. »Aber ein gefeierter komischer Vogel. Sie haben vielleicht von ihm gehört: Hercule Poirot. Ein Belgier.«

»Der Detektiv«, sagte Mr Satterthwaite. »Ich habe ihn kennengelernt. Eine bemerkenswerte Persönlichkeit.«

»Ja, eine Type«, sagte Sir Charles.

»Ich bin ihm nie begegnet«, sagte Sir Bartholomew, »aber ich habe viel von ihm gehört. Ist er nicht seit einigen Jahren im Ruhestand? Wahrscheinlich sind die meisten Geschichten, die über ihn erzählt werden, nur Legenden. Dann kann ich nur hoffen, Charles, dass wir es an diesem Wochenende nicht mit einem Verbrechen zu tun bekommen.«

»Weil ein Detektiv im Haus ist? Findest du das nicht etwas zu weit hergeholt, Tollie?«

»Nun, wie es der Zufall will, ist genau das eine meiner Theorien.«

»Und wie lautet Ihre Theorie, Doktor?«, fragte Mr Satterthwaite.

»Die Menschen bestimmen die Ereignisse nicht – sondern die Ereignisse bestimmen die Menschen. Warum führt der eine ein spannendes und der andere ein langweiliges Leben? Liegt es am jeweiligen Umfeld? Nein, auf keinen Fall. Der eine reist bis an das Ende der Welt, ohne dass etwas geschieht. Eine Woche vor seiner Ankunft gibt es ein Massaker, eine Stunde nach seiner Abreise ein Erdbeben. Das Schiff, das er beinahe bestiegen hätte, erleidet Schiffbruch und versinkt mit Mann und Maus. Ein anderer wohnt in Balham und pendelt täglich in die Innenstadt, und ihm widerfährt alles Mögliche. Er gerät mit Erpressern, schönen Frauen und Gangstern aneinander. Es gibt Menschen mit einer Neigung zum Schiffbruch – ihnen passiert sogar etwas, wenn sie auf einem künstlichen See in eine Gondel steigen. Männer wie dieser Hercule Poirot müssen das Verbrechen also nicht suchen – denn es kommt zu ihnen.«

»In diesem Fall«, sagte Mr Satterthwaite, »passt es wohl gut, dass sich Miss Milray zu uns gesellt und dass keine dreizehn Personen am Tisch sitzen.«

»Nun ja«, erwiderte Sir Charles großzügig, »wenn du so scharf auf einen Mord bist, Tollie, wirst du ihn schon bekommen. Aber nur unter einer Bedingung – dass ich nicht die Leiche bin.«

Dann gingen die drei Männer lachend ins Haus.

2Vorfall vor dem Dinner

Mr Satterthwaite hatte sich schon immer leidenschaftlich für Menschen interessiert.

Unter dem Strich fand er Frauen interessanter als Männer. Eigentlich war Mr Satterthwaite zu sehr Mann, um so viel über Frauen zu wissen. Aber er hatte auch eine feminine Ader, die ihm Einblicke in das weibliche Denken erlaubte. Frauen hatten sich ihm stets anvertraut, aber sie hatten ihn nie ernst genommen. Wenn er daran dachte, erfüllte ihn eine gewisse Bitterkeit. Er hatte das Gefühl, das Stück immer nur von den Zuschauerrängen aus zu beobachten und nie auf der Bühne mitspielen zu dürfen. Aber wenn er ehrlich mit sich war, war ihm die Rolle des Beobachters auf den Leib geschneidert.

Als er an diesem Abend im großen Wohnzimmer saß, das an die Terrasse grenzte und von einer modernen Firma mit viel Geschick in Anlehnung an die Luxuskabine eines Schiffes eingerichtet worden war, galt sein Interesse vor allem der genauen Haarfarbe von Cynthia Dacres. Es war ein ganz neuer Ton – seiner Vermutung nach direkt aus Paris –, der auf merkwürdige, aber angenehme Art an die grüne Patina von Bronze erinnerte. Andererseits war Mrs Dacres schwer zu beschreiben. Sie war eine hochgewachsene Frau, deren Figur sich den Anforderungen des jeweiligen Augenblicks anpasste. Hals und Arme waren leicht gebräunt, wie es sich für einen Landaufenthalt gehörte, aber Mr Satterthwaite wusste nicht zu sagen, ob die Bräune natürlich oder künstlich war. Ihre Frisur, bronzefarben und mit grünem Glanz, war so neuartig und kunstvoll, dass nur der beste Friseur Londons als Urheber infrage kam. Ihre gezupften Augenbrauen, die Wimperntusche, ihr feines Make-up und ihr Mund, dem der Lippenstift einen Schwung verlieh, den ihre geraden Lippen eigentlich nicht besaßen – all das verblasste vor ihrem Abendkleid, das von einem tiefen, ausgefallenen Blau war. Der Schnitt wirkte schlicht (ein sehr irreführender Eindruck), und der Stoff war ungewöhnlich – er war matt, glitzerte aber hier und da dezent.

»Eindeutig eine intelligente Frau«, dachte Mr Satterthwaite mit anerkennendem Blick. »Ich frage mich, wie sie wirklich ist.«

Damit meinte er ihr Wesen, nicht ihren Körper.

Sie sprach auf die moderne schleppende Art.

»Es ging einfach nicht, mein Lieber. Ich meine – entweder etwas geht, oder es geht eben nicht. Und es ging nicht. Es war einfach penetrant.«

Das war gerade das Modewort – alles war »penetrant«.

Sir Charles mixte mit Hingabe Cocktails und plauderte dabei mit Angela Sutcliffe, einer schlanken, schon leicht ergrauten Frau mit schelmischem Mund und klugen Augen.

Dacres unterhielt sich mit Bartholomew Strange.

»Jeder weiß, dass beim alten Ladisbourne etwas faul ist. Der ganze Stall weiß Bescheid.«

Er sprach schrill und abgehackt – ein kleiner, rotwangiger, gerissen wirkender Mann mit kurz gestutztem Schnurrbart und etwas unstetem Blick.

Neben Mr Satterthwaite saß Miss Wills, deren Stück Einbahnstraße als eines der intelligentesten und gewagtesten gepriesen worden war, die man seit Jahren in London aufgeführt hatte. Miss Wills war groß und mager, hatte ein fliehendes Kinn und schlampig onduliertes Haar. Sie trug einen Kneifer und war in außerordentlich schlecht sitzenden grünen Chiffon gekleidet. Ihre Stimme war hoch und klang in keiner Weise gebildet.

»Ich war in Südfrankreich«, sagte sie. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich mich dort nicht wohlgefühlt. Es war überhaupt nicht nett. Andererseits war es nützlich für meine Arbeit – das Treiben dort zu beobachten. Verstehen Sie?«

Mr Satterthwaite dachte: »Armes Ding. Durch ihren Erfolg von ihrer geistigen Heimat abgeschnitten – einer Pension in Bournemouth. Dort fühlt sie sich bestimmt am wohlsten.« Er staunte über die Kluft zwischen Autor und Werk. Der kultivierte »Mann-von-Welt«-Ton, den Anthony Astor in ihren Stücken anschlug, schien Miss Wills vollkommen fremd zu sein. Dann fiel ihm auf, dass die blassblauen Augen hinter dem Kneifer von einer einzigartigen Intelligenz sprachen. Und sie betrachtete ihn mit einem so aufmerksamen Blick, dass er kurz aus dem Konzept kam. Er kam ihm vor, als versuchte sie, die tiefsten Tiefen seines Wesens auszuloten.

Sir Charles schenkte gerade Cocktails ein.

»Ich hole Ihnen etwas zu trinken«, sagte Mr Satterthwaite, indem er aufsprang.

Miss Wills kicherte.

»Ich bin so frei«, sagte sie.

Da wurde die Tür geöffnet, und Temple kündigte Lady Mary Lytton Gore, Mr und Mrs Babbington und Miss Lytton Gore an.

Mr Satterthwaite versorgte Miss Wills mit einem Cocktail und ließ sich dann in der Nähe von Lady Mary Lytton Gore nieder. Er hatte eine Schwäche für Titel aller Art, was nicht nur an seinem Snobismus lag. Nein, er hatte ganz allgemein viel für Damen aus höheren Kreisen übrig, und eine solche Dame war Lady Mary zweifellos.

Als schlechtgestellte Witwe mit einem dreijährigen Kind hatte sie in Loomouth ein kleines Landhaus bezogen, in dem sie seither mit einem einzigen, treu ergebenen Hausmädchen wohnte. Sie war eine große, schlanke Frau, die älter als ihre fünfundfünfzig Jahre wirkte. Ihre Haltung wirkte sehr sympathisch, aber scheu. Sie vergötterte ihre Tochter, hatte aber auch ein wenig Angst um sie.

Hermione Lytton Gore, rätselhafterweise Egg genannt, war ganz anders als ihre Mutter. Sie trat viel energischer auf. Mr Satterthwaite kam zu dem Schluss, dass sie zwar nicht schön, aber sehr attraktiv war. Und der Grund für diese Attraktivität bestand in ihrer unbändigen Lebenskraft. Sie wirkte doppelt so lebendig wie jeder andere Anwesende. Sie war mittelgroß und hatte dunkle Haare und graue Augen. Irgendetwas an ihrem Haar, das sich im Nacken widerspenstig lockte, am steten Blick ihrer grauen Augen, am Schwung ihrer Wangen und an ihrem ansteckenden Lachen vermittelte den Eindruck von ungestümer Jugend und Lebensfreude.

Sie unterhielt sich im Stehen mit dem gerade eingetroffenen Oliver Manders.

»Ich weiß beim besten Willen nicht, warum du das Segeln so langweilig findest. Früher hast du es gemocht.«

»Egg, meine Liebe. Man wird erwachsen.«

Er dehnte die Wörter und hob dabei die Augenbrauen.

Ein hübscher, ungefähr fünfundzwanzigjähriger Mann, der eine Spur zu geleckt wirkte. Und er hatte etwas – nun, ja – etwas Fremdländisches. War das möglich? Er wirkte jedenfalls irgendwie unenglisch.

Es gab noch jemanden, der Oliver Manders betrachtete. Ein kleiner Mann mit eiförmigem Schädel und seltsam gezwirbeltem Schnurrbart. Mr Satterthwaite hatte sich Monsieur Hercule Poirot gerade noch einmal vorgestellt. Der kleine Mann war sehr freundlich gewesen. Mr Satterthwaite argwöhnte, dass er bewusst eine übertriebene Affektiertheit an den Tag legte. Seine kleinen, funkelnden Augen schienen zu sagen: »Erwarten Sie, dass ich den Clown spiele? Ihnen eine Komödie biete? Bien – ich werde Ihren Wunsch erfüllen!«

Aber jetzt funkelten die Augen von Hercule Poirot nicht. Er wirkte ernst und etwas betrübt.

Reverend Stephen Babbington, der anglikanische Pfarrer von Loomouth, gesellte sich zu Lady Mary und Mr Satterthwaite. Er war knapp über sechzig, hatte gütige, etwas kurzsichtige Augen und eine entwaffnend offene Art. Er sagte zu Mr Satterthwaite:

»Wir sind froh, dass Sir Charles in unserer Gemeinde lebt. Er war sehr freundlich zu uns – und sehr großzügig. Ein höchst angenehmer Nachbar. Ich bin mir sicher, dass Lady Mary mir zustimmt.«

Lady Mary lächelte.

»Ich mag ihn sehr. Der Erfolg hat ihn nicht verdorben. Er ist in vieler Hinsicht …« – ihr Lächeln wurde breiter – »… noch ein Kind.«

Während sich das Hausmädchen mit einem Tablett voller Cocktails näherte, dachte Mr Satterthwaite über die ewige Mütterlichkeit der Frauen nach – sie gefiel ihm sehr, denn er war in der viktorianischen Ära aufgewachsen.

»Nimm einen Cocktail, Mum«, sagte Egg, die mit einem Glas in der Hand vor ihnen erschien. »Nur einen.«

»Vielen Dank, Schatz«, sagte Lady Mary leise.

»Ich glaube«, sagte Mr Babbington, »dass meine Frau mir auch einen gestattet.«

Und er lachte auf eine leise, priesterliche Art.

Mr Satterthwaite sah zu Mrs Babbington, die sich mit Sir Charles ernsthaft über Gartendüngung unterhielt.

»Sie hat hübsche Augen«, dachte er.

Mrs Babbington war eine kräftige Frau, die wenig Wert auf ihr Äußeres zu legen schien. Sie wirkte energisch und kein bisschen kleinkariert. Wie Charles Cartwright gesagt hatte – eine sympathische Frau.

»Entschuldigen Sie«, sagte Lady Mary, die sich zu ihm hinbeugte, »aber wer ist die junge Frau, mit der Sie bei unserer Ankunft gesprochen haben? Die in Grün?«

»Das ist die Dramatikerin – Anthony Astor.«

»Ach, wirklich? Sie wirkt so … blutleer. Oh!« Sie legte eine Hand vor den Mund. »Wie ungezogen von mir, das zu sagen. Aber ich bin überrascht, denn sie sieht nicht aus wie … Um ganz ehrlich zu sein, sieht sie aus wie ein unfähiges Kindermädchen.«

Diese Beschreibung passte so gut auf Miss Wills, dass Mr Satterthwaite lachen musste. Mr Babbington sah sich mild und kurzsichtig im Zimmer um. Er nippte am Cocktail und schnappte dann nach Luft. Er war Cocktails offenbar nicht gewohnt, wie Mr Satterthwaite belustigt dachte – seiner Meinung nach standen sie sicher für die Verdorbenheit der Moderne, und deshalb missfielen sie ihm. Mr Babbington nippte wieder am Cocktail, entschlossen, aber mit gequälter Miene, und sagte: »Ist das die Frau dort drüben? Oh, weh …«

Er fasste sich an den Hals.

Egg Lytton Gore rief hell und klar:

»Oliver – du schlüpfriger Shylock …«

»Natürlich«, dachte Mr Satterthwaite. »Das ist es! Er ist kein Ausländer, sondern jüdischer Herkunft.«

Die zwei waren ein schönes Paar. Beide so jung und hübsch … Und sie zankten sich sogar … Das war immer ein gutes Zeichen …

Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Mr Babbington war aufgestanden und schwankte hin und her. Sein Gesicht wirkte verzerrt.

Egg war es, deren Stimme die Aufmerksamkeit der anderen weckte, obwohl Lady Mary schon auf den Beinen war und ängstlich eine Hand nach dem Pfarrer ausstreckte.

»Seht nur«, rief Egg. »Mr Babbington geht es nicht gut.«

Sir Bartholomew Strange eilte herbei, stützte den Leidenden und half ihm auf ein Sofa. Die anderen drängten auch herbei. Sie wollten helfen, konnten aber nichts tun …

Zwei Minuten später richtete Strange sich auf und schüttelte den Kopf. Da er wusste, dass es sinnlos gewesen wäre, um den heißen Brei herumzureden, sprach er ganz unverblümt.

»Es tut mir sehr leid«, sagte er. »Aber er ist tot.«

3Sir Charles macht sich Gedanken

»Würden Sie bitte kurz hereinkommen, Satterthwaite?«

Sir Charles steckte den Kopf aus der Tür.

Anderthalb Stunden waren verstrichen. Nach dem Aufruhr war Ruhe eingetreten. Lady Mary hatte die weinende Mrs Babbington aus dem Zimmer und zurück in das Pfarrhaus geführt. Miss Milray hatte ihre Effizienz erneut unter Beweis gestellt, dieses Mal am Telefon. Der örtliche Arzt war eingetroffen und hatte sich der Sache angenommen. Man hatte ein vereinfachtes Menü serviert, und danach waren die Gäste auf ihre Zimmer gegangen. Mr Satterthwaite wollte gerade seines aufsuchen, als Sir Charles aus der Tür des schiffsartigen Wohnzimmers, in dem sich der Todesfall ereignet hatte, nach ihm rief.

Mr Satterthwaite trat ein, wobei er einen leisen Schauder unterdrücken musste. In seinem Alter wurde man nicht mehr gern mit dem Tod konfrontiert … Denn er würde vielleicht auch bald … Aber warum an so etwas denken?

»Ich habe noch mindestens zwanzig Jahre vor mir«, dachte Mr Satterthwaite trotzig.

Außer Sir Charles war nur Bartholomew Strange anwesend. Beim Anblick von Mr Satterthwaite nickte er zustimmend.

»Guter Mann«, sagte er. »Satterthwaite kann uns behilflich sein. Er hat Lebenserfahrung.«

Mr Satterthwaite nahm etwas verdutzt auf einem Lehnstuhl neben dem Doktor Platz. Sir Charles lief unruhig auf und ab. Er dachte nicht mehr daran, die Faust halb zu ballen, und sah eindeutig weniger seemännisch aus.

»Charles gefällt die Sache nicht«, sagte Sir Bartholomew. »Damit meine ich den Tod des armen, alten Babbington.«

Mr Satterthwaite fand das unglücklich formuliert. Denn man konnte nicht erwarten, dass dieser Vorfall jemandem »gefiel«. Dann wurde ihm bewusst, dass Strange eine tiefere Bedeutung in seine schmucklose Formulierung hineingelegt hatte.

»Ja, es war erschütternd«, sagte Mr Satterthwaite, der seine Worte sorgfältig abwog. »Wirklich sehr erschütternd«, fügte er bei der Erinnerung schaudernd hinzu.

»Hm, ja, es war ziemlich schmerzhaft«, sagte der Nervenarzt, der kurz in seinen professionellen Tonfall verfiel.

Cartwright blieb stehen.

»Schon mal jemanden gesehen, der so gestorben ist, Tollie?«

»Nein«, sagte Sir Bartholomew nachdenklich. »Das kann ich nicht behaupten.«

»Aber«, fügte er kurz darauf hinzu, »ich habe dergleichen nicht so oft erlebt, wie ihr vielleicht glaubt. Ein Nervenarzt hat in seiner Praxis kaum Todesfälle zu beklagen. Er möchte, dass die Leute am Leben bleiben, denn er verdient sein Geld mit ihnen. MacDougal hat mit Sicherheit viel mehr Menschen sterben sehen.«

Dr. MacDougal, den Miss Milray gerufen hatte, war in Loomouth der erste Arzt vor Ort.

»MacDougal hat es nicht miterlebt. Bei seiner Ankunft war Mr Babbington schon tot. Er weiß nur, was wir ihm erzählt haben und was du ihm berichten konntest. Seiner Meinung nach war es ein Anfall. Außerdem sagte er, dass Babbington schon ziemlich alt gewesen sei und eine angeschlagene Gesundheit gehabt habe. Aber das stellt mich nicht zufrieden.«

»Das hat ihn sicher auch nicht zufriedengestellt«, brummte Sir Bartholomew. »Aber ein Arzt muss etwas sagen. Anfall ist ein gutes Wort – hat nichts zu bedeuten, beruhigt aber die medizinischen Laien. Außerdem war Babbington tatsächlich in einem reifen Alter, und er hatte seit kurzem Beschwerden. Das hat seine Frau erzählt. Vielleicht hatte er ein unentdecktes Leiden.«

»War es denn ein typischer Anfall oder wie auch immer ihr das nennt?«

»Typisch wofür?«

»Für irgendeine bekannte Krankheit.«

»Wenn du Medizin studiert hättest«, sagte Sir Bartholomew, »wüsstest du, dass es den sogenannten ›typischen Fall‹ gar nicht gibt.«

»Was wollen Sie damit andeuten, Sir Charles?«, fragte Mr Satterthwaite.

Cartwright schwieg. Er gestikulierte unbestimmt mit einer Hand. Strange lachte leise.

»Charles weiß es selbst nicht«, sagte er. »Es liegt in seiner Natur, die Sache in einem dramatischen Licht zu sehen.«

Sir Charles winkte vorwurfsvoll ab. Er wirkte abwesend – gedankenverloren. Dann schüttelte er versonnen den Kopf.

Mr Satterthwaite fühlte sich an jemanden erinnert, und dann fiel es ihm ein: Aristide Duval, Chef des Secret Service, der die perfide Verschwörung der »Unterirdischen Schlingen« aufgedeckt hatte. Augenblicke später hatte er Gewissheit, denn Sir Charles hinkte unbewusst beim Gehen. Aristide Duval war auch als »Der Hinkende« bekannt gewesen.

Sir Charles’ unausgesprochener Verdacht hing in der Luft. Sir Bartholomew trat ihm weiter mit gnadenlos gesundem Menschenverstand entgegen.

»In welche Richtung geht dein Verdacht, Charles? Mord? Selbstmord? Wer sollte ein Interesse daran haben, einen harmlosen, alten Kirchenmann umzubringen? Das ist doch Unsinn. Und Selbstmord? Nun, das läge im Bereich des Möglichen. Es könnte durchaus einen Grund dafür geben, dass Babbington sich selbst aus der Welt schaffen wollte …«

»Welchen Grund?«

Sir Bartholomew schüttelte den Kopf.

»Wer kennt schon die Geheimnisse des menschlichen Geistes? Aber es gäbe eine Möglichkeit – nehmen wir an, man hätte Babbington mitgeteilt, dass er unheilbar krank sei – vielleicht Krebs. So etwas könnte durchaus ein Motiv sein. Vielleicht wollte er seiner Frau die Qual ersparen, sein langes Dahinsiechen miterleben zu müssen. Das ist natürlich nur eine Vermutung. Nichts auf der Welt legt den Gedanken nahe, dass Babbington seinem Leben ein Ende setzen wollte.«

»Selbstmord kommt meiner Meinung nach nicht infrage«, erwiderte Sir Charles.

Bartholomew Strange lachte wieder leise.

»Richtig. Wahrscheinlichkeiten interessieren dich nicht. Dich reizt das Sensationelle – ein neues, nicht nachweisbares Gift in den Cocktails.«

Sir Charles zog ein vielsagendes Gesicht.

»Warum sollte mich das reizen? Verflucht, Tollie – hast du vergessen, dass ich diese Cocktails gemixt habe?«

»Ein kurzer Anfall mörderischen Wahnsinns, wie? Ich nehme an, dass die Symptome bei uns mit Verzögerung eintreten. Aber vor dem Morgengrauen sind wir alle tot.«

»Verdammt! Du scherzt, aber …« Sir Charles verstummte gereizt.

»Ich sage das nur halb im Scherz«, erwiderte der Arzt.

Seine Stimme hatte sich verändert. Er klang ernst, aber wohlwollend.

»Ich mache mich nicht über Babbingtons Tod lustig. Ich veralbere deine Vermutungen nur, weil … tja … weil ich nicht möchte, dass du aus Versehen Schaden anrichtest, Charles.«

»Schaden?«, fragte Sir Charles.

»Verstehen Sie vielleicht, worauf ich hinauswill, Mr Satterthwaite?«

»Ja, ich denke, ich habe eine Ahnung«, antwortete Mr Satterthwaite.

»Begreifst du nicht, Charles«, fuhr Sir Bartholomew fort, »dass dein vager Verdacht zwangsläufig Schaden anrichten würde? So etwas spricht sich herum. Wenn du aus der Luft gegriffen und vollkommen unbegründet behauptest, hier sei etwas faul, dann könnte das schmerzhafte und belastende Folgen für Mrs Babbington haben. Ich habe derartige Dinge ein- oder zweimal miterlebt. Ein plötzlicher Tod – ein paar gedankenlose Plappermäuler – Gerüchte, die sich verbreiten wie ein Lauffeuer – Gerüchte, die sich von selbst vermehren – das kann niemand aufhalten. Verflucht, Charles, siehst du nicht ein, wie grausam und überflüssig das wäre? Du lässt deiner Phantasie die Zügel schießen, und sie prescht über ein Feld, auf dem die Spekulationen ins Kraut schießen.«

Der Schauspieler wirkte verunsichert.

»Das hatte ich nicht bedacht«, gab er zu.

»Du bist ein guter Kerl, Charles, und du hast Temperament, aber deine Phantasie geht zu oft mit dir durch. Überleg mal: Glaubst du wirklich, dass jemand, irgendjemand, diesen harmlosen alten Mann hätte ermorden wollen?«

»Wohl kaum«, erwiderte Sir Charles. »Nein, du hast recht – es ist ein absurder Gedanke. Entschuldige, Tollie. Aber es war nicht nur vage Spekulation. Ich hatte wirklich den Eindruck, dass etwas nicht stimmt.«

Mr Satterthwaite hustete verhalten.

»Darf ich etwas dazu sagen? Mr Babbington schien sich bald nach dem Betreten des Zimmers unwohl gefühlt zu haben. Mir ist aufgefallen, dass er beim Trinken des Cocktails etwas gequält aussah. Ich dachte, dass ihm der Geschmack fremd war. Aber nehmen wir an, dass Sir Bartholomews vorsichtig formulierte Theorie zutrifft – dass Mr Babbington aus irgendeinem Grund mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt habe. Im Gegensatz zu dem einigermaßen absurden Mordverdacht leuchtet mir das durchaus ein. Meinem Gefühl nach wäre es möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass Mr Babbington heimlich etwas in sein Glas getan hat. Wie ich sehe, hat man in diesem Zimmer nichts angerührt. Die Cocktailgläser stehen immer noch an ihrem Platz. Aus diesem hier hat Mr Babbington getrunken. Das weiß ich, weil ich neben ihm gesessen und mich mit ihm unterhalten habe. Ich schlage vor, dass Mr Bartholomew dieses Glas untersuchen lässt – das kann im stillen geschehen, damit es kein ›Gerede‹ gibt.«

Sir Bartholomew stand auf und nahm das Glas zur Hand.

»Gut«, sagte er. »Ich werde dir so weit entgegenkommen, Charles, aber ich wette um zehn Pfund, dass dieses Glas nichts weiter als grundehrlichen Gin und Wermut enthält.«

»Einverstanden«, sagte Sir Charles.

Dann fügte er mit reumütigem Lächeln hinzu:

»Ist dir eigentlich klar, Tollie, dass du zum Teil für meine zügellose Phantasie verantwortlich bist?«

»Ich?«