Transmediales Erzählen - Joachim Friedmann - E-Book

Transmediales Erzählen E-Book

Joachim Friedmann

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Beschreibung

Die Narratologie, d.h. die wissenschaftliche Erforschung von Erzählungen konzentriert sich traditionell auf literarische Werke und die Kunst des Dramas. Der Drehbuch-, Comic- und Game-Autor Joachim Friedmann zeigt nun, dass es grundlegende narrative Text-Gestaltungsstrategien gibt, die medienübergreifend, d.h. transmedial wirksam sind. Dabei berücksichtigt er narratologische Grundlagentexte ebenso wie die aktuellen Forschungen der postklassischen und transmedialen Narratologie sowie anwendungsbezogene Dramaturgie-Ratgeber. Er Setzt diese Modelle erstmalig systematisch in Bezug zueinander. Dabei beschreibt er strukturelle wie inhaltliche Elemente narrativer Gestaltung, berücksichtigt in seiner Betrachtung auf diese Weise alle Ebenen einer Erzählung und schafft eine wissenschaftlich fundierte wie praktisch anwendbare Toolbox für die Gestaltung transmedialer Erzählungen. Einen Schwerpunkt seiner Untersuchung bildet die Anwendung dieser Theorien auf emergente und interaktive, digital vermittelte Erzählungen wie Computergames.

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Als Dissertation 2016 im Studiengang Kulturwissenschaften der Viadrina Universität Frankfurt/Oder angenommen.

Erstprüfer: Prof. Dr. Hartmut Schröder, Zweitprüfer: Prof. Dr. Werner Konitzer

Ich möchte mich bei folgenden Menschen bedanken, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit unterstützt und beraten haben: Hartmut Schröder, Werner Konitzer, Eberhard Heuel, Ingrid Sitta, Karl-Georg Niebergall, Oliver Janitza, Stefan Wilke, Sebastian Paasch, Peter Waury, Anja Waury, Fionna Kessler, Alexander Heinke, Kelly Zehe und im Besonderen Sybille, Zoe und Mia Friedmann.

ANMERKUNG:

Im Zuge einer genderneutralen Sprache verwende ich in dieser Arbeit sowohl weibliche als auch männliche Pronomen und Endungen (siehe Rezipientin/Rezipient). Beide sind als stellvertretend für alle Geschlechter stehend anzusehen.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Untersuchungsgegenstand

2.1 Medien und Transmedialität

2.2 Die Erzählung

Stand der Forschung

3.1 Erzählforschung und Narratologie

3.2 Die postklassische Narratologie

3.3 Narratologie und interaktives Erzählen

3.4 Game Studies und Transmedial Narratology

Elemente des Narrativen

4.1 Der semantische Raum

4.2 Die narrative Figur

4.3 Sinnproduktion durch Basisoppositionen

4.4 Handlung durch Konflikt

4.5 Geschlossenheit durch Transformation

4.6 Emotion

4.7 Wendepunkte

4.8 Kausalität

4.9 Weitere Elemente narrativer Textgestaltung

Narrativierung von Medientexten

5.1 Narrativierung eines sportlichen Wettkampfs: Die Finalrunde der Schachweltmeisterschaft 1972 zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski

5.2 Narrativierung einer Dokumentation: The Meerkats

5.3 Narrativierung eines interaktiven Online-Games: Die Schlaumäuse

Schluss

Appendix

Literatur- und Quellenverzeichnis

8.1 Wissenschaftliche Monographien, Buch- und Zeitschriftenbeiträge, Online-Publikationen

8.2 Quellen

1 Einleitung

Erzählungen sind in der menschlichen Kultur allgegenwärtig. Seien es Mythen und Märchen, die für viele frühe Gesellschaften identitätsstiftend waren, Alltagserzählungen, die zwischenmenschliche Beziehungen thematisieren und strukturieren, das „Storytelling“ in der Geschäftswelt oder die Vielzahl von Erzählungen in Unterhaltung und Medien: Geschichten1 sind eine anthropologische Konstante und quer durch alle sozialen, historischen und kulturellen Schichten eine der wichtigsten Formen, Kommunikation und Information zu organisieren. Die Erzählung ist, wie Roland Barthes (1991, S. 102) es formuliert, „international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.“

Die wissenschaftliche Erforschung von Erzählungen, eine Disziplin, für die Todorov (1969) den Begriff der Narratologie prägte, beschäftigt sich jedoch zunächst fast ausschließlich mit literarischen Erzählungen und der Kunst des Dramas. Zwar betonen strukturalistische Theoretiker wie z.B. Bremond (1973 [1964]) oder Roland Barthes (1991 [1966]) schon in den Anfangstagen der Narratologie die grundsätzliche Medienunabhängigkeit der Erzählung, doch eine systematische Untersuchung anderer Erzählmedien abseits der Literatur unterbleibt zunächst. Viele Narratologen stellen den Status von Comics oder Filmen als Erzählmedien sogar in Frage, wenn sie darauf bestehen, dass als Geschichte nur ein Text gelten kann, der durch eine entsprechende Erzählerinstanz vermittelt wird (vgl. z.B. Genette 2010 [1972], Prince 1982).

Als Autor, der Geschichten für das Fernsehen, für Comics und für interaktive Medien verfasst, kann ich dieser Auffassung nur widersprechen. Aber nicht nur aus der Perspektive des Praktikers, auch aus theoretisch-wissenschaftlicher Sicht ist die Beschäftigung mit intermedialen Erzählformen abseits von verbal vermittelten Erzählungen spätestens seit der Jahrtausendwende eines der zentralen Forschungsfelder geworden.

Zunächst entwickeln vor allem angelsächsische Theoretiker (vgl. z.B. Chatman 1978, Bordwell 1985) narratologische und filmsemiotische Konzepte, mit denen audiovisuelle Medientexte untersucht werden können. In der sogenannten postklassischen Narratologie2 beginnt verstärkt die Erforschung anderer Medien als Träger von Erzählungen. Lyrik, Comics, Bilder und Musik werden nun auf ihr narratives Potenzial hin untersucht (vgl. z.B. Nünning/Nünning 2002, Wolf 2002, Ryan 2004). Von besonderer Bedeutung wird eine solche transmediale Narratologie in Hinblick auf die digitalen Medien. Durch die rasante Entwicklung der Computertechnologie und hier insbesondere des Computergames mit einer interaktiven und nicht-linearen Rezeption entstehen neue Möglichkeiten und Formen des Erzählens, die auch neue Ansätze in der Erzählforschung erfordern.

Ob Computergames3 aber überhaupt Geschichten erzählen, ist ein in der Wissenschaft über einen längeren Zeitraum kontrovers diskutiertes Thema. Zunächst werden Computergames ebenfalls aus literaturwissenschaftlicher Perspektive untersucht, so zum Beispiel von Janet Murray (1997, 2004) oder in Deutschland von Britta Neitzel (2000). Die Frage nach der erzählerischen Dimension von Computergames ist hier zentral. Dieser Ansatz wird von Theoretikern wie Frasca (1999) oder Aarseth (1997, 2001) jedoch als limitierend wahrgenommen. Sie fordern, Computergames als eigenständigen Untersuchungsgegenstand ernst zu nehmen, und betonen den Aspekt des simulativen Modus im Spiel, in Abgrenzung zum erzählerisch-repräsentativen Modus der klassischen Erzählmedien. Frasca kreiert für diese wissenschaftliche Perspektive den Begriff der Ludologie (vgl. Frasca 1999), ein Ansatz, der vor allem von skandinavischen Theoretikern wie Espen Aarseth, Markku Eskelinen und Jesper Juul weiterentwickelt wird. Für sie sind Spiele partizipatorisch, iterativ, non-linear – Merkmale, die dem klassischen Verständnis einer Erzählung widersprechen. Theoretiker wie Eskelinen (2001) sprechen den Games im Zuge der Debatte sogar jedes erzählerische Potenzial ab.

Auf wissenschaftlich-theoretischer Ebene ist die Frage nach dem narrativen Potenzial von Computergames nicht so leicht zu beantworten, da hier zunächst definitorische Fragestellungen beantwortet werden müssen. In den Definitionen der Narratologie ist es Konsens, die Erzählung als eine Kette von Ereignissen und Handlungen in Zeit und Raum zu definieren. Dabei ist der Begriff in den Minimaldefinitionen so weit gefasst, dass er eine Vielzahl von Erzählungen einschließt, so auch Computergames, gleichzeitig aber auch nicht-narrative Texte wie z.B. Kochrezepte oder Wettervorhersagen. Andere Theoretiker, z.B. Kearns (1999), fassen den Begriff der Erzählung noch weiter, wenn sie das Narrative als ein kognitives Schema sehen, das durch bestimmte Trigger aktiviert wird, sodass, je nach Kontext, jeder Text von Rezipienten als Erzählung wahrgenommen werden kann, so auch Computergames und im Grunde jeder intermediale Medientext4.

Enger gefasste Definitionen der Erzählung schlagen z.B. Wolf (2002) oder Ryan (1992, 2004, 2006) vor. Aus einer intermedialen Perspektive sehen sie erzählerische Texte geprägt von einer Reihe von Elementen, die kennzeichnend für Erzählungen sind und die Wolf (2002, S. 42) „Narreme“ nennt, so zum Beispiel die Angabe von Zeit und Ort des Geschehens sowie handelnde, anthropomorphe Wesen. Die von Wolf in Bezug auf Prince (1996) entwickelten Kategorien, die man auch als Elemente der Erzählung bezeichnen könnte, sind allerdings noch so weit gefasst, dass z.B. auch eine Sportberichterstattung damit beschrieben werden könnte, ebenso wie die meisten Computergames.

Aus Sicht eines Autors von Medientexten ist die Dimension narrativer Gestaltung mit den „Narremen“ von Wolf allerdings nicht hinreichend beschrieben. In der Praxis unterliegen die Gestaltung von Schauplätzen einer Erzählung, die Kreation von Charakteren oder die Initiierung und Abfolge der Handlungen und Ereignisse einer spezifischen Form, die eingehender beschrieben werden muss, um darüber die prototypisch5 narrativen Text-Gestaltungsstrategien zu ermitteln, wie etwa die Semantisierung von Räumen, die mimetische, semantische und synthetische Dimension der Figurengestaltung, die Setzung von semantischen Wendungen oder die Organisation der Handlungen und Ereignisse in bestimmten strukturellen Mustern.

Die Darstellung dieser spezifischen, intermedial wirksamen Gestaltungsstrategien ist nun das Ziel der vorliegenden Arbeit. Auf diese Weise soll die Frage beantwortet werden, welche narrativen Textgestaltungsstrategien in den klassischen Erzählmedien wie Literatur, Film und Comic realisiert werden. In einem zweiten Schritt soll dann überprüft werden, inwieweit diese Elemente auch im Computergame wirksam sind, um so auf Basis einer präzisen Analyse die Frage beantworten zu können, ob Computergames als Erzählmedium angesehen werden können. Zudem soll im Sinne einer „Media-Conscious Narratology“ (Ryan/Thon 2014) überprüft werden, inwiefern diese Gestaltungsstrategien, wenn sie realisiert werden, einer Medienspezifik unterliegen.

Zu diesem Zweck will ich zunächst die Begriffe Medium sowie Erzählung untersuchen (Kap. 2). Dabei soll der Begriff des Narrativen auch in Distinktion zu weiteren Texttypen wie den deskriptiven oder diskursiven Texten entwickelt werden. Nachdem ich den Stand der Forschung zur intermedialen bzw. transmedialen Narratologie wiedergegeben habe (Kap. 3), werde ich mich im Hauptteil der Arbeit (Kap. 4) der Darstellung der Elemente narrativer Textgestaltung widmen und dabei an Beispielen aus Literatur, Comic, Film und Computergame überprüfen, inwieweit diese medienübergreifend anwendbar sind. Dabei werde ich die aktuellen Arbeiten zur transmedialen Narratologie ebenso berücksichtigen wie die Grundlagentexte der strukturalistischen Narratologie und der Semiotik, zudem Forschungsarbeiten zu Erzählungen aus kulturanthropologischer und kognitionspsychologischer Sicht. Da für mich als Autor von Drehbüchern, Comics und Games die Vermittlung wissenschaftlicher Theorien in die praktische Arbeit von großer Bedeutung ist, werde ich die Ergebnisse dieser Untersuchung zur zeitgenössischen praktisch-dramaturgischen Literatur und zu journalistischen Beiträgen zu aktuellen Computergames in Bezug setzen. Abschließend will ich in Kap. 5 an drei Beispielen zeigen, wie zwei faktuale und ein interaktiver Medientext mit den Elementen narrativen Gestaltens zu Erzählungen werden. Dabei untersuche ich die Narrativierung eines Sportereignisses, einer Tierdokumentation sowie eines interaktiven Lernspiels. Auf diese Weise soll demonstriert werden, dass faktuale Medientexte genauso narrativiert werden können wie fiktionale. Zudem will ich an dem letzten Beispiel eines von mir gestalteten Computergames zeigen, dass die Elemente narrativer Textgestaltung nicht nur ein Analyseinstrument zur Beschreibung der Narrativität von Medientexten sein können, sondern auch ein praktisches Werkzeug zur Kreation von Erzählungen. Auf diese Weise möchte ich aus einer anwendungsorientierten Perspektive einen Beitrag zur aktuellen narratologischen Forschung leisten.

1 Ich verwende im Folgenden den Begriff der Geschichte und der Erzählung weitgehend synonym.

2 Unter diesem Oberbegriff fasst David Herman (1999) neue Strömungen in der Erzählwissenschaft zusammen, die in der Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Narratologie und in Absetzung von dieser entstehen. Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.

3 Ich verwende den Begriff des Computergames hier in seinem weitesten Sinne, das heißt für alle digital vermittelten Spiele, unabhängig von der technischen Nutzungsumgebung, sei es Computer, Spielkonsole oder Smartphone.

4 Als Texte bezeichne ich im Rahmen dieser Arbeit nicht nur literarisch-verbal vermittelte Kommunikate, sondern alle Medientexte im intermedialen Sinne, die Kindt/Köppe (2014, S. 45) definieren als „semiotische Hervorbringungen (…), die von etwas ‚Erzähltem’ handeln“, also auch visuelle oder audiovisuelle Medientexte wie Filme, Comics oder eben auch Computergames.

5 Den Begriff des prototypisch Narrativen bzw. der Prototypensemantik entwickelt Wolf (2002, S. 35 ff.) und bestimmt als prototypische Erzählung, an deren Beispiel er seine "Narreme" darstellt, in der Tradition Propps die Märchenerzählung, im konkreten Fall Bechsteins „Ritter Blaubart“ (vgl. ebd.).

2 Untersuchungsgegenstand

2.1 Medien und Transmedialität

Will man das Phänomen des transmedialen bzw. intermedialen Erzählens beschreiben, so muss zunächst der Begriff des Mediums definiert werden. Immer wieder wird in der Literatur das Fehlen einer einheitlichen und durchgesetzten Definition beklagt (vgl. z.B. Kloock/Spahr 2012, Ryan 2014, Wolf 2002). So bleibt zunächst auch in Bezug auf den Titel dieser Arbeit offen, ob beispielsweise ein illustrierter Roman und ein Comic als unterschiedliche Medien anzusehen sind, wo sie doch beide den sprachlichen wie visuellen Kanal benutzen, weiterhin denselben materiellen Träger, nämlich Papier und Druckfarbe, benutzen. Oder kann man vom Medium des Computergames sprechen, wenn es doch auf so unterschiedlichen Plattformen wie einer Spielkonsole, einem Computer oder einem Smartphone abgerufen und rezipiert wird?

Tatsächlich wird der Begriff Medium im allgemeinen Sprachgebrauch auf mehrdeutige Weise verwendet. So kann er benutzt werden, um spezifische Kommunikationskanäle zu beschreiben: Man spricht von einer Zeitung, dem Radio oder dem Internet als Medium. Gleichzeitig kann er aber die technische Seite der Kommunikation meinen, wenn man das Fernsehen, Fotografie oder den Computer als Medium bezeichnet. Betrachtet man den Computer, kann man auch im Zusammenhang mit seinen Anwendungen von Medien sprechen, so zum Beispiel dem Computergame, der Email oder einem Blog. Weiterhin weist der Begriff eine semiotische Dimension auf, wenn man die Sprache oder Bilder Medium nennt. Zudem werden bestimmte künstlerische oder kreative Ausdrucksformen als Medien bezeichnet, so die Literatur, die Musik oder der Tanz. Ebenso kann das Material, in dem bedeutungstragende Zeichen präsentiert werden, als Medium gelten: das Öl, mit dem man Bilder malt, der Ton, aus dem man Skulpturen formt, das Papier, auf das man schreibt (vgl. dazu auch Ryan 2014, S. 26).

Ryan (2014, S. 29 f.) unternimmt den Versuch, die verschiedenen Dimensionen des Begriffs zu erfassen und zu systematisieren. Dabei unterscheidet sie drei Dimensionen des Medienbegriffs:

Die semiotische Dimension, die das zugrundeliegende Zeichensystem kategorisiert, so etwa die Sprache oder das Bild. Typische Beispiele für semiotisch basierte Medien sind für Ryan die verschiedenen Kunstformen wie Musik, Malerei oder die Skulptur.

Die technische Dimension, die die technischen Merkmale von Medien beschreibt, sei es Fotografie, Film oder Radio. Unter dieser Kategorie wäre auch die materielle Beschaffenheit der Botschaft zu betrachten, übermittelt auf einem Bildschirm oder einer Papierseite. Hier können sich auch mehrere Ebenen der technischen Produktion verbinden, im Falle des Buches wären das die Kreation des Textes auf einer Schreibmaschine oder einem Computer sowie die Vervielfältigung des Textes mittels technischer Druckverfahren.

Die kulturelle Dimension, die die kulturell geprägte Wahrnehmung von Medien als Mittel der Kommunikation umfasst, seien es das Theater, Comics oder die Presse. Hierbei handelt es sich um Medien, die im öffentlichen Diskurs als solche angesehen werden, ohne dass man hier eine eindeutige semiotische oder technische Zuordnung treffen könnte, denn die Produktion eines Comics unterliegt technisch vergleichbaren Prozessen wie die eines Buchs und benutzt, wie dargestellt, auch auf semiotischer Ebene die gleichen Kanäle wie ein illustriertes Buch; der Comic wird aber trotzdem als eigenständiges Medium angesehen (vgl. dazu z.B. McCloud 2001, Kukkonen 2013).

Ryan weist auch darauf hin, dass bei der Bestimmung eines Mediums in den meisten Fällen alle drei Dimensionen berücksichtigt werden müssen. So verwendet beispielsweise das Computergame semiotisch den visuellen, den auditiven sowie in manchen Fällen auch den literarisch-verbalen Kommunikationskanal. In der technischen Dimension wird es sowohl über einen Bildschirm als auch über Lautsprecher vermittelt, ähnlich wie der Tonfilm. Zudem ist es, im Gegensatz zum Film, in der technischen Dimension noch über die interaktiven Eingriffsmöglichkeiten charakterisiert. Alle diese Merkmale würde das Computergame z.B. mit einer interaktiven multimedialen Reportage teilen. Insofern ist hier die kulturelle Dimension zu berücksichtigen, die distinktiv wirkt.

Auf ähnliche Weise argumentiert Wolf (2002, S. 39). wenn er in Bezug auf intermediales Erzählen feststellt:

„Im Unterschied zu manchem medientheoretischen Begriffsgebrauch bedeutet ‚Medium’ [in der Intermedialitätsforschung] […] nicht vorrangig einen bloß technisch-materiell definierten Übertragungskanal von Informationen (wie z.B. Schrift, Druck, Rundfunk, CD usw.), sondern ein konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv. Dieses ist in erster Linie durch einen spezifischen (z.B. symbolischen oder ikonischen) Gebrauch eines semiotischen Systems (Sprache, Bild), in manchen Fällen auch durch die Kombination mehrerer Zeichensysteme (wie beim Tonfilm als einem ‚Kompositmedium’ aus Sprache, Bild und Musik/Geräuschen) zur Übertragung kultureller Inhalte gekennzeichnet und erst in zweiter Linie […] durch bestimmte technische Medien bzw. Kommunikationskanäle.“

Im Weiteren fährt er fort: „Im Licht dieser Erläuterung kann also auch von einem ‚Medium Roman‘ oder einem ‚Medium Erzählliteratur‘ gesprochen werden“ (ebd.). Wolf verknüpft in seinem Medienbegriff also ebenfalls die technische, semiotische und kulturelle Dimension. Wichtig erscheint dabei seine Betonung der kulturellen Dimension, wenn er von einem konventionellen Distinktionsbegriff spricht, der es auch erlaubt, z.B. vom Medium der Literatur oder des Comics zu sprechen. Bei einer rein technischen oder semiotischen Betrachtung wären diese als Medien kaum zu unterscheiden, in der kulturellen Produktions- und Rezeptionspraxis differieren sie allerdings erheblich. Mit Bezug auf die Begriffsbestimmung von Wolf unterscheide ich im Folgenden die Erzählmedien Literatur, Comic, Film und Computergame.

Wie ist nun der Begriff der Transmedialität im Rahmen dieser Arbeit zu fassen? Jenkins, der den Begriff des „Transmedial Storytelling“ 2006 einführt, definiert ihn folgendermaßen: „[a] transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each new text making a distinctive and valuable contribution to the whole“ (2006, S. 95f.). Der Begriff des "Transmedial Storytelling" meint also eine singuläre Erzählung, die in verschiedenen Medien realisiert ist. Eine medienübergreifende Narratologie wird, zumindest im deutschen Sprachraum, dagegen zunächst als „intermediale Erzähltheorie“ (vgl. z.B. Wolf 2002, Nünning 2002) bezeichnet. In jüngster Zeit setzt sich, beeinflusst vor allem durch angelsächsische Theoretiker, der Begriff der „Transmedial Narratology“ durch (vgl. z.B. Thon 2014a, 2014b, Ryan 2014), der weitgehend deckungsgleich mit dem Begriff der intermedialen Erzähltheorie benutzt wird, allerdings in Abgrenzung zum „Transmedial Storytelling“ steht. Im Rahmen meiner Arbeit bietet sich diese Distinktion nicht an. Im Zuge meiner Untersuchung will ich die Begriffe in einer Synthese verstehen, sodass in meiner Verwendung der Begriff transmediales Erzählen sich sowohl auf eine singuläre Geschichte beziehen kann, die sich über mehrere Medienplattformen erstreckt, als auch das Phänomen des Erzählens verschiedener Geschichten in unterschiedlichen Medien im Sinne einer intermedialen Erzählforschung erfasst. Zudem fasse ich unter diesem Begriff das Phänomen der „Transmedial Storyworlds“ (vgl. z.B. Ryan/Thon 2014), also Erzählwelten, wie z.B. bei Der Herr der Ringe, Game of Thrones oder dem Marvel-Superhelden-Universum, bei denen eine Vielzahl von Geschichten zwar in verschiedenen Medien wie Comic, Game oder Film erzählt werden, diese aber alle in derselben Erzählwelt angesiedelt sind.

2.2 Die Erzählung

Auch für den Begriff der Erzählung existiert eine Vielzahl von Definitionsangeboten. So beklagt Meir Sternberg „the absence of anything like an accepted definition of narrative“ (1992, S. 464, zitiert nach Wolf 2002, S. 28). Zwar ist diese Aussage mehr als zwanzig Jahre alt, doch die Erweiterung des Forschungsfeldes der Narratologie in eben jener Zeit auf transmediale Formen sowie auf andere wissenschaftliche Disziplinen, wie z.B. die Geschichts- und Rechtswissenschaften und die Psychologie, haben das Problem eher verschärft.

Zunächst gibt es den Versuch einer Minimaldefinition, wie sie etwa Barbara Hernstein Smith (1981, S. 228) anbietet: „We might conceive of narrative discourse most minimally and most generally as verbal acts consisting of someone telling someone else that something happened.“ Doch dürfte dies auf jede beliebige Gesprächssituation zutreffen, was als Definition nicht befriedigen kann. Spezifischer wird Gerald Prince, wenn er die Erzählung wie folgt beschreibt: „Narrative is the representation of at least two real or fictive events or situations in a time sequence, neither of which presupposes or entails each other.” (1982, S. 4). Auch diese Definition ist noch recht unbestimmt, sie würde ebenso gut auf ein Kochrezept zutreffen. Der Filmwissenschaftler David Bordwell fordert in einer ähnlichen Definition zudem noch die Kriterien der Kausalität sowie der räumlichen Verortung, wenn er schreibt: „The fabula embodies the action as a chronological, cause-and-effect chain of events occurring within a given duration and a spatial field“ (1985, S. 49). Auch wenn diese Definition bereits mehr Elemente enthält, trifft sie doch auch auf Medientexte zu, denen man auf den ersten Blick nicht unbedingt narratives Potenzial zusprechen würde – zum Beispiel auf eine mündliche Wegbeschreibung. Dagegen fordert der Narratologe Wolf Schmid (2008, S. 6) sogar eine noch größere Offenheit der Definition ein: „In eine Minimaldefinition von Narrativität brauchen die Kausalität und andere Formen der Motivierung jedenfalls nicht einzugehen. Narrativ ist ein Text schon dann, wenn er nur temporale Verbindungen enthält.“

Bei den genannten Kriterien wird praktisch jeder Medientext, der Ereignisse oder Handlungen darstellt, zu einer Erzählung. Aber ist das bei einer Sportberichterstattung, einer Wettervorhersage, einer Bauanleitung etc. wirklich der Fall? Marie-Laure Ryan unternimmt bereits 1992 den Versuch einer Definition des Narrativen über die Identifizierung bestimmter Elemente, die sie „Building Blocks“ des Narrativen nennt und die für sie „basic conditions of narrativity“ darstellen (1992, S. 371). Dabei geht sie zunächst von drei Kategorien aus. Erstens gibt es eine Erzählwelt, die mit Charakteren bevölkert ist und Objekte enthält. Zweitens muss diese Welt eine zeitliche Dimension aufweisen, in der – meist durch Aktionen der Charaktere – ein Wandel der Welt stattfindet. Drittens muss der Erzähltext interpretative Rückschlüsse auf Ziele, Pläne und kausale Verknüpfungen zulassen. Ryan baut diesen Ansatz weiter aus, bis sie zu einer achtteiligen Definition der „Building Blocks“ kommt, die wiederum unter vier Kategorien zusammengefasst werden (2006, S. 8):

„Spatial Dimension

Narrative must be about a world populated by individuated existents. Temporal Dimension

This world must be situated in time and undergo significant transformations.

The transformations must be caused by non-habitual physical events. Mental Dimension

Some of the participants in the events must be intelligent agents who have a mental life and react emotionally to the states of the world.

Some of the events must be purposeful actions by these agents, motivated by identifiable goals and plans.

Formal and Pragmatic Dimension

The sequence of events must form a unified causal chain and lead to closure.

The occurrence of at least some of the events must be asserted as fact for the story world.

The story must communicate something meaningful to the recipient.”

Tatsächlich gelingt es mit dieser umfassenden Definition sehr viel bestimmter, narrative Texte von anderen Texttypen abzugrenzen. Allerdings würde Ryans Definition auch auf Texttypen zutreffen, die man intuitiv nicht als Erzählung einordnen würde, so zum Beispiel historische Chroniken oder Beschreibungen von Sportereignissen. Insofern will ich ihre Definition in manchen Fällen noch durch weitere Distinktionsmerkmale ergänzen, um die Spezifik des Narrativen präziser zu bestimmen. Ich beziehe mich dabei einerseits auf Positionen von Chatman (1990), zum anderen auf eine Darstellung von Fludernik (2000), die beide versuchen, den narrativen Texttypus durch Abgrenzung von anderen Texttypen zu definieren.

Chatman (2000, S. 113) unterscheidet dabei die Texttypen „Narrative“, „Argument“, „Description“. Das entscheidende Distinktionsmerkmal des narrativen Textes ist für Chatman die Verortung in der Zeitlichkeit bzw. in seinen Worten: „What makes narrative unique among the text-types is its ‚chrono-logic‘.“ (1990, S. 9). In deskriptiven bzw. argumentativen Texten, so Chatman, ist dagegen eine Gleichzeitigkeit der zu beschreibenden Objekte bzw. eine nicht verortete Zeitlichkeit der vorgetragenen Argumente gegeben.

Ein differenzierteres Modell über drei Abstraktionsebenen entwickelt Fludernik (2000, S. 282). Sie unterscheidet zunächst sogenannte „Macrogenres“, die sie als „narrative“, „argumentative“, „instructive“, „conversational“ und „reflective“ benennt. Diese werden von ihr auf der Ebene der „genres“ oder „texttypes“ ausdifferenziert. Das narrative Macrogenre beinhaltet z.B. Romane, Dramen und Filme; das argumentative Genre umfasst wissenschaftliche Texte, Zeitungsartikel und Reden; zum instruktiven Genre zählen Gebrauchsanleitungen oder Ratgeberliteratur. Als „conversational“ werden Briefe, Verträge, Diskussionen oder auch verbale Konversationen bezeichnet. Das reflexive Genre umfasst philosophische Texte, aber auch Lyrik und den Witz. Auf der dritten Ebene sieht Fludernik diese Texttypen durch bestimmte Diskursmodi dominiert und definiert: das narrative Genre durch Berichtssequenzen, aber auch durch beschreibende Elemente; das argumentative durch argumentative Elemente; das instruktive durch Anleitungen und Mahnungen; das „conversational“ Genre durch Dialog und direkte Adressierung; das reflexive durch metalinguistische Passagen und Wortspiele.

Grundsätzlich erscheint es sinnvoll, die Spezifik des narrativen Texttypus auch über eine Distinktion zu anderen Texttypen zu bestimmen. Beide Modelle sind allerdings in ihrer Anwendung als Analyseinstrument zur Bestimmung des Narrativen nicht gänzlich unproblematisch. Einerseits widersprechen sich die Ansätze z.B. in der Frage, ob eine Beschreibung als narrativ aufzufassen ist. Zudem weisen sowohl Chatman als auch Fludernik darauf hin, dass gerade in narrativen Texten verschiedene Texttypen und Diskursmodi nicht „rein“, sondern gemischt auftreten. Fludernik und auch Chatman gehen dabei von der Dominanz bestimmter Modi in einem Text aus, die dann eine Zuordnung ermöglichen soll. So kommen beispielsweise in narrativen Texten oft argumentative Passagen vor, etwa im Streitgespräch zweier Kontrahenten, die man dann als dialogisch und adressatenbezogen auffassen kann, ohne dass dies den Text – eine entsprechende Dominanz des narrativen Modus vorausgesetzt – zu einem argumentativen macht. Weiterhin gibt es in Erzählungen immer wieder beschreibende Passagen, die etwa Schauplätze oder Charaktere vorstellen – für Fludernik ein Grund, den deskriptiven Modus als narrativ aufzufassen, während Chatman zwischen diesen beiden Modi eine Distinktion trifft. Dabei tendiere ich wie Chatman dazu, grundsätzlich den deskriptiven vom narrativen Modus zu unterscheiden. So ist ein rein deskriptiver Text, selbst wenn er eine Zeitlichkeit involviert, wie dies z.B. bei einem historischen Bericht oder der Beschreibung eines sportlichen Wettkampfes der Fall wäre, nicht als Erzählung aufzufassen, da hier weitere Elemente narrativen Gestaltens, wie ich sie in Kap. 4 ausführlich darstellen werde, fehlen.

So werde ich mich im Folgenden bei der Darstellung der Elemente narrativer Textgestaltung im Wesentlichen auf die von Ryan entwickelte Definition der „Building Blocks“ der Erzählung beziehen. Wenn eine Unterscheidung zu anderen Texttypen getroffen werden soll, die mit Ryans Elementen nicht ermöglicht wird, will ich zudem die Kategorien Chatmans und Fluderniks anwenden, wobei ich, wie dargestellt, den deskriptiven von dem narrativen Modus unterscheide.

3 Stand der Forschung

3.1 Erzählforschung und Narratologie

Die theoretische Auseinandersetzung mit Erzählungen, die ich zunächst als Erzählforschung bezeichne, beginnt bereits in der Antike mit Aristoteles‘ grundlegendem Werk, der Poetik (1994), wobei sich Aristoteles auf die zeitgenössischen Erzählformen des Dramas, des Epos und der Lyrik bezieht. Dieser Ansatz wird in Deutschland von Lessing in einer Sammlung von Aufsätzen, publiziert als Hamburgische Dramaturgie (1972 [1769]), weiterentwickelt. Ende des 19. Jahrhunderts emanzipiert sich die Erzählforschung zunehmend von der Dramentheorie. Im deutschen Sprachraum ist hier auf Friedrich Spielhagens Beiträge zur Theorie und Technik des Romans (1967 [1883]) hinzuweisen, der eine Tradition epischer Formanalyse begründet. In Russland legt Vladimir Propp mit der Morphologie des russischen Volksmärchens (1972 [1928]) die erste systematische Untersuchung einer narrativen Gattung vor. Diese Überlegungen werden seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem vom französischen Strukturalismus weiterentwickelt, der Ansätze des russischen Formalismus aufnimmt, zum einen aus literaturwissenschaftlicher (vgl. z.B. Genette 2010 [1966]) und zum anderen aus linguistischer und semiotischer Perspektive (vgl. z.B. Greimas 1971 [1966], Lotman 1973 [1970], Todorov 1969). Aus dieser strukturalistischen Perspektive begründet Todorov für die Erzählforschung den Begriff der Narratologie, den ich im Folgenden verwenden werde.

Obwohl in der strukturalistischen Narratologie vor allem strukturelle und formale Aspekte der Erzählung untersucht werden, gibt es hier bereits Hinweise auch auf eine spezifisch narrative Strategie der Textgestaltung auf semantischer Ebene, die für eine intermediale Betrachtung von Erzählungen von besonderem Interesse ist. So sieht Greimas die sogenannte „mythische Transformation“ (vgl. Greimas 1971) als elementares Merkmal einer Erzählung und postuliert, dass ein Text vor allem durch die Setzung narrativer Basisoppositionen zu einer Erzählung wird, eine Position, die in Deutschland z.B. von Stierle (vgl. Stierle 2012) vertreten wird. Juri Lotman (vgl. Lotman 1989) sieht in einer Grenzüberschreitung zu einem semantischen Raum, der topologisch und topographisch definiert ist, den Kern einer Erzählung. Die Feststellung, dass der Held des sujethaften Textes im Sinne Lotmans die Grenze eines Raums überschreiten muss, korreliert dabei zu Campbells These (1999 [1949]), dass der Held des Mythos eine Schwelle überschreitet, um in die Welt des Abenteuers zu gelangen.

Allerdings ist damit noch nicht die Frage beantwortet, ob und inwieweit diese Erkenntnisse intermedial anzuwenden sind. Die große Mehrzahl der Untersuchungen bezieht sich ausschließlich auf einen literarischen Korpus. Todorov (1969, 1971) untersucht das Dekameron, den Mythos des Heiligen Grals sowie, in Bezug auf Propp, russische Volksmärchen. Genette entwickelt seine narratologischen Termini in erster Linie an Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Roland Barthes (1989) analysiert Texte aus der Bibel sowie Erzählungen von Edgar Allen Poe. Trotzdem betonen Theoretiker wie Barthes oder Bremond bereits in den sechziger Jahren des 20. Jhs., dass Erzählen ein prinzipiell intermediales Phänomen ist:

„Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch.“ (Barthes, 1992 [1966], S. 102)

Zwar untersucht etwa Barthes in seinen Mythen des Alltags (1964 [1957]) schon früh Phänomene der Massenkultur wie Werbung, Comic oder Fernsehserie, und auch Umberto Eco (1992 [1964]). berücksichtigt in seinen semiotischen Forschungen Comics oder die James-Bond-Filme. Doch trotz dieser Ansätze unterbleibt zunächst eine systematische, medienübergreifende narratologische Forschung.

3.2 Die postklassische Narratologie

In den letzten Jahren erlebt die ursprünglich strukturalistisch und literaturwissenschaftlich orientierte Narratologie allerdings eine erhebliche Erweiterung, sowohl methodisch als auch inhaltlich. Hier sind vor allem zwei Strömungen zu unterscheiden.

Zum einen werden narratologische Konzepte auf andere Disziplinen übertragen, und erzähltheoretische Erkenntnisse anderer wissenschaftlicher Disziplinen finden Eingang in narratologische Arbeiten. Teilweise findet auch eine wechselseitige Grenzüberschreitung statt. Beispiele dafür finden sich zum Beispiel in der Geschichtswissenschaft in den Arbeiten von Hayden White (1987), in der Kognitionspsychologie bei Richard Gerrig (1993) und Jürgen Straub (1998) und aus kulturanthropologischer Sicht bei Walter Ong (1987). Diese Liste ließe sich weiter fortsetzen und um Ansätze aus der Rechtswissenschaft, den Wirtschaftswissenschaften oder der Philosophie ergänzen (vgl. dazu den Überblick z.B. bei Kreiswirth 2008 oder Herman/Verveck 2008).

Zum anderen – und das ist entscheidend für die vorliegende Untersuchung – erweitert sich der bislang primär literaturwissenschaftlich fokussierte Blick der Narratologie und beschreibt Erzählungen und Manifestationen des Narrativen in anderen Medien. Während die Narrativität des Films schon relativ früh untersucht wurde (vgl. z.B. Metz 1972, Chatman 1978, Bordwell 1985), kommt es in letzter Zeit zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem erzählerischen Potenzial anderer Medien, wie beispielsweise Comics (z.B. Schüwer 2002, Ewert 2004, Mahne 2007, Stein/Thon 2013, Kukkonen 2013), Lyrik (z.B. Müller-Zettelmann 2002) oder Musik6 (z.B. Wolf 2002, Kalafenos 2004, Tarasti 2004). Weiterhin werden mit der dynamischen Entwicklung der digitalen Medien auch die Möglichkeiten des interaktiven Erzählens untersucht. Dabei sind zwei Ansätze zu unterscheiden: Einerseits grenzen sich die sogenannten Ludologen klar von der Narratologie ab, fordern eine eigenständige Spieleforschung und stellen in Frage, ob Games überhaupt als Erzählmedium anzusehen sind (siehe dazu Kapitel 3.3.2). Andererseits untersucht eine Vielzahl von Theoretikern mit narratologischen Methoden die Möglichkeiten des Erzählens in Computergames. (z.B. Seibel 2002, Lunefeld 2004, Mahne 2007, Ryan 2006, 2008, 2009,).

Diese interdisziplinären Ansätze der Narratologie, die über die klassischen, strukturalistisch geprägten narratologischen Konzepte hinausgehen, fasst David Herman unter dem Begriff der „Postclassical Narratology“ zusammen. Herman grenzt sich mit diesem Begriff von der strukturalistischen Narratologie ab, der er „scientificity, anthropomorphism, disregard for context and gender-blindness“ unterstellt (vgl. Herman/Vervaeck 2008, S. 450). Führende Vertreter der postklassischen Narratologie sind neben David Herman auch Marie-Laure Ryan oder im deutschsprachigen Raum Ansgar und Vera Nünning, Werner Wolf und Monika Fludernik.

Die von Herman postulierte Dichotomisierung zwischen klassischer und postklassischer Narratologie bleibt allerdings kritisch zu hinterfragen. Auch vor der von z.B. Nünning ausgerufenen „Renaissance“ (2002, S. i [sic!]) der Narratologie existierten interdisziplinäre Ansätze in der Erzählforschung. In diesem Sinne könnte man schon die Entstehung der Narratologie als eine erste interdisziplinäre Grenzüberschreitung zwischen Semiotik und Literaturwissenschaft sehen. Weiterhin gab es schon früher wichtige Überlegungen zur Erzählforschung in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die die klassische Narratologie befruchtet haben, so zum Beispiel die kognitionspsychologischen Arbeiten von William Brewer (1985), die Überlegungen zu methodologischen Problemen der Geschichtswissenschaften von Arthur C. Danto (1980 [1965]) und die einflussreichen soziolinguistischen Untersuchungen zu mündlichen Erzählungen von Labov und Waletzky (1973 [1967]). Zudem gibt es wichtige erzähltheoretische Erkenntnisse aus anderen Disziplinen, die auch von der postklassischen Narratologie kaum beachtet werden, so zum Beispiel die Untersuchungen von mythologischen Erzählstrukturen des Anthropologen Joseph Campbell. Er weist nach (1999 [1949]), dass den mythologischen Erzählungen aller Kulturen und Völker ein universelles erzählerisches Muster zugrunde liegt, das er den Monomythos nennt. Dieses Konzept ist heutzutage von großer Praxisrelevanz und hatte vor allem durch die Adaption von Christopher Vogler (1998) großen Einfluss auf die Entwicklung des Hollywood-Kinos und damit auf Erzählstrukturen im Kino weltweit. Von narratologischer Seite finden Campbells Überlegungen aber bis heute kaum Beachtung.

Trotzdem bleibt festzustellen, dass die Narratologie in den letzten Jahren eine methodische wie thematische Erweiterung erfahren hat. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des interaktiven Erzählens oder, mit einem Terminus von Aarseth (1997), der „ergodischen Literatur“. Zu diesem Thema ist erst in den letzten Jahren eine größere Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten entstanden, da vor der Entwicklung und vor allem der Popularisierung der Computertechnologie der Textkorpus des interaktiven Erzählens zu beschränkt blieb. Ausnahmen sind frühe Beispiele interaktiv erzählter Literatur, wie zum Beispiel Composition No. 1 von Marc Saporta, die durchaus von der Erzählforschung wahrgenommen wurden, und das Genre der Pen&Paper-Rollenspiele bzw. Tabletop Role Playing Games wie Dungeons&Dragons, die ab Mitte der siebziger Jahre entstanden und die trotz ihres kommerziellen Erfolgs keine Resonanz in der Wissenschaft gefunden haben. Erst mit dem Aufkommen der Textadventures7 und später der visuellen Computergames beginnt die wissenschaftliche Auseinandersetzung auf breiterer Basis.

6 Allerdings ist die Narrativität von Musik trotz entsprechender Zuweisungen vor allem im 19. Jahrhundert auch unter Narratologen stark umstritten, wie selbst Wolf (2002, S. 76 ff.) feststellt, auch wenn er das narrative Potenzial von Musik untersucht.

7 In den sogenannten Textadventures wird das Spielgeschehen nicht grafisch, sondern in Textform wiedergegeben.

3.3 Narratologie und interaktives Erzählen

An der Frage, ob oder wie Computergames bzw. interaktive Medien Geschichten erzählen und in welcher Form dies wissenschaftlich-theoretisch zu analysieren ist, entzündet sich eine über lange Jahre kontrovers geführte wissenschaftliche Diskussion. Da anhand dieses Disputs wichtige erzähltheoretische Fragen aufgeworfen und entwickelt werden und diese zudem für die Entwicklung einer medienübergreifenden Erzählforschung von Bedeutung sind, werde ich diese Debatte im Folgenden ausführlicher darstellen.

3.3.1 Narrative Computergames

Erzählen Computergames Geschichten? Intuitiv würde man dieser Aussage wohl zustimmen. Protagonisten von Computergames wie Lara Croft oder Super Mario sind inzwischen Ikonen der Popkultur. Die zahlreichen erfolgreichen Verfilmungen von Computerspielen, z.B. Lara Croft: Tomb Raider, Sonic the Hedgehog oder die Resident Evil-Reihe, in deren Rahmen bereits fünf Real- und drei Animationsfilme realisiert wurden, deuten auf ein hohes narratives Potenzial hin. Vor allem die Adventuregames und die sogenannten MMOPRGs8 wie EverQuest oder World of Warcraft schöpfen in ihrem Setting immer wieder aus narrativen Quellen. Thematisiert werden das Motiv der Suche bzw. der Queste, mythologische Auseinandersetzungen oder magische Welten, die ihre Inspiration aus Klassikern der Fantasy-Literatur wie z.B. Der Herr der Ringe beziehen.

Auch Game-Designer betonen immer wieder die wichtige Rolle des Erzählens bei der Kreation eines Computerspiels. So schreibt zum Beispiel Dan Houser, der Entwickler der erfolgreichen Grand Theft Auto-Reihe: „Wir müssen es nur schaffen, uns als flüssiges Erzählmedium zu etablieren.“ (2014, o.S.). Der Game-Designer Chris Klug stellt fest: “Game developers need also to be expert story tellers, because we are telling stories even if we think we aren't.” (2002, o.S.). Auch der deutsche Game-Designer Kevin Mentz, u.a. verantwortlich für die Spiele Satinavs Ketten und Memoria aus der Das Schwarze Auge-Reihe, betont die Bedeutung von Geschichten für den kreativen Prozess: „Bei mir steht zuerst die Geschichte. (…). Während ich die Geschichte entwickle, habe ich auch immer im Hinterkopf, ob dieser Moment in der Geschichte auch etwas ist, der [sic!] sich in einen interaktiven Moment verwandeln lässt.“ (2013, o.S.). Katie Salen und Eric Zimmermann, die mit Rules of Play: Game Design Fundamentals (2003) eines der wichtigsten Handbücher zum Game-Design verfasst haben, widmen dem Thema „Games as Narrative Play“ mehr als vierzig Seiten. So scheint zumindest aus Perspektive der Autoren und Designer von Games kein Zweifel daran zu bestehen, dass Computerspiele tatsächlich Geschichten erzählen, auch wenn der Begriff „Geschichte“ bzw. „Story“ von Seiten der Kreativen eher intuitiv gebraucht und nicht definiert wird.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Computergames auch die Ebene des Erzählens in diesem neuen Medium erforscht wird. Zunächst geschieht dies im Rahmen einer klassischen narratologischen Perspektive. So konzentriert sich die theoretische Auseinandersetzung aus literaturwissenschaftlicher Sicht auf die Möglichkeiten des interaktiven Erzählens im Hypertext in digitalen Medien (vgl. z.B. Landow 1994, Aarseth 1997). Untersuchungsgegenstand dieser Ansätze sind unter anderem die frühen Adventure-Games. Diese Computerspiele, zum Beispiel Zork, waren oft ausschließlich schriftlich-verbal vermittelt, da die für eine anspruchsvollere grafische Darstellung nötige Rechenleistung in der damaligen Zeit noch nicht zu erbringen war. Somit ist eine Untersuchung dieser Spiele aus literaturwissenschaftlicher Perspektive durchaus angemessen. Allerdings wurden Computergames im Zuge der weiteren technischen Entwicklung grafisch immer anspruchsvoller und entwickelten somit eine größere Nähe zu audiovisuellen Medientexten. Grand Theft Auto I – V oder die Tomb Raider-Reihe seien hier als Beispiele genannt. Doch auch diese komplexeren, audiovisuell realisierten Spiele wurden zunächst noch mit Mitteln der narratologischen Literaturwissenschaft und Dramentheorie beschrieben, so zum Beispiel von Janet Murray (1997, 2004) oder in Deutschland von Britta Neitzel (2000), die Genettes Kategorien von „histoire“, „recit“ und „narration“ (2010 [1972]) auf Computerspiele überträgt und dabei das narratologische Konzept des implizierten Autors in ihrem Strukturmodell erzählender Computerspiele einführt.

Es ist ausdrücklich zu würdigen, dass Neitzel die Frage des Erzählens im Computergame als Erste im deutschen Sprachraum thematisiert hat. Dennoch ist zu fragen, inwieweit die Analyseinstrumente von Genette, die ausdrücklich für einen verbal vermittelten, literarischen Textkorpus entwickelt wurden, dazu geeignet sind, einen audiovisuellen Medientext zu untersuchen, der zudem noch interaktiv rezipiert wird. So wirft Hans Joachim Backe, der ebenfalls Strukturen des Erzählens im Computerspiel untersucht, Neitzel in diesem Zusammenhang „total media blindness“ vor (Backe 2008, S. 159 f.). Backe bezieht sich hier auf Überlegungen von Liv Hausken (2004), die untersucht, welche Probleme ein Theorietransfer mit sich bringt, wenn z.B. digitale Medien mit Hilfe von literaturwissenschaftlichen Modellen untersucht werden. Tatsächlich ist etwa das Modell des implizierten Autors in der Forschung, vor allem in Hinblick auf die Analyse von audiovisuellen Medientexten, sehr umstritten (vgl. z.B. Bordwell 1985 oder aktuell Richardson 2011, Kindt/Müller 2011). Während ein verbal vermittelter Text eine Erzählerinstanz voraussetzt, ist dies bei einem audiovisuell vermittelten Text zwar möglich, aber nicht zwingend der Fall.

3.3.2 Ludologie vs. Narratologie

Das Problem der Übertragbarkeit von narratologischen Modellen auf nichtliterarische Medien beschäftigt auch eine Gruppe von Wissenschaftlern um Gonzalo Frasca und Espen Aarseth, die sich seit Ende der neunziger Jahre mit der Erforschung von Computergames beschäftigen. Sie fordern, dass Computergames als eigenständiges Medium wahr- und ernstgenommen werden, was aus ihrer Sicht eine Theorieadaption von literaturwissenschaftlichen Methoden ausschließt. Neben den Arbeiten von Brendal Laurel (1993), Janet Murray (1997) und Espen Aarseth (1997) muss man vor allem die Untersuchungen von Gonzalo Frasca als Initialzündung für eine eigenständige Computergame-Forschung bewerten, insbesondere seinen Aufsatz Ludology meets Narratology: Similitude and differences between (video)games and narrative (1999).

Dabei weist auch Frasca zunächst auf strukturelle Ähnlichkeiten von Geschichten und Games hin: „The fact is that these computer programs share many elements with stories: characters, chained actions, endings, settings.“ (ebd., o.S.). Doch ist dies für ihn nur ein weiterer Grund, eine eigenständige Herangehensweise an seinen Untersuchungsgegenstand zu finden: „However, there is another dimension that has been usually almost ignored when studying this kind of computer software: to analyze them as games.” (ebd., o.S.). Dafür schlägt Frasca die Schaffung einer neuen Disziplin vor: „We will propose the term ludology (from ludus, the Latin word for ‘ game’), to refer to the yet non-existent ‘discipline that studies game and play activities’.“ (ebd.)

Während Frasca noch strukturelle Ähnlichkeiten zur Erzählung sieht und seine Abgrenzung zur Narratologie später auch relativiert (2003), wird für eine Gruppe von vorwiegend skandinavischen Wissenschaftlern um Espen Aarseth, Jesper Juul und Markku Eskelinen die Bezeichnung „Ludologists“ zu einem Kampfbegriff, mit dem sie sich von der Narratologie abgrenzen wollen. Dabei postulieren sie nicht nur die Eigenständigkeit des Spiels, sondern negieren jede Relevanz des Narrativen in Computergames. So schreibt Eskelinen (2001): „Stories are just uninteresting ornaments or gift-wrappings to games, and laying any emphasis on studying these kinds of marketing tools is just a waste of time and energy.” Drei Jahre später formuliert er seine Position ebenso polemisch (2004, S. 36): “Luckily, outside theory, people are usually excellent at distinguishing between narrative situations and gaming situations: If I throw a ball at you, I don’t expect you to drop it and wait until it starts telling stories.“

Wissenschaftlich differenzierter, aber ähnlich radikal stellt Aarseth seinen Standpunkt dar. Für ihn ist – im Gegensatz zur narrativen Repräsentation – die Simulation der definierende Modus eines Computerspiels, eine Simulation, an der die Rezipientin partizipierend teilnimmt: „Simulation is the hermeneutic Other [sic!] of narratives; the alternative mode of discourse, bottom up and emergent where stories are top down and preplanned. In simulations, knowledge and experience is [sic!] created by the player’s actions and strategies, rather than recreated by a writer or moviemaker.” (2004a, S.52). Allerdings unterschlägt Aarseth bei seiner Argumentation, dass die Rezipientin ständig mit den repräsentativen Anteilen der Simulation interagiert, die nicht von ihr selbst geschaffen worden sind, sondern von einem Autor bzw. Game-Designer. Erst dieser kreiert, wenn man so will, als Erzähler, die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen die simulierten Handlungen und Ereignisse stattfinden können.

Jesper Juul grenzt Computergames noch auf einer anderen Ebene von Erzählungen ab (2001). Er weist mit Bezug auf Chatman (1978) und Brooks (1992) Narrationen eine grundsätzliche Medienunabhängigkeit zu und damit verbunden die Möglichkeit, eine Erzählung von einem Medium ins andere zu übersetzen9. Diese Möglichkeit verneint Juul aber bei der Übersetzung von Film oder Buch ins Computerspiel. Als Beispiel führt er das Game Star Wars an, das auf dem gleichnamigen Film von George Lucas basiert. Dabei zeigt er, dass das Game nur einen kleinen Teil des Filmplots abdeckt und dass manche Szenen des Games überhaupt nicht mit dem Film korrespondieren. Zudem, so Juul, weise das Spiel keine narrative Geschlossenheit auf, da nach der finalen Zerstörung des Todessterns ein neuer Todesstern auftauche, das Spiel also potenziell unendlich sei. Somit könne von einer Übersetzung des Films in ein Spiel nicht die Rede sein, denn: “Most characters from the movie are missing, and the few events that are included in the game have become simulations where the player can either win or fail.” (2001, o.S.).

Auch wenn Juuls Beschreibung zutreffend ist, liefert er doch keinen Beleg, weshalb die in diesem Einzelfall ungenügende Übersetzung des Films in das Spiel generalisiert werden kann. Juul klammert aus, dass es 1983 schon aus technischen Gründen nicht möglich war, den Film Star Wars umfassend in einem Spiel zu reproduzieren. Mit den heutigen Möglichkeiten der digitalen Medien ist ein solches Szenario aber durchaus vorstellbar. Es ist letztlich die Entscheidung des Game-Designers, welche Charaktere und Szenarios er in einem Spiel für angemessen hält. Spiele wie The Last of Us oder Heavy Rain zeigen, dass sich komplexe Plots und interaktive Features nicht ausschließen. Für The Last of Usist eine Verfilmung geplant, für die Neil Druckman, der schon das Script für das Spiel schrieb, das Drehbuch verfassen wird, was ebenfalls zeigt, dass der Transfer von Medium zu Medium durchaus möglich ist – wenn auch in diesem Fall auf umgekehrtem Wege.

Nicht nur hier fällt auf, dass die Ludologen oft verkürzte oder unvollständige Argumentationen ins Feld führen, um ihren Standpunkt zu untermauern. So paraphrasiert Eskelinen Definitionen für Narrativität von Genette und Prince, bei denen für narrative Texte unter anderem eine Erzählsituation, also mindestens die Existenz einer Erzählerinstanz sowie die eines Rezipienten, eingefordert wird. Daraus folgert Eskelinen, dass Games keine Geschichten erzählen, denn: „I think we can safely say we can’t find narrative situations within games.“ (2004, S. 36). Dagegen zeigt z.B. Thon (2014b) an einer Vielzahl von Beispielen, in welcher Form Computergames Erzähler und Erzählsituationen etablieren. Bereits 2002 weist Klaudia Seibel darauf hin, dass sich die Narrativierung durch eine rahmende Erzählerinstanz nicht nur im klassisch narrativen Bereich der Rollenspiele und Adventuregames feststellen lässt, sondern auch „in zunehmendem Maße in Action- und Strategiespielen, bei denen die Spieleraktionen immer häufiger durch narrative Zwischensequenzen gerahmt werden.“ (2002, S. 255). Seibel führt als Beispiel das Rollenspiel Icewind Dale an und zitiert die rahmende Erzählerstimme: „The tales of the past deeds define what we are in the present and what we shall be in the future […] I shall tell you such a tale […] .” (ebd., S. 255).

Auch Price, auf den sich Eskelinen beruft, hat in der Neuauflage des „Dictionary of Narratology“ von 2003 die Forderung nach einer Erzählsituation als konstituierendem narrativem Element aufgegeben. Jetzt attestiert auch er Medien wie dem Film oder dem Drama narratives Potenzial. Ohnehin ist die Notwendigkeit eines Erzählers oder einer Erzählerinstanz, wie ihn die klassische Narratologie vielfach fordert (vgl. z.B. Chatman 1978, Genette 2010, Prince 1982) umstritten. Schon Bordwell weist darauf hin, dass im Film nicht notwendigerweise eine Erzählerinstanz realisiert sein muss (vgl. Bordwell 1985). Die gleiche Position beziehen postklassische Narratologen, die die Medienunabhängigkeit der Erzählung betonen und damit auch keine Notwendigkeit einer Erzählerinstanz sehen (vgl. z.B. Ryan 2004).

Ausdrücklich zu begrüßen ist der Ansatz der Ludologen, in ihrer Analyse die Medienspezifik der Computergames zu berücksichtigen. Nicht nachzuvollziehen ist aber ihr Interesse, vollständig zu negieren, dass Games als mögliches Medium von Erzählungen betrachtet werden können. Auch in interaktiven Medien werden, so meine Auffassung, Erzählungen vermittelt und nicht nur als Simulation durch den Rezipienten erzeugt, auch wenn bei der Kreation von interaktiv rezipierten Erzählungen tatsächlich spezifische Probleme entstehen, wie ich im Folgenden darstellen will.

3.3.3 Probleme des interaktiven Erzählens aus anwendungsbezogener Sicht

Obwohl viele Spielentwickler wie z.B. Chris Crawford oder Ernest Adams das Game Design als „Interactive Storytelling“ begreifen (vgl. Adams 1999), erkennen sie in der theoretischen Reflexion ihrer praktischen Arbeit die Probleme, die die interaktive Rezeption eines Spiels für das Erzählen einer Geschichte mit sich bringt. So sieht Crawford vor allem das Problem, in einem computergenerierten Spiel glaubwürdige Charaktere darzustellen. Beim derzeitigen Stand der Technik10 scheint es nicht möglich, emotionale, psychologisch glaubwürdige Geschichten zu erzählen, da das dafür notwendige Personal in Form von NPCs11 digital nicht generiert werden kann. Geschichten aber, so das Credo von Crawford, handeln von Menschen, nicht von Dingen (vgl. Crawford 2004).

Ernest Adams benennt schon 1999 die drei für ihn zentralen Probleme des Interactive Storytelling. Das erste ist „The Problem of Amnesia“. Adams weist hier darauf hin, dass ein Avatar in einem Adventure-Game zu Beginn denselben Wissensstand wie der Spieler hat. Er weiß mehr oder weniger nichts über die Welt, deren Teil er doch ist, und muss sie zunächst mühsam erforschen. Es ist einsichtig, dass ein solcher Charakter ohne Gedächtnis und damit ohne Vergangenheit in seinem Aktionsradius als Protagonist stark eingeschränkt ist und hierdurch eine bestimmte Art von Geschichte determiniert wird, nämlich die Geschichte eines Helden, der seine Identität sucht beziehungsweise an einem unbekannten Ort ein Geheimnis aufzuklären hat. Tatsächlich bevorzugen Game-Designer auch aus diesem Grund Settings, in denen der Protagonist eine zunächst unbekannte Umgebung erkunden muss, wie z.B. in der BioShock-Reihe; oder sie führen Protagonisten ein, die tatsächlich unter Amnesie leiden, wie z.B. in The Witcher.

Als zweites nennt Adams „The Problem of Internal Consistency“. Interaktivität bedeutet laut Adams eine maximale Entscheidungsfreiheit für die Spieler. Dies widerspricht aber einer konsistenten Charakterzeichnung, die nur eine begrenzte Auswahl von Entscheidungen zulässt – basierend auf den Werten und Eigenschaften des Charakters. Adams führt als Beispiel Superman an, der jederzeit in ein brennendes Haus fliegen würde, um ein Baby zu retten. In einem Computergame sollte sich eine Spielerin, aus welchem Grund auch immer, dafür entscheiden können, das Baby einfach verbrennen zu lassen. Da dies aber nicht mit dem Charakter eines Superman zu vereinbaren ist, kann ein solcher Charakter auch nicht dargestellt werden, ohne die Freiheit der Spielerin einzuschränken.

Zuletzt weist Adam auf „The Problem of Narrative Flow“ hin. Ereignisse und Handlungen einer Geschichte sind auf emotionale Höhepunkte und Wendungen hin komponiert (vgl. dazu auch Kapitel 4.9.2). Wenn man aber in einer interaktiven Umwelt die Strukturierung der Handlungen der Spielerin überlässt, können eventuell bestimmte Ereignisse der Geschichte nicht stattfinden. Wenn sich Artus weigern würde, Excalibur aus dem Stein zu ziehen, könnte er nicht König werden, und es gäbe keine Artus-Sage.

Adams kommt zu dem Schluss, dass sich interaktive Rezeption und anspruchsvolles Erzählen gegenseitig behindern – eine Schlussfolgerung, die ich in Kap. 4 noch an mehreren Stellen kritisch erörtern werde. Doch auch Adams hat diese Position in jüngster Zeit modifiziert (2014, S. 172): “Much of the difficulty surrounding the debate on interactive storytelling arises from vague, conflicting terminology and from the introduction of ideas from literary and other forms of criticism that apply poorly, if at all, to all the various forms of interactive storytelling.” Auf den ersten Blick sieht es so aus, als teile Adams weiterhin die Ansicht der Ludologen, dass die Narratologie, die primär die Analyse verbaler Erzählungen im Blick hat, für eine Untersuchung interaktiven Erzählens nicht geeignet ist. Man kann Adams aber auch so verstehen, dass er die Entwicklung neuer, dem Untersuchungsgegenstand angemessener wissenschaftlicher Methoden einfordert.

Genau dies ist seit mehreren Jahren das Ziel neuerer Strömungen innerhalb der Narratologie, die sich mit interdisziplinären Methoden um die Untersuchung narrativer Texte außerhalb des literarischen und verbalen Erzählens bemühen. Die Erträge dieser Forschungen befruchten die Narratologie, indem sie neue Ansätze zu neuen Formen und Medien des Erzählens liefern und damit die Definition des Narrativen generell erweitern.

3.4 Game Studies und Transmedial Narratology

Tatsächlich ist in den letzten Jahren eine Reihe von Studien erschienen, die Computerspiele als Erzählungen sehen bzw. deren narrative Aspekte untersuchen, so die bereits erwähnten Arbeiten von Neitzel (2000) und Backe (2008), weiterhin von Domsch (2013) und aktuell Thon (2015). Vor allem aber ist in diesem Zusammenhang auf die Arbeit von Marie-Laure Ryan hinzuweisen. Ryan, eine Wissenschaftlerin, die in der Softwarebranche gearbeitet hat, interessiert sich bereits früh für die Möglichkeiten und Strukturen computergenerierten Erzählens, die sie in ihrem Grundlagenwerk Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory (1991) untersucht. Dabei stehen nicht primär Computerspiele im Fokus, die Anfang der neunziger Jahre erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen, sondern verbal vermittelte, vom Computer erzeugte Prosa-Erzählungen. Ryan versucht, die Möglichkeiten der Sinngebung und Plotgestaltung der computergenerierten Erzählung zu systematisieren, und entwickelt dabei Modelle zur Beschreibung von Fiktionalität sowie zur Erzeugung von narrativen Konflikten, die wiederum in erzählerische Plots münden. Auch wenn die von Ryan dargestellten Beispiele vor allem aus dem verbal vermittelten Erzählen stammen, entwickelt sie im Sinne einer transmedialen Narratologie einen medienunabhängigen Begriff von Erzählung, der in ihrer Definition des Narrativen über die „Building Blocks“ der Erzählung eingeht (siehe dazu Kapitel 2.2). Gemeinsam mit Espen Aarseth gründet sie im Jahr 2001 die Game Studies, ein Online-Journal, das sich der wissenschaftlichen Erforschung von Computergames widmet. Der Titel dieser Publikation wird im Folgenden zudem der Oberbegriff für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Computergames und verdrängt den Begriff Ludologie. In Abgrenzung zur Ludologie ist die Erforschung des narrativen Potenzials von Computergames eines der zentralen Anliegen der Game Studies, wie auch an der ersten Ausgabe des Magazins zu erkennen ist, die sich vollständig der Frage der Narrativität von Computergames widmet.

Ryan stellt weiterhin die Frage nach der Medienabhängigkeit der Erzählung. Als eine der einflussreichsten Untersuchungen der letzten Jahre kann hier der von Ryan herausgegebene Band Narrative across Media. The Languages of Storytelling (2004) gelten. Untersucht wird vor allem die Medienspezifik von Erzählungen, sei es in Comics (Ewert 2004), Bildern (Steiner 2004), Filmen (Elliot 2004), Fernsehen (Freeland 2004) oder den digitalen Medien (Ryan 2004b, Aarseth 2004b).

Ryan postuliert die grundsätzliche Medienunabhängigkeit von Erzählung, so in ihrem Werk Avatars of Story (2006), in dem sie das narrative Potenzial verschiedener Medien und insbesondere die Möglichkeit des interaktiven Erzählens untersucht. Dabei identifiziert sie in Abgrenzung zu den Ludologen mehrere Manifestationen des Erzählens im Computergame (Ryan 2006, S. 201):

die Erzählung, die der Game-Designer über die Storyline, der der Avatar folgen muss, in dem Computergame angelegt hat,

die tatsächliche Aktualisierung dieser Erzählung durch die interaktive Rezeption des Spielers,

die Erzählung, die die Spielerin im Sinne einer Rahmenhandlung durch Cut-Scenes in das Spiel einführt,

die Erzählung, die den Spieler im Sinne einer Auflösung am Ende des Spiels, ebenfalls mit Hilfe von Cut-Scenes, über die erzählerischen Entwicklungen und Transformationen informiert,

die Erzählungen, die Spielerinnen mit den Aufzeichnungen ihrer Partien als „Let‘s Play“

12

produzieren.

Diese Systematik kann im Einzelnen hinterfragt werden, etwa daraufhin, ob die prologischen und epilogischen Cut-Scenes wirklich als getrennte Erzählungen zu werten sind. Dennoch zeigt Ryans Modell eindrücklich die unterschiedlichen Dimensionen des Narrativen im Computergame auf.