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Ein politisch gefördertes Mittel zur Behebung des Personalnotstands in der Pflege ist die Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland. Mit der Methode einer Problematisierung beleuchtet das Buch die Hintergründe und Folgen der Personalgewinnung internationaler Pflegekräfte. Es wird gefragt, ob der Anspruch einer ethischen Gewinnungspraktik Maskerade und der arbeitsmarktpolitischen Bedürftigkeit geschuldet ist, bei der gleichzeitig einwandernde Menschen aus den Entsenderegionen aus relativer Not heraus handeln, obwohl sie andere Verbleibeperspektiven bevorzugen würden. Ziel ist es, eine Synthese der Perspektiven zu finden, die aufzeigt, was in diesem Push-Pull-Geschehen noch freier Wille und was struktureller Zwang ist.
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Seitenzahl: 302
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Der Autor
Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-043262-8
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-043263-5
epub: ISBN 978-3-17-043264-2
Transnationale Zuwanderung von Sorge – hinter diesem klaren Titel verbirgt sich eine sozialtheoretische Betrachtung in einer außergewöhnlichen Tiefe und Breite. In einer fundierten wissenschaftstheoretischen Betrachtung und auch in einer »provozierenden Politisierung« macht der Autor deutlich, dass das Thema komplex ist, und die Zugänge und Perspektiven different sind. Die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, Pflegekräfte aus anderen Ländern an- oder je nach Perspektive auch abzuwerben, wird kontrovers diskutiert und entzieht sich einer eindeutigen Beantwortung.
»Die Nacherzählung einer bösen Geschichte der sozialen Wirklichkeit selbst«, so beschreibt der Autor seine Analyse. Es wird gefragt, ob es ethisch vertretbar ist, dass sich eine Wohlstandgesellschaft auch aus Nichtwertschätzung des pflegebedürftigen Alters eine Delegation ungeliebter Tätigkeiten an transnationale Pflegekräfte »leisten« kann. Pflege wird damit auch als nicht wertgeschätzter und defizitär ausgestatteter Arbeitsbereich »öffentlich« gemacht.
Bei der Frage der transnationalen Zuwanderung geht es immer auch um das Ringen um Fairness und Ethik in einem Bereich, der ein Spektrum an Aktivitäten besonders in den Bereichen der Anwerbung und Vermittlung beschreibt, der überwiegend in Grautönen changiert. Das ist nicht leicht zu akzeptieren – wollen wir doch gerade durch wissenschaftliche Herleitungen und Betrachtungen »Eindeutigkeiten« beschreiben und definieren.
Ein kurzer Einschub: Aktuell zeigt sich Kontroversität auch in der Diskussion darüber, ob ukrainische Pflegekräfte dazu beitragen können, Personalnotstände zu lösen. Hier stößt Ethik an Grenzen: Wie können wir darüber nachdenken, traumatisierte Menschen, die ihr Land wegen eines undenkbaren und durch nichts zu rechtfertigenden Krieges verlassen mussten, für unsere Mangelsituationen einsetzen zu wollen? Menschen auf der Flucht vor Krieg sind nicht die Lösung unseres Pflegeproblems – sie brauchen unseren Schutz, unsere Hilfe und Unterstützung und unsere Solidarität. Dieses Schutzbedürfnis und die Situation der Geflüchteten dürfen nicht ausgenutzt und auch kein noch so subtiler Druck ausgeübt werden.
Aber wird die Integration von Pflegekräften aus dem Ausland tatsächlich gewollt? Wird sie nicht gerade durch »Bemühungen« und »Vorgaben«, wie es zu machen wäre, auch verhindert? Können wir den vom Autor geprägten Begriff der wertschätzenden »Gastfreundschaftlichkeit« tatsächlich füllen? Wenn wir erst »lernen« müssen, wie wir Menschen wertschätzend in »unattraktive« Arbeitsbereiche und unser – nach unseren Maßstäben definiertes – kulturelles Leben integrieren, ist das dann ein Qualitätsmerkmal? Und dürfen wir überhaupt unterscheiden, was welche Pflegekraft, aus welchem Land sie auch kommen mag, für ein gutes Arbeits(leben) braucht? Müssen diese Bedingungen nicht für alle gleich und auch gut sein? Wie kann und muss Pflege also insgesamt und für alle Beteiligten besser werden? Diesen Fragen geht der vorliegende Essay in einer vielfältigen sowohl ernüchternden als auch erhellenden Analyse nach. Es gelingt, diesen Bogen der Betrachtung zu spannen und zu reflektieren. Eine Lösung ist nicht die Antwort, aber das Verstehen der Interdependenzen der Faktoren.
Pflege ist nach wie vor überwiegend weiblich, im privaten und professionellen Bereich und auch im Bereich der Anwerbung internationaler Fachkräfte. Die Frage mag gestellt werden, was wäre, wenn dieser Kontext der »überholten Mütterlichkeit« gelöst würde und es attraktiv und hoch angesehen wäre, Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf wertschätzend zu begleiten und in einem kulturell das Alter schätzenden Kontext zu pflegen. Der Autor beschreibt Wertschätzung als einen Schlüsselbegriff für einen Versorgungskulturwandel insgesamt und schlägt vor, »[…] die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Kultur des Alterns eingestellt ist, zum Gegenstand der gestaltenden Kritik zu machen«.
Er verweist in seiner Betrachtung auf »Produktivismus als pathologische Blickverengung« und macht damit deutlich, dass Innovation in der Pflege(wissenschaft) nicht losgelöst betrachtet werden kann, sondern nur im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion: »[…] Pflegepolitik ist Teil der Alternspolitik als Teil der Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik«.
Dieser Essay ist auch als ein kritischer Reflexionsbeitrag dem KDA zu seinem 60. Geburtstag gewidmet, einer von Wilhelmine-Lübke gegründeten Institution, die sich auch mit der kritischen Reflexion und Änderung von Altersbildern befasst. Dieser Aufgabe und Grundlage haben sich aktuell mehr als 60 Kuratorinnen und Kuratoren aus allen gesellschaftspolitisch relevanten Bereichen bzw. ehemaligen beruflichen Kontexten heraus verpflichtet. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Verpflichtung zu erneuern und den Diskurs über die zentralen Fragen eines Alterns in Würde und Wertschätzung konsequent und in einem gewissen Sinne auch »radikaler« zu verfolgen.
Mit dem grundlegenden Aspekt der Widersprüchlichkeit in der Anwerbung und Integration von internationalen Pflegekräften hat sich das KDA in eigenen Projekten befasst und sich einem entsprechenden kritischen Diskurs auch öffentlich ausgesetzt. Wir haben in diesen Prozessen lernen und akzeptieren müssen, dass an ethischen Grundsätzen ausgerichtete Vorgaben und Verbindlichkeiten beispielsweise im Bereich der Anwerbung durch Personalserviceagenturen oder auch durch selbst anwerbende Einrichtungen im Gesundheitswesen einen langen Atem brauchen und klare Ziele.
Fazit ist, dass der selbst gemachte, lange schon von vielen zu verantwortende Fachkräftemangel in der Pflege nicht durch die Anwerbung von internationalen Pflegekräften gelöst werden kann. Was hingegen getan werden muss, um den »personellen« Pflegenotstand – denn auch sonst herrscht in der Pflege Not – zu überwinden, ist lange benannt und bekannt, ohne dass eine Umsetzung stringent und mit echtem Gestaltungswillen verfolgt wird.
Der Autor beschreibt das Problem der Lösung des Pflegenotstandes aber nicht als in erster Linie Problem der Bezahlbarkeit, sondern »als Problem der Integrität und der Authentizität, also der Wahrhaftigkeit, der Verständigung über ein kollektiv geteiltes Ziel […]«.
Er beschreibt die »Idee der sozialen Freiheit als Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung« und eine »Vision einer humangerechten Alternspolitik und entsprechender Pflege- bzw. Versorgungspolitik in sozialer und Gemeinwesen orientierter Verantwortung. Gesellschaftsgestaltungspolitik wird definiert als »eine neue Codierung von Wohlstand und Lebensqualität […] von privatem Nutzen und Gemeinwesennutzen«.
Die zentrale Frage also lautet: gelingt uns das soziale Miteinander?
Mitte August 2022
Ingeborg Germann, Kuratorium Deutsche Altershilfe e. V. (KDA), Berlin
Geleitwort
Dichte Beschreibung der Logik der Abhandlung
Vorbemerkungen
Einleitung
Exkurs: Was ist Kritik?
1 Das Spannungsfeld: Feldanalyse zwischen dekonstruktivem Blick, achtsamer Ethik und marktökonomischem Maschinendenken
2 Paratextliche Eigenheiten der strategischen Erzählstruktur der vorliegenden wissenschaftlichen Abhandlung
3 Vertiefung der Grundlegung der Fragestellung
Exkurs: Risiken reiner Rezeptionsästhetik als große Alternativerzählung im Schnittbereich von Postmodernismus, Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus
4 Vom Erkenntnisinteresse zur Methode
5 Bausteine des dekonstruktiven Problemzugangs
Exkurs: Wir alle spielen Theater: Zur Inszenierung des Willkommens als Raum der Begegnung und ihrer sozialen Geometrie
6 Dekonstruktive Ambivalenz-Analyse
Exkurs: Grammatik der Anerkennung erlernen
7 Über Gütesiegel und zweierlei Arten von Koffern
8 Erkenntnis und Ausblick
Exkurs: Kleine Philosophische Anthropologie des Miteinanders
9 Vom Idealtypus zum Lernen am Realtypus
10 Ausblickendes Fazit
Nachbemerkungen
Literatur und Anmerkungen
Migrationsdynamiken sind Teil des Globalisierungsgeschehens. Neben dem Flucht-Phänomen, an dem sich kulturgeschichtlich die uralten Phänomene von Asyl und Gastfreundschaft knüpfen, führen die weltweiten sozioökonomischen Wohlstandsgefälle zwischen den Zentren, den semiperipheren Zwischenräumen und den Peripherien auch zur Arbeitsmigration. Das ist der allgemeine Hintergrund des Themas der vorliegenden Abhandlung. Doch handelt es sich nicht um eine einfache Bewegung von Dort nach Hier, von Außen nach Innen. Das wäre der Push-Effekt in den peripheren Räumen der Weltordnung. Es gibt interne Gründe im Innenraum der Zentren der Weltordnung. Es sind Pull-Effekte: Der Fachkräftemangel führt zu einem Interesse, Humankapital anzuwerben, dass die Lücken zu füllen in der Lage ist. Innerhalb des Rechtsraumes der EU ist diese Arbeitsmigration über die Freizügigkeitslogik des Binnenmarktes geregelt und reguliert. Aber es geht eben auch um die Push- und Pull-Beziehungen mit dem außereuropäischen Raum. Und zwischen diesen beiden Räumen des Austausches bestehen Unterschiede in der Dichte und Qualität der rechtlichen und politischen Regulierung.
Von den Push-Pull-Dynamiken der transnationalen Arbeitsmigration ist auch der weite Bereich der Care-Tätigkeiten geprägt. Der Titel der vorliegenden Abhndlung spricht von der »Sorgearbeit«, die transnational zuwandert.
Betroffen ist der Medizinsektor, und dort insbesondere die Krankenpflege (aber auch die Wanderung von Ärzt*innen) einerseits sowie andererseits vor allem auch die Langzeitpflege im Alter sowohl im ambulanten (häuslichen) wie auch im stationären Sektor. Angesichts des sog. Fachkäftemangels sind daher in diesem Zusammenhang zunehmend auch ethische Erwägungen und die durch Politik und Recht fundierten Regulierungen der sozialen Praktiken der Anwerbungen in das Zentrum der arbeitsmarktökonomisch dominierten Diskurse gerückt.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) ist zum Träger des »Deutsches Kompetenzzentrum für internationale Fachkräfte in den Gesundheits- und Pflegeberufen (DKF)« im Auftrag des BMG geworden, um Ergebnisse der »Konzertierten Aktion Pflege« im Bereich »Anwerbung aus dem Ausland« umzusetzen. Dazu gehören der »Werkzeugkoffer Willkommenskultur & Integration« und das Gütesiegel (»Faire Anwerbung Pflege Deutschland«).
Deutlich an dieser Entwicklung wird das Bemühen um eine ethisch akzeptable, weil hochwertige Qualität einer Kultur der Praktiken der Personalgewinnung von internationalen Pflegefachkräften. Diese Aktivitäten des KDA stehen hier nicht im Zentrum der Analyse, sie sind aber eine Signatur in der Konstellation der Ideen und Interessen in der aktuellen Entwicklung des Feldes. Diese Regulierungsinstrumente sind exemplarisch, besser: paradigmatisch1 für die Art und Weise, wie das Problem gesehen und bewältigt werden soll. Diese Tätigkeit des KDA ist in der vorliegenden Abhandlung nicht Gegenstand einer prädikativen und normativen Evaluation. Es geht um die ganze Tiefe und Breite der Hintergründe des Kontextes, in den diese Politik eingefügt ist.
Ist das Phänomen damit hinreichend reguliert und somit auch ethisch erledigt? Ist die eher manageriale2 Sprache der Rede von einer hochwertigen Praxis der Personalgewinnung nicht eine Maskerade, hinter der sich weiterhin problematisierbare Tiefenstrukturen, nicht nur des konkreten Feldes der Pflegepolitik, sondern der Kultur des Sozialen insgesamt, auftun?
Die vorliegende Abhandlung »problematisiert« – ein Foucault’scher Begriff3 einer komplexen Diskursanalyse und zugleich einer extrem differenzierenden Analyse der Gewebestruktur der Landschaft der Diskurse und der Kultur der sozialen Praktien – das Feld, ohne dem Wunsch nach einfachen, weil eben auch eindeutigen Antworten auf komplizierte Fragen nachzukommen und auf ein Ja oder ein Nein bzw. auf Prädikationen von Gut und Böse hinzuarbeiten. Man könnte zuspitzen: Die Eindeutigkeitserwartung verweist nicht auf Naivität, sondern auf ein schlechtes Gewissen, wobei die gespürte Schuld eine Ablass-artige Bereinigung erfordert. Die kognitive Dissonanz4 ist ausgeprägt: Man erkennt einerseits die arbeitsmarktpolitische Bedürftigkeit, bekommt aber andererseits das Gefühl nicht los, dass diese Strategie bedenklich, vieldeutig, widersprüchlich, konfliktreich, kurz: keine »reine Bereinigung« der Situation ist.
Statt also sich auf die sehnsuchtsvolle Suche nach einer einfachen Eindeutigkeit zu begeben, geht es vielmehr um die Vielstimmigkeit der Aufführung des Spieles auf diesem theatralischen Feld der gesellschaftlichen Selbstinszenierung, um die Polyphonie der Erzählungen, die hier die mitunter antagonistischen Wahrheitsspiele dieses Feldes der Verstrickungen in der komplexen globalen Welt der sozialen Interdependenzen antreiben. Es ist ein Feld, dessen Gewebestruktur geprägt ist von Ideen und Interessen, von Märkten und deren Logik, von der Politik, von Recht und Kultur, von Freiheit und Zwängen, von Träumen und Notlagen, von Verantwortung und Schuld und von sozialen Dramen im Lichte von gesellschaftspolitischen Drehbüchern, die mittels der Problematisierung rekonstruiert und eben auch ein Stück weit dekonstruiert werden müssen.
Spitzen wir die Fragestellung als herausfordernde hypothetische Sichtweise auf das Feld zu, und überlassen wir – hierzu bei Cicero5 ein Vorbild findend – die Entscheidung zu einer Positionierung sodann am Ende der Lektüre der hoffentlich hinreichend begründeten Meinungsbildung der Rezeptionslandschaft. Ich gehe mehrschrittig vor.
Das dominante, von der Humankapitaltheorie der Wohlfahrtsproduktion geprägte Narrativ lautet: Erreichbar wäre eine Win-Win-Situation. Das wäre eine politisch attraktive Perspektive. Theoretisch – aus der Schnittfläche von Rechtphilosophie, Ethik und Ökonomik heraus – fomuliert: Es würde sich um eine Rawlsiansche, also faire Teilmenge von Pareto-Lösungen handeln, in denen sich keiner besserstellt, indem er dadurch andere ursächlich schlechter stellen würde. Im Gegenteil: Alle stellen sich, wenn auch nicht in gleicher Stärke, besser. Es ist keine Winner-Loser-Performanz, sondern eine Sog-artige relative Winner-Struktur, die eigentlich eine einstimmige Konsenslösung indiziert. Oder sollte man die Lage der Dinge auch anders sehen können?
Doch, so eine mögliche Antithese und um hierzu Theodor W. Adorno aus seiner »Minima Moralia« aufzugreifen, hier wird eine Lüge als Wahrheit verkauft. Auf der Oberfläche des performativen Marketing-Designs mag die Pareto-Formel stimmen. In der Tiefe einer »problematisierenden« Analyse – so unsere Arbeitshypothese – ist diese soziotechnische Perspektive der Politik als Management eine kollektive Lebenslüge. Die Wohlstandszentren als Zielregion der Migration aus den mehr oder weniger peripheren Senderegionen braucht das Humankapital als Lückenfüller, obwohl sie diesen Zuzug an sich gar nicht will; die abwandernden Menschen als Humankapital der Entsenderegion müssen aus relativer Not heraus wandern, obwohl sie andere Verbleibeperspektiven bevorzugen würden.
Es treffen also von der Seite der Nachfrage wie von der Seite des Angebots zwei im jeweiligen Kern widersprüchliche Motivlagen aufeinander.
Die wandernde Sorgarbeit ist – zwischen Metapher und Übertragungsleistung gesprochen – die »anatolische Gastarbeit-Formation 2.0«: Die neuen Gastarbeiter sind Fremde, definierbar also als das ganz Andere der eigenen Identität, nicht wirklich gewollt, aber dringend benötigt für die Arbeit, die die eigene Population nicht leisten will, weil die Gesellschaft die angemessene Wertschätzung nicht geregelt bekommt. Zwar geht es nicht mehr6 um einige Zweige in der fordistischen Industrie und um die Müllabfuhr (als existenzial wichtige Segmente der kommunalen Daseinsvorsorge7, die aber als »primitiv«8 angesehen wurden), sondern um die Pflegearbeit.
Auch diese Pflegearbeit zählt im Europarecht als soziale Dienstleistung von allgemeinem Interesse (vgl. neben den Textfundstellen im EUV/AEUV etwa in Art. 36 der Grundrechtscharta der EU) in Analogie zur sozialen Daseinsvorsorge des Art. 28 GG des sozialen Bundessstaates des Art. 20 GG. Hier fehlt jedoch die Attraktivität für das eigene Erwerbspersonenpotenzial: Das Wohlstandszentrum als Pull-Region bietet Arbeit und Arbeitsbedingungen den Menschen der mehr oder weniger wohlstandsperipheren Push-Region an, die man selbst nicht erledigen will. Man spürt den Bei- und Nachgeschmack einer tiefer liegenden Ambivalenz9. Die affektive Ambivalenz bezieht sich aber auf die voluntäre Ambivalenz, etwas tun zu wollen, was problematisierbar ist, so dass die Bedürftigkeit aufkommt, aus einer intellektuellen Ambivalenz heraus zu kommen.
Wenn es eben kein einfaches Ja oder Nein geben sollte10, dann wird es wichtig, die Ambivalenz – nicht ganz ohne Tragik, aber auch die pathetische Position des tragischen Helden aus einer melancholischen Grundgestimmtheit11 heraus vermeidend – gestaltend auszuhalten.12 Wie kann es zu einer Positionierung emotionaler Reife kommen, indem die schizioide Spaltung überwunden wird und um sodann dergestalt eine Entscheidung im Kontext von nicht widerspruchsfreien Optionen treffen zu können. Es geht der Problematsierung darum, die Ambiguitäten nicht zu kaschieren, aber die Thematisierung nicht bis zur verstiegenden »Ambiguitätsversessenheit«13 zu steigern. Vor allem will ich die Problematisierung der Ambivalanzen und der Ambiguitäten nicht als postmodernistisches Spiel oder als strategisches Spiel14 betreiben.15 Es geht hier nicht um Kunst, die alles offen lässt.
Es geht mir also nicht darum, eine heterodoxe16 Position der Beantwortung der Frage zu beziehen, sondern es bei der Problematisierung zu belassen und dennoch deutlich zu machen, dass eine Entscheidung – in neuartigen Zwischenräumen?17 – getroffen werden muss.
Was ist hier – auf beiden Seiten des transaktionalen18 Prozessgeschehens – freier Wille, was ist struktureller Zwang? Wo ist hier noch offene Ehrlichkeit, wo verborgene Verlogenheit? Wie wollen wir mit dem Verdacht der Maskerade dieser Oberflächen-Erzählung angesichts des problematischen Drehbuchs in der Tiefe des Geschehens umgehen? Mit Verdacht meine ich weniger juristisch19 einen Aufgreiftatbestand, sondern die Notwendigkeit einer »Hermeneutik des Verdachts« im Sinne von Paul Ricoeur20, die sich nicht aus abgründigem Misstrauen21 heraus motiviert.
So könnte jetzt deutlich geworden sein, was das epistemologische Programm einer »Problematisierung« ist: Provozierende, weil störende Kritik der unkritischen, weil nicht hinreichend reflektierten Art und Weise, unsere Kultur des sozialen Miteinanders zu akzeptieren, statt es zu einer humangerechten Mutation transformativ anzutrieben. Wissenschaft mündet hier über reinen Empirismus hinaus in Empörung aus.
Die möglichen Lösungen findet man jedoch nur im Dialog22, zu dem Mut, soziale Phantasie, Visionen und die dadzu notwendige Ideen-getriebene Selbsttranszendenz in Bezug auf die Pfadabhängigkeit der Interessen, also Plastizität und Metareflexion und andere Tugenden einer Polis23 gehören.24 Letztendlich kann das Problem wohl nur im Rahmen eines neuen Verständnisses von ökonomischem Wohlstand und von sozialem Fortschritt und von Lebensqualität einer Lösung zugeführt werden.
In der vorangestellten Zusammenfassung als dichte Beschreibung der Logik der Abhandlung, die die Aufgabe hatte, die Fragestellung, mehr noch die Problemwahrnehmungsperspektive der vorliegenden Abhandlung als poetische1 Strategie der Problematisierung als Spiel des dialektischen Dreischritts zur Darstellung zu bringen, wurde zum Ausdruck gebracht, dass es nicht um Eindeutigkeit des Wissens als Grundlage einfacher Entscheidungen über Ja oder Nein als Modi einer Antwort gehen kann.
Eine solche tiefe Bedürftigkeit nach eindeutiger Wahrheit des Wissens der Wissenschaft prägte auch das Wissenschaftsverständnis breiter Bevölkerungsteile gegenüber den epidemiologischen Kontroversen in der Coronapandemie. Analog dazu kam vielfach wieder das relativ infantile bzw. regressive Bedürfnis an die Oberfläche der von Unsicherheit und Hilflosigkeit geprägten conditio humana der Menschen, vom »Vater Staat« ein perfektes soziotechnisches Krisenmanagement zu verlangen, bei Teilen der Bevölkerung dies wiederum aber nur in Verbindung mit Verzicht auf jegliche Einschränkung von Grundfreiheiten, obwohl die kollektive Situation der sozialen Interdependenz verfassungskonform, ja sogar in verfassungsgebotener Weise Rechtsgüterabwägungen (zwischen eigener individueller Freiheit und verantwortlicher sozialer Rücksichtnahme die Vulnerabilität des Mitmenschen) in Verbindung mit Verhältnismäßigkeit und dem Gebot der Vermeidung von Überreaktion im Rahmen einer Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung2 erforderte bzw. von der Gesellschaft abverlangte.
Viele Menschen tun sich offensichtlich oftmals schwer, mit Komplexitäten dergestalt umzugehen, dass es eben keine einfachen und eindeutigen Antworten auf die Herausforderungen der Gesellschaft und auf die damit assoziierten Enwicklungsaufgaben der Individuen dieser Gesellschaft gibt.
Die Wissenschaft ist daran nicht ganz unschuldig, ist sie doch gegenüber dem Alltagsmenschen nicht nur überheblich, sondern sucht oftmals möglichst einfache Formeln zur Erklärung der Welt (»Ockhams Rasiermesser«3), während es längst auch epistemologische4 Positionen5 gibt, die die treibende Sichtweise umkehren: Komplexe Phänomene benötigen komplexe Antworten.
In der Corona-Krise wurde oft gesagt, die Politik brauche die Wissenschaft und müsse auf sie hören.6 Auch hier gilt die Antwort: ein Ja und zugleich ein Nein. Wissenschaft kann die Aufgabe achtsamer Entscheidungen der Politik – und dabei geht es um mehr als um Modernisierung der Verwaltung7 – nicht abgeben. Wissenschaft schafft Entscheidungsgrundlagen, determiniert aber nicht die politischen Entscheidungen, auch dann nicht, wenn die Wissenschaft nicht nur als Empirismus, sondern in Gestalt der Ethik als Kern der praktischen Philosophie und die Rechtswissenschaft sogar überpositives Recht angesichts des Positivismus des positiven Rechts einbringt.
Auch dann, wenn es so zur Interpenetration von Wissen, Moral und Recht in einer möglichst deliberativen Demokratie kommt, die Politik muss – Polis und Tragödie waren immer schon eine dialektische Einheit8 – ohne Chance, vollkommen schuldlos aus ihrer Aufgabe heraus zu handeln, die Verantwortung der Entscheidung tragen.
Die deliberative Demokratie ist keine Priesterherrschaft der Moral und keine Gelehrtenrepublik der Wissenschaft. Vor allem: Nie wird die Welt ein Raum des Perfektionismus – das wäre der Wahn9 prometheischer10 Hybris, die nur ikarisch11 ausmünden kann – werden können.
Völkerwanderungen1 sind numinos: Sie faszinieren und machen (als »Gespenster«2) Angst3, schrecken ab und induzieren Nationalismus4. Hier nun geht es um eine andere Variante der Numinosität: Es geht um eine Politik der Zweckrationalisierung von transnationaler Zuwanderung.
Der Kern dieser Politik ist die selektive Strategie der Rosinenpickerei – im Kontext von Abschottung einerseits und ausgewählter Öffnung5 – zur Auffüllung von Versorgungslücken. Numinos ist dieses Phänomen, denn man merkt: Sie ist notwendig, aber unbeliebt. Und dennoch hofft man auf ihr Glücken. Der Begriff des Numinosen stammt an sich aus der Religionsphänomenologie und bezieht sich auf das Wesen des Heiligen. Von diesem Forschungsgegenstand kann der Begriff jedoch entkoppelt und auf andere Phänomene übertragen werden. Im vorliegenden Fall mag man durchaus staunen und sich die Augen reiben können: Das Phänomen ist von bemerkenswerter Klangvielfalt und wechselt bei den normativen Konnotationen zwischen heller und dunkler Gestimmtheit.
Vorliegend handelt es sich um einen Essay. Er ist problematisierend angelegt, weil er in einem gewissen Ausmaß eine dekonstruierende Lektüre darstellt, ohne einen absurden Dadaismus mancher Epigonen eines radikalen poststrukturalen Postmodernismus folgen zu wollen. Für das Verständnis der vorliegenden Abhandlung ist es wichtig zu verdeutlichen, dass der Poststrukturalismus hier nur methodologisch als abstrakte Theorie der Vergesellschaftung des Subjekts rezipiert wird. Weder wird auf eine große Erzählung einer humanistischen6 Hoffnung verzichtet, noch wird die moderne Naturrechtslehre der personalen Würde dem Werterelativismus freigegeben.
Die Idee, den Grundcharakter der Abhandlung als in epistemologischer Weise als »problematisierend«7 – wonach eben nichts einfach selbstverständlich8 ist und das permanent Gegebene zur Normalität9 erklärt werden darf – einzustufen, macht es notwendig, einen kurzen Exkurs »Was ist Kritik« voranzustellen.
Es kann nicht sein (ist aber so10), dass man die Faktizität der Tatsachen11 im Empirismus umkippen lässt in Positivismus12, wonach unter Normalität das Selbstverständliche in einer Gesellschaft verstanden wird, das als das Gegebene nicht mehr erklärt und über das auch nicht mehr dikustiert und immer wieder neu entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft das symbolische Universum der sozialen Wirklichkeit als Reich der sozialen Normen und betrifft sodann die daraus resultierenden konkreten kulturellen Verhaltensweisen der Menschen. Es wird durch die eher intentionale Erziehung und durch die ubiquitäre Sozialisation vermittelt.
Eine solche ideologische13 Konstruktion des Gegebenen als das vorreflexive Selbstverständliche kann sich weiter versteigen zu der Einschätzung, wonach Normalität14 eine Welt des Verhaltens im Sinne der Erwünschtheit, der Akzeptabilität, der Gesundheit, der weiteren politischen Förderwürdigkeit (des »enabling«-Staates15 der Enhancement-Idee16, in dem die Befähigung eine Maskerade der Disziplinierung ist) ist, während dazu im krassen Gegensatz die soziokulturelle Unerwünscheit, die medikalisierende Behandlungsbedürftigkeit, das im kriminologischen Sinne Gestörtsein des abweichenden, also anomischen Verhaltens steht. Damit wird auch das Fremde im Außenraum – wie schon im Innenraum (z. B. auch der stationären Altenpflege17) – zum Gegensatz des Normalen.18 Diese Ordnung definiert Wahn aus einem eigenen Wahn der Normalität heraus.19 Hierzu in Kontrast muss die Kritik gesetzt werden.
Kritik – ohne den Begriff nun hier philosophiegeschichtlich20 bis hin zur anhaltenden Kontroverse um die Möglichkeiten einer »Kritischen Theorie« zu diskutieren – hat als Begriff eine gewisse Vieldeutigkeit im Kontext verschiedener Verwendungsweisen. In digitalen Suchmaschinen kann man vielerlei Begriffsassoziationen finden. Es geht nicht um die sog. »Beckmesserei« als Metapher für engstirnige und somit neurotisch verstiegen anmutende gläubige Regelakzeptanz. Auch ist die sog. »Krittelei« nicht gemeint. Man kann dieses ewige Herum-Kritisieren nur als nervig empfinden, weil sie Ausdrucksgestalt einer permanenten kleinlichen und angesichst der conditio humana des Alltags als ungerechtfertigt erlebte Kritik erlebt und eingeschätzt wird. Doch was ist denn dann nun gemeint?
Was vielmehr gemeint ist, dass ist eine Kritik, die zugleich aus der Haltung der Skepsis resultiert, eine Kritik, die die Ordnung der Dinge systematisch hinterfragt – eben problematisiert – und dabei immer zugleich auch selbstkritisch davon ausgeht, dass auch sie, die Kritik, selbst irren kann21, ist also an einem Zweifel gegenüber dem Objekt wie auch gegenüber sich selbst als Subjekt der Kritik an dem Objekt charakterlich – also als Tugend – gebunden. Das kann soweit gehen, dass auch eine Unsicherheit bis hin zur gesteigerten Form der Verzweiflung bestehen mag: Gemeint ist der Zweifel, definiert als ein Zustand der unentschlossenen Unentschiedenheit, weil es nicht nur um reine Gesinnungsethik, sondern immer auch um Verantwortungsethik geht, also auch um die Art und Weise der Kritik in Bezug auf die wohlfahrtstheoretisch fassbare Veränderung des kritisierten Objekts und die damit verbundenen Folgen insbesondere externalitätstheoretisch fassbarer Art, insbesondere die negativen »spillover«-Effekte meines Tuns auf Dritte im Sinne von »sozialen Kosten«22.
Neuerdings wird in liberaler Art und Weise thematisiert, dass Kritische Theorie23 post-paternalistisch24 sein soll. Allerdings muss diese Haltung25, sofern sie meint, sich dem postmodernen Relativismus26 hingebungsvoll ergeben zu müssen27 und ohne Maßstab auskommen zu können, selbst nochmals problematisierend diskutiert werden müssen. Die Debatte ist anhaltend kontrovers.28 Doch die Themen der soziologischen Klassik sind immer noch aktuell.29 Und die Grenzen der deliberativen und der resonanztheoretischen Sicht der Dinge, wenn das nach-metaphysische Zeitalter Kritischer Theorie ausgerufen wird, werden überaus deutlich, wenn erkannt wird, dass es ohne eine Idee der Gestaltqualität eines humangerechten »guten« Lebens30 als »eigentliche« Daseinsführung im gelingenden sozialen Miteinander der Menschen nicht gehen wird31. Dies gilt, wenn man sich nicht der instrumentellen Vernunft32 im Anthropozän hingeben möchte, also unkritisch ausliefern will.33 So schlägt sonst der wissenschaftliche Empirismus in einen politischen Positivismus um. Und die Kritik wird im Reich der bloßen Meinungen eine Frage der privaten Haltung, die eventuell geltungsfähig, aber nicht mehr wahrheitsfähig ist.34
Die reflexive Haltung der skeptischen Kritik resultiert aus dem »Tadel«, der der Kritik der Ordnung der Dinge anhaftet. Es geht um normative Kritik an der Ordnung der Dinge, die auf Veränderung als eine Verbesserung drängt. Die Verantwortung, die mit dieser Kritik verbunden ist, führt zur Abneigung gegenüber dem sog. »Verriss«, dessen Strategie eben nicht auf eine Verbesserung des normativ kritisierten Objekts abzielt, sondern auf seine Nichtung, die den Charakter der Demütigung transformiert in die Formen der Verschmähung, der Verächtlichung, der Diffamierung, die Beleidigung und die üble Nachrede steigert bis zur Verleumdung (§ 185 StGb) und letztendlich reine Negativität ohne dialektische Aufhebung zum Guten als Möglichkeit eines Miteinanders als gemeinsame Veränderung hin darstellt. Am Ende steht (vgl. § § 211 und 212 StGB) der Übergang des Totschlags zum Mord. Das »System der Bewertung selbst« muss, wie Michel Foucault35 argumentiert, immer selbst seitens der Kritik36 im Auge behalten werden.37
Es muss hier weder über Typologie, Rollentheorie und Sozialgeschichte der Sozialfigur der Intellektuellen38 noch über Avantgardismus39 oder gar auch über Formen der Politikberatung40 nachgedacht werden.41 Allein die Frage ist aufzuwerfen, wie es die soziologische Diskussion schafft, das Problem der Kritischen Theorie mit dem liberalen Verweis auf die Unangemessenheit paternalistischer »Besserwisserei« – unter Umständen als argumentum ad hominem, um dergestalt eine wohlbegründetes analytisch fundiertes normatives Argumentationsgebäude zu diskretitieren – zu eskamotieren.
Doch das Phänomen ist ambivalent: Es hat dort eine Berechtigung, wo charakterlich eine unverbesserliche, also verschlossene statt dialogfähige, offene und lernfähige Sturheit einfach nur am Moralisieren ist, also eine »Rechthaberei« betreibt; es ist aber dann problematisch, wenn dadurch mehr oder weniger versteckt bzw. offensichtlich doch nur diskriminierende Denkverbote oder gar ausgrenzende Tabu-Ordnungen installiert werden sollen.
Wenn Sozialtheorie öffentlich werden will42, so sollte dies nicht unter dem Stern der Billigkeitsannahmen der Besserwisser-Kritik stehen.43 Kritik44 muss der sozialen Wirklichkeit immanent sein, und sie zugleich aus dieser Immanenz heraus endogen transzendieren45. Damit ist überhaupt kein Exodus46 gemeint. Die Frage lautet: Wie ist ein »Widergeist«47 zu denken?
Zurück aus dem Exkurs, der mir wichtig war, damit der Charakter der vorliegenden Abhandlung als Essay richtig verstanden wird. Er war auch proportional zur gesamten Abhandlung umfänglich, aber für das epistemologische verständnis eben dieser Abhandlung bedeutsam. Überhaupt ist dies der Grund, warum die Arbeit mit drei Anläufen der Zugangsöffnung (Dichte Beschreibung der Logik der Abhandlung; Vorbemerkungen; Einleitung) beginnt. Es geht nicht nur um das substanzielle Thema (der trannationalen Zuwanderung der Sorgearbeit) selbst, sondern zugleich, quasi als eine Metakommunikation der Kommunikation, auch um die Art und Weise, dieses Thema zu diskutieren, Positionierungen zu verstehen und letztendlich selbst eine orientierende Blickweise einzunehmen (Problematisierung).
Der wissenschaftlich fundierte, aber provozierend politisierende Essay folgt nicht – wenngleich man das Weltbild der Vielfalt jenseits unverantwortlicher Beliebigkeit retten können mag48 – der Schnittfläche zwischen Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus und Postmodernismus, sondern bleibt entsprechend der sozialeschatologischen Philosophie des Noch-Nicht konkrete Utopie49 und ihrem messianischen, allerdings säkularisierten bzw. post-religiösen Verständnis der Zeitlichkeit als Strukturmerkmal des seienden Seins des Menschen im sozialen Drama (der Personalisierung als Telos) seiner kulturellen Geschichte verpflichtet.50
Die Wissenschaftsfundiertheit des Essays wird, darauf soll noch eingegangen werden, in einer symbolischen Praxis signiert, durch – ein solcher Essay muss mitunter auch selbstironisierend sein – die liturgische Feier eines komplexen Referenzapparates. Es ist aber auch eine wissenschaftsethische Signatur: Was in der Literaturtheorie51 als »Inter-Textualität« im Lichte von »Dialogizität«52 bezeichnet wird, verweist auf den dialogischen Charakter auch im vorliegenden Fall der Erarbeitung des Essays. Mit Inter-Textualität53 wird – in der strukturalistischen und post-strukturalistischen Theorietradition verankert – in der heutigen Kultur- und Literaturtheorie das Phänomen bezeichnet, dass kein Bedeutungselement in Texten oder ganze Texte isoliert verstanden werden können, wenn nicht der gesamte Kulturzusammenhang als Totalität der sozialen Wirklichkeit herangezogen wird und ein Bezug zu den anderen relevanten Texte thematisiert wird. Was insbesondere in der Literaturwissenschaft so verstanden wird, kann und muss nun übertragen werden auf die Sozialtheorie, nach deren Verständnis die Gesellschaft ein Text ist und alle einzelnen Texte, Textsorten und Textteile in inter-textueller Hermeneutik erschlossen werden müssen.
Die provozierenden kritischen Nachfragen einer problematisierenden epistemischen Methode mögen ganz dem Verfasser schuldhaft zugeschrieben werden. Aber nichts (oder kaum etwas) hat der Verfasser aus einer unbedingten eigenen Ideenwelt. Es mag durchaus dabei auch etwas Neues entstehen, also anders als es Erich Kästner54 persiflierte, wonach Bücher auf Büchern aufbauen, die auf Bücher aufbauen, die wiederum auf Büchern aufbauen …, ohne dass dabei die Autoritätshörigkeit der Texte jemals zum Thema wird, weil es immer nur zu apologetischen Wiederholungen kommt. Ein problematisierender Eassy ist aber etwas ganz Anderes als ein Katechismus. Eine Kritik muss das Denken der Kritik der Kritik anregen, auf die man sodann durchaus wieder replizieren mag.
Doch nun, nach dieser langen und in ihrem Sinn eventuell nicht ganz erschlossenen Funktion der Ausführungen zum methodologischen Stil der Abhandlung, zum Thema, um das ja die essayistische Abhandlung »umkreisend kreisen« soll. Oder doch noch nicht: Angemerkt werden muss, wenngleich auch dieser Aspekt noch später wieder aufgeriffen werden wird, dass die Abhandlung ein Thema hat, aber doch auch noch weitere – kontextuelle – Themen, in die das zentrale Thema einerseits eingebettet ist, die andererseits aber auch das zentrale Thema wie im Modus der konzentrischen Kreise auf der Oberflächen des Wassers, in die das Kind – oder, um nochmals an Erich Kästner55 anzuknüpfen, der Erwachsene, der seine Kindheit nicht leugnet und verloren hat – den Stein geworfen hat, zur themenüberschreitenden Ausdehnungsdynamik treibt. Wir werden sehen.
Doch nun kurz, weil es sich ja um die Einleitung handelt, zum Thema. Die vorletzte Version von Titel und Untertitel dieses Essays lautete: »Transnationale Wanderung der Sorgearbeit. Ein problematisierender Essay über polyphone Wahrheitsspiele in einem ambivalenten Begegnungsraum«. Die Musik, die hier im Raum der Begegnung (die Strukturen des Empfangens des Gastlandes öffnen die Türe für die einreisenden Gäste, die dieses Geschehen der Erfahrung des Empfangens an sich selbst erleben) erklinkt, ist polyphon: vielstimmig. Die Argumentationslandschaft ist mehrstimmig im Rahmen einer komplexen positionalen Aufstellung in dem figurativen Feld. Das Problem insgesamt ist mehrdeutig: Wie kann, darf, soll oder muss man das Phänomen ausdeuten? Wie sind die Bedeutungszusammenhänge zu beurteilen, einzuschätzen, zu bewerten? Wie stellt man sich zu dem Phänomen auf? Eine solche Aufstellung nennt man eine charakterliche Haltung: Wie verhalte ich mich zum Thema? Welche Metaposition nimmt man zu der polyphonen Landschaft ein? Welches Fazit kann man auf der Metaposition der problematisiernden Betrachtung letztendlich einnehmen?
Der zunächst angedacht Hauptitel mag noch unmittelbar oder assoziativ verständlich sein: Es geht um die sog. Anwerbung56 von ausländischen Fachpflegekräften. Deshalb lautet der gewählte Titel, nachdem mir auch der zwischenzeitlich angedachte Titel »Transnationale Pflege-Migration« als doch etwas unschön erschien, nunmehr »Transnationale Zuwanderung von Sorgearbeit«.
Nun ist jede Arbeit Sorge, aber nicht jede Sorge ist Arbeit. Unter Sorgearbeit ist also eine Sorge zu verstehen, die die Form der Arbeit im Sinne des Arbeitsmarktes als Beschäftigungssystem annimmt. Im vorliegenden Fall geht es vor allem um die Langzeitpflege im Alter und somit um die Fachpflege als formeller Arbeitssektor. Dass es hier Grauzonen gibt, also schattenwirtschaftliche Übergänge in informelle Pflegetätigkeiten, ist vor allem mit Blick auf ambulante Strukturen in privater Häuslichkeit zu beachten.
Der ursprünglich angedachte Untertitel ist von einer derartigen Komplexität, dass er eine anspruchsvollere Interpretation bedarf. Wenn im tatsächlich gewählten Titel »Eine Problematisierung« angezeigt wird, dass die transnationale57 Pflege-Migration als Zuwanderung der Sorgearbeit problematisiert wird, so kann man schon ahnen, dass es nicht um die binär codierte Entscheidung »ja oder nein« geht.58 Im juristischen Habitus59 könnte man auch sagen: »Es kommt darauf an«. Problematisieren meint, ein Phänomen drehen und wenden, von allen Seiten betrachten, die Dinge, wie sie scheinen, zu hinterfragen. Hinter den Kulissen schauen, zwei Mal hinschauen, skeptisch sein. Nichts ohne Bedacht, vielleicht sogar nicht ohne jeglichen Verdacht anzugehen, aber letztendlich offen bleiben hinsichtlich der Erwartung, was wohl bei dieser Problematisierung herauskommt. Es geht bei der Marktöffnung mit Blick auf die Pflege-Migration um eine transnationale Pflegekraftpolitik: um eine sektorbezogene professionsspezifische Humankapitalbeschaffungspolitik.
Der Untertitel verdeutlicht, dass es – im Zeichen von Eris60, der Göttin des Streits und der Zwietracht in der griechischen Mythologie – um (strittige61) Wahrheitsspiele einer Diskursordnung geht. Diese Wahrheitsspiele finden statt zwischen 1.) einerseits einer persiflierten Gabe-Kultur neokolonialer Generosität und 2.) andererseits einer Ethik a) des Gütesiegels in der Begegnung von Reisekoffer (auf der Seite des Arbeitsangebots in der Subjektivierungsform des »Arbeitskraftunternehmens«62) und b) willkommenskulturellem Handwerkskoffer (auf der Seite der Arbeitsnachfrage).
Die Ethik soll verkörpert werden durch ein derartig definiertes regulatives Regime als Qualitätsmanagement des Begegnungsraums.
Die Fragen, die sich hier anschließen, lauten: Wie könnte, wie mag man, wie sollte, wie muss man die Dinge sehen? Zumindest sollte man die Dinge problematisieren63. Dies bedeutet, die Dinge zu drehen und zu wenden, das Innen nach Außen zu kehren, um zu dem möglichen wahren Kern vorzudringen.
Ja, vieles ist und bleibt strittig64, aber nicht in grenzenloser Beliebigkeit. So bedeutet – den komplexen Forschungskontext zur antiken Polis und des Stadtadels65 nicht aufgreifend – die Agonalität66 als Wesenszug der (radikalen67) Demokratie68, ohne hier69 die ganze neuere, vor allem aus Frankreich (oder auch aus Italien70) eingebrachte Politiktheorie71 aufzurollen, nicht, dass es nicht Fluchtpunkte im Sinne einer Verankerung in konstitutionell fundamentale Werte gibt.72 Konsens – verbunden mit einem semantischen Überschuss gegenüber der Figur des Kompromisses73 – ohne kollektiv geteilte Wertebezüge ist nicht überzeugend fundiert und nachhaltig möglich. Dieser Aspekt fundamentaler Art wird noch durchgängig eine Rolle spielen.74
Mit dieser Themenspezifikation ist eine Anspielung auf den Willkommenskoffer und auf das Gütesiegel, eine neuere Aktivität des »Kuratorium Deutsche Altershilfe« (KDA), in praktischer Hinsicht angesprochen: Das KDA75 – der Verfasser ist seit 1998 Kurator und war mehrere Jahre Vorsitzender des KDA – ist zum Träger des »Deutsches Kompetenzzentrum für internationale Fachkräfte in den Gesundheits- und Pflegeberufen (DKF)« im Auftrag des BMG geworden, um Ergebnisse der »Konzertierten Aktion Pflege« im Bereich »Anwerbung aus dem Ausland« umzusetzen. Dazu gehören, wie schon angespochen 1.) der »Werkzeugkoffer Willkommenskultur & Integration« und 2.) das Gütesiegel (»Faire Anwerbung Pflege Deutschland«)76 für ethisch hochwertige Praktiken der Personalgewinnung von internationalen Pflegefachkräften.77 Damit sind konkrete Phänomene als (perspektivische78) Fluchtpunkte der Erörterungen der vorliegenden Abhandlung angesprochen.
In diesem Sinne ist der Beitrag auch ein kritischer Reflexionsbeitrag zum 60. Geburtstag des KDA. Es soll dem gesellschaftlichen Verdienst des KDA gewidmet sein, aber auch den noch gesellschaftspolitischen Transformationsbedarf der reflexiven Ideenwelt andeuten. Das KDA kann sich nicht auf (wenngleich u. U. innovative79) Projektsteuerung reduzieren, das KDA muss vielemhr offen sein für die Mitwirkung an der dynamischen Entwicklung von Leitbildern und Utopien des gelingenden sozialen Miteinanders. Ich hatte dies im Rahmen meiner Vorsitzrolle eingebacht: Pflegepolitik ist Teil der Alternspolitik als Teil der Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik.80 Und diese ist eingebettet in ein vertikales Mehr-Ebenen-System der Hierarchie der Rechtsregime und in ein vertikales Mehr-Ebenensystem der Diszplinen der universitären Fakultäten, wie im nachfolgenden Kasten dargelegt ( Kasten 1).
Kasten 1: Normativ-analytischer Raum der Problematisierung
Hierarchie der normativen Rechtsregime
UN-Völkerrecht → EU-Recht → GG → System der SGB → WTG der Länder
↓
Normativ-analytischer Verschachtelungskomplex
↑
Hierarchie der analytischen Disziplinen
Ontologie und Anthropologie → Rechtsphilosophie und Ethik → Sozialpolitik → Sozialökonomik.
Dabei ist zu betonen, dass mit der Sozialökonomik morphologisch nicht nur privatwirtschaftliche, sondern auch gemeinwirtschaftliche