Trasse ist Klasse - Verena Liebers - E-Book

Trasse ist Klasse E-Book

Verena Liebers

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Beschreibung

Wer dieses Buch gelesen hat, wird sich Fahrrad- und Laufschuhe schnappen und nie wieder verreisen, weil er erkannt hat, dass die wahren Abenteuer direkt vor der Haustür locken, egal wo man lebt. Eine Einladung zur bewussten Wahrnehmung der kleinen Naturschönheiten unserer Umgebung! Die Wunder liegen nämlich vor der Haustür und Klimaschutz ist keine dröge Angelegenheit, sondern ein Abenteuer nach dem anderen. Radeln und Laufen, Nahreise statt Fernreise, das ist das Credo der Autorin. Sie nimmt den Leser mit zu ihren Entdeckungen jenseits berühmter Aussichtspunkte. Enthusiastisch berichtet sie vom Weg zur Arbeit, von Training, Verletzungspech und Wettkampffreuden auf kurzen und längeren Strecken. Als Wahl-Bochumerin hat Verena Liebers vor allem eine Vorliebe für die Trassen des Ruhrgebiets entwickelt und dabei zugleich eine Inspiration für all jene geschaffen, die vielleicht nicht nur wegen der Pandemie im Umfeld ihrer Heimat bleiben wollen oder müssen. Außerhalb des Ruhrgebiets berichtet sie auch über Radtouren im Bergischen Land und von sportlichen Erlebnissen in eher unscheinbaren Regionen Norddeutschlands (Uelzen, Otterndorf, Wingst). Verena Liebers ist erfahrene Ultraläuferin, sie lässt die Leser teilhaben an ihrer Begeisterung für diesen Sport, aber richtet den Blick hier vor allem auf die unauffälligen Schönheiten am Wegesrand und menschlichen Begegnungen. Sie erzählt charmant und mit einem Schmunzeln von ihren Erlebnissen mit den "harten Kerlen" aus ihrem Sportverein, den "Franks". Dies ist kein Ratgeber, kein Trainingsprogramm, kein Reiseführer und trotzdem von allem etwas. Vor allem aber die Einladung einer Biologin, die Natur vor der Haustür sportlich zu entdecken. Dies ist das richtige Buch für alle Laufeinsteiger und ebenso für die erfahrenen Marathonis und Triathleten, die statt Trainingsplänen eine Entspannungslektüre suchen. Dies ist ein Plädoyer für die Kraft und Faszination der Natur, ein Motivationsbuch, das alle Stubenhocker nach draußen lockt.

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IMPRESSUM

1. Auflage, 2023

© egoth Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

ISBN: 978-3-903376-53-3

eISBN: 978-3-903376-72-4

Lektorat: Dr. Rosemarie Konrad

Graphische Gestaltung: Dipl. Ing. (FH) Ing. Clemens Toscani

Printed in the EU

Gesamtherstellung

egoth verlag GmbH

Untere Weißgerberstr. 63/12

1030 Wien

Österreich

www.egoth.at

Verena Liebers

TRASSEISTKLASSE

VOM ABENTEUERVOR DER HAUSTÜR ZU LAUFEN

INHALT

WIE ES ANFING – DIE STRICHLISTE

OTTO UND WAS TRASSEN SIND

TRASSENSPLITTER 1

NACHTRADELN

TRASSENSPLITTER 2

ERZBAHN UND BUDE

ALLEE DES WANDELS

TRASSENSPLITTER 3

TRASSENSEHNSUCHT

TRASSENSPLITTER 4

STURM

BERGTRAINING

TRASSENSPLITTER 5

MONDLICHT

DAS TRASSENSCHWEIN

TRASSENSPLITTER 6

DAS MÄNNCHEN

MARMELADE UND ZUCKERSPIEL

DER LUFTBALLONLAUF

DER TAG DANACH

NEUE SCHUHE

TRASSENSPLITTER 7

DIE ZEITSCHLEIFE

MÜNSTERLÄNDER NORDBAHNTRASSE

KRÖTEN UND NAMEN

AUF YETI-JAGD

DIE TRASSENSTADT

TRASSENSPLITTER 8

ZUCKERSPIEL

DURCH DEN TUNNEL

BEGLEITUNG

LAUF AM KEMNADER SEE

TRASSENSPLITTER 9

ALS FAN ZUR TORTOUR DE RUHR

DER GEWINN

DIE ÜBERRASCHUNGSRADTOUR

KLEINER MORGENLAUF

TRASSENSPLITTER 10

DER BROMBEERBLICK

DIE PERLE HINTER DEM BAHNHOF

DAS FESTIVAL

TRASSENSPLITTER 11

BÄRENSTARK

VON BERGZIEGEN UND PHANTOMEN

BOTTROP IM HERBST

TRASSENSPLITTER 12

BOCHUM – DUISBURG

BÄNDER UND SEHNEN

TRASSENSPLITTER 13

DER ERSTE VIGLITHON

TRASSENSPLITTER 14

MIT DEM RAD ZUR ARBEIT

MEIN LEBEN ALS STREAKRUNNER

FÜNFEINHALB KILOMETER

TRASSENSPLITTER 15

DIE MAGISCHE DREI

KOPPELTRAINING

TRASSENSPLITTER 16

90 MINUTEN

HANNOVER-MARATHON IN OTTERNDORF

TRASSENSPLITTER 17

OTTIMAN UND DIE MÜLLABFUHR

MIT DEN HEXEN DURCHS MOOR

LANGDISTANZ SCHLUMPFHAUSEN

TRASSENSPLITTER 18

NEW YORK KLIMANEUTRAL

TRASSENSPLITTER 19

DAS LEBEN ZWISCHEN 27 STRASSENLATERNEN oder DIE TRASSENCHALLENGE

TRASSENSPLITTER 20

PARTY TO GO

TRASSENSPLITTER 21

DAS INNERE PANORAMA

TRASSENSPLITTER 22

MIT GURKENRAD IM GURKENWALD

48:48 – DER KÜHLSCHRANKLAUF

ABENTEUER HERBSTWALD

TRASSENSPLITTER 23

DIE DATUMSLÄUFER

TRASSENSPLITTER 24

DEUTSCHE MEISTERSCHAFTEN IM SECHS-STUNDEN-LAUF

DER MÜSLIRIEGEL-SONNTAG

MOTIVATION

ZWEI KUCHEN UND ICH

TRASSENSPLITTER 25

DIE AUTORIN

WIE ES ANFING – DIE STRICHLISTE

Ich habe mich in eine Trasse verliebt. Nicht auf den ersten Blick, aber es war sofort eine Sympathie, ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, ein schales Verlorensein, wenn ich einen Tag ohne sie erlebte. Sie fing an, zu mir zu gehören wie mein Fahrrad oder meine Zahnbürste, und mittlerweile bin ich der Ansicht, dass es kaum möglich ist, ein Leben im Ruhrgebiet zu beschreiben, ohne diese Trasse und ihre vielen Kollegen zu erwähnen. Vor allem, wer gerne sportlich unterwegs ist, findet unter dem Begriff Trasse ein wahres Eldorado, das sich zudem beständig vermehrt und erweitert.

Die Trasse ist aber nicht nur dieses Stückchen platter Asphalt bei mir um die Ecke, sondern sie steht stellvertretend für das Stück Heimat, das jeder vor seiner Haustür hat. Viele Menschen fahren ein- oder zweimal im Jahr in Urlaub und erzählen ihren Freunden von Radtouren auf Mallorca, Wandern im Tessin oder Baden an französischen Stränden. „Aah,“ sagen die Freunde dann, und „Ohh“, während sie zusammen unter einem Regenschirm an der Bushaltestelle stehen, einem Ort, den sie viel öfter sehen als die spanischen Strände. Diese Aah- und Ohh-Zeit dauert zwei, vielleicht drei Wochen. Demgegenüber stehen mindestens elf Monate, in denen wir zu Hause sind. Wo auch immer das ist. In der Stadt, auf dem Dorf. Das also ist unser Alltag, das ist der Ort, an den wir zurückkehren, egal wohin wir gefahren sind. Das ist das Heim, in dem wir bleiben, wenn eine Pandemie uns gänzlich vom Reisen abhält. Nun mag es Menschen geben, für die es tatsächlich nur im Urlaub lebenswert ist, aber die Regel ist das nicht. Der Alltag ist genau das, was wir uns so einrichten, wie wir es wollen und müssen. Wir haben Arbeit, wir müssen einkaufen, die Wohnung streichen, die Kinder betreuen, Eltern versorgen und den Garten umgraben. Der Bus kommt zu spät, der Chef ist ungerecht, und ein Schnupfen zwingt uns in die Knie oder in Quarantäne. Und irgendwo in diesem täglichen Aufgabenwust versuchen wir Sportler, uns die Trainingszeiten zu ergaunern. Sie werden uns nicht geschenkt, eigentlich scheint immer alles dagegen zu sein, im Supermarkt stehen wir Schlange, der Flaschenautomat ist kaputt, im Auto blinkt ein rotes Licht, das wir nicht kennen, und der Hund hat das Kopfkissen zerfetzt und das Gemüse erbrochen. Wir werden also kaum an einem Montagabend kurz auf die Malediven fliegen und uns an den Strand legen, sondern das Größte an einem verregneten Abend im November ist es, die Turnschuhe anzuziehen und loszulaufen. Das ist in meiner Wohnlage nahezu gleichbedeutend mit Laufen auf der Trasse. Sie ist die kleine Flucht aus dem Alltag, Begegnungsstätte mit meinen Freunden, den Jahreszeiten und mir selbst. Dort bin ich vor und nach der Arbeit, vor und nach dem Urlaub, dort passiert so viel, es ist das heimliche Abenteuerland.

Aber keiner fragt: „Wie war es auf der Trasse?“, sondern die meisten erkundigen sich nur nach dem Urlaub, dem letzten Marathon und so weiter.

Ich finde, das muss sich ändern.

Das ist ein nahezu übersehener und in jedem Fall unterschätzter Lebensraum vor unserer Haustür, der erzählenswert ist. Da ich sowieso einen Zählzwang habe und Schwimmbahnen, Treppenstufen oder Schritte am Tag immer wieder zähle wie Dagobert Duck seine Münzen, habe ich mir eine Strichliste zugelegt und gezählt, wie oft ich denn dieses Trassenstück vor meiner Haustür nutze. 257 Striche sind es im Laufe eines Jahres geworden. Im Pandemiejahr steigerte sich das auf 316-mal. So oft sehe ich nicht einmal meinen Partner.

Seitdem ich diese Strichliste führe, bin ich immer aufmerksamer geworden, ich bin zur Trasse aufgebrochen, als würde ich in Urlaub fahren, mit weit aufgesperrten Sinnen, lauernd auf die nächsten Abenteuer. Ich habe mit meinen Franks1 über die Strichliste gestritten (Wenn ich die Trasse nur 500 Meter nutze, gilt das genauso wie zehn Kilometer? Ist es nur ein Strich, wenn ich auf der Trasse wende und dieselbe Strecke zurücklaufe?), und ich habe Besucher dorthin geführt und mit einer Stimme wie bei der Enthüllung des Weihnachtsbaums gesagt: „Da ist sie, die Trasse.“

Manchmal nörgelten die Gäste dann: „Ach, das ist sie? Die hatte ich mir irgendwie spektakulärer vorgestellt.“

So ist das eben, kein Phantasia-Land, kein Prunkbau, nur einfach der kleine Weg und das, was wir daraus machen. Für mich ist es die Trasse, für einen anderen vielleicht der Berliner Bürgersteig, der Parkweg im Englischen Garten oder die kleine Waldrunde in Hinterposemuckel. In der modernen Welt muss scheinbar immer irgendwo ein Feuerwerk losgehen, selbst wenn es nur auf unserer Sportuhr ist, die uns gerade blinkend meldet, wir hätten das Tagesziel erreicht oder die schnellste Meile erlaufen – verglichen mit langsameren, auf denen wir uns vielleicht besser unterhalten haben.

Eigentlich spektakulär ist nach meiner Ansicht, dass wir bereit sind, Millionen Mal dieselben Wege zu gehen, zu radeln, zu laufen, und dass wir vielfach erst merken, dass wir diese Heimat vermissen, wenn wir weit weg und einsam sind.

Ein bisschen größer als die Trasse ist mein sportlicher Radius allerdings schon, davon berichte ich in diesem Buch auch. Aber oft genug beginnen und enden meine Tage an dieser Trasse, und wenn ich verreist war, laufe ich erwartungsvoll wieder dorthin, wie ein junger Hund, der überprüfen will, ob sein Revier noch markiert ist.

Begleitet werde ich dabei ebenfalls von immer wieder denselben Herzensmenschen, meinem Partner und den Franks, wie ich meine Vereinskollegen seit unserer ersten legendären Begegnung nenne. Damals saß ich als einzige Frau und Neuzugang beim Triathlonstammtisch und blickte verwirrt in die Runde, als sich bereits der zweite Sportler mit „Hi, ich heiße Frank“ vorstellte.

„Wir heißen alle Frank“, erklärte mir daraufhin ein dritter schlagfertig, und danach war das Eis gebrochen, und mein abenteuerliches Leben mit diesen harten Kerlen, die viel besser sind als ihr Ruf, begann.

Ich kann nur jedem ein paar Franks zur Begleitung und dazu so ein Stück Trasse wünschen, das den Rahmen, den Anfang und das Ende jedes Abenteuers bildet.

1 Die Franks sind die harten Kerle aus meinem Triathlonverein, siehe „Vom Abenteuer 100 Kilometer zu laufen“, Klartext Verlag.

OTTO UND WAS TRASSEN SIND

Das Ruhrgebiet war früher mehr als heute von Bahnstrecken durchzogen, die bekanntermaßen Kohle und Koks, Stahl und Eisen zwischen den Förderanlagen und Fabriken hin und her transportierten. Für die Fördertürme und rauchenden Schlote war die Region so bekannt, dass meine Freunde meinten, ich würde künftig auf einem Schornstein leben, als ich vor 30 Jahren von Bayern nach Bochum zog. Manche denken das sogar heute noch, weil sie immer nur Urlaub in Mallorca machen und Bochum nicht einmal von der Landkarte kennen. Dabei war schon damals, in meinen ersten Ruhrgebietsmonaten, der Himmel über der Ruhr längst wieder blau, und meine Vermieter trockneten ihre Bettlaken im Garten, ohne dass sie anschließend schwarz waren. Wenn mich jemand auf Bergbau anspricht, denke ich als Erstes an das Bochumer Museum und den Bottroper Herbstwaldlauf, der jahrelang am Bergwerk Prosper-Haniel ausgerichtet wurde. Es ist eine Vergangenheit, die zu der Region gehört, schon deshalb, weil bis in alle Ewigkeit Wasser abgepumpt werden muss, wenn das Ruhrgebiet nicht als Seenplatte vermarktet werden soll. Etwa ein Fünftel der Region liegt infolge des Bergbaus unter dem Grundwasserspiegel. Wir haben hier also nur geliehenes Land, nicht viel anders als die Küstenbewohner hinter den Deichen im Norden.

Hin und wieder sackt die Erde ab, nicht lange nach meiner ersten Ankunft in Bochum wurde sogar ein kompletter PKW verschluckt. Das hat mich damals sehr beeindruckt. Niemand weiß eben so genau, an welcher Stelle wie viel und mit welchen Folgen im Ruhrgebiet gebuddelt wurde. Vielleicht leben eine Etage tiefer noch ein paar Unterirdische, die sich von Staub ernähren, es gibt hier so viel Überraschendes, da würde mich das nicht wundern.

Im Wesentlichen sind Bergbau und Zechen allerdings Vergangenheit, der endgültige Kohleausstieg wurde 2018 intensiv gefeiert und beweint. Deswegen sind die Kohle- und Koksbahnstrecken unnötig geworden. Weil wir aber im Zeitalter der Wiederverwertung leben, entstehen auf diesen Trassen zunehmend Radwege. Relativ steigungsarm und nach Möglichkeit kreuzungsfrei schlängeln sie sich abseits vom Straßenverkehr durch die Landschaft. Ein Glücksfall für Sportler und Umweltbewusste, die ihre Einkäufe gerne autofrei erledigen, sofern sie dabei nicht Gefahr laufen, von einem Laster überrollt zu werden.

Nun sind Bahntrassen, die sich zu Radwegen verwandeln, keine Erfindung des Ruhrgebiets: In ganz Deutschland und auch darüber hinaus haben sich die Menschen die ehemaligen Bahnwege zunutze gemacht, wäre ja auch schade um die wunderbar angelegten Verbindungswege. Knapp 5500 Kilometer Trasse verzeichnet die Internetseite Bahntrassenradeln.de bundesweit. Spitzenreiter im Trassenradeln ist Nordrhein-Westfalen, vor allem wenn man die in Planung befindlichen Strecken mit einrechnet. 1013 Kilometer sind es schon derzeit, doch sind 24 weitere Trassen geplant. Die Bayern sind zwar mit 1017 Kilometern eigentlich genauso gut ausgestattet, aber das verteilt sich im Freistaat auf weit mehr Quadratkilometer, so dass die Trassendichte in NRW deutlich höher ist. Außerdem kann ich aus meiner langjährigen Erfahrung mit den Lederhosenbesitzern sagen, da spricht keiner über Trassen. Im schönen Bayernland geht man sonntags auf den Krottenkopf oder die Zugspitze, man trifft sich am Tegernsee oder an der Isar. Sie können sich also beliebig oft und lange in Süddeutschland verabreden, ohne dass Sie dem Wort „Trasse“ jemals begegnen.

Das ist im Ruhrgebiet anders. Wenn Sie nicht gerade ausschließlich Museen und Theater besuchen, wird es nicht lange dauern, bis Ihnen jemand einen Spaziergang oder eine Radtour entlang einer Trasse vorschlägt. Das liegt sicher nicht nur an den 1013 Kilometern, sondern auch daran, dass es im Ruhrgebiet sehr viele Menschen und erstaunlich viele Autos gibt, die auf zahlreichen Autobahnen und Straßen durch die Metropolregion sausen. Meistens lassen sich Fahrzeiten von A nach B nicht ermitteln, sondern die übliche Antwort lautet: „Das kommt darauf an, wie lang der Stau ist.“

Zwischen den Autostaustrecken stehen viele Häuser, die oft zwar gut zu bewohnen sind, aber nicht gerade ein optisches Highlight darstellen, und dann natürlich noch ein paar Fabriken und die legendären Schornsteine.

In so einer Umgebung ist eine Trasse ein kleines Wunder. Grün gesäumte Wege, die verkehrsfrei durch die Region führen, wo Sie entlangbummeln und -rollen können, ohne dabei überhaupt noch zu wissen, ob Sie noch in Bochum oder schon in Hattingen oder Essen sind. Autos und Häuser sind nur die Kulisse hinter diesen Freizeitwegen, die Sie ungestört von Straßenlärm genießen können. Dieses Trassennetzwerk hat das Ruhrgebiet verwandelt, es hat den Menschen ihre tatsächliche Automobilität zurückgegeben, denn „auto“, so erläutert es das weltweite Lexikon, ist ein „Wortbildungselement mit der Bedeutung ‚ohne fremdes Zutun‘“; sinnverwandt wäre „eigen“ oder „selbst“. Wir können uns selbst bewegen auf diesen Trassen, ohne Motor, zu Fuß oder strampelnd mit unserer Muskelkraft. Da sind wir also viel mehr automobil als mit der motorisierten Form, die uns als Auto bekannt ist. Der Mensch hat Vorfahrt auf diesen Wegen, nicht die Maschine. Dennoch dauerte es für mich eine Weile zwischen der ersten Trassenlaufrunde und dem Augenblick, als ich dachte: Das ist ja der Wahnsinn, das muss ich aufschreiben.

Zu den 1013 Trassenkilometern gehören natürlich auch winzige Versatzstücke, die noch keinen ganzen Ausflug rechtfertigen. Aber in Bochum gibt es mindestens zwei Bahntrassenradwege, an denen kein Bochumer vorbeikommt: Die Springorum-Trasse und die Erzbahn. In den gut 30 Jahren, die ich schon in Bochum verbracht habe, lebte ich zunächst im Ortsteil Stahlhausen, und seit ein paar Jahren bin ich im südlichen Bochumer Zentrum, im Teil eines Stadtteils, der als Ehrenfeld bekannt ist, zu Hause. Man kann in den Zeitungen lesen und unterdessen an den Mietpreisen erkennen, dass dieses Viertel mittlerweile als hip gilt. Das allerdings interessiert die bodenständigen Bewohner weniger als die Tatsache, dass es hier kurze Wege zum legendären Bermudadreieck, zum Bahnhof, zum Schauspielhaus und dem Supermarkt gibt. Der Unterschied zwischen meiner Wohnlage in Stahlhausen und der im Ehrenfeld lässt sich für mich vor allem daran festmachen, dass ich zunächst nahe der Erzbahn und nun nahe der Springorum-Trasse wohne. Die eine verbindet Bochums Mitte mit Gelsenkirchen und dessen Zoo, die andere reicht vom Bochumer Zentrum bis an die Ruhr. Mittlerweile gibt es auch ein Verbindungsstück zwischen Erzbahn und Springorum-Trasse, so dass die Radler ungestört von den Eisbären zu den Kanadagänsen rollen können oder umgekehrt und dabei noch an Sehenswürdigkeiten wie der Jahrhunderthalle und dem Museum im Schlosspark vorbeikommen. Wer dort noch nicht geradelt oder gelaufen ist, war eigentlich noch nicht wirklich in Bochum.

Die Springorum-Trasse ist nun also seit ein paar Jahren mein erweitertes Wohnzimmer. Diese Trasse ist bei mir um die Ecke, weil ich dort hingezogen bin, wo sie ist oder besser, wo sie gerade begann zu sein. Sie wurde Teil meines Lebens, ehe sie überhaupt fertiggebaut war, eine Verbindungslinie zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil Weitmar, die so logisch ist, dass wir Bochumer dort gelaufen und spaziert sind, als Zäune und Absperrungen uns noch vorgaukeln wollten, das sei eine Baustelle und kein Weg. Die Bochumer ließen sich nicht aufhalten, es war einfach ein Wegstück, das uns gehörte, noch ehe es asphaltiert war, und danach gehörte es uns natürlich auch und erst recht.

Es ist nicht weit zur Trasse für mich, es sind 1000 Meter oder 950, genauer ist meine Uhr nicht. Eine kurze Steigung ist dabei. Als Höhenmeter lässt sich das kaum messen, es sind vielleicht acht oder zehn Meter, gerade so wie ein Deich an der Küste.

Bevor die Trassen zu Radwegen wurden, gab es eine Zeit, als sie nahezu vergessen waren – nicht mehr für den Bergbau nutzbar, aber auch noch nicht für den Touristen. In dieser Nicht-mehr-noch-nicht-Zeit waren sie verwunschene Trampelpfade, welche die Einheimischen kannten oder Hundebesitzer, die konnten dort mit ihrem Fiffi mal eben ins Gebüsch, und keiner prüfte, ob sie alles in Plastiktüten wieder mitnahmen, was er verdaute, wer ging da schon lang.

Unterdessen sind diese Rad- und Fußwege sympathische Falten in dem neuen Gesicht des Ruhrgebiets. Vorzeigeobjekte für die Touristenstadt und Urlaubsregion. Von der Innenstadt bis an die Ruhr sind es zehn Kilometer, die Autos auf Abstand, dafür kollidieren Rennradler mit Schlendernden, die die ganze Trassenbreite für sich beanspruchen. Läufer stolpern über Hundeleinen, und Kinderwagen werden von E-Bikes überholt. Im Großen und Ganzen funktioniert es aber, ist es friedlich und unfallfrei. Der Name Springorum-Trasse schien mir immer etwas sperrig, bis ich es in ein „Spring-da-rum“ verwandelt habe, was mir deutlich passender erscheint. In Wirklichkeit ist Springorum allerdings ein bekannter Name in Bochum. Es gab ein Steinkohlekraftwerk in Weitmar, das zunächst Kraftwerk Prinz-Regent-Nord hieß, 1964 aber nach Otto Springorum benannt wurde, dem langjährigen Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG. Dafür bin ich dem Otto richtig dankbar, denn eine „Trasse Prinz-Regent-Nord“ wäre sprachlich deutlich holpriger gewesen als Springorum und damit ganz unpassend für so einen glatten Radweg. Stolperfrei war das Leben des Otto Springorum allerdings auch nicht, während seines 65-jährigen Lebens erlebte er zwei Kriege (geboren 1890), verdiente sich zu Kriegszeiten Eiserne Kreuze, wurde anschließend von der britischen Militärregierung als NS-belastet festgenommen und interniert, galt aber zuletzt als entlastet und außerdem als warmherziger, schlichter Mann, so wird es zumindest bei Wikipedia zitiert. Der schlichte Typ hatte allerdings jede Menge Managerqualitäten, war Betriebs- und Bergwerksdirektor und hatte als Vorstandsvorsitzender des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblichen Anteil am Wiederaufbau des Bergbaus an der Ruhr. Auch wenn mittlerweile allenthalben Schicht im Schacht ist, bleibt der Bergbau sicher auch zukünftig prägend für das Ruhrgebiet, und insofern hat Otto zu Recht den Sprung vom Förderturm zum Trassenradelweg geschafft.

In einem Jahr lebte eine Obdachlose mehr oder weniger auf der Otto-Trasse, quartierte sich allabendlich auf einer der Bänke dort ein. Sie hatte ein Fahrrad, einen guten Schlafsack, sogar ein Regendach, und sie sagte mir, es sei gut da, es gäbe schlechtere Plätze. Vielleicht fühlte sie sich sogar etwas beschützt dort, eingemeindet bei den Trassenbewohnern, die dieses Stückchen Geradeaus als Teil ihres Lebens betrachten: Der Nachhauseweg, der Zur-Arbeit-Weg, der Sportlerweg, der Wir-plauschen-ein-wenig-Weg. Wir haben alle nur darauf gewartet, dass es diese Trasse gibt, so scheint es. Wo wir vorher waren, weiß ich nicht, jetzt gibt es jedenfalls ein Trassenleben, einen kleinen asphaltierten Streifen in der Welt, auf dem sich mein Leben mit vielen anderen mischt wie Perlen auf einer Kette.

Von dieser Perlenkette und all den Diamanten dazwischen, die mir beim Draußen-Unterwegssein begegnen, will ich hier erzählen.

Trassensplitter 1

Es ist noch dunkel, als ich die Uhr an meinem Handgelenk starte. Trotzdem laufe ich ohne Stirnlampe los, denn bald wird es hell werden. Menschen mit Aktenkoffern und Autoschlüsseln verlassen die Häuser, sie sind in einer anderen Welt, ich bin im Kosmos des Tapp-Tapp meiner Schritte. Es hat geregnet, die Turnschuhe seufzen feucht-fröhlich bei jedem Schritt. Ich tappe unter den Straßenlaternen entlang, springe über die Schatten der parkenden Autos, an der Ampel lotst mich das grüne Licht durch eine Blechlawine. Dann biege ich ab zur Trasse, Kinder sind mit ihren Fahrrädern unterwegs zur Schule, ein Plaudern und Lichterflackern, keine Autos mehr. Ich nehme den Abzweig zum Sportplatz, genieße das Knirschen der Asche unter meinen Sohlen. Es ist niemand hier, der rotbraune Boden noch grau im Morgenlicht. Auf der Wiese sitzt ein Vogel, zu groß für eine Taube, vielleicht eine Krähe, aber die Figur ist ungewöhnlich. In der Dämmerung kann ich das Tier nicht genau erkennen, neugierig hefte ich meinen Blick darauf, während ich auf der Laufrunde langsam näher komme. Plötzlich erhebt er sich, ich erkenne weiße Federn, es ist tatsächlich ein Bussard. Morgens auf dem Sportplatz.

NACHTRADELN

Für Sportler ist ein Physiotherapeut genauso wichtig wie gute Schuhe. Wenn etwas wehtut, behaupten viele, das wäre das Alter, also jedenfalls in meinem Jahrgang. Aber die Jahre schmerzen nicht, nur die Muskeln und Sehnen, und die lassen sich behandeln, genau wie unsere Vergangenheit, die wir zwar nicht ändern können, aber anders betrachten. Erfolglose Jahre können im Rückblick lehrreich sein, einsame Zeiten lassen sich auch als Freiheit deuten, es gibt da viele Möglichkeiten.

Leider kam der Tag, als mein Physiotherapeut sagte, ich solle etwa zwei Wochen nicht rennen. Das hat er natürlich nicht vorgeschlagen, um mich zu ärgern, sondern weil ich Flüssigkeit im Knie hatte, die dort nicht hingehörte. Sie war nicht einfach so unvermutet dort hineingelaufen, sondern weil ich zwei Tage vor dem Silvesterlauf stürzte, als ich mit meinem Freund in Berlin unterwegs war. Weder Berlin noch mein Freund waren der Grund, es war nur einfach eine tückische Straßenplatte, die mich in meiner morgendlichen Müdigkeit ansprang. Es war eben keine stolperfreie Trasse, wo wir unterwegs waren, sondern Berliner Großstadtdschungel. Mit meinem Schlurfschritt, den ich mir bei den Ultraläufen angewöhnt habe, blieb ich an der Steinplatte hängen und krachte auf die Straße wie ein gefällter Baum, schön der Länge nach.

„Ist es mal wieder so weit“, kommentierte mein Freund einfühlsam, denn ich stolpere gelegentlich, was oft damit zusammenhängt, dass ich in den blauen Himmel oder auf bunte Hauswände oder Blumen sehe, statt auf die Straße, und schon ist es passiert.

Natürlich bin ich aufgestanden und weitergelaufen, denn meistens tut so ein Sturz so oder so weh, da brauchte ich auf den Lauf nicht zu verzichten. Vielleicht wäre es aber in dem Fall, das räume ich ein, klüger gewesen, eine Eispackung auf die Knie zu legen. Das wiederum lässt sich im Nachhinein nur philosophieren und nicht wirklich ermitteln oder ändern. Jedenfalls zeigten sich bald beidseitig dicke Blutergüsse, bläulich und mit rot tropfenden Schürfwunden. Nach einem Tag Schonung stand der Silvesterlauf in der norddeutschen Wingst an, den ich mir nicht entgehen lassen wollte und den ich erstaunlicherweise sogar gewonnen habe. Natürlich lag das daran, dass die Konkurrenz bei der kleinen Veranstaltung gering war, aber immerhin: 17 weitere Damen ohne dicke Knie habe ich auf einer hügeligen Strecke von neun Kilometern hinter mir gelassen. Das war schon außergewöhnlich und ein Fest. Den Sportler, dem so was ganz egal ist, möchte ich sehen. In meiner Siegerlaune dachte ich, ich sei gesund, was sich als nicht ganz korrekt herausstellte, wenn man die Erwartung hat, auch in meinem Alter noch schmerzfrei laufen zu können. Deswegen folgte der Besuch beim Physiotherapeuten, der ein wenig erschüttert ausgesehen hat, als ich ihm erzählte, was ich alles seit dem Sturz unternommen hatte, reduziertes Training, na ja, so etwas ist relativ.

Natürlich, zwei Wochen Laufpause sind kein Weltuntergang. Nicht wirklich, aber doch ein kleines Unglück, es raubt dem Tag das, worauf ich mich sonst schon morgens beim Aufwachen freue, wirklich. Training ist so eine zuckersüße Angelegenheit, dieses lockere Schnürsenkelbinden und los, alles hinter sich lassen, mit den Freunden plaudern, und das Leben ist gut.

Zum Glück fand der Physio Radfahren empfehlenswert, was Anfang des Jahres zwar etwas schattig ist, aber ich hatte Glück, es regnete selten in jenem Januar, und die Temperaturen lagen meist weit über dem Gefrierpunkt. Also schnappte ich mir an dem Tag mit dem deprimierenden Physiotermin nach der Arbeit den Helm, die Handschuhe, das Fahrrad.

Als ich losfuhr, hatte ich noch keinen Plan, aber natürlich fuhr ich zur Trasse, zu meiner Otto-Trasse, das ist einfach der Anfang von allem. 1000 Meter zählte der Fahrradtacho bis zu der einen Ampel davor, und dieser Miniaturhügel erforderte schon, dass ich einen Gang herunterschaltete. Das mache ich normalerweise nicht, trete nur fester in die Pedale, aber ich wollte ja die Knie schonen. Radfahren sei ideal, hatte der Physio gesagt, weil jeder Heilungsprozess Durchblutung und damit Bewegung braucht, aber ich habe nicht gefragt, wie viele Kilometer, ob bergauf oder bergab, im Grunde haben wir uns schon verstanden, ich habe geahnt, was mein Körper brauchte, nur manchmal ist es so schwierig, vernünftig zu sein, dann tut ein Fachmann einfach gut.

Natürlich war es dunkel, als ich losfuhr, im Januar ist es abends immer dunkel, eigentlich sogar schon nachmittags, aber in jedem Fall, wenn ich von der Arbeit komme. Am Fahrrad habe ich Licht, brauche keine Stirnlampe wie beim Laufen, und dann auf der Trasse hätte ich fast vergessen, dass es Nacht ist, die gelblich leuchtenden Straßenlaternen sind so hell, dass meine Fahrradlampe kaum auffiel. Allerdings ist das nur ein kleines Stück, radelnd ist es wirklich nur sehr kurz, ganz anders als beim Laufen flutscht man quasi durch die gelben Lichter hindurch und befindet sich schon auf dem unbeleuchteten Teilstück. Dort fiel das Licht von meinem Nabendynamo als riesiger Lichtkegel über den Asphalt, der den Blick nahezu magisch einfing, so also wäre neben dem Lichtkegel nichts mehr, eine unsichtbare oder gar keine Welt. Ich fuhr mit Bedacht, weil immer wieder Hunde und Läufer ohne Leuchtwesten unterwegs waren, die schwer zu erkennen sind. Eine Hand an der Bremse rollte ich in Habachtstellung voran, möglichst konzentriert, aber die Gedanken hatten doch Zeit zu wandern. Ich dachte an die Radtour des letzten Sommers, dieses beständige Strampeln über Stunden, der Fahrtwind in den Ohren. Da waren wir mit einer Rennradgruppe in einem Rutsch von Duisburg nach Bensersiel geradelt, mein Freund und ich, das sind 300 Kilometer. Genial. Wir haben inklusive aller Essenspausen 14 Stunden gebraucht, vielfach fuhren wir in einem Team, im Windschatten, Aussicht auf den Rücken des Vordermanns, die Landschaft flach, der Wind mäßig. Wir hatten Glück mit dem Wetter und auch, dass es keinen Sturz gab, bei dem Tempo wäre es da kaum bei zwei aufgeschürften Knien geblieben. Es war eine sehr herausfordernde Tour für mich.

Während ich Bensersiel vor Augen hatte, wechselten meine Reifen vom Bochumer Asphalt auf unbefestigten Schotter, immer noch Trasse, sanft abwärts Richtung Ruhr. In Dahlhausen überquerte ich die Brücke, die seit Langem ein Streitpunkt ist, weil sie baufällig und nicht mehr so belastbar ist. Dennoch fahren immer wieder Laster drüber, woraufhin sie gesperrt wird. Zum Glück nie für Fußgänger und Radfahrer, ohne diesen Übergang wäre der Baldeneysee, wären Kupferdreh, Langenberg, die Isenburg, alle diese landschaftlichen Kleinode viel weiter entfernt von Bochum. Und das wäre schade, denn wenn es sich dabei auch nicht um Neuschwanstein oder das Mittelmeer handelt, sind das alles attraktive Ziele für Menschen, die im Ruhrpott vor der Haustür starten.

Nach der Brücke nahm ich den Leinpfad, rollte direkt am Wasser entlang. Nahe der Felder das leise Ging-Gang der Kanadagänse, die dort sogar überwintern und sich zu Hause fühlen, der Weg ist mit ihrem Kot übersät. Es gibt Menschen, die sich darüber beklagen, es sei unhygienisch, und die vielen Tiere, die sich immer weiter vermehren, seien eine Plage. Es gibt keine natürlichen Feinde für diese zugewanderten Gänse, und so haben sie sich immer weiter ausgebreitet. Vielleicht droht da tatsächlich das ökologische Gleichgewicht irgendwann zu kippen, aber als Kind, als ich noch in Bayern lebte, waren die Kanadagänse mein höchstes Glück. Als ich mit 13 Jahren die Bücher vom Verhaltensforscher Konrad Lorenz las, von der Gänsesprache hörte, von Prägungen und Intelligenz der Vögel, da war die Forscherin in mir geboren, und für mein Taschengeld kaufte ich Weißbrot, um die Zugvögel zu zähmen, wenn sie auf der nahen Wiese rasteten. Unterdessen steht an jedem Teich ein Schild – „Bitte nicht füttern!“ –, weil die Brotmengen, die Mensch dort entsorgen möchte, das empfindliche Klima der Gewässer stören und die Wasservögel fett und faul machen. Obwohl ich das alles verstehen kann, lebt in mir immer noch dieses unaussprechliche Glück, als ich mich mit Kinderhand den aufgeregt schnatternden Vögeln näherte und glaubte, einen Schritt in neue Wunderwelten zu tun, wenn sie mein mitgebrachtes Weißbrot verzehrten. Wenn ich an der Ruhr entlangradele, ignoriere ich den Gänsekot, der sicher ohnehin viel weniger ins Gewicht fällt als die Gülle der Bauern, und höre das sanfte Ging-Gang der Tiere, das noch als Musik in meinen Ohren klingt, wenn ich an dem Gänseparadies längst vorbei bin.

Auf der abendlichen Januartour hatte ich mit Hochwasser gerechnet, hatte geplant, bis zu der Stelle zu fahren, an welcher der Leinpfad, der sich am Ufer der Ruhr entlangschlängelt, um diese Jahreszeit in den Fluten versinkt, und wollte diese Stelle als Wendepunkt nutzen.

Im Frühjahr ist oft Hochwasser an der Ruhr, die Pfade, die wir im Sommer hundertfach entlanglaufen, sind verschwunden, sie werden aufgesaugt von dem Gluckern des Stroms. Aber diesmal blieb ich vom Wasser unbehelligt. Es hatte seine Spuren hinterlassen, große Äste hingen am Ufer, der Weg war noch schlammig, ein leises, schmatzendes Geräusch ertönte, während meine Reifen über den Morast rollten, der Fluss lag brav in seinem Bett. Trotzdem, sein Aufbäumen und Raunen wirkte im Dunkeln so viel lauter als tagsüber, dass mir die Straße, die ich vom Leinpfad aus hören konnte, die Lichter der Autos, die herüberleuchteten, wie eine Fata Morgana erschienen. Der Gedanke, der Fluss könnte ansteigen, sich über die Ufer wälzen, alles mitreißen, auch mich, war ganz nah. Dass dies bald für viele Menschen unerwartet heftig Wirklichkeit werden sollte, wusste ich bei dieser abendlichen Tour noch nicht.

In der Nacht ist die Ruhr einfach doppelt so breit wie im Tageslicht, ein pulsierendes Ungeheuer, das Nahrung sucht. Dabei werden im Sommer wieder die Kanus darauf entlangpaddeln, wir werden uns in dem Wasser abkühlen, und sie wird so leise plätschern, dass wir es nicht mehr hören, wenn wir schwatzend am Ufer entlangrennen.

Trassensplitter 2

Polarluft. Draußen fühle ich mich wie eine Tiefkühlpizza. Statt des Backofens steuere ich ein Café an, um mich mit einer Freundin zu treffen. Ich wandere die Trasse entlang und denke noch, das Wandern auf dieser geraden Trasse ist ziemlich fad, eintönig.

Aber beim Schwatzen mit meiner Freundin kommen wir dann irgendwie auf den Jakobsweg zu sprechen und die Möglichkeit zu innerer Einkehr für alle, die dort zu Fuß unterwegs sind. Mit diesem Gedanken im Kopf mache ich mich kurz vor Sonnenuntergang auf den Trassenrückweg, und auf einmal ist das Gefühl der Langeweile wie weggeblasen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, tapsen meine Wanderschuhe über den Asphaltweg, ich staune über die Eisbrocken, die rechts und links des Wegs ehemalige Pfützen zu Skulpturen verwandeln, sehe das Schattenspiel auf den Steinen. Als ich an der Holtbrügge vorbei bin, geht die Sonne unter, ganz unspektakulär, sie hinterlässt den Himmel in eisigem Blau, ohne einen Hauch Orange.

ERZBAHN UND BUDE

Bilderausstellung in Gelsenkirchen, ein Freund hatte mich eingeladen. Nach kurzem Blick auf die Karte stand meine Zusage fest, nicht nur wegen der Bilder: Die Galerie lag zehn Kilometer von meiner Wohnung entfernt, das größte Stück des Wegs ließ sich die Erzbahntrasse nutzen, das ermöglichte eine angenehme Anreise.

Die Erzbahn ist neben der Otto-Trasse das zweite Must-have des Ruhrpott-Trasseneldorados. Sie wird heute auch als „Erlebnis-Radweg“ bezeichnet, wobei schöne Erlebnisse natürlich letztlich auf jeder Radtour möglich sind. Diese Verbindung zwischen Bochum und Gelsenkirchen ist aber zunächst nicht entstanden, um Sportler in ihrer Freizeit zu erfreuen, sondern um den Transport von Eisenerz zu gewährleisten. Wo heute der Westpark als Ausflugsziel lockt und die Ruhrtriennale in die berühmte Jahrhunderthalle einlädt, war vormals das Stahlwerk Bochumer Verein. In dem Hochofen, der heute als markantes Symbol über dem Park illuminiert wird, schmolz damals das Eisenerz zu Roheisen. Um die vielen Verkehrswege in Ost-West-Richtung zu überbrücken, wurde die Erzbahn auf circa 15 Meter Höhe erbaut, was dem Radfahrer heute eine sagenhafte Übersicht über die Ruhrgebietswelt ermöglicht. Seit 2008 ist der Erzbahnradweg fertig, und auch diesen Entstehungsprozess habe ich direkt miterlebt. Zunächst war es ein Kiesweg, nachher wurde alles asphaltiert, was zum Radeln angenehmer, zum Laufen und für die Vögel eher unpraktisch ist. Aber man gewöhnt sich daran, und so oder so ist es besser als Autostraße. Eine Besonderheit der Erzbahntrasse sind die 15 Brücken. Insgesamt wurden sechs Brücken entlang der Erzbahn neu gebaut, und neun weitere renoviert. So lässt sich entlang dieser Strecke auch die Brückenbaukunst studieren, denn keine gleicht der anderen.

Am Anfang der Trasse im Westpark ist das Eingangstor, die sogenannte Erzbahnschwinge. Wie ein schiefes S windet sie sich 130 Meter lang über Bahn und Straße und wird nur durch zwei schräg stehende Pylone und Stahlseile gehalten. Bauingenieur Jörg Schlaich hat diese doppelt gekrümmte Hängebrücke geplant. Er hat seine Ideen auch schon an dem berühmten Münchner Olympiadach 1972 eingebracht, und tatsächlich haben beide Bauwerke in meinen Augen Gemeinsamkeiten: Obwohl sie sehr stabil und tragfähig sein müssen, wirken sie eher luftig leicht. Es gibt also auch in dieser Hinsicht Verbindungslinien zwischen Bayern und Bochum, die beide für mich ein Stück Heimat sind.

Ein weiteres Erlebnis entlang der Erzbahntrasse besteht darin, die A40 zu überqueren, ohne Stau und fröhlich radelnd. Ausblick auf eine Autobahn, so etwas ist zumindest selten, ob es schön ist, muss jeder selbst entscheiden. Danach führt die Route zwischen hohen Zäunen durch diverse Gewerbegebiete von Bochum, es folgt ein Autofriedhof, und hinter einem Zaun blitzen Relikte von der Zeche Carolinenglück herüber, ein Fördergerüst, ein Malakowturm. Bis 1964 wurde dort noch Kohle gefördert, da war ich gerade drei Jahre alt, spielte auf einem Berliner Großstadtbalkon und hatte noch keine Ahnung, dass ich jemals eine Erzbahn als Ausflugsziel haben würde.

Neben all den Brücken, den Aus- und Tiefblicken ist Holgers Erzbahnbude das eigentliche Highlight des Erzbahntrassenradlers. Holger ist Hamburger und hat mit dem kühlen Blick des Nordens das Potenzial der Region und der Trasse erkannt. So hat er einen Wohnwagen mit Kaffee und Gedöns an einen Kreuzungspunkt der Radwege gestellt und lädt dort zur Pause. Wer sich per Rad oder auch zu Fuß aufmacht, hat in der Bude ein schönes Ziel. Das ist wie die Hütte in den Bergen, nur dass es statt Bergsteigersuppe Kaffee, Kuchen und Bier gibt. Mittlerweile hängen im Sommer sogar Blumentöpfe an den Wegweisern. Die Bude ist einfach eine Art gemeinschaftlicher Balkon, ein Freiluftwohnzimmer. Vielleicht gibt es Leute, die sich für zu Radwegen transformierte Bahnschienen nicht interessieren, aber die Erzbahnbude ist ein Kultobjekt, das jeden begeistern kann. Der Kaffee ist gut, beim Kuchen muss man nicht lange überlegen, weil es nur eine Sorte gibt, und in dem Ambiente schmeckt einfach alles, das ist wie die Brotzeit auf dem Berggipfel, wo ja durchaus auch ein Käsebrot zur Delikatesse avanciert, wenn man nur lange genug dafür geschwitzt hat. Das Dafür-Schwitzen ist allerdings nicht jedem Besucher von Holgers Bude wichtig. Die Bänke rund um den Wohnwagen sind meist gut besucht, auch von Menschen, die ihre Fahrradhosen zur Schau tragen, obwohl sie wahrscheinlich nur zwei Kilometer um die Ecke wohnen. Sie suchen eher einen Anlass, um ihr Feierabendbier in netter Gemeinschaft zu trinken. Aber das ist ja auch nicht verkehrt und sicher besser als allein zu Hause. Holgers Erzbahnbude ist also ein echtes Stück Ruhrgebiet, wo einfach jeder so sein kann, wie er ist, und dabei Gelegenheit für einen kleinen Plausch hat.

Im Januar ist die Bude leider noch geschlossen, so dass mein Ausflug zur Bilderausstellung ohne Kaffeepause geplant war. Klimatisch ist in dieser Jahreszeit eine Menge Überraschung drin, die Wetterwundertüte war an jenem Wochenende wunderbar gefüllt: Sonnenschein, kein Wind. Ein lauer Januartag, dennoch waren nur wenige Spaziergänger und Radfahrer unterwegs. Vielleicht sind sie samstags alle beim Einkauf oder sie denken, dass der Januar zu kalt sein müsste, um draußen zu sein. Ist es nicht: Es war relativ warm und wunderbar.

Von meiner Haustür aus ist es zur Erzbahn nur unwesentlich länger als zum Otto, zwei Kilometer Asphalt, allerdings unterbrochen von zwei Ampeln, dann bin ich auf der Erzbahntrasse und kann verkehrsfrei geradeaus stürmen. Die Bäume rechts und links der Trasse waren noch im Winterkleid, durch die kahlen Äste hindurch konnte ich die Straßen sehen, Häuser, Parks, einen Teich. Regelrecht mit Bedauern bog ich von der Trasse Richtung Ausstellung ab, der Tag lud eigentlich dazu ein, immer weiter geradeaus zu fahren, mit diesem Gefühl, die Trassen würden niemals enden. Aber ich musste abbiegen, das Geradeaus verlassen, wenn ich pünktlich zu meiner Verabredung wollte. Nach 40 Minuten war ich in Gelsenkirchen-Ückendorf, tauschte auf der Toilette unauffällig den verschwitzten Pullover gegen einen frischen, bestaunte Bilder, unterhielt mich mit Künstlern, genoss den hellen Raum, die Gemälde, die Gespräche.

Als ich wieder aufs Rad stieg, war es fast 16 Uhr, die Luft schon abendkühl, die Gelsenkirchener Straßen dämmerten im unauffälligen Januargrau. In dem Moment, in dem ich die Trasse wieder erreichte, versank die Sonne gerade rotglühend hinter Blechdächern, einem Hochhausklotz, einer Kirche. Ich hielt an, um zu fotografieren, aber das Eigentliche ließ sich kaum aufs Bild bannen, dieses überraschend Berührende, dieser helle Glanz im winterlichen Grau.

Natürlich gibt es Orte, die spektakulärer sind, wo sich Alpengipfel wie überdimensionale Zuckerhüte über pittoreske Dörfer beugen, oder Meeresstrände, die jeden in Verzückung versetzen, weil er von Urlaubsstunden träumt. Aber dieses arbeitsame Leuchten einer Region ist so menschlich. Nichts, was wir auf einer Postkarte brauchen, aber unbedingt, um darin zu leben.

An diesem späteren Nachmittag waren ein paar mehr Radfahrer und Läufer mit mir unterwegs als am Morgen, keiner blieb seufzend neben mir stehen und betrachtete den Sonnenuntergang, aber wahrscheinlich freuten sich alle über die schöne Beleuchtung, die eisfreien Wege.

In Stahlhausen verließ ich die Erzbahn, folgte jedoch weiterhin dem Radweg, der durch Industriegebiet zur Hattinger Straße und weiter zum Weitmarer Schlosspark führt. Im Café an der Schlossruine bekam ich eine persönliche Begrüßung, wärmte mich mit einem Cappuccino und kurzen Gesprächen auf. Obwohl es Metropole Ruhr heißt, ist das Lebensgefühl im Pott mit den warmherzigen Menschen eher dörflich familiär. Es ist nicht schwer, sich hier zu Hause zu fühlen.

ALLEE DES WANDELS

76,5 Kilometer auf meinem Fahrradtacho. Das sagt natürlich im Grunde gar nichts, denn dass in den Kilometern so viel Spaß, blauer Himmel, Schweiß und Trasse stecken können, das ist der schnöden Zahl nicht direkt anzusehen.

Der Wetterbericht war seit Tagen ausgesprochen gut, deswegen wollte ich am Wochenende radeln. Ein spannendes kulturelles Ziel bot sich außerdem an: Im Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl zeigte der von mir sehr geschätzte Künstler Martin Kaltwasser († 2022) eine Finissage mit Performance. Das war ideal. Schließlich ist mein übliches Credo, dass ich nicht trainiere, sondern mir lieber spannende Ziele suche, die so weit weg sind, dass sich meine Kondition bei der klimafreundlichen Anreise verbessern lässt. Während Training nach harter Arbeit klingt, sind solche Unternehmungen einfach Leuchttürme des Alltags. Nun befindet sich Marl nur etwa 30 Kilometer von Bochum entfernt, das schien mir angesichts des sonnigen Januartags zu wenig Genuss des Lichts, und deshalb konsultierte ich die Karte und meine Touren-App. Ich erwog, zur Fähre Baldur an der Lippe zu strampeln oder einfach nach Wulfen, suchte nach reizvollen Bauerncafés und umkreiste auf diese Weise mein Marler Ziel. Doch dann meldete sich unverhofft ein Frank. Er würde mitkommen, nicht zu der Finissage, aber zum Radfahren. Mein Vorschlag, um elf Uhr zu starten, stieß allerdings nicht auf Gegenliebe, das sei ihm zu früh, und eigene Zielvorstellungen hatte er auch schon: die Allee des Wandels. Ein Frank kommt eben nicht einfach mit, er hat auch eine Idee und einen Plan. Immerhin entdeckte ich die Allee des Wandels nicht allzu weit entfernt von meinen Zielen, und außerdem war ich sowieso Feuer und Flamme, weil manches doch gemeinsam lustiger ist. Wobei es mit einem Frank natürlich nicht lustig, sondern hart und sportlich ist. Bin ich allein unterwegs, neige ich dazu, mir zahlreiche Fotopausen zu gönnen und hier und da ein Käsebrötchen mit Aussicht oder ein Stück Torte im Café. Es gerät dann das Sightseeing in den Vordergrund, Genusstouren also, die allerdings relativ lange dauern und mich konditionell, das muss ich zugeben, wahrscheinlich nicht massiv voranbringen. Mit einem Frank wird es dagegen in jedem Fall sportlich, dafür habe ich weniger Fotos. Das ist dann nicht so wichtig, weil man sich bei den nächsten Trainingseinheiten immer wieder erzählen kann, was es auf der Tour zu sehen gab, und dabei kondensieren die Erlebnisse sowieso zu einer unerklärlichen Bilderorgie im Kopf, die keine Kamera hätte festhalten können.

Ich frühstückte also vorsichtshalber etwas reichlicher, stopfte mir ein Rosinenbrötchen für den Kräftenotfall gut erreichbar in die Oberrohrtasche und meditierte einen Moment länger vor meinem Kleiderschrank, weil ich irgendein Aus-, An- oder Umziehen möglichst vermeiden wollte. Für so etwas ist beim Frank-Radeln keine Zeit oder es frisst die einzigen Fotopausen. Da ich aber spät zurückfahren musste, wenn es dunkel und kühl war und kein Frank weit und breit, packte ich noch einen Anorak in die Satteltaschen und pellte mich ansonsten in eine Drei-Lagen-Schicht.

Pünktlich klingelte der Frank, er fuhr einen Rennradmix, den sogenannten Crosser, und ich nahm mein stabiles Tourenrad. Die Verbindung zwischen meiner Wohnung und der Erzbahntrasse sind die besagten zwei Kilometer, zum größten Teil auf der Bessemer Straße. Die war lange Zeit für Zweiradfahrer sehr gruselig, voller parkender Laster und Schlaglöcher, aber seit einiger Zeit sieht sie so aus, als wären die Radfahrer in Bochum in der Überzahl und Autos brauchten nur eine ganz kleine Spur, das ist richtig super geworden. Von der Hattinger Straße kommend geht es dort in leichten Bodenwellen tendenziell bergab, so dass die Strecke bis zum Jahrhunderthaus wirklich ein Vergnügen ist. Aber nun fuhr ich mit dem Frank, und wenn wir starten, das kenne ich schon, dann will er sowieso erst einmal deutlich machen, dass wir jetzt nicht spazieren trödeln. Er trat also sehr sportlich in die Pedale, duckte sich auf seinem Crosser, den man sich als Kreuzung zwischen Rennpferd und Rennrad vorstellen kann, so weit unter den Gegenwind, wie es seine Muskelberge zuließen, und raste die Straße entsprechend schnell bergab. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen bzw. dem Hinterreifen, und beide überholten wir einen etwas gemächlicheren Radfahrer in gelber Windjacke, die sich blähte wie der Spinnaker eines Segelboots. Kurz nachdem ich an der gelben Leuchtfahne vorbeigesegelt war, gerade an der tiefsten Stelle der Straße, schaltete leider die dort platzierte Ampel auf Rot. Oder besser, sie wurde überhaupt eingeschaltet, denn diese Signallampe funktioniert nur auf Anforderung, weil die Fußgänger an dieser Ecke eher selten die Straßenseite wechseln. Nun aber, just an diesem wunderschönen Frank- und Trassenmorgen wollten Mutter und Kind die Straße queren, da konnte ich natürlich nicht einfach bei Orange noch mit meinem Zweirad durchbrettern. Der Frank hatte es gerade noch bei Grün geschafft, danach blinkte vor meiner Nase das rote Licht auf, und ich musste ruckartig bremsen. Wäre die Ampel ein paar Meter vorher, wäre die Bremsung für den gemeinen Radler nicht ganz so schlimm, weil einem beim Anfahren die Neigung der Straße zugutekäme, aber das rote Licht in der Senke bedeutet schlicht, dass sich die nächsten Meter in einen Berg verwandeln, den man gar nicht bemerkt hätte, wenn man mit Schwung durch diese Mulde hindurch kräftesparend zur nächsten Kreuzung gesaust wäre. Der Frank brauste also höchst krafteffizient davon, während ich energisch in die Bremsen griff und mit einem tief enttäuschten „Oh, nein“ zum Stehen kam. Neben mir schloss der gelbe Spinnaker wieder auf.

„Das ist so gemein“, gestand ich ihm meine Enttäuschung und deutete Richtung Frank. „Da vorne muss ich mir jetzt gleich wieder anhören, wo ich so lange bleibe.“

„Ja, ja“, sprach es aus dem Kopf des gelben Segelboots heraus verständnisvoll. „Der ist ja mit Rennrad.“

Ich weiß nicht, ob das eigentlich ein Phänomen unter Sportlern ist oder ob das an Bochum liegt, dass man nur einmal zusammen an der Ampel stehen muss, um ins Gespräch zu kommen. Jedenfalls fühlte ich mich dem Typen mit der leuchtenden Blähjacke gleich sehr verbunden. Es wurde grün, und wir radelten einmütig los. An der nächsten Ampel war zum Glück noch Rot, so dass ich zum Frank aufschließen konnte.

„Da gebe ich dir extra Windschatten, und was kommt dabei raus?“, maulte der Frank, und ich sah mit wissendem Lächeln zu meinem gelben Ampelfreund: „Habe ich es nicht gesagt?“

„Ja“, grinste er. Ein Augenblick tiefer Verbundenheit, obwohl wir uns gerade zwei Minuten kannten.

„Wo fahrt ihr denn hin, nur so eine kleine Runde?“, hakte mein Ampelfreund nach.

„Zur Zeche Ewald und dann nach Marl“, antwortete ich ohne das als klein oder groß zu kennzeichnen, weil ich nicht wusste, mit wem ich es zu tun hatte. Meine Franks hätten sicher alle gesagt, es sei eine kleine Tour, aber mein neuer Bekannter wölbte die Lippen und stieß ein „Oh, so“ aus, was ich so deutete, dass es für ihn nach einer anstrengenden Tour klang.

Als das Ampellicht auf Grün sprang, rief er mir noch nach: „Na, dann viel Spaß“, und es tut mir sehr leid, dass ich nicht mehr geantwortet habe, weil ich damit beschäftigt war, dem Frank zu folgen, ohne eine weitere ineffiziente Lücke entstehen zu lassen.

Erst ein paar Meter bergauf, dann rechts um die Ecke über verödete Schienen, in denen schmale Reifen gerne einmal hängen bleiben. Danach war die Trasse auf meiner Seite, es ging leicht bergab, und wir konnten 25 bis 30 km/h fahren, ohne dass mir die Luft ausging. Der Frank hat sich dabei auch noch entspannt mit mir unterhalten, ich weiß aber nicht wieso, der Fahrtwind hat seine Worte in meinen Ohren durchwegs zu „Huihuihui“ verwandelt, und antworten konnte ich auch nicht mehr ausschweifend, wegen meiner einsetzenden Atemnot. Vielleicht fand er das gut, der Frank, dass es mehr sein Monolog war als ein Gespräch. Wir heizten geradeaus, wie das auf Trassen üblich ist, umschifften dabei mehr oder weniger galant die sonntäglichen Trassen-spaziergänger, und ich dachte immer, wieso kommt nicht mal jemand, den ich kenne, das wäre doch ein Grund, um ein wenig zu bremsen. Aber vielleicht hätte ich auch nur überheblich gewinkt, um meinen Frank nicht aus den Augen zu verlieren und nicht aus seinem Windschatten zu fallen.

„Gestern bin ich auch schon auf der Erzbahntrasse gefahren“, stellte ich zwischendrin fest, als ich gerade genug Sauerstoff zur Verfügung hatte. „Allerdings ohne zu schwitzen.“

„Und heute?“, fragte der Frank sofort.

„Heute schwitze ich“, erwiderte ich ehrlich, obwohl ich damit eingestand, dass ich das Frank-Tempo flott fand und mein Mitfahrer oder besser Lotse nun wahrscheinlich ableiten konnte, dass mein leicht geöffneter Mund nicht dadurch entstand, dass ich kluge Dinge auf sein „Huihuihui“ antwortete, die dann in seinen Ohren wegen des Winds aber auch nur wieder zu „Huihuihui“ wurden, sondern dass ich nach Luft schnappte.

Aber der Frank leitete das nicht ab, sondern sagte: „Echt, schwitzt du schon? Dann bist du zu warm angezogen.“

Anschließend hielt er mir noch einen Vortrag darüber, dass es beim Skilanglauf besonders fatal wäre, zu schwitzen, wegen der kalten Luft, und dass Mensch sich sowieso immer so kühl bekleiden sollte, sodass er am Start etwas friert.

Ich widersprach nicht, aber sah vor meinem inneren Auge, wie ich erst in dem ungeheizten Museum und anschließend auf meiner nächtlichen Rückfahrt mit den Zähnen klappern würde, und befand daraufhin, dass es nicht schlimm war, jetzt ein bisschen zu transpirieren. Ich war genau richtig angezogen. Immerhin, die Sonne schien, der Himmel war blau, und als wir die Halde Hoppenbruch nach oben fuhren, statt sie wie geplant zu umrunden, hatten wir auch noch eine großartige Aussicht, weshalb wir endlich für eine Fotopause anhielten.

Unser auserkorenes gemeinsames Ziel war aber die Allee des Wandels und die war nirgends ausgeschildert, der Frank wusste immerhin in etwa, wo sie war, und weil er meinen Abenteuergeist testen wollte, deswegen fuhren wir auch noch in eine Industriesackgasse und in einen gesperrten Weg, der zwischen Holzspänen und Metallrohren endete. Ansonsten sprachen wir eifrig Leute an, das ist ja das Schöne im Ruhrgebiet, da ist immer jemand, und jeder gab uns gerne einen Tipp. Als wir 30 Kilometer auf dem Tacho hatten und unser Ziel eigentlich schon erreicht haben wollten, gerieten wir an ein recht gesprächiges Ehepaar, das die Allee des Wandels offensichtlich kannte.

„Geht das zu der Allee des Wandels dort entlang?“, hatte der Frank gefragt und sicher nur ein freundliches Ja erwartet, aber das Paar fühlte sich nicht zur Zustimmung berufen.

Er wiegte bedächtig den Kopf, und sie sagte: „Da entlang ist es ein Umweg.“

Sie beschrieben eine Weile verschiedene Wege, Varianten und Abzweigungen, und ich nutzte die Zeit, um mir ein Stückchen Rosinenbrot in den Mund zu stecken, was die Frau dazu veranlasste, zu fragen, woher wir denn schon kämen.

„Aus Bochum!“

„Du liebe Zeit, da haben Sie ja schon was hinter sich“, kommentierte die Dame das, was sich wahrscheinlich auf die Kilometerzahl bezog und nicht auf das Leben in Bochum.

Auf meine Frage, wie weit denn nun der Umweg sei, war sich das Paar einig, das wären etwa zwei Kilometer. Daraufhin tauschten der Frank und ich einen ausnahmsweise einvernehmlichen Blick aus, der besagte, dass wir für 2000 Meter keine Diskussion anfangen und auch keine Route verlassen wollten, die in jedem Fall zielführend war. Wir bedankten uns freundlich und zischten zu der genannten Abzweigung. Ich gestattete mir unter Murren des Franks eine Buschtoilettenpause, dann waren wir auf der ersehnten Allee des Wandels, und einmal mehr hat mich das Ruhrgebiet begeistert. Während wir von der Halde Hoppenbruch auf Bergbautürme und immer noch rauchende Schornsteine geblickt hatten, waren wir jetzt plötzlich im weiten Bauernland angekommen. Pferde, Schafe, Hühner, Bäume, und über allem dieser blaue Himmel, den es angeblich nur in Bayern gibt. Ich fotografierte während der Fahrt, und der Frank vergaß sogar mich abzuhängen, sondern guckte aus Versehen ebenfalls vergnügt in den blauen Himmel.

Die Allee des Wandels ist ein Fuß- und Radweg, der die Städte Herten, Recklinghausen und Gelsenkirchen miteinander verbindet, gefördert vom Klimabündnis Gelsenkirchen-Herten und den RAG Montan Immobilien. Der Weg führt an ehemaligen Bergwerks- und Industriestandorten der Städte Gelsenkirchen und Herten vorbei und nutzt dazu eine Strecke, auf der fast 100 Jahre lang Kohle und Koks transportiert wurden: die Zechenbahntrasse. Genau wie auf den Bochumer Trassen rollen wir Radfahrer über die Asphaltpiste auf der alten Spur des schwarzen Goldes. Wir können dabei „erfahren“, wie sich die Welt hier geändert hat. Stelen am Wegesrand informieren über Vergangenes und Neues. Mittels Smartphone hätte man sich anhand eines QR-Codes und einer App auch noch weitere Informationen besorgen können, aber wir waren mit Schauen und genussfreudigem Radeln genug beschäftigt.

In Westerholt trennten sich dann unsere Wege, der Frank flitzte direkt nach Bochum zurück, während ich zum Skulpturenmuseum nach Marl weiterradelte.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir allerdings, dass ich mit 70 Minuten für nur mehr acht Kilometer ein Zeitfenster hatte, in dem ich mein in den Satteltaschen verstecktes Brötchen in Ruhe würde kauen können, während mein Schweiß trocknete. Es kam aber noch viel besser. Mein Navi lotste mich direkt zu einem Abzweig, an dem wir gerade erst vorbeigesaust waren. Jetzt aber erkannte ich dort ein wunderbares Bauerncafé mit großen Glasfenstern, auf die die Januarsonne brannte, und einem idyllischen Garten. Die Krönung war, dass es dort warmen Apfelstreuselkuchen gab, der nach diesen 40 Kilometern schmeckte wie das erste Wasser in der Wüste.

Solchermaßen gestärkt fuhr ich zum Museum, und dort gab es wie erwartet spannende Darbietungen und Gespräche.

Für den Rückweg hatte ich einen eher trassenfernen Weg ermittelt und auf mein Navigationsgerät geladen, der mit 28 Kilometern deutlich kürzer war als die Anfahrt. Aber auch da kam es anders als gedacht, ich traf nämlich einen Freund, der ebenfalls mit Fahrrad angereist war, und da wir beide nach Bochum mussten, beschlossen wir, gemeinsam heimzuradeln. Der Haken an der Sache war, dass er kein Frank war, was nicht eigentlich gravierend ist, aber deswegen auch kein Rennrad fuhr, sondern ein E-Bike. Zudem war er noch trassensüchtiger als ich, und als ich ihm die Straßenroute vorschlug, befand er diese als ungeeignet. Es wäre doch viel besser, zur Trasse zu radeln.