Tränengrab - Roman Klementovic - E-Book + Hörbuch

Tränengrab Hörbuch

Roman Klementovic

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Beschreibung

Um auf andere Gedanken zu kommen, verbringt die frisch verwitwete Evelyn ein paar Tage bei der Familie ihrer Tochter. Doch deren sonst so verschlafene Heimatstadt ist im Ausnahmezustand. Die 16-jährige Nachbarstochter ist unter mysteriösen Umständen verschwunden, ein Verbrechen wird befürchtet. Und tatsächlich wird schon bald eine bestialisch zugerichtete Leiche gefunden. Die Bewohner stehen unter Schock, die Polizei ermittelt fieberhaft. Es ist jedoch Evelyn, die eine erschreckende Entdeckung macht ...

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Zeit:8 Std. 52 min

Sprecher:Heidi Jürgens
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Roman Klementovic

Tränengrab

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Fotoline / photocase.de

ISBN 978-3-7349-3056-0

Widmung

Für Emilia

Zitat

Wieviel mehr?

Wieviel mehr noch?

Schon von Beginn an war es mehr als zu viel.

Aus »Leidspanne« von Aclys

Prolog

Freitag, 5. Mai, 19:52 Uhr

Langsam, aber sicher bekam Svenja es mit der Angst zu tun. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Die feinen Härchen in ihrem Nacken regten sich. Ihr Puls zog an. Irgendetwas stimmte nicht. Auch wenn sie sich das Gegenteil einzureden versuchte.

Dabei war ihr völlig klar, wie lächerlich ihre Furcht war – einsetzende Dunkelheit hin oder her. Wie oft war sie diese Abkürzung in ihrem knapp 16-jährigen Leben schon gegangen? Hunderte Male sicher, fast täglich jedenfalls, zumindest in den letzten Jahren. Auch spät nachts und bloß mit ihrer Handy-Taschenlampe ausgestattet. Das hier war ihr Schulweg. Die schnellste Möglichkeit, um in die Stadt zu kommen. Oder so wie jetzt: wieder nach Hause. Wäre der Weg nicht sicher, hätten ihre Eltern ihr doch verboten, hier durchzulaufen. Außerdem waren es doch bloß an die 500 Meter diesen unbefestigten Forstweg entlang durch den Waldausläufer. Würde sie die Strecke durchlaufen, bräuchte sie keine drei Minuten dafür. Und dennoch kam sie ihr heute endlos vor.

Svenja hatte gerade die Stelle erreicht, an der man den weiteren Weg nur noch wenige Meter weit einsehen konnte, weil er leicht nach rechts abbog. Das hieß, sie hatte noch ziemlich genau die Hälfte vor sich. Dann würde sie endlich aus dem Wald raus sein. Sie würde dort den Weg verlassen und das angrenzende Weizenfeld den von ihr bereits abgetretenen Pfad entlang zur Rechten durchqueren. Und so auf dem schnellsten Weg zurück zur Straße gelangen. Von dort aus würde sie in weniger als fünf Minuten zu Hause sein. In Sicherheit.

Also komm schon, mach dich nicht verrückt! Alles ist gut!, versuchte sie, sich Mut zuzusprechen. Aber aus irgendeinem Grund wollte sie sich selbst nicht glauben. Sie konnte nicht sagen, was es war, das sie störte. Doch sie fühlte es in ihrem tiefsten Inneren: Irgendetwas stimmte hier nicht.

Ihr wurde erst jetzt klar, dass sie stehen geblieben war. Sie kam sich deshalb blöd vor. Wollte weitergehen. Wäre am liebsten sogar losgelaufen – denn das war doch ihre größte Stärke: das Laufen. Sie hatte es erst letzte Woche in der Schule bewiesen, als sie den ersten Platz bei dem Wettbewerb im Rahmen des Frühlingsfests belegt hatte. Sie war mit Abstand die Schnellste gewesen. Nicht nur in ihrer Altersgruppe – nein, auch unter den älteren Mädchen hatte es niemanden gegeben, der an ihre Zeit herangekommen war. Sie würde auch jetzt jedem davonlaufen können, trotz ihrer weichen Knie. Sie musste sich bloß endlich in Bewegung setzen.

Doch sie wagte es nicht.

Stattdessen hielt sie jetzt auch noch den Atem an. Starrte ins Leere. Und lauschte ihrer Umgebung.

Da war ein leichter Wind, der durch die Äste und Zweige strich und die Tausenden und Abertausenden Blätter um sie herum sanft zum Rascheln brachte. Da war kaum wahrnehmbares Vogelgezwitscher und das leise Brummen eines Flugzeugs in weiter Ferne. Aber sonst nichts. Kein Tier, das durch das Unterholz brach. Kein Knarren von Ästen oder Baumstämmen. Und vor allem: auch kein Knirschen von Kies auf dem nicht einsehbaren Weg vor ihr.

Da hast du’s! Hier ist niemand, du bist bloß paranoid!, sagte sie sich in Gedanken und holte Luft.

Aber ihre Zweifel wollten einfach nicht verschwinden. Ganz im Gegenteil: Ihr Herz schlug immer schneller. Ihr wurde ganz heiß. Und das flaue Gefühl in ihrem Magen war auf dem besten Weg, zu einem Krampf zu werden.

Sie ließ ihren Blick durch die angrenzenden Baumreihen streifen. Erst durch die zu ihrer Rechten, dann auf der linken Seite. Doch das Licht war schon zu düster. Sie konnte kaum etwas erkennen. Also kniff sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sie suchte nach einem Schatten, der da nicht hingehörte. Nach einem Farbklecks. Einer Bewegung. Nach irgendetwas. Aber so hatte das keinen Sinn. Sie holte ihr Handy aus der Tasche, aktivierte die Taschenlampenapp und leuchtete damit ihre Umgebung aus. Doch auch jetzt konnte sie nichts Auffälliges entdecken. Und vor allem niemanden!

Natürlich! Wer sollte da auch sein, du Memme?

Jetzt mach schon, und geh endlich weiter!

Doch Svenja schaffte es nicht.

Warum konnte sie nicht akzeptieren, dass alles in Ordnung war? Und sie gerade dabei war, sich lächerlich zu machen?

Svenja wollte es nicht wahrhaben und sich ihre Angst nicht eingestehen. Doch insgeheim glaubte sie, die Antwort darauf zu kennen. Der Spanner, der seit einigen Tagen das große Gesprächsthema in der Schule war. Er machte ihr offenbar mehr zu schaffen, als ihr lieb war.

Diese Maria aus der Achten hatte den Perversen am Badfenster entdeckt, als sie gerade unter der Dusche gewesen war. Angeblich hatte sie so laut geschrien, dass ihr Vater sofort ins Badezimmer und dann, als er erfuhr, was los war, gleich nach draußen vors Haus gestürmt war. Doch er hatte niemanden in der Dunkelheit hören oder sehen können. Der Spanner war längst über alle Berge verschwunden gewesen.

Svenja fröstelte es. Nicht auszudenken, wenn ihr so etwas passieren würde. Sie bekäme wohl den Schock ihres Lebens.

Andererseits: Was hatte sie schon mit dieser Maria gemein? Die war bildhübsch, selbstbewusst und bei allen beliebt. Außerdem zwei Jahre älter und somit viel reifer als sie. Sie hatte große Brüste, wahrscheinlich die größten an der ganzen Schule, und auch sonst einen super Körper. Sie trug ständig neue teure Klamotten und kleidete sich sexy. Die Jungs scharten sich um sie. Nicht erst einmal hatte Svenja sie vor oder nach der Schule mit einem von ihnen herumknutschen gesehen. Laufend hatte sie einen neuen Freund.

Svenja hingegen hatte noch nie einen Jungen geküsst – so sehr sie sich das auch wünschte. Sie war eine ausgezeichnete Läuferin und Sportlerin, ja. Außerdem hatte sie stets die besten Noten – kaum einmal, dass sie nicht eine Eins schrieb. Aber sie war immer schon eine Außenseiterin gewesen. Freunde hatte sie kaum. Teure Kleider besaß sie nicht. Ihr Vater würde ihr ohnehin niemals erlauben, sich so sexy wie Maria zu kleiden. Und selbst wenn: Sie hatte keine Brüste, die sie hätte betonen können. Als »Bienenstiche« hatten die Jungs und sogar einige der Mädchen in ihrer Klasse sie bezeichnet, als sie es mal gewagt hatte, ein enges Top anzuziehen. Und »Ameisenhügel«. Sogar Lena, ihre Cousine, hatte mitgemacht. Das hatte sie am schwersten getroffen. Damals wäre sie am liebsten im Erdboden versunken. Das Top hatte sie gleich, als sie daheim gewesen war, in den Mülleimer geworfen.

Gemeinsamkeiten mit Maria hatte sie also kaum.

So schmerzhaft diese Tatsache für sie im Normalfall auch war, so beruhigend war sie in den letzten Tagen für sie gewesen. Dieser Stalker oder Spanner oder was auch immer er war, würde ganz bestimmt nichts von ihr wollen. Da gab es viele weit hübschere und beliebtere Mädchen in der Gegend.

So hatte Svenja bisher gedacht. Doch jetzt, alleine bei fortschreitender Dunkelheit in diesem Waldstück, fühlte sich die Gefahr auf einmal ganz real an. Sie war sich fast schon sicher, einen fremden Blick auf ihrer Haut zu spüren.

Oder konnte er sie noch gar nicht sehen? Sondern nur hören? Weil er nach der Biegung lauerte? Wusste er, dass sie hier vorbeikommen würde? Weil er sie schon längere Zeit beobachtet hatte und ihre Routinen kannte? Und wartete er in seinem Versteck darauf, sie endlich anspringen zu können?

Sollte sie also besser kehrtmachen? Aus dem Wald laufen? Und den Umweg in Kauf nehmen? Aber was, wenn er gar nicht vor ihr wartete? Was, wenn er ihr gefolgt war und irgendwo hinter ihr lauerte? Dann würde sie ihm doch direkt in die Arme laufen.

Drehte sie gerade durch?

Sie wusste nicht weiter. Wandte sich um. Blickte den scheinbar menschenleeren Weg zurück. Kaute an ihrer Unterlippe. Und versuchte mit aller Macht, ihre Angst als lächerlich abzutun. Dabei konnte sie fast schon fühlen, wie sie ihr in jeden einzelnen Knochen kroch und sich darin breitmachte.

Bienenstiche! Du hast Bienenstiche! Er interessiert sich nicht für dich!

Sekunden verstrichen.

Da kam ihr ein Gedanke. Vielleicht sollte sie ja …

Knack.

Hinter ihr.

Svenja schrie auf vor Schreck. Und wirbelte herum. Weil sie sich sicher war, dass da jemand hinter ihr stand. Sie riss die Arme zur Verteidigung hoch. Aber als sie die Drehung vollendet hatte, war da niemand. Ungläubig und mit erhobenen Armen hetzte ihr Blick hin und her. Sie versuchte herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war. Doch auch im Wald war nichts zu entdecken.

Ihr Herz hämmerte jetzt hart gegen die Innenseite ihres Brustkorbs. Ihre Gedanken rasten.

Wie konnte das sein? War es etwa ein Tier gewesen, das auf einen Zweig auf dem Boden getreten war und ihn zum Brechen gebracht hatte? Wenn ja, wo war es so schnell und ohne ein weiteres Geräusch hin? Hatte es sie womöglich entdeckt und war jetzt vor Schreck erstarrt? So wie sie selbst gerade?

Nein, ihre Angst sagte Svenja, dass es kein Tier gewesen war.

Sie zögerte noch einen Augenblick lang.

Dann rief sie: »Hallo?« Zumindest wollte sie das. Tatsächlich aber hatte sie kaum mehr als ein ängstliches Flüstern über die Lippen gebracht.

Sie horchte konzentriert.

Doch nichts als Stille schrie ihr entgegen. Das Flugzeug war längst verschwunden und selbst die Blätter regten sich nicht mehr. Nur in ihrem Kopf trommelte es wild.

MAMA!, hätte sie am liebsten aus voller Kehle gerufen. MAMA, bitte hilf mir! Die Furcht machte sie wieder zu einem Kind. Sie sehnte sich in die Zeit zurück, in der ein einfachesMAMA! genügt hatte, um alle Probleme zu lösen. Doch diese Zeit war längst vorbei. Und sie war hier alleine.

»Ist …« Sie räusperte sich. Aber ihre Stimme war kaum lauter als zuvor: »Ist da jemand?«

Niemand antwortete.

Sie schluckte. Wartete noch einen Moment.

Dann setzte sie an: »Ha…?«

Ein Angstschrei entfuhr ihr. Weil da ein Stein auf dem Kies direkt hinter ihr aufgeschlagen war.

Sie wirbelte herum. Riss wieder die Arme hoch. Spannte den Nacken an. War auf einen Angriff gefasst.

Doch wieder war da niemand.

Verflucht, was soll das?

Dabei ahnte sie es. Trotz der eiskalten Panik, die sie gepackt hatte und in wellenartigen Stößen beutelte. Jemand musste einen Stein geworfen haben. Ganz klar. Nur warum? Um sie abzulenken? Oder gar, um sie zu treffen? Sollte das ein schlechter Scherz sein?

Egal, lauf endlich! Lauf!

Svenja wollte gerade los. Einfach den Weg zurück. Da spürte sie einen schmerzhaften Schlag am rechten Oberschenkel. Sie zuckte zurück. Ihr wurde klar: Noch ein Stein, sicher faustgroß, war in ihre Richtung geflogen und hatte sie mit voller Wucht getroffen. Und kaum, dass sie das begriffen hatte, spürte sie einen Luftzug an ihrem Gesicht. Ein weiterer Stein hatte sie nur ganz knapp verfehlt. Gleich darauf knallte der nächste unmittelbar neben ihr auf dem Kiesweg auf. Und noch einer. Sie wurde regelrecht bombardiert. Nur konnte sie im Halbdunkel und in ihrer Angst nicht erkennen, aus welcher Richtung.

Weg hier!

Da traf sie ein Stein an der Stirn und eine Schmerzexplosion raubte ihr den Atem. Augenblicklich spürte sie das warme Blut übers Gesicht laufen. Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie stolperte vor und zurück, dann zur Seite. Sie konnte nichts mehr sehen. Hatte völlig die Orientierung verloren. Ihr schmerzendes Bein sackte ihr weg. Sie hatte alle Mühe, nicht zu Boden zu gehen.

Knack.

Direkt hinter ihr.

Sie fuhr herum.

Scheiße!

Plötzlich ging alles ganz schnell. Es waren bloß Sekundenbruchteile, in denen sie ihren Körper noch nicht ganz herumgerissen hatte. In denen sie verschwommen die dunkle Gestalt unmittelbar hinter sich erblickte. Und in denen sie etwas auf sich zurasen sah. Direkt auf ihr Gesicht zu. Sie schrie auf. Wollte zurückweichen. Sich ducken und gleichzeitig die Arme zur Verteidigung hochreißen. Doch sie war zu langsam. Schon im nächsten Augenblick traf sie der Schlag. Mit einer solchen Wucht, dass ihr Schrei erstickte. Eine weitere gewaltige Schmerzgranate in ihrem Kopf explodierte. Und es ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Im Fallen suchte sie vergeblich nach Halt. Aber ihre Hände griffen ins Leere. Sie verlor an Körperspannung. Kippte nach hinten.

Lichtblitze zuckten vor ihren Augen auf.

Und die bittere Erkenntnis traf sie: Sie hatte es geahnt. So lange schon. Sie hätte etwas sagen müssen. Jetzt war es zu spät.

Ihr Kopf schlug hart auf dem Boden auf. Der Schmerz raubte ihr den Atem. Die Gestalt stürzte sich auf sie. Fiel über sie her. Drückte ihr eine Hand aufs Gesicht und würgte sie mit der zweiten. Immer fester.

»Bereit zu sterben?«

Sie wollte sich wehren. Alleine schon ihren Eltern zuliebe. Ihnen würde das Herz brechen. Doch sie schaffte es nicht, sie war ohne jede Kraft. Alles wurde dumpf. Dunkel. Kalt. Ihr Bewusstsein schwand. Sie bekam nur noch das Lachen mit. Und verschwommen die Messerklinge direkt vor ihren Augen.

Mama!

Dann spürte Svenja, wie etwas in ihrem Hals brach.

Und kurz darauf wurde es schwarz um sie herum.

Für immer.

Sechs Wochen später

»Scheiße, du wachst jetzt aber nicht wirklich noch einmal auf …«, drang die vertraute Stimme zu ihr durch, dumpf und von irgendwo weit entfernt.

Da hatte Evelyn noch nicht begriffen, wo sie war. Warum sich die Dunkelheit um sie herum drehte. Und was gerade passierte. Weil die Benommenheit noch an ihr klebte. Und ihr ein heftiges Dröhnen durch den Schädel jagte.

Was zum …?

Sie hörte sich selbst stöhnen.

»Du kannst wirklich keine Ruhe geben, was? Ich habe es schon befürchtet.«

Evelyn wurde langsam klarer im Kopf.

Sie schmeckte Blut. Wollte es ausspucken. Brachte aber ihre Lippen nicht auseinander. Vor Schreck riss sie die Augen auf und bekam dabei irgendetwas hinein, das an ihren Augäpfeln kratzte und brannte. Sie versuchte, es wegzublinzeln, doch das machte alles nur noch schlimmer. Gleichzeitig wollte sie danach greifen, bekam aber ihre Arme nicht frei, weil die sich hinter ihrem Rücken, unter ihr, in etwas verheddert zu haben schienen. Sie zerrte daran, doch vergeblich. Sie wollte …

Da schoss ihr die Erinnerung ein.

Und ihre Benommenheit war wie weggeblasen.

Panik ergriff sie. Und schnürte ihr die Kehle zu.

Nein! Nein! Nein! Bitte nicht!

Sie riss noch fester an ihren Fesseln, doch die gaben keinen Millimeter nach. Sie versuchte, sich zu winden, aber jetzt wurde ihr auch noch bewusst, dass sie auf dem Rücken lag und eine schwere Last auf sie drückte. Der Druck war zu groß, sie konnte sich kaum bewegen. Ihr ganzer Körper schmerzte. Ihre Augen brannten wie die Hölle. Ihr Schädel drohte, jeden Moment zu platzen. Sie würgte das Blut hinunter. Musste sich dabei fast übergeben. Sie wollte um Hilfe schreien, bekam aber nur unverständliche Laute zwischen ihre zugeklebten Lippen hindurchgepresst.

Ein grässliches Lachen erklang.

Evelyn erstarrte.

»Eigentlich umso schöner, dass du alles ganz bewusst mitbekommst.«

Erneutes Lachen.

Evelyn verstand immer noch nicht, wo sie war und was gerade passierte. Ihr war nur klar, dass die Stimme von irgendwo über ihr kam.

Was soll das, verflucht?, wollte sie schreien. Wie konntest du nur?Und noch so viel mehr. Doch das war ihr nicht möglich.

Ihr Herz raste. Ihre Atmung geriet immer mehr außer Kontrolle. Wegen ihrer Angst, aber vor allem auch, weil sie nur noch schwer Luft durch ihre verstopfte Nase bekam. Das Brennen ihrer Augen war kaum noch zu ertragen. Sie versuchte, noch mehr Kräfte zu mobilisieren. Sich irgendwie zu befreien. Oder zumindest auf sich aufmerksam zu machen.

»Also ich möchte dir ja wirklich nicht den Spaß verderben. Aber ich glaube nicht, dass das irgendetwas bringt.«

Das wirst du schon sehen!

Evelyn wollte das nicht akzeptieren. Sie schluckte abermals ihr Blut hinunter. Würgte den Mageninhalt, der ihr daraufhin nach oben drängte, zurück. Und brüllte aus voller Kehle durch den Klebestreifen hindurch. Sie würde nicht aufgeben. Auf keinen Fall.

Doch plötzlich hielt sie erneut inne.

Und horchte auf.

Weil da neben ihrem schweren Schnaufen und dem wilden Rauschen hinter ihren Ohren noch etwas zu hören war. Ein Scharren, irgendwo über ihr. Ein Schleifen. Gefolgt von einem angestrengten Stöhnen. Und einer Art Knirschen.

Ihre Gedanken überschlugen sich.

»Weißt du, was ich nicht verstehe?«

Was ging hier vor?

»Warum konntest du es nicht einfach sein lassen?«

Weil niemand mehr sterben soll!, hätte sie gerne gebrüllt. Aber das ging nicht. Und hätte auch nichts mehr geändert.

»Du hättest heimfahren und nie mehr zurückkommen sollen. Im Grunde bist du selber schuld.«

Du geistesgestörtes Monster!

Da hörte sie ein erneutes Stöhnen und im nächsten Moment prasselte etwas auf sie herab. Hart. Erbarmungslos.

Erde und Schutt, begriff sie.

Und da traf sie noch etwas: die Erkenntnis.

Sie lag in einem Erdloch. Und wurde gerade bei lebendigem Leib begraben. Niemand wusste, dass sie hier war. Kein Mensch würde je auf den Gedanken kommen, hier nach ihr zu suchen.

Die Wucht dieser Einsicht lähmte sie.

»Bereit zu sterben?«

Eine weitere Ladung Erde regnete auf sie herab.

Und noch eine.

Sie war verloren.

Vier Abende zuvor Freitag

Kapitel 1

17:52 Uhr

Evelyn riss die Augen auf. Schnappte nach Luft.

Was …?

Sie brauchte eine Sekunde, vielleicht zwei.

Dann war ihr wieder klar, wo sie war. Dass nichts mehr von Bedeutung war. Dass der Zug abbremste. Und scheinbar gleich an einem Bahnhof haltmachen würde.

Das Metall der Bremsen kreischte. Ihr Oberkörper wurde sanft in den Sitz gedrückt.

Sie gähnte, rieb sich die Augen. Merkte, dass sie klebrig und feucht waren. Und ahnte, dass sie wohl wieder einmal im Schlaf geweint hatte. Beschämt sah sie sich um. Aber die Plätze in ihrer unmittelbaren Umgebung waren leer. Niemand, der es mitbekommen haben konnte.

Aus Gewohnheit schob sie den Ärmel ihrer Bluse zurück, um einen Blick auf ihre Uhr zu werfen. Doch sie tat dies so geistesabwesend, dass sie die Zeit gar nicht wahrnahm. Weil die Uhr ein Geschenk von Hans gewesen war. Zu ihrem 45. Hochzeitstag. Genau drei Tage vor der Diagnose. Drei Tage bevor ihr Leben, so wie sie es bis dahin gekannt und geliebt hatte, nicht mehr existierte.

»Es tut mir leid …«, hatte der blutjunge Arzt damals gemurmelt und sich seine geröteten Wangen gekratzt, als sie ihn im Krankenhausflur abgefangen und zur Rede gestellt hatte, »… aber ich fürchte, dass wir nichts mehr für Ihren Mann tun können, außer seine Schmerzen zu lindern.« Er hatte ihr dabei nicht einmal ins Gesicht sehen können.

Ein eiskaltes Zittern war in diesem Moment dem Innersten ihres Herzens entsprungen und hatte sie am ganzen Körper erfasst. Sie hatte fühlen können, wie ihre Augen schmolzen. Wie ihr Mund nach innen sank. Und sich vollkommene Verzweiflung in ihrem Gesicht ausbreitete. Alle Gedanken, die sie bis dahin noch für wichtig gehalten hatte, waren wie ausgelöscht.

»Was?«, hatte sie gerade so herausgebracht und sich an die Kehle gegriffen. Weil in diesem Moment auch der Kloß in ihrem Hals entstanden war. Jener Kloß, der seitdem nicht mehr verschwunden war und der auch jetzt wieder, bei der Erinnerung an damals, so heftig anschwoll, dass ihr das Atmen schwerfiel.

Der Arzt hatte noch etwas gestammelt, das ihren Verstand nicht mehr erreicht hatte. Dann hatte er ihre Fassungslosigkeit ausgenutzt, ihr an die Schulter gegriffen, und sich mit den Worten »Ich muss jetzt leider dringend weiter. Aber bitte melden Sie sich gerne, wenn Sie Fragen haben sollten!« aus dem Staub gemacht.

Evelyn war alleine in dem viel zu grell erleuchteten Flur zurückgeblieben. Und hatte sich die Hand so fest sie nur konnte auf den Mund gepresst, weil niemand hören sollte, dass sie aus ihrem tiefsten Inneren schluchzte.

Die Uhr tat ihr nicht gut.

Sie fühlte sich zentnerschwer an ihrem Handgelenk an. Ihr Anblick brachte jedes Mal aufs Neue den Schmerz zurück. Die Verzweiflung und das Gefühl der Ohnmacht. Weil sie jeden Tag und jede Nacht alles gegeben hatte. Sich aufgeopfert hatte. Bis zur völligen Erschöpfung und darüber hinaus.

Höchstens ein halbes Jahr hatten die Ärzte Hans noch gegeben. Sein Kämpferherz hatte ihm noch eineinhalb beschert. Doch schließlich hatte er den Kampf gegen die verfluchten Metastasen verloren.

Vor 21 Tagen.

Seitdem war nichts mehr von Bedeutung. Schon gar nicht die Zeit.

Evelyn wusste, dass sie die Uhr besser verkaufen sollte. Oder zumindest wegsperren. Am besten irgendwo im Keller, wo sie nicht täglich daran würde vorbeilaufen müssen. Gleichzeitig war ihr klar, dass sie das wohl nie übers Herz bringen würde. In besonders dunklen Momenten fühlte es sich an, als wäre die Uhr alles, was sie noch von Hans hatte.

Der Zug bremste weiter ab.

Evelyn entkam ein tiefer Seufzer.

Sie rieb sich noch einmal die Augen, fester als zuvor, in der Hoffnung, so den Nebel in ihrem Kopf loszuwerden. Doch es half kaum. Das monotone Rattern der Gleise hatte sie offenbar in einen tiefen Schlaf fallen lassen. Wäre sie zu Hause in ihrem Bett, dann hätte sie sich wohl umgedreht und einfach weitergeschlafen. Aber das war sie eben nicht.

Sie streckte ihren Kopf in den Mittelgang hinaus und sah den Waggon nach beiden Seiten entlang. Der dürre Kerl mit Glatze und Vollbart, der ihr zuvor schräg gegenübergesessen und in seiner Tageszeitung gelesen hatte, war nicht mehr da. Nur sein Schweißgeruch hing noch schwach in der Luft. Auch die beiden Teenager-Mädchen, die zwar zusammen eingestiegen waren und gegenüber voneinander Platz genommen, jedoch kein Wort miteinander gesprochen und nicht ein einziges Mal von ihren Smartphones aufgeschaut hatten, waren verschwunden. Selbst das Kleinkind schrie nicht mehr. Und auch sonst war von Evelyns Position aus niemand mehr zu sehen oder zu hören. Sie musste also mindestens eine Station verschlafen haben.

Sie streckte sich, bis einige Knochen knackten. Musste wieder gähnen.

Mein Gott, sie bekam sich ja gar nicht ein!

Sie schüttelte sich, schaute aus dem Fenster.

Es war nicht das erste Mal, dass sie die Strecke fuhr. Die Gegend war ihr nicht unbekannt, jedoch nicht so vertraut, als dass sie hätte einschätzen können, wo sich der Zug gerade befand. Und ob sie ein oder vielleicht sogar zwei oder mehr Stationen verschlafen hatte. Schon gar nicht jetzt, da der Tag bereits im Begriff war, sich zu verflüchtigen und der drängenden Abenddämmerung Platz zu machen. Hinter der Spiegelung der Innenbeleuchtung des Waggons waren erste zarte Rosa- und Orangetöne am Himmel zu erahnen. Die Schatten wurden länger, Kontraste verblassten.

Der Zug hatte nun die Ausläufer eines größeren Bahnhofs erreicht. Spärlich gesäte Lichtmasten beleuchteten Nebengleise, die sich in immer weitere aufteilten. Die meisten Schienenstränge waren von ausgedörrtem Unkraut, das zum Teil zu kniehohen Büschen herangewachsen war, durchsetzt. Ein paar mit Graffitis beschmierte Waggons rosteten vor sich hin.

Ein schlechtes Gefühl regte sich in Evelyn, schaffte es jedoch nicht aus ihrem Unterbewusstsein heraus.

Sie hatte nicht sonderlich viel Lust auf den Aufenthalt bei der Familie ihrer Tochter. Sie hätte lieber alleine getrauert. Einmal den ganzen Tag über einfach nur auf der Couch gehockt und sich vom Fernseher berieseln lassen. Und endlich etwas gegen ihr Rheuma unternommen. Die Schmerzen in ihren Schultern und den Knien waren die schlimmsten. Aber auch ihre Hüften und das Kreuz machten ihr zunehmend zu schaffen. Die dringend notwendige Kur hatte sie Hans zuliebe schon viel zu lange aufgeschoben. Aber Manuela hatte sie gedrängt und nicht lockergelassen. Sie wollte, dass Evelyn zumindest ein paar Tage bei ihnen verbrachte. Weil sie glaubte, ihrer Mutter damit etwas Gutes zu tun.

Manuela war in den letzten eineinhalb Jahren oft bei ihnen gewesen, um Evelyn bei der Pflege von Hans zu unterstützen. Meist gleich zwei Wochen am Stück. Ohne Manuela hätte Evelyn es wohl nicht geschafft – weder körperlich noch emotional. Dabei war es auch für die Tochter eine furchtbare Zeit gewesen. Sie hatte ihren Vater verloren – schleichend und trotz all der Mühen. Jetzt verspürte Manuela vermutlich den Drang, zumindest für ihre Mutter da sein zu müssen. Deshalb hatte Evelyn auch nachgegeben. Seitdem versuchte sie, sich vergeblich einzureden, dass die paar Tage ihr guttun würden. Immerhin auf das Wiedersehen mit ihrer Enkelin Anja freute sie sich von Herzen.

Die Abstände der Lichtmasten wurden nun enger. Erste Ausläufer des Bahnhofsgebäudes tauchten auf. Dahinter ein von ausgedörrten Bäumen und Sträuchern umgebener Parkplatz, auf dem kaum Fahrzeuge abgestellt waren. Ein Schwarm schwarzer Vögel zog darüber seine Schleifen. In der Ferne waren die Dächer einer angrenzenden Siedlung auszumachen. Ansonsten konnte Evelyn wegen der tief stehenden Sonne kaum etwas erkennen.

Der Zug fuhr in einen überdachten Bahnsteig ein.

Ein weiterer flüchtiger Blick auf die Uhr.

Ein weiteres Anschwellen des Kloßes.

Evelyn kam der Gedanke, nach ihrem Mobiltelefon zu sehen.

Vielleicht hatte Manuela oder Hendrik sie ja zu erreichen versucht. Die beiden hatten versprochen, sie vom Bahnhof abzuholen, hatten aber nicht einschätzen können, ob sie gemeinsam kommen würden oder ob Manuela wieder einmal würde länger arbeiten müssen. In den letzten Monaten hatte sie oft in der Arbeit gefehlt. Manchmal auch sehr kurzfristig. Ihr Arbeitgeber hatte lange Verständnis für ihre schwierige Situation geheuchelt, ihr schließlich aber trotzdem gekündigt. Manuela hatte sich daraufhin trotz der Sorgen um ihren Vater auch noch auf Jobsuche begeben müssen. Und aus der Not heraus eine deutlich schlechter bezahlte Stelle in einem weiter entfernten Unternehmen annehmen müssen. Doch damit nicht genug. Ihr neuer Chef war ein Workaholic, der von seinen Angestellten das gleiche Engagement erwartete – miese Bezahlung hin oder her. Und ein Choleriker, der immer wieder wegen Belanglosigkeiten die Beherrschung verlor und dabei Grenzen überschritt.

Jetzt, da Evelyn daran dachte, beschlich sie wieder einmal ein schlechtes Gewissen. Auch wenn sie ganz genau wusste, dass sie nichts für Hans’ Krankheit konnte. Dennoch nahm sie sich vor, Manuela ins Gewissen zu reden. Sie durfte sich so etwas nicht gefallen lassen. Von niemandem. Manuela musste dort weg – und das rasch. Evelyn würde ihr den Haushalt so weit wie möglich abnehmen, damit sie sich nach einem neuen Job umsehen konnte. Vielleicht waren die Aussichten ja gar nicht so schlecht, wie Manuela das glaubte.

Der Zug fuhr jetzt kaum noch schneller als Schrittgeschwindigkeit.

Mit einem erneuten Gähnen, so herzhaft, dass es ihre Augen zum Tränen brachte, zog Evelyn ihre Handtasche auf den Schoß, öffnete den Reißverschluss, kramte darin und holte das Telefon hervor.

Vor dem Fenster zog wie in Zeitlupe der Bahnsteig vorüber. Eine vollgekritzelte Holzbank. Ein verbeulter Snackautomat. Und ein Fahrplanaushang, über dem eine defekte Leuchtstoffröhre zuckte. An einer rostigen Metallsäule hing ein überquellender Mülleimer. Darüber klebte ein weißer Zettel, auf dem fett VERMISST stand und der das schwarz-weiße Bild eines Teenager-Mädchens zeigte. Unter dem Foto stand etwas geschrieben, das Evelyn aus der Entfernung ohne ihre Brille nicht lesen konnte. Sie kniff die Augen zusammen, aber im nächsten Augenblick war die Säule aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Der Zug war jetzt fast zum Stehen gekommen.

Evelyn drückte ihr Gesicht ans Fenster, um den Bahnsteig besser einsehen zu können. Da war bloß ein junger Kerl mit dunklen Haaren, schwarzer Sonnenbrille und tätowierten Unterarmen. Er hatte sich gerade umgedreht, und Evelyn konnte ihn nur von hinten sehen. Er wirkte, als würde er nach jemandem Ausschau halten.

Der Zug kam zum Stehen.

Ihr mieses Gefühl schwoll an.

Erst jetzt aktivierte Evelyn das Display ihres Handys.

Da stach ihr sofort die Uhrzeit ins Auge. Und mit einem Schlag war sie hellwach.

Um Himmels willen!

Sie hatte nicht bloß eine oder zwei Stationen verschlafen, sondern fast zwei Stunden. Sie würde jeden Moment …

Nein!

Halt!

Sie sollte doch um 17:52 Uhr ankommen!

Ihr Puls schnellte in die Höhe.

Der Kerl auf dem Bahnsteig hatte sich etwas von ihr entfernt. Durch das verlaufene Glas der Fensterscheibe konnte sie ihn nur verzerrt sehen. Doch nun, da er sich umdrehte, die Sonnenbrille abnahm und den Zug entlang genau in ihre Richtung blickte, erkannte Evelyn ihn endlich.

Ihr sackte das Herz in die Hose!

Das war kein junger Kerl, wie sie wohl wegen der tätowierten Unterarme fälschlicherweise angenommen hatte. Verdammt, das war Hendrik!

Ach du meine Güte!

Sie musste hier raus! Schnell!

Sie sprang hoch. Rief: »Halten Sie den Zug auf!«

Aber da war niemand, der sie hören konnte.

Sie schlug gegen die Fensterscheibe. Hoffte, dass Hendrik es hören und auf sie aufmerksam werden würde. Doch dafür war er zu weit weg. Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter. Weil der Reißverschluss noch offenstand, fiel etwas heraus. Evelyn sah gerade noch, dass es ihr Lippenstift war. Aber schon im nächsten Moment kullerte er unter die gegenüberliegende Bank und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Er war verloren, denn es blieb keine Zeit, ihn von da unten herauszufischen. Sie krallte sich ihre Weste und dann den Trolley, den sie gleich hinter ihrem Sitz auf der Gepäckladefläche abgestellt hatte. Warf einen letzten flüchtigen Blick zurück, ohne wirklich etwas wahrzunehmen.

Dann stürmte sie los.

»Halt!«

Der Gang war eng, der Koffer sperrig. Immer wieder streifte er an einer der beiden Sitzreihen und bremste sie aus. Die Schlaufe der Handtasche rutschte ihr von der Schulter, Evelyn hielt sie nur noch mit der Hand fest. Das Abteil schien immer länger zu werden. Der Ausgang auf einmal unerreichbar.

»Bitte ha…!«

Etwas riss sie zurück. Ein Schmerzblitz jagte ihr durch die Schulter. Sie fuhr herum. Und begriff: In der Hektik hatte sich die Schlaufe der Tasche in einer Armlehne verfangen.

Das darf doch alles nicht wahr sein!

Sie machte sie los. Rannte weiter wie eine Verrückte. Blickte dabei immer wieder nach links aus den Fenstern, um sich zu vergewissern, dass der Zug noch nicht wieder angefahren war.

Ein weiterer Fahrgast war doch noch da, wie sie jetzt sah. Ein Typ, der ihr nicht half, sondern bloß kurz von seinem Handy aufblickte und sie blöd angrinste.

»Nicht losfahren!«

Evelyn hatte endlich das Ende des Abteils erreicht. Sie riss die Schiebetür auf und preschte hinaus in den Eingangsbereich. Gerade in dem Moment, in dem sich die automatische Waggontür mit einem Zischen zu schließen begann. Sie machte einen gewaltigen Satz. Streckte den Arm voraus. Verlor dabei das Gleichgewicht. Schaffte es aber gerade noch so, sich auf den Beinen zu halten. Und die Hand in den offenen Spalt zu schieben.

Die Tür hielt augenblicklich inne.

Machte einen Moment lang nichts.

Und öffnete sich schließlich wieder.

Gott sei Dank!

Evelyn fiel ein Stein vom Herzen. Ihr entkam ein unkontrolliertes Lachen. Doch ihr Herz schlug immer noch ganz wild, und ihre Knie waren noch weich, als sie den Koffer nachzog und aus dem Zug kletterte.

Auf dem Bahnsteig konnte sie ihr Glück kaum fassen.

Weil sie keine Vorstellung davon hatte, was sie in den nächsten Tagen hier erwartete. Weil sie nicht ahnte, dass ihr Aufenthalt ganz anders verlaufen würde, als sie sich das vorgestellt hatte. Und dass schon bald die Hölle über sie hereinbrechen würde.

Wie sollte sie auch?

Die erste böse Überraschung war nur noch Sekunden entfernt.

Kapitel 2

17:54 Uhr

Auf dem Bahnsteig brauchte Evelyn erst einmal einen Moment, um sich zu sammeln. Sie stemmte die Hände in die Seiten und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihr Puls flatterte immer noch ein wenig. Die drückende Sommerhitze trieb ihr den Schweiß aus den von der Klimaanlage des Zugs verwöhnten Poren. Das Adrenalin, das ihr immer noch durch den Körper jagte, trug den Rest dazu bei.

Was für eine unnötige Aufregung!

Die Sonne stand so tief, dass sie bald hinter dem Bahnhofsgebäude verschwinden würde. Dennoch war es immer noch sehr hell und hatte bestimmt noch über 30 Grad – ein typischer Hochsommerabend eben. Es wehte nicht die leiseste Brise, die Abkühlung verschafft hätte. Ihr 67 Jahre alter Kreislauf machte solche Temperaturen nur noch schwer mit. Zudem überkam sie ein leichtes Schwindelgefühl. Sie musste kurz die Augen schließen.

Evelyn schämte sich für ihr Malheur. Früher wäre ihr so etwas nicht passiert. Ihr Leben lang war sie organisiert und strukturiert gewesen. Sie hatte stets den Überblick über anstehende Termine und nötige Erledigungen behalten. Nicht einen Arzttermin, den sie jemals versäumt hätte. Und schon gar keinen Geburtstag von Freunden, Bekannten oder Verwandten. Sie hatte die Rechnungen immer zeitgerecht bezahlt und laufend nach günstigen Tarifen für Gas, Wasser, Strom, Versicherungen und so vielem mehr Ausschau gehalten. Sie hatte Besorgungslisten erstellt und die Einkäufe erledigt. Sie hatte Handwerkertermine vereinbart. Und Hans rechtzeitig an die Vorbereitungen dafür erinnert. Einmal, zweimal und wenn es notwendig war, auch noch ein drittes Mal. Nichts, das ihr je entgangen wäre.

Aber seit Hans’ Tod stand sie einfach neben der Spur.

Vor zwei Wochen hatte sie doch glatt den Geburtstag von Hannelore, ihrer Nachbarin, vergessen. Vier Tage später hatte sie ihren Augenarzttermin versäumt. Und jetzt das. So konnte das nicht weitergehen!

Sie atmete noch einmal tief durch und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Bluse den Schweiß von der Stirn.

In ihrem Rücken erklang ein Zischen, woraufhin sich die Zugtür schloss. Von irgendwo war ein schrilles Pfeifen zu hören.

Hendrik war inzwischen ans Ende des Bahnsteigs gelaufen. Er hatte sie noch nicht entdeckt.

Evelyn wollte ihm gerade zurufen.

Da brüllte er plötzlich auf. »Hey, was machst du da?« Sein Blick ging in Richtung Parkplatz. »Hau bloß ab!«

Evelyn konnte nicht erkennen, was das Problem war und wem er da zurief. Der Parkplatz war von ihrem Blickwinkel aus zum größten Teil vom Bahnhofsgebäude und von Büschen und Bäumen verdeckt.

»Hörst du schlecht?«

Der Zug setzte sich in Bewegung.

Hendrik schrie erneut etwas, das Evelyn aufgrund des Zuglärms jedoch nicht verstehen konnte. Sie riss beide Arme hoch, winkte und rief nach ihm. Doch er bekam es nicht mit. Stattdessen sah er sich plötzlich nach beiden Seiten um, sprang vom Bahnsteig und sprintete los. Direkt über die Geleise.

Was zum …?

Evelyn hatte immer noch keine Ahnung, was gerade vor sich ging. Nur, dass es nichts Gutes sein konnte, war ihr klar. Ihre Alarmglocken schrillten. Sie packte ihren Trolley und hetzte ebenfalls ans Ende des Bahnsteigs. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, es Hendrik gleichzutun, ebenso auf die Geleise zu springen und sie einfach zu überqueren. Immerhin war weit und breit kein ankommender Zug zu sehen. Und ob es hier noch Bahnhofsangestellte gab, bezweifelte sie. Doch sie verwarf die Idee gleich wieder. Selbst ohne Koffer im Schlepptau wäre es mit ihrem kaputten Rücken eine zu große Herausforderung gewesen.

»Verschwinde von meinem Wagen!«, schrie Hendrik und kam etwas ins Straucheln.

Er hatte den Parkplatz erreicht.

Und Evelyn das Ende des Bahnsteigs. Von dort aus konnte sie eine junge Frau mit roter Mähne sehen, die an der Fahrerseite eines schwarzen SUV herumhantierte.

Hendrik stürmte geradewegs auf sie zu. Er war höchstens noch 20 Meter von ihr entfernt.

Da schwang die Frau sich auf ein Fahrrad, das neben ihr auf dem Asphalt gelegen hatte, trat stehend in die Pedale, blickte zurück und kreischte: »Fick dich!«

Hendrik hatte den Wagen erreicht. Betrachtete ihn. Raufte sich die Haare. Und brüllte: »Spinnst du?«

Sie streckte ihm den Mittelfinger entgegen. »Du spinnst, Arschloch!«

»Das wird dir noch leidtun, das schwöre ich dir!«

»Dir wird es leidtun! Ich mach dich fertig!«

Im nächsten Moment war sie aus Evelyns Sichtfeld verschwunden.

Sie konnte nur noch Hendrik sehen, der erneut die Fahrertür des SUV betrachtete. Unverständliches vor sich hin fluchte und dann seine Drohung bestärkte: »Ich schwöre dir, das wirst du noch bereuen!«

Erst jetzt, da er sich verzweifelt umsah, entdeckte er Evelyn. Seine Augen wurden ganz groß.

Kapitel 3

18:01 Uhr

Im Wagen herrschte betretenes Schweigen. Die Fahrt dauerte noch keine zwei Minuten, kam Evelyn aber schon wie eine halbe Ewigkeit vor. Ihre Bluse war noch leicht verschwitzt. Die eiskalte Luft aus der Klimaanlage ließ sie frieren. Sie schob den Regler zur Seite, um den Luftstrom von ihr weg auf das Seitenfenster zu lenken. Doch das machte es kaum besser. Sie rieb sich die Unterarme.

»Zu kalt?«, fragte Hendrik, ohne sie dabei anzusehen.

»Ein bisschen.«

Er reduzierte das Gebläse um eine Stufe. »Besser?«

»Ja, danke«, log sie.

Dann drängte sich das Schweigen zurück zwischen sie.

Evelyn graute vor der weiteren Fahrt. Das Haus ihrer Tochter lag am anderen Ende der Stadt, ein Stück weit außerhalb am Waldrand. Dort, wo die Straßen enger wurden und die Häuser nur noch spärlich gesät, dafür aber eine Spur größer waren. Zu Fuß konnte man von der Stadt aus eine Abkürzung durch einen der Waldausläufer nehmen. Mit dem Auto musste man allerdings einen weiten Bogen darum fahren. Sie würden also sicher noch zehn Minuten unterwegs sein.

Evelyn rang nach Worten, fand aber keine. Nicht einmal über das Wetter wollte ihr etwas Brauchbares einfallen.

Also starrte sie aus dem Fenster. Die Kleinstadt, die an ihnen vorüberzog, nahm sie dabei kaum wahr. Von früheren Besuchen wusste sie aber, dass sie ihre besten Jahre schon lange hinter sich hatte.

Einst, noch bevor Manuela Hendrik zuliebe hierhergezogen war, war es eine florierende Kleinstadt gewesen. An die 10.000 Menschen hatten hier gelebt. Der angrenzende Badesee und der riesige Wasserpark mit seinen vielen Rutschen, Themenbecken, Restaurants und dem eigenen Hotel hatten über Jahrzehnte hinweg Touristenscharen angelockt. Und diesen das Geld aus der Tasche gezogen.

Doch der Glanz von früher war längst verblasst. Der See war inzwischen weitgehend ausgetrocknet und zu wenigen kleinen Tümpeln verkommen. Der tiefste war gerade mal einen Meter tief. Der Wasserpark war vor gut zehn Jahren pleitegegangen und rostete seitdem vor sich hin. Die Stadtführung hatte dem drohenden Desaster mit einem Wellnesshotel entgegenzuwirken versucht. Doch im Zuge des Rohbaus waren schwerwiegende architektonische Mängel festgestellt worden. Zudem war der Bürgermeister unter Korruptionsverdacht geraten und hatte von seinem Amt zurücktreten müssen. Der darauffolgende Rechtsstreit hatte sich über viele Jahre gezogen. Wer ihn letztendlich gewonnen hatte, war Evelyn nicht bekannt. Nur, dass das Hotel niemals fertiggestellt worden war, wusste sie. Wie eine Verhöhnung thronte es seitdem nahe dem Stadtzentrum, das seit vielen Jahren keinen Touristen mehr gesehen hatte. Restaurants, Cafés und viele kleine Läden verschwanden. Der einst prächtige Blumenschmuck, der die wichtigsten Straßen gesäumt hatte, war für unnötig und zu teuer befunden worden. Der Brunnen vor dem Rathaus war trockengelegt worden. Die Bevölkerungszahl war um rund die Hälfte geschrumpft.

Hendrik setzte den Blinker und bog nach links ab. Er räusperte sich und kratzte sich das Kinn, sagte und fragte aber weiterhin nichts. Kein »Wie geht’s dir?«, kein »Wie war die Reise?«, und auch kein »Warum bist du erst so spät aus dem Zug gestiegen?«.

Und schon gar keine Erklärung für diesen seltsamen Vorfall eben.

Aber auch Evelyn wusste immer noch nicht so recht, wie sie ein Gespräch starten sollte. Ihre Ankunft war ganz und gar nicht so verlaufen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie musste die letzten Minuten erst noch verarbeiten. Hatte alle Mühe dabei, das Wippen ihrer Beine zu unterdrücken. Stattdessen knetete sie ihre Hände vor Unwohlsein. Und weil es keine Linderung brachte, ging sie dazu über, mit ihren Zeigefingern die Daumennägel zu kratzen. Dabei schwirrten ihr so viele Fragen durch den Kopf – wie ein Schwarm aufgescheuchter Insekten.

Wer war diese Frau gewesen? Warum hatte sie Hendrik so derb beschimpft? Und hatte tatsächlich sie die tiefen Kratzer im Lack seines Wagens verursacht? Kannten die beiden sich? Falls ja, woher? Und warum zur Hölle klärte er sie nicht endlich auf?

Hendrik und Manuela waren mittlerweile schon seit 19 Jahren verheiratet. Es war eine gute Ehe, soweit Evelyn das einschätzen konnte. Hendrik war ein fürsorglicher Ehemann und Vater. Und Anja, ihre gemeinsame Tochter, war ein liebes, wohlerzogenes Mädchen. Sie schrieb stets gute Noten und hatte ein großes Interesse an der Natur. Sie war tierlieb und hatte sich immer schon sehnlichst einen eigenen Hund gewünscht – aufgrund von Manuelas Tierhaarallergie jedoch vergeblich. Das änderte aber nichts daran, dass sie schon seit Jahren jedem erzählte, einmal Tierärztin werden zu wollen. Ihre Schüchternheit hatte sie inzwischen bestimmt schon abgelegt. Wer weiß, womöglich hatte sie mit ihren bald 17 Jahren bereits ihren ersten Freund.

Evelyn konnte es kaum erwarten, sie endlich wiederzusehen. Sie musste sich eingestehen, dass sie in den letzten eineinhalb Jahren nur Gedanken für Hans gehabt hatte. Alles andere – vor allem Anja – hatte sie völlig aus den Augen verloren. Sie fühlte sich schäbig deswegen. Und konnte nur hoffen, dass ihre Enkelin das verstehen und ihr verzeihen würde. Evelyn wünschte sich aus tiefstem Herzen, dass ihre Beziehung rasch wieder wie früher werden würde.

Aber erst mal sollte sie das mit Hendrik klären.

Nur wie?

Er war immer höflich und hilfsbereit gewesen. Nicht einmal, dass sie einen Ausbruch wie eben bei ihm bemerkt hätte. Evelyn kannte ihn vielmehr als ruhig und zurückhaltend. Bei Familienfeiern und in größeren Gruppen hatte er sich immer schon gerne aus den Gesprächen rausgehalten oder sich gleich ganz zurückgezogen. Bei Familienfotos war er gerne der, der sich opferte, um den Auslöser zu drücken, anstatt selbst abgelichtet zu werden. Hendrik war niemand, der die große Bühne suchte. Auch nicht in seinem Beruf als Programmierer, in dem er weitgehend alleine und im Hintergrund arbeitete. Evelyn hatte ihn immer gemocht.

Und auch Hans hatte stets große Stücke auf ihn gehalten. »Manuela ist bei ihm in guten Händen«, hatte er damals nach dem ersten Kennenlernen gesagt. Und an dieser Meinung hatte sich bis zuletzt nichts geändert.

Evelyns Erfahrungswerte beruhten jedoch auf der Zeit vor Hans’ Krankheit. In den letzten beiden Jahren hatte sie ihn nur zweimal gesehen. Anja überhaupt nur einmal. Auch zur Beerdigung hatten die beiden es nicht geschafft. Anja wegen einer Schularbeit und Hendrik, weil er einen wichtigen Abgabetermin hatte einhalten und sich natürlich auch um Anja hatte kümmern müssen. Im Grunde, so ehrlich musste Evelyn zu sich selbst sein, basierte alles, was sie über die beiden aus den letzten beiden Jahren wusste, auf Manuelas Erzählungen. Dass sie dabei einiges ausgelassen hatte, war schon alleine an Hendriks Äußerem zu erkennen. Evelyn fragte sich bloß, warum Manuela ihr das verschwiegen hatte.

»Was zum …«, schimpfte Hendrik, bremste abrupt ab und riss Evelyn damit aus ihren Gedanken. Er murmelte noch einen unverständlichen Fluch. Und das alles nur, weil der Wagen vor ihnen nicht mehr bei Gelb über die Kreuzung gefahren war. Jetzt hupte er sogar noch. Der Fahrer im Wagen vor ihnen gestikulierte etwas durch die Heckscheibe, das wohl in etwa so viel wie »Hast du sie noch alle?«bedeuten sollte.

»Wohl ein Sonntagsfahrer, was?«, sagte Evelyn. Nicht, weil sie das tatsächlich so empfand. Sondern, weil sie heilfroh darüber war, endlich wieder etwas sagen zu können. Und auch, weil sie hoffte, damit Hendrik etwas von seiner Anspannung zu nehmen.

»Hm«, machte er nur und kaute an seiner Unterlippe. Keine Frage, dass er selbst nach diesem unnötigen Aufreger tief in Gedanken war.

Evelyn kratze sich ein Stückchen Haut ihres linken Daumens ab und merkte, dass ihre Beine erst recht auf und ab wippten. Sie zwang sich dazu, sie zum Stillstand zu bringen, und betrachtete Hendrik aus dem Augenwinkel heraus. Viel konnte sie wegen der schwarzen Sonnenbrille nicht erkennen. Doch zwei Veränderungen waren unübersehbar:

Zum einen schien er sich einer Haartransplantation unterzogen zu haben. Denn als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war sein Haar schütter und kurz geschoren gewesen – wie schon in den Jahren zuvor. Jetzt hatte er allerdings eine dichte dunkelbraune Mähne und einen jugendlichen struppigen Haarschnitt. Die neue Haarpracht ließ ihn wie einen anderen Menschen erscheinen. Gar kein Wunder also, dass Evelyn ihn vom Zug aus nicht gleich erkannt hatte.

Die zweite auffällige Veränderung an ihm waren die sonnengebräunten Unterarme, die nun großflächig mit Tattoos überzogen waren. Es waren viele verschiedene Motive, die auf kunstvolle Weise miteinander verwoben waren. Einen Kompass konnte Evelyn auf seinem rechten Arm erkennen. Darunter einen Leuchtturm und den Teil eines alten Segelschiffs. Dazwischen viele Wellen und Sonnenstrahlen, wenn sie das richtig interpretierte. Auf seinem linken Unterarm sah sie eine Sanduhr und einige Sterne.

Das Ganze war nicht unschön, fand Evelyn. Sie war solchen Dingen gegenüber immer offen gewesen. Wenn jemand Lust hatte, sich tätowieren zu lassen oder sich einen Silberring durch die Nase zu schießen – warum nicht. Bei Hendrik roch es jedoch verdächtig nach einer Art Lebenskrise. Warum sonst sollte ein 47-jähriger Familienvater sich derartigen Veränderungen unterziehen? Andererseits: Was wusste sie schon? Womöglich war sie gar nicht so offen, wie sie dachte. Und ihre Vorstellungen waren antiquiert.

Die Ampel sprang auf Grün. Doch Hendrik bekam es nicht mit. Erst als hinter ihnen eine Hupe ertönte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen.

»Jaja«, murmelte er, legte den Gang ein und fuhr weiter.

Evelyn hielt diese drückende Stille zwischen ihnen nicht länger aus. Sie nutzte den Schwung der Anfahrt. »Wer war denn das eben?« Sie hatte versucht, möglichst beiläufig zu klingen, war sich jedoch sicher, dass Hendrik ihr die Neugierde hatte anhören können.

Er blinzelte mehrmals. Antwortete aber nicht. Und tat so, als wäre er gerade voll und ganz mit dem kaum vorhandenen Verkehr beschäftigt.

Die Sekunden verstrichen.

Evelyn wusste: Würde sie nicht jetzt sofort nachhaken, wäre die Gelegenheit vorüber.

»Kanntest du sie?«, setzte sie nach.

Er antwortete immer noch nicht. Erst als Evelyn schon gar nicht mehr damit rechnete, sagte er schließlich: »Wen meinst du?«

Also, mit dieser dummen Gegenfrage hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Ein, zwei Sekunden lang hatte er sie damit aus dem Konzept gebracht. »Na wen wohl? Die Frau am Bahnhof.«

Wieder schwieg er für Evelyns Geschmack einen Tick zu lange. »Ach die, vergiss es.«

Sie betrachtete ihn von der Seite, was er mitbekam und ihm letztlich doch noch einen Nachsatz entlockte.

»Das war bloß eine Verrückte aus der Stadt. Die liefert ständig solche Aktionen«, sagte er.

»Was für Aktionen?«

»Ach, dumme eben.«

»Hat sie den Lack so zerkratzt?«

»Das ist doch nicht der Rede wert«, sagte er und stieß ein gekünsteltes Lachen aus, das so gar nicht zum Rest seiner Körpersprache passen wollte. Seine Kiefermuskeln schienen nämlich angespannt. Und er umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Das war für Evelyn Antwort genug. »Du solltest sie anzeigen!«

»Ach, ich bitte dich. Das ist doch die Mühe nicht wert.«

»Das ist eine Sachbeschädigung.«

»Den kleinen Kratzer kann ich auch selbst wegpolieren.«

Evelyn hatte keine Ahnung von solchen Dingen. Sie wusste nur, dass es nicht bloß ein kleiner Kratzer, sondern eine tiefe, fette Schramme quer über die gesamte Fahrertür war und diese sich bestimmt nicht einfach so würde wegpolieren lassen.

»Ich könnte als Zeugin aussagen.«

»Unsinn.«

»Ich bin mir sicher, dass …«

»Bitte, Evelyn, vergiss es einfach!«

»Also tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.«

»Bitte lass das meine Sorge sein«, sagte er und tat wieder so, als würde ihm der Verkehr seine volle Aufmerksamkeit abverlangen.

Evelyn gab sich geschlagen. Zumindest vorerst.