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Lehrerinnen und Lehrer ebenso wie Eltern sind immer häufiger mit dem Thema Geschlechtsidentität konfrontiert. Trans*, transgender, Non-Binarität oder Geschlechtsinkongruenz sind heute die Themen, die unter Jugendlichen zunehmend diskutiert werden. Die Handreichung will Orientierung im Umgang hiermit anbieten. Dabei geht es um zwei Themen: Das Thema der Aneignung von Geschlechtsidentität, das eine wesentliche Entwicklungsaufgabe im Jugendalter ist, und das Thema des Umgangs mit jungen Menschen, die im Kontext Schule signalisieren, dass sie an ihrem biologischen Körper leiden. Die Broschüre gibt Hinweise zum medizinisch-diagnostischen Hintergrund sowie praktische Tipps zum Umgang mit betroffenen Kindern, Jugendlichen, ihren Eltern und der Klassengemeinschaft.
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Seitenzahl: 62
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Vorwort
Teil 1: Die Geschlechtsidentität
Teil 2: Trans* im Kontext schulischer Bildung
Anhang
Endnoten
Lehrerinnen und Lehrer sind immer häufiger mit dem Thema Geschlechtsidentität konfrontiert. War die Frage des Frau- oder des Mannseins vor wenigen Jahren noch mit der Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter verbunden, so steht heute die Annahme des biologischen Körpers im Mittelpunkt. Trans*, transgender, Non-Binarität oder Geschlechtsinkongruenz sind heute die Themen, die unter Jugendlichen zunehmend diskutiert werden.
Die Handreichung will Orientierung im Umgang hiermit anbieten. Dabei geht es um zwei Themen: Das Thema der Aneignung von Geschlechtsidentität, das eine wesentliche Entwicklungsaufgabe im Jugendalter ist, und das Thema des Umgangs mit jungen Menschen, die im Kontext Schule signalisieren, dass sie an ihrem biologischen Körper leiden.
Der erste Teil der Handreichung befasst sich mit der Geschlechtsidentität als Entwicklungsaufgabe in Kindheit und Jugend.
Der zweite Teil legt den Fokus auf das Thema Trans*. Er geht vor allem auf die Menschen ein, die an ihrem biologischen Körper leiden.
Das Thema Geschlechtsidentität steht am Beginn, da es für Kinder und Jugendliche zentral ist und vor allem dann relevant wird, wenn ein Mitglied der Schul- oder Klassengemeinschaft an seinem biologischen Geschlecht leidet. Einer Einführung in die Frage, welcher pädagogische Ansatz geeignet ist, um das Thema im Unterricht zu behandeln, schließen sich Informationen zur Geschlechtsentwicklung und zum Phänomen des Trans* an.
Der zweite Teil befasst sich damit, was zu beachten ist, wenn ein Kind oder Jugendlicher im Schulalltag Leiden am eigenen Geschlecht zum Ausdruck bringt. Dieser Teil enthält Informationen sowohl über den medizinisch-diagnostischen Hintergrund als auch Hinweise zu einem möglichen Umgang mit betroffenen Kindern, Jugendlichen, ihren Eltern und der Klassengemeinschaft.
Das Leiden an der Annahme des biologischen Körpers und die damit verbundene Schwierigkeit der Übereinstimmung mit dem psychischen Geschlecht gehört zum großen Thema der Geschlechtsidentität. Ist es aber auch sinnvoll, es im Unterricht zu behandeln?
Der Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann weist in seinem Modell der produktiven Realitätsverarbeitung der Arbeit an der Geschlechtsidentität im Jugendalter eine zentrale Rolle zu1. Auch die Entwicklungspsychologie sagt, dass die Herausbildung und die Aneignung der Geschlechtsidentität zur zentralen Entwicklungsaufgabe des Jugendalters gehört, die bereits in der Kindheit beginnt2. Noch mehr unterstreichen verschiedene Untersuchungen, die sich mit der Zuordnung von Jugendlichen zur LGBTQ+-Bewegung auseinandersetzen, dass sich immer mehr junge Menschen dieser zuordnen. So ist die Zustimmung zu Sichtweisen der LGBTQ+-Bewegung in der Generation Z (1997-2002 geboren) mittlerweile auf 22.3 % angestiegen3.
Diese Bewegung definiert Geschlecht aber nicht mehr in Orientierung auf die biologische Zweigeschlechtlichkeit von Frau oder Mann, sondern versteht die biologische Grundlage selbst als fluide4. Vereinfacht gesagt, muss jeder Mensch die Biologie seines Geschlechts an sein gefühltes Geschlecht anpassen. Diese Anpassung kann einmal als soziale Transition vollzogen werden, indem ein Jugendlicher sich etwa als non-binär oder gender-fluid bezeichnet oder als medizinische Transition in Form einer operativen Angleichung des biologischen Körpers an das gefühlte Geschlecht.
Die Entwicklungspsychologie weist darauf hin, dass die Aneignung der Geschlechtsidentität ein komplexer Prozess ist, der in der Kindheit mit der kognitiven Aneignung der eigenen Geschlechtsidentität beginnt und sich in der Adoleszenz mit der Integration des sich verändernden Geschlechtskörpers in die Gesamtpersönlichkeit fortsetzt. Jugendliche, die an ihrer Geschlechtsidentität arbeiten, setzen sich dabei nicht nur mit den inneren (endogenen) Prozessen auseinander, die mit der puberalen Entwicklung ausgelöst werden, sondern auch mit Theorien zum Thema Geschlecht, die in der Umwelt, vor allem in den Medien präsentiert und diskutiert werden.
Das Thema Geschlechtsidentität sollte deshalb aus drei Gründen Gegenstand von Unterricht sein:
Alle Kinder und Jugendlichen stehen im Prozess der aktiven Aneignung und Entwicklung von Geschlechtsidentität.
Das Thema Geschlechtsidentität wird unter jungen Menschen heute unter den Vorzeichen von Theorien der LGBTQ+-Bewegung diskutiert und ist daher mehr als früher von Unsicherheit begleitet.
Die Verunsicherung nimmt zu, wenn ein Kind oder Jugendlicher in der Schule oder in der Klassengemeinschaft an seinem biologischen Geschlecht leidet und deshalb z.B. mit einem Vornamen angesprochen werden will, der seinem gefühlten Geschlecht entspricht.
Jugendliche, die Fragen ihrer Geschlechtsidentität bewegen, suchen nach innerer Einheit, weil sie sich durch die Entwicklung vor die Frage gestellt sehen, „Wer will ich sein?“ und „Wer bin ich?“. Vor allem am Beginn des Jugendalters ist diese Frage von großer Unsicherheit begleitet. Pädagoginnen und Pädagogen, die sich der Verunsicherung von Jugendlichen bei der Frage der Geschlechtsidentität zuwenden, greifen dabei meist auf eine der zahlreichen Theorien zur Geschlechtsentwicklung zurück. Da es aber nicht die eine Theorie gibt, sondern gleich mehrere, besteht die Gefahr, Jugendliche zu indoktrinieren. Dieser Gefahr kann man nur entgehen, wenn Lehrende nicht nach der einen, vermeintlich richtigen Theorie der Geschlechtsentwicklung suchen, sondern sich vielmehr fragen, welcher pädagogische Ansatz Jugendlichen auf der Suche nach ihrer Geschlechtsidentität den größtmöglichen Entwicklungsraum bietet.
Was aber ist ein guter pädagogischer Ansatz, der heranwachsenden Menschen hilft, das Thema der Geschlechtsidentität in geeigneter Weise innerhalb des Unterrichts zu reflektieren? Eine Antwort ergibt sich, wenn man auf die Entwicklung der Identitätstheorien seit Erik H. Erikson blickt5. So sagen neuere Identitätstheoretiker wie Heiner Keupp6 nicht nur, dass der Mensch sich die Frage nach seiner Identität an bestimmten zentralen Themen beantwortet, wobei dem „Geschlecht“ eine zentrale Stellung zukommt. Die Theoretiker sagen auch, dass Identitätsarbeit immer eine Arbeit ist, die der Einzelne als Individuum in seiner Person und in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu leisten hat. Es ist eine Arbeit, die der Mensch daher als Person in seinem Inneren vollziehen muss und aus der Mitte seiner Person muss er sich auch mit Konzepten der Geschlechtsidentität in seiner Umwelt auseinandersetzen. Beim Thema Geschlechtsidentität handelt es sich daher um Inhalte, die sowohl das soziale Miteinander wie das Innere einer Person betreffen. Identitätsarbeit muss folglich vom Ziel getragen sein, dass sich die Person finden kann. Dies, so die Identitätsforscher, ist deshalb notwendig, weil der Mensch nach innerer Einheit strebt und weil das Konzept des Strebens nach innerer Einheit sich seit den Anfängen der Identitätspsychologie als tragend erwiesen hat.
Innerhalb des Unterrichts genügt es daher nicht, sich nur mit verschiedenen Konzepten von Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen oder den Fragen von Diskriminierung und Toleranz gegenüber diversen Geschlechtsentwürfen. Denn damit wird verfehlt, dass sich gerade Jugendliche innerlich mit ihrer individuellen Aneignung von Geschlechtlichkeit beschäftigen. D.h. pädagogische Ansätze, die das Thema nur konstruktivistisch angehen (konstruktivistische Didaktik) oder nur mit dem Fokus auf die Förderung gesellschaftlicher Kompetenz (bildungsorientierte Didaktik) übersehen das Eigeninteresse des Jugendlichen an diesem Thema.