Trau keinem Playboy - Nora Roberts - E-Book

Trau keinem Playboy E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Rasen verboten! Phil weigert sich, einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu bezahlen. Er wollte doch nur nach einem Drehort für einen neuen Film suchen. Kurz entschlossen verdonnert ihn der Sheriff des kleinen Örtchens Friendly zu einer Nacht im Gefängnis. Nur ist der Sheriff eine Frau. Was er nicht weiß: Vicky ist Anwältin, die Urlaub von ihrer Anwaltspraxis nimmt. Zwischen Vollzugsbeamtin und Häftling knistert es heftig. Wie gut, dass er in Friendly, New Mexico, seinen perfekten Drehort gefunden hat.

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Seitenzahl: 313

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Nora Roberts

Trau keinem Playboy

Roman

Aus dem Amerikanischen von U. Kopsch-Langheim

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Die Originalausgabe The Law is a Lady ist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 1984 by Nora Roberts Published by Arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/vvvita Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-12090-0 V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

Fünf Meilen nördlich von Friendly saß Max T. Johnson auf einem abgewetzten Sessel in Annies Café. Er hatte ein Malzbier vor sich stehen und hörte mit halbem Ohr auf die abgehackten Töne, die aus Annies Transistorradio quäkten. »Frauen leben, um zu leiden«, klagte der hoffnungsvolle Schlagernachwuchs. Max, der von Frauen nicht allzu viel verstand, hatte nichts dagegen einzuwenden.

Er war auf dem Heimweg nach Friendly, nachdem er auf einer Ranch eine Beschwerde überprüft hatte. Schafdiebstahl, dachte er, während er sein Malzbier trank. Hätte aufregend sein können, wenn was dran gewesen wäre. Rancher Potts hingegen war zu alt. Er konnte sich nicht mehr darauf besinnen, wie viele Schafe er ursprünglich besessen hatte. Der Sheriff hat gewusst, dass es blinder Alarm ist, dachte er verdrießlich. In dem schlauchartigen kleinen Lokal mit dem Dunst gebratener Frikadellen und Zwiebeln in der Luft brütete er finster über die Ungerechtigkeiten der Welt.

In Friendly, New Mexico, gab es nichts Aufregenderes, als samstagnachts den alten Silas nach Hause zu bringen, wenn er in betrunkenem Zustand randalierte. Max T. Johnson war zu spät auf die Welt gekommen. Hätte er vor hundert Jahren gelebt, hätte er die Chance gehabt, wilde Desperados einzufangen, in einem großen Polizeiaufgebot mitzureiten oder Revolverhelden den Garaus zu machen – alles Dinge, zu denen ein damaliger Hilfssheriff verpflichtet war. Ich aber sitze in diesem trübseligen Nest, dachte er, bin vierundzwanzig Jahre alt und meine größte Festnahme waren die Kramer-Zwillinge, nachdem sie die örtliche Badeanstalt kurz und klein gehauen hatten.

Max kratzte sich an der Oberlippe, wo er ohne viel Erfolg versuchte, sich einen respektablen Schnurrbart wachsen zu lassen. Der beste Teil des Lebens liegt hinter mir, dachte er resigniert. Ich werde niemals mehr als ein kleiner Hilfssheriff sein, der in einer gottverlassenen Gegend nach eingebildeten Schafen jagt.

Wenn doch nur ein einziges Mal jemand die Bank ausrauben würde! Von dieser Minute träumte er, sah sich selbst inmitten einer rasenden Verfolgungsjagd und wilden Schießerei. Tja, das war was, Jungs. Und anschließend sein Foto in der Zeitung abgelichtet, möglichst mit einer auffälligen Fleischwunde an der Schulter. Eine tolle Vorstellung. Er müsste den Arm einige Tage in der Schlinge tragen, und die Leute würden ihn ehrfürchtig anstaunen. Stattdessen saß er in diesem elenden Schuppen, und weit und breit passierte nichts. Wenn der Sheriff ihm wenigstens gestatten würde, einen Revolver zu tragen …

»Also, Max T., was ist? Willst du hier den ganzen Tag herumträumen oder dein Bier bezahlen?«

Max riss sich in die Wirklichkeit zurück und kam hastig auf die Beine. Vor ihm stand Annie, die Hände auf die ausladenden Hüften gestemmt, den üppigen Busen herausfordernd vorgeschoben. Sie hatte kleine schwarze Augen, blühende Haut und eine erstaunliche Fülle erdbeerroter Haare. Max hingegen war kein großer Frauenheld.

»Muss zurück«, murmelte er und angelte nach seiner Brieftasche. »Sheriff braucht meinen Report.«

Annie stieß einen kurzen Schnaufer aus und hielt die Hand mit der feuchten Handfläche auf. Nachdem sie den zerknüllten Geldschein an sich gerissen hatte, steuerte Max hinaus, ohne nach dem Wechselgeld gefragt zu haben.

Die Sonne war ein gleißendes Strahlenmeer. Max verengte die Augen gegen das grelle Licht. Die Hitze hatte den Straßenbelag wellenförmig aufgeweicht und ließ ihn fast flüssig schimmern. Es war glühend heiß und staubig. Zu beiden Seiten des Straßenbandes erstreckte sich die öde Landschaft, in der es nichts als Felsen und Sand und ein paar unnachgiebige Grasflecken gab. Keine Wolke, die das harte Blau des Himmels unterbrach oder das strömend weiße Licht der Sonne filterte.

Max zog die Hutkrempe über die Augenbrauen, als er auf seinen Dienstwagen zuging. Ich wünschte, ich hätte den Nerv gehabt, Annie um das Wechselgeld zu bitten, dachte er missmutig. Sein Hemd war feucht und klebrig, bevor er den Griff der Wagentür zu fassen bekam.

In diesem Augenblick sah er, wie sich die Sonne auf der Windschutzscheibe und dem Chrom eines nahenden Autos spiegelte. Es war noch etwa eine Meile entfernt. Während er seine Taschen nach den Autoschlüsseln abklopfte, beobachtete er mit abwesender Miene das näher kommende Fahrzeug. Gleich darauf riss er vor Bewunderung die Augen auf.

Menschenskind, war das ein Auto! Eins von diesen irrsinnig teuren ausländischen Luxusausführungen. Alles rot und glitzernd. Ohne Aufenthalt zischte die Nobellimousine wie der Blitz an ihm vorbei. Max starrte ihr verzückt hinterher. Donnerwetter! dachte er. So was sieht man sonst höchstens im Fernsehen. Eine Wucht von Auto. Muss spielend seine zweihundertfünfzig schaffen. Hat wahrscheinlich eins von diesen Luxus-Armaturenbrettern drin.

Blitzartig wurde Max wachsam. Die Geschwindigkeit! Der Kerl fuhr ganz sicher hundertfünfzig – mindestens …

Ins Polizeiauto springen und den Motor starten war eins. Dann stellte Max die Sirene an und preschte mit dampfenden Reifen und spuckendem Kies über die Piste. Er war im siebenten Himmel.

Phil war Meilen und Meilen ohne Pause durchgefahren. Im Verlauf der ersten Etappe seines Abstechers hatte er über Autotelefon eine komplizierte Unterhaltung mit seinem Produzenten in Los Angeles geführt. Er war abgespannt und verstimmt. Die staubgraue Landschaft und die endlos sich dehnende Straße verstimmten ihn noch mehr.

Bis jetzt war der Trip eine Vergeudung gewesen. Er hatte fünf verschiedene Städte im Südwesten New Mexicos überprüft. Keine hatte seinen Vorstellungen entsprochen. Sollte sich das Blatt nicht wenden, würden sie letztlich doch Dekorationen aufbauen müssen. Es war nicht sein Stil. Wenn Phillip Kincaid bei einem Film Regie führte, legte er größten Wert auf Lebensechtheit.

Im Augenblick war er auf der Suche nach einer öden, staubigen Kleinstadt, die so aussah, als läge sie in einem gottverlassenen Niemandsland. Er wollte herabblätternde Farbe, vernachlässigte Häuser, schmutzige Wege sehen. Er suchte einen Ort, dem jeder zu entfliehen suchte und nie zurückzukehren wünschte.

Drei lange heiße Tage hatte Phil Kincaid beim Ausschauhalten verbracht, aber nichts hatte ihn zufriedengestellt. Gewiss, er hatte ein paar graue Provinzstädte ausfindig gemacht, ein wenig welk, ein wenig ungeeignet zum Daueraufenthalt, aber sie besaßen nicht diese gewisse Atmosphäre, die er brauchte. Als Filmregisseur – überdies sehr erfolgreicher Regisseur amerikanischer Filme – vertraute Phillip Kincaid seinem sechsten Sinn, bevor er sich mit Details befasste. Er brauchte eine Stadt, die ihm einen Schlag in die Magengrube versetzte. Und die Zeit wurde knapp.

Er vernahm das Heulen der Polizeisirene mit gemäßigtem Interesse. Beim Blick in den Rückspiegel sah Phil ein schmutziges, verbeultes Fahrzeug, das einmal weiß gewesen war. Es hielt begeistert auf ihn Kurs. Phil fluchte, erwog kurz, aufs Gaspedal zu treten, um der staubigen Plage zu entgehen. Dann trat er resignierend auf die Bremse. Der Hitzestoß, der ihm beim Herabkurbeln des Seitenfensters entgegenschlug, war kaum geeignet, seine Stimmung zu verbessern. Lausige Gegend, dachte er und stellte den Motor ab. Ekelhaftes Staubloch. Was er brauchte, war ein Bad im eigenen, lagunenartigen Swimmingpool und einen eiskalten Drink.

Unterdes kletterte Max freudig erregt aus seinem Auto. Den Strafzettelblock in der Hand. Herrschaft, ist das eine Maschine! dachte er wieder. Wohl das luxuriöseste Stück, das er außerhalb der Mattscheibe zu sehen bekam.

Der Fahrer enttäuschte ihn auf den ersten Blick. Er sah nicht wie ein Ausländer aus, nicht einmal stinkreich. Sein Auge übersah die goldene Schweizer Uhr am linken Handgelenk, blieb auf dem T-Shirt und den Jeans haften. Muss einer von diesen Exzentrikern sein, stellte er fest. Vielleicht hat er den Wagen auch gestohlen. Bei diesem Gedanken stieg sein Blutdruck. Er sah sich das Gesicht des Mannes näher an.

Es war hager und leicht aristokratisch. Ein gut geformter Kopf, eine gerade Nase. Der Mann lächelte nicht, wirkte eher leicht gelangweilt. Er war glatt rasiert, hatte markante Wangenfalten. Die Haare schienen von anspruchslosem Braun. Sie waren ein wenig lang und lockten sich über den Ohren. In dem sonnengebräunten Gesicht fielen die Augen besonders auf. Sie waren von fesselnd klarem Wasserblau. Nein, der Mann am Steuer hatte nicht das Aussehen eines gehetzten Autodiebs.

»Ja?«

Die frostige Einzelsilbe brachte Max auf seinen beruflichen Daseinszweck zurück. »In Eile?«, fragte er und nahm das an, was der Sheriff die strenge Polizistenhaltung genannt haben würde.

»Ja.«

Bei dieser Antwort trat Max von einem Fuß auf den anderen. »Zulassung und Führerschein«, sagte er munter und lehnte sich dichter ans Fenster, als Phil in das Handschuhfach griff. »Duftes Armaturenbrett! Alles dran und noch ein paar Extras. Ja und ein Telefon, ’n richtiges Telefon im Auto. Diese französischen Modelle sind schon Spitze.«

Phil warf ihm einen nachsichtigen Blick zu. »Deutsche«, korrigierte er und händigte Max seinen Kraftfahrzeugschein aus.

»Deutsche?«, runzelte Max zweifelnd die Stirn. »Sind Sie sicher?«

»Ja.« Phil entnahm seiner Brieftasche den Führerschein und reichte auch diesen durch das offene Seitenfenster. Die Hitze strömte erbarmungslos herein.

Max nahm die Papiere entgegen. »Dies ist Ihr Wagen?«, fragte er argwöhnisch.

»Wie Sie dem Namen auf dem Kraftfahrzeugschein entnehmen können«, erwiderte Phil kühl, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass er am Rande eines Wutausbruchs stand.

Max las die Zulassung mit seiner gewohnt schwerfälligen Geschwindigkeit. »Bei Annies Café sind Sie vorbeigejagt wie eine Fledermaus ohne …« Er stockte, erinnerte sich daran, dass der Sheriff vom Fluchen im Dienst nichts hielt. »Ich hab’ Sie wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten. Hab’ Sie mit der Stoppuhr gemessen. Ich wette, dieser Schlitten rast so sanft, dass man nichts davon merkt.«

»Ich habe in der Tat nichts bemerkt«, bestätigte Phil gereizt.

Max riss den Zettel vom Block ab. »So, Sie brauchen das hier nur zu unterschreiben. In der Stadt können Sie dann anhalten und Ihre Geldstrafe zahlen.«

Langsam stieg Phil aus dem Auto. Die Sonne zauberte tiefrote Streifen in sein Haar. Max wurde an die Mahagonianrichte seiner Mutter erinnert. Einen Augenblick standen sie sich gegenüber. Beide Männer waren hochgewachsen. Aber während sich der eine schlaksig hielt, zeigte der andere eine kerzengerade Haltung, wirkte muskulös.

»Nein!«, sagte Phil betont.

»Nein?« Max blinzelte gegen die Sonne. »Nein, was?«

»Nein, ich unterschreibe nichts.«

»Sie wollen den Zettel nicht unterschreiben?« Max blickte etwas fassungslos drein. »Aber das müssen Sie. Das ist Vorschrift.«

»Das interessiert mich nicht.« Phil fühlte, wie ihm Schweiß über den Rücken hinabrieselte. Es machte ihn wütend. »Ich unterschreibe den Wisch nicht. Und ich zahle einem unbedeutenden Dorfpolizisten, der sein Bankkonto mit dieser Geschwindigkeitsfalle aufbessern will, keinen Penny.«

»Geschwindigkeitsfalle?« Max war mehr erstaunt als beleidigt. »Mister, Sie sind mehr als hundertfünfzig gefahren, und die Straße ist klar mit hundertzehn gekennzeichnet.«

»Wer sagt, dass ich schneller war?«

»Ich habe Sie gemessen.«

»Ihr Wort gegen meins«, entgegnete Phil kühl. »Haben Sie einen Zeugen?«

Max machte ein verdutztes Gesicht. »Nun, das nicht, aber …« Er stieß seinen Hut zurück. »Hören Sie, ich brauch’ keinen Zeugen. Ich bin der Hilfssheriff. Unterzeichnen Sie jetzt den Strafzettel!«

Es war purer Eigensinn. Phil hatte nicht den leisesten Schimmer, wie schnell er gefahren war, und es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Die Straße war lang und verlassen gewesen, er war mit seinen Gedanken in Los Angeles. Doch obgleich er dies wusste, konnte er sich nicht entschließen, den Kugelschreiber zu ergreifen, den der Hilfssheriff ihm entgegenhielt. »Ich sagte Nein.«

»Aber ich habe den Zettel schon ausgefüllt.« Max streckte entschlossen das Kinn vor. Schließlich vertrat er hier das Gesetz. »Dann werde ich Sie festnehmen müssen«, drohte er. »Dem Sheriff gefällt so etwas nicht.«

Hinter seinem Ärger spürte Phil eine Spur von Sympathie aufsteigen.

»Sie werden mir in die Stadt hinein folgen«, sagte Max und steckte Phils Führerschein ein.

»Und wenn ich mich weigere, das zu tun? Wenn ich einfach hier stehen bleibe?«

Max war kein kompletter Einfaltspinsel. »Dann«, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken, »werde ich Sie festnehmen, und Ihr Luxusauto lasse ich hier draußen stehen. Wenn der Abschlepptransporter kommt, geht dann alles in einem Aufwasch. Und danach …«

Phil zeigte sich durch ein leichtes Kopfnicken zur Einsicht bereit und stieg wieder in sein Auto. Max stakste zu seinem Dienstfahrzeug zurück und dachte, wie fein er dastehen würde, wenn er die rote Luxuslimousine in das Städtchen lotste.

Im Schritttempo fuhren sie in Friendly ein. Hin und wieder nickte Max ein paar Leuten zu, die stehen geblieben waren, um die kleine Prozession zu verfolgen. Kurz darauf streckte er seine Hand aus dem Fenster, um das Signal zum Anhalten zu geben, dann bremste er vor dem Dienstgebäude des Sheriffs.

»Okay, hinein da.« Plötzlich ganz Amtsperson, wies Max auf die Tür zur ebenen Erde. »Der Sheriff wird mit Ihnen sprechen wollen.« Der eiskalte Blick aus den Augen des Fremden hielt Max jedoch davon ab, ihn anzufassen. So öffnete er nur die Tür und wartete, bis sein Gefangener ihm vorausgegangen war.

Max und Phil betraten einen kleinen Raum mit zwei vergitterten Zellen, einem Aktenregal, ein paar spindeldürren Stühlen und einem abgenutzten Schreibtisch. Ein Ventilator an der Decke wirbelte mit leisem Wimmerton die dunstige Luft auf. Eine dicke Masse schlammfarbenen Fells auf dem Fußboden stellte sich als Hund heraus. Auf dem Schreibtisch standen neben Büchern und Akten zwei halb volle Kaffeetassen. Eine dunkelhaarige Frau füllte emsig ein gelbes Gesetzesformular aus.

Phil vergaß die lästige Unterbrechung seiner Fahrt lange genug, um die junge Frau in Gedanken in drei verschiedenen Filmen zu besetzen. Ihr Gesicht war klassisch oval mit leicht erhöhten Backenknochen unter honiggetönter Haut. Ihre Nase war schmal und fein, der Mund hatte genau die richtige Größe, und die vollen Lippen erregten augenblicklich Sinnlichkeit. Ihr Haar war schwarz und fiel in lockeren Wellen auf die Schultern. Sie hatte die Augenbrauen fragend hochgezogen. Ihre dicht bewimperten Augen waren dunkelgrün und blickten leicht spöttisch.

»Max?«

Die Einzelsilbe klang dunkel und kehlig, träge und sexy wie schwarze Seide. Phil kannte Schauspielerinnen, die für eine derartige Stimme einen Mord begangen hätten. Wenn sie vor der Kamera nicht verkrampft, dachte er, und wenn der Rest dem Gesicht entspricht … Er ließ seine Augen abwärts schweifen. Auf ihrer linken Brust war ein kleines Metallabzeichen befestigt. Fasziniert starrte Phil es an.

»Geschwindigkeitsüberschreitung, Sheriff.«

»Oh?« Sie wartete, bis Phils Augen zu ihrem Gesicht zurückkehrten. Sie hatte sowohl seinen abschätzenden Blick beim Hereinkommen als auch jetzt seinen Argwohn registriert. »Hattest du keinen Kugelschreiber mit, Max?«

»Kugelschreiber?« Verblüfft durchsuchte Max seine Taschen.

»Ich wollte den Strafzettel nicht unterschreiben«, erklärte Phil und trat auf den Schreibtisch zu, um einen näheren Blick auf ihr Gesicht zu werfen. »Sheriff«, setzte er hinzu. Sie könnte aus jedem vorstellbaren Winkel aufgenommen werden, dachte er, und würde gleichmäßig wundervoll aussehen. Er hätte sie gerne wieder sprechen gehört, um den Stimmfall in sich aufzunehmen.

Unbeeindruckt begegnete sie seinem taxierenden Blick. »Verstehe. Wie hoch war seine Geschwindigkeit, Max?«

»Hundertfünfzig. Vicky, du müsstest sein Auto sehen!«, rief Max, der vor lauter Begeisterung sich selbst und die Situation vergaß.

»Ich denke, das werde ich noch«, murmelte sie und streckte die Hand aus, um Phils Personalpapiere entgegenzunehmen. Dabei sah sie den Verkehrssünder unverwandt an.

Phil fiel auf, dass ihre Hände schmal und wohlgeformt waren. Die Fingernägel waren metallicrosa lackiert. Was, zum Teufel, macht diese Frau hier? fragte er sich und konnte sie sich viel eher in Beverly Hills bei Hollywood vorstellen.

»Nun, die Papiere scheinen in Ordnung zu sein, Mister … Kincaid.« Sie sah ihn wieder an. Ein wenig Wimperntusche, dachte er, ein Hauch Lidstrich, aber sonst ihre eigenen Farben. Keinen Puder, keinen Lippenstift. Flüchtig wünschte er sich eine Kamera und ein paar Handscheinwerfer her. »Die Geldstrafe beträgt vierzig Dollar«, sagte sie in nüchternem Amtston. »Zahlbar in bar.«

»Ich bezahle nicht.«

Sie kniff die Lippen kurz zusammen und erregte in Phil den Wunsch, ihren Geschmack zu testen. »Oder ersatzweise vierzig Tage Haft«, fuhr sie ohne Wimpernzucken fort. »Ich meine, es wäre weniger lästig für Sie, wenn Sie die Strafe bezahlten. Unsere Unterbringungsmöglichkeiten dürften Ihnen sicher nicht zusagen.«

Die kühle Belustigung in ihrer Stimme irritierte ihn. »Ich zahle keine Geldstrafe.« Er stützte sich mit den Händen auf den Schreibtisch und beugte sich zu ihr vor. Dabei fing er den schwachen Hauch eines feinen, raffinierten Parfüms auf. »Erwarten Sie wirklich, dass ich Sie für den Sheriff halte? Was für eine Nummer zieht ihr beiden Typen hier ab?«

Max wollte darauf etwas entgegnen, aber als er Vickys Blick sah, ließ er es lieber bleiben. Langsam stand sie hinter dem Schreibtisch auf. Sie war überraschend groß und schlank. Die Figur eines Fotomodells, dachte Phil. Groß und gertenschlank – die Sorte, die dich neugierig macht, was unter den Kleidern verborgen ist. Diese hier würde sogar in Sackleinen wie in dem teuersten Dior-Modell aussehen.

»Ich diskutiere nicht mit Gesetzesübertretern, Mr Kincaid. Sie werden jetzt Ihre Taschen leeren.«

»Das werde ich nicht«, weigerte er sich wütend.

»Widerstand bei Inhaftnahme.« Vicky blieb gelassen. »Wir werden auf sechzig Tage erhöhen müssen.« Phil sagte irgendetwas Rasches und Grobes. Statt beleidigt zu sein, nickte sie freundlich. »Sperr ihn ein, Max.«

»Warten Sie eine verdammte Minute …«

»Sie sollten sie nicht reizen«, raunte Max ihm zu, während er ihn rückwärts zur Zelle drängte. »Sie kann fuchtig wie eine Katze werden.«

»Wenn Sie Ihren Wagen kostenpflichtig von uns abschleppen lassen wollen«, fuhr sie fort, »werden Sie Max die Autoschlüssel aushändigen.« Sie musterte ihn kurz. »Lies ihm seine Rechte vor, Max!«, ordnete sie an.

»Ich kenne meine Rechte, verdammt noch mal.« Verächtlich schüttelte Phil Max’ Hand ab. »Ich möchte telefonieren.«

»Selbstverständlich. Sobald Sie Max Ihre Schlüssel übergeben haben.«

»Hören Sie …« Phil blickte wieder auf das Abzeichen an ihrer Bluse. »Sheriff«, setzte er widerstrebend hinzu, »Sie erwarten doch nicht, dass ich auf diesen uralten Trick hereinfalle. Der dort« – er wies mit dem Daumen auf Max – »wartet auf einen Ortsfremden, der zufällig vorbeikommt, und zieht ihm rasch verdiente vierzig Dollar aus der Nase. Es gibt ein Gesetz gegen Geschwindigkeitsfallen.«

Vicky hörte mit offensichtlichem Interesse zu. »Wollen Sie den Strafzettel unterschreiben, Mr Kincaid?«

Phil kniff die Augenlider zusammen. »Nein.«

»Dann werden Sie für eine Weile unser Gast sein.«

»Sie können mich gar nicht verurteilen«, schnaubte Phil. »Nur ein Richter …«

»Friedensrichter«, unterbrach ihn Vicky und deutete mit einem lackierten Fingernagel auf ein mit Foto versehenes Beglaubigungsdokument, das eingerahmt an der Wand hing. Phil las den Namen, der darauf stand: Victoria L. Ashton.

Er sah sie ernüchtert an. »Sie?«

»Ja. Gut getroffen, nicht wahr?« Sie drehte den Kopf zur Seite, um ihm ihr Profil zu zeigen. Dann sagte sie in unterkühltem Amtston: »Sechzig Tage Haft, Mr Kincaid, oder zweihundertfünfzig Dollar.«

»Zwei-fünfzig?«, stotterte Phil verblüfft.

»Kaution wird auf fünfhundert festgesetzt. Sorgen Sie dafür, dass die Summe hinterlegt wird.«

»Mein Telefongespräch«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Ihre Schlüssel«, sagte sie leutselig.

Mit einem unterdrückten Fluch zog Phil die Schlüssel aus der Tasche und warf sie ihr zu. Vicky fing sie geschickt auf. »Sie sind berechtigt, ein kostenloses Ortsgespräch zu führen.«

»Es ist ein Ferngespräch. Ich werde meine Kreditkarte benutzen.«

Nachdem Vicky auf das Telefon auf ihrem Schreibtisch hingewiesen hatte, übergab sie die Schlüssel an Max. »Zweifuffzig«, flüsterte dieser ihr zu. »Bist du nicht ein bisschen hart mit ihm?«

Vicky stieß einen undamenhaften Schnaufer aus. »Mr Hollywood Kincaid benötigt einen festen Tritt in sein Ego«, sagte sie. »Es wird ihm unheimlich guttun, ein Weilchen in unserer Zelle zu schmoren. Bring den Wagen zu Bestlers Garage, Max.«

»Ich soll den Wagen fahren?« Max sah auf die Autoschlüssel in seiner Hand.

»Schließ ihn dort ein und bring die Schlüssel wieder«, forderte Vicky. »Und spiel nicht an den Armaturen herum.«

»Aber Vicky.«

»Aber Max«, kopierte sie ihn und sah ihm mit einem schwesterlich liebevollen Blick nach, wie er aus der Tür eilte.

Ungeduldig wartete Phil inzwischen auf das Rufzeichen. Endlich nahm jemand ab. »Auftragsdienst für Sherman, Miller & Stein.«

Phil fluchte. »Wo, zur Hölle, ist Lou?«

»Mr Sherman ist bis Montag nicht in seinem Büro zu erreichen«, teilte ihm die Telefonistin spröde mit. »Würden Sie bitte Ihren Namen hinterlassen?«

»Hören Sie, hier ist Phillip Kincaid. Sie werden Lou jetzt anrufen und ihm sagen, ich sei in …« Er wandte den Kopf Vicky zu und blickte sie fragend an.

»Willkommen in Friendly, New Mexico«, gab sie ihm verbindlich zur Antwort.

Phil dachte an ein kräftiges Schimpfwort, das er aber nicht aussprach. »Friendly, New Mexico. Im Gefängnis, verdammt. Wegen irgendeiner fälschlichen Beschuldigung. Sagen Sie ihm, er soll sich mit seiner Aktentasche ins Flugzeug setzen, aber dalli.«

»Ja. Mr Kincaid. Ich will versuchen, ihn zu erreichen.«

»Sie werden ihn erreichen«, sagte Phil schroff und hängte auf. Als er erneut telefonieren wollte, kam Vicky herübergeschlendert und unterbrach mit ruhiger Geste die Verbindung.

»Nur ein Gespräch«, erinnerte sie ihn.

»Ich habe den Auftragsdienst erwischt«, sagte er erbost.

»Künstlerpech.« Sie lächelte, was ihn gleichzeitig fesselte und wütend machte. »Ihr Zimmer steht bereit, Mr Kincaid.«

Phil legte den Hörer auf die Gabel. »Sie werden mich nicht in diese Zelle stecken.«

»Nein?«, fragte sie mit unschuldigem Augenaufschlag.

»Nein.«

Sie wirkte sekundenlang verwirrt. Ihr Seufzer war ein ausgesprochen weiblicher Laut, als sie um den Schreibtisch herumging. »Sie machen es mir nicht leicht, Mr Kincaid. Sie müssen nämlich wissen, dass ich nicht die Körperkraft besitze, Sie in die Zelle zu bugsieren. Sie sind größer als ich.«

Ihr plötzlicher Tonfallwechsel veranlasste ihn, etwas vernünftiger zu reagieren. »Miss Ashton …«, fing er an.

»Sheriff Ashton«, verbesserte sie ihn und zog einen 45er Revolver aus der Schreibtischschublade. Perplex schaute Phil auf die furchterregende Waffe in ihrer schmalgliedrigen Hand. »Und jetzt, sofern Sie keine weitere Erhöhung des Strafmaßes wegen Widerstands bei Inhaftnahme im Protokoll haben wollen, werden Sie schön ruhig zu jener ersten Zelle dort hinübergehen. Bettwäsche und Handtuch sind gerade gewechselt worden.«

Phil schwankte zwischen Erstaunen und Belustigung. »Sie nehmen doch wohl nicht an, ich glaube, dass Sie das Ding benutzen werden?«

»Ich sagte Ihnen schon, ich diskutiere nicht mit Gesetzesübertretern.« Obgleich sie den Lauf senkte, spannte sie ganz bedachtsam den Hahn.

Er musterte sie eine volle Minute lang. Ihre Augen waren zu fest und ganz entschieden zu ruhig auf ihn gerichtet. Phil hatte keinen Zweifel mehr, dass sie ein Loch in ihn schießen würde – in irgendeinen Teil seines Körpers, den sie für unwichtig hielt. Und er hegte einen gesunden Respekt vor seinem Körper. Dieses Risiko würde er nicht eingehen.

»Hierfür werden Sie mir büßen«, sagte er gefährlich leise und ging auf die Zellentür zu.

Ihr Lachen klang herzerfrischend und einladend genug, um ihn vor den Gitterstäben haltmachen zu lassen und sich umzudrehen. Ich würde sie in die Arme reißen, hätte sie keine Pistole in der Hand, dachte er. Wütend auf sich selbst, ging er steifen Schrittes in die Zelle.

Vicky nahm das Schlüsselbund von einem Haken und sperrte die Tür mit Riegel und Schnappschloss ab. Phil marschierte grimmig mit kleinen Schritten durch das enge Gelass. Plötzlich musste er gegen einen Lachanfall kämpfen. Die Situation hatte entschieden etwas Groteskes an sich.

»Würden Sie gerne eine Mundharmonika und eine Blechtasse haben?«, hörte er sie fragen.

Er lächelte breit. Zum Glück stand sie mit dem Rücken zu ihm. Er ließ sich auf die Pritsche fallen. »Ich nehme die Blechtasse, sofern sich Kaffee darin befindet.«

»Kommt zusammen mit der Bedienung, Kincaid. Sie haben freie Kost und Logis in Friendly.«

Phil ließ sie nicht aus den Augen, während sie zum Schreibtisch zurückging und den Revolver verstaute. Irgendetwas an ihrer trägen Gangart reizte seinen Blutdruck auf angenehme Weise. »Zucker und Sahne?«, fragte sie höflich.

»Schwarz.«

Vicky schenkte den Kaffee in die Tasse. Sie war sich bewusst, dass er sie beobachtete. Teils amüsierte, teils interessierte er sie. Sie wusste genau, wer er war. Aber über ihrer grundlegenden Verachtung für das, was sie für einen verwöhnten Großstadt-Playboy hielt, lagerte eine Spur von Respekt. Er hatte nicht versucht, sie mit seinem Namen oder seiner Berühmtheit zu beeindrucken. Er hatte sich auf sein Temperament verlassen. Und sie wusste, es war sein cholerisches Temperament, das ihn vor allem anderen in der Zelle landen ließ.

Zu reich, zu erfolgreich, zu attraktiv, fasste sie zusammen. Vielleicht auch zu talentiert, sinnierte sie und schenkte sich selber eine Tasse ein. Seine Filme waren unleugbar brillant. Sie fragte sich, wie sein wahres Ich war. Die Filme schienen seine Persönlichkeit widerzuspiegeln, aber aus den Klatschspalten tauchte ein anderes Image auf. Sie musste schmunzeln, als sie sich der Möglichkeit bewusst wurde, persönlich die Wahrheit herauszufinden, solange er ihr »Gast« war.

»Schwarz«, verkündete sie, und brachte ihm die Tasse mit dem Kaffee. »Wie bestellt zubereitet.«

Er beobachtete die Art, wie sie sich bewegte: geschmeidig wie ein Rennpferd, nur leicht in der Hüfte wiegend. Es sind diese langen Beine, stellte er fest, das und ein angeborenes Selbstvertrauen. Unter anderen Umständen würde er sie ganz wie eine Frau behandelt haben. Im Augenblick empfand er sie als absolute Belästigung. Stumm löste er sich von der Pritsche und nahm die Tasse entgegen, die sie ihm durch die Gitterstäbe reichte. Dabei streiften sich flüchtig ihre Finger.

»Sie sind eine schöne Frau, Victoria«, murmelte er. »Und mir sehr lästig.«

»Ja«, stimmte sie zu.

Das forderte ihn zum Lachen heraus. »Was, zum Teufel, treibt Sie, hier den Sheriff zu mimen?«

»Was, zum Teufel, treibt Sie, hier den Verbrecher zu mimen?«

Max polterte zur Tür herein. Er grinste übers ganze Gesicht.

»Donnerwetter, Mr Kincaid, das ist ein Auto!« Er ließ die Wagenschlüssel in Vickys Hände fallen und lehnte sich gegen die Gitterstäbe. »Ich schwöre, ich könnt’ jeden Tag drinsitzen. Bestier fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich damit angefahren kam.«

Phil fluchte vor sich hin und trat an das winzige vergitterte Fenster im Hintergrund der Zelle. Beim Anblick der kleinen Stadt verfinsterte sich sein Blick.

Es war ein sandiger, hoffnungslos aussehender Ort mit einer melancholischen Atmosphäre unter einer Schicht von Staub und Lethargie. Menschen blieben in einer Stadt wie dieser nur dann, wenn sie sonst keine Bleibe oder Aufgabe mehr hatten. Sie kehrten nur hierher zurück, wenn sie die letzte Hoffnung auf ein besseres Schicksal aufgegeben hatten. Und hier befand er sich, in eine dumpfe kleine Gefängniszelle eingesperrt …

Plötzlich schärften sich seine Gedanken.

Hier war sie, die Stadt, nach der er suchte. Dies war New Chance, wie der Titel seines nächsten Films lauten sollte.

2. KAPITEL

Für die nächsten zwanzig Minuten widmete Vicky ihrem Gefangenen wenig Aufmerksamkeit. Er schien zufrieden damit, aus dem Fenster zu starren, derweil der Kaffee in seiner Tasse erkaltete. Nachdem sie Max zum Streifengang geschickt hatte, setzte sich Vicky wieder an die Arbeit.

Sie war mit einem scharfen, praktischen und eigenwilligen Verstand ausgerüstet. Diese Gaben hatten ihr zu einer umfassenden Bildung verholfen. Sie hatte sich auf dem akademischen Sektor ausgezeichnet, aber sie war ihren Lehrmeistern niemals eine bequeme Schülerin gewesen. »Warum?«, war ihre Lieblingsfrage gewesen.

Ihr Temperament, das die Skala von sanft zu explosiv durchlief, hatte sie zusätzlich zu einer schwierigen Studentin gemacht. Später nannten manche sie ein lästiges Ärgernis – gewöhnlich dann, wenn sie auf der Gegenseite standen. Mit siebenundzwanzig Jahren war Victoria L. Ashton eine scharfsinnige, brillante Rechtsanwältin.

Sie unterhielt eine bescheidene, kleine Praxis in Albuquerque. Die Büroräume befanden sich in einem Altbau mit schlechten Rohrleitungen. Sie teilte sie mit einem Buchprüfer, einem Immobilienmakler und einem Privatdetektiv.

Annähernd fünf Jahre hatte sie im dritten Stock in zwei wenig komfortablen Zimmern gewohnt, unter denen sich ihr Büro befand. Es war ein bequemes Arrangement, das Vicky nicht zu ändern gedachte. Selbst dann nicht, als sie in der Lage war, es sich finanziell leisten zu können.

Sie war in Friendly groß geworden, war mit seinem eintönigen Frieden zufrieden gewesen. Auch heute spürte sie kein Verlangen, einer protzigen Firma an einer der Küsten oder in einer Großstadt im Binnenland beizutreten. Ihr Unabhängigkeitsbedürfnis hatte sie veranlasst, das Risiko einer eigenen Praxis einzugehen. Fette Honorare oder das Knüpfen von Beziehungen waren kein Ansporn für Vicky. Sie hatte frühzeitig gelernt, das Geld einzuteilen, wenn es ihr gefiel – eine Fähigkeit, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte. Menschen, die Art und Weise, wie man das Gesetz zu ihrem Vorteil oder Nachteil nutzen konnte, das interessierte sie.

Jetzt saß sie hinter ihrem Schreibtisch und fuhr fort, einen Partnerschaftsvertrag für ein Paar Grünschnäbel von Textschreibern aufzusetzen. Es war nicht immer einfach, sich über die Entfernung hinweg mit Fällen zu befassen, aber sie hatte ihr Wort gegeben.

Abwesend nippte sie an ihrem Kaffee. Im Herbst würde sie wieder in Albuquerque sein, ihre Gerichtsfälle wieder übernehmen und das Sheriff-Abzeichen gegen die Aktenmappe eintauschen. Inzwischen waren die Wochenenden von Bedeutung. Samstag war Zahltag. In den Samstagnächten lebte Friendly etwas auf. Die Leute neigten dazu, sich ein Extrabier zu genehmigen. Und in Bestlers Garage fand eine Pokerrunde statt. Vicky wusste, wann es von Vorteil war, in die andere Richtung zu gucken. Ihr Vater würde dazu gesagt haben, die Menschen brauchen ihre kleinen Vergnügungen.

Vicky lehnte sich zurück, um nachzulesen, was sie geschrieben hatte. Dabei schlug sie die Beine übereinander und drehte spielerisch eine ihrer schwarzen Locken um den rechten Zeigefinger. Jäh aus seiner Fantasiewelt in die Wirklichkeit zurückgekehrt, stürzte Phil ans Gitter.

»Ich muss telefonieren!« Sein Ton war dringend und erregt. Alles, was er von seinem Zellenfenster aus beobachtete, hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, dass ihn ein freundliches Schicksal nach Friendly führte.

Vicky las erst einen Absatz zu Ende, sah dann teilnahmslos hoch. »Sie haben Ihr Telefongespräch gehabt, Mr Kincaid. Warum entspannen Sie sich nicht? Nehmen Sie sich ein Beispiel an Dynamit.« Sie deutete auf den riesigen Hund. »Ruhen Sie sich ein wenig aus.«

Phil umklammerte mit beiden Händen die Gitterstäbe und rüttelte heftig daran. »Ich muss telefonieren. Es ist wichtig.«

»Das ist es immer«, erwiderte Vicky gelangweilt und blickte wieder auf ihre Papiere.

Bereit, aus Zweckmäßigkeitsgründen auf Prinzipien zu verzichten, sagte er so ruhig wie möglich: »Passen Sie auf, ich unterschreibe den Strafzettel. Aber lassen Sie mich jetzt heraus.«

»Es steht Ihnen frei, den Strafzettel zu unterschreiben«, entgegnete sie gelassen, »doch das würde Sie nicht aus der Zelle herausbringen. Da ist noch Ihre Strafe wegen Widerstands bei Inhaftnahme.«

»Wegen all dieser falschen, erschwindelten …«

»Ich könnte noch hinzufügen, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses«, zog sie in Erwägung und blickte versonnen über den Berg ihrer Papiere.

Phil kochte jetzt vor Wut. Man sah es an der starren Haltung seines muskulösen Körpers, dem grimmigen Zug um den Mund, den stolzen Augen.

Vicky spürte ein kleines Zwicken in den untersten Regionen ihres Magens, oh ja, sie konnte klar erkennen, warum sein Name mit Dutzenden attraktiver Frauen in Verbindung gebracht wurde. Er war zweifellos der schönste Vertreter des männlichen Geschlechts, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Es war dieser Hauch aristokratischer Zurückhaltung, gekoppelt mit einem außergewöhnlich wohlproportionierten Körperbau und einem explosiven Temperament.

Einen langen, stummen Augenblick kreuzten sich ihre Blicke. Der seine stürmisch – der ihre ruhig.

»In Ordnung«, murmelte er. »Wie viel?«

Vicky hob eine Braue. »Eine Bestechung, Kincaid?«

Diesmal kannte er seine Beute zu gut. »Nein. Wie hoch ist meine Geldstrafe … Sheriff?«

»Zweihundertfünfzig Dollar.« Mit einem raschen Schwung ihres Kopfes warf sie das Haar über die Schultern. »Oder Sie hinterlegen die Kaution von fünfhundert.«

Mit einem finsteren Blick zog Phil seine Brieftasche. Sobald ich hier raus bin, dachte er rachelüstern, lasse ich diese sehr hübsche, aber anmaßende junge Dame dafür zahlen.

Ein Blick in die Brieftasche verriet ihm, dass er um hundert Dollar zu knapp war. Er stieß einen Fluch aus, sah wieder zu Vicky. Sie zeigte noch immer ihre geduldig freundliche Miene. Er hätte sie mit Wonne erwürgen mögen. Stattdessen probierte er es mit einer anderen Taktik. Charme hatte ihm bei Frauen stets Erfolg gebracht.

»Ich hab vorhin ein bisschen die Nerven verloren, Sheriff«, fing er an und setzte das verbindliche Werbelächeln auf, für das er berühmt war. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin seit Tagen mit meinem Auto unterwegs, und Ihr Gehilfe hat mir den Rest gegeben.« Vicky sah ihn weiter freundlich an. »Falls ich irgendetwas Unbotmäßiges zu Ihnen gesagt haben sollte, so geschah es einzig und allein, weil Sie nicht der landläufigen Vorstellung eines Kleinstadt-Friedensrichters entsprechen.« Er lächelte keck wie ein Schulbub, den man beim Naschen ertappt hat.

Vicky war versucht, die Beine auf den Schreibtisch zu legen, aber natürlich tat sie es nicht. »Ein bisschen knapp bei Kasse, Kincaid?«, fragte sie ungerührt.

Phil biss sich auf die Zunge, um eine wütende Antwort zu verschlucken. »Ich trage unterwegs nicht gerne größere Summen Bargeld bei mir.«

»Sehr vernünftig«, lobte sie. »Aber Kreditkarten nehmen wir hier nicht an.«

»Verdammt, ich muss hier raus!«

Vicky musterte ihn leidenschaftslos. »Platzangst kaufe ich Ihnen nicht ab«, befand sie. »Nicht, nachdem ich gelesen habe, wie Sie durch ein zwei Fuß enges Rohr gekrochen sind, um die Kameraeinstellung zu ›Nacht der Verzweiflung‹ zu kontrollieren.«

»Es ist nicht …« Phil stockte. Unwillkürlich kniff er die Augen etwas zusammen. »Sie wissen, wer ich bin?«

»Oh, ich gehe ein paarmal im Jahr ins Kino«, verkündete sie fröhlich.

Sein Blick wurde hart. »Falls das hier so eine Art von Erpressung werden soll …«

Ihr kehliges Lachen schnitt ihm das Wort ab. »Ihr Eigendünkel ist olympiareif.« Seine Miene bekam etwas derart Ungläubiges, dass sie lachend aufstand. »Kincaid, es interessiert mich nicht, wer Sie sind und was Sie für Ihren Lebensunterhalt tun. Sie sind ein jähzorniger Mann, der sich weigert, die Gesetze zu achten, und damit Anstoß erregte.« Sie kam zur Zelle herübergeschlendert, und wiederum nahm er jenen Hauch feinen Parfüms wahr, der besser zu französischer Seide als zu verblasstem Baumwolldrillich gepasst hätte. »Ich bin dazu verpflichtet, Sie zu resozialisieren.«

Bei so viel hinreißender Schönheit vergaß er schlagartig seinen Ärger. »Ihr Gesicht – diese Ebenmäßigkeit«, murmelte er. »Ich könnte einen ganzen Film rund um dieses Gesicht drehen.«

Vicky war sich völlig im Klaren, dass sie äußerlich anziehend war. Sie wäre eine komplette Närrin gewesen, dies abzuleugnen. Unzählige Männer hatten ihr Komplimente über ihr Aussehen gemacht. Dies hier war kaum ein Kompliment. Aber irgendetwas in Phils Tonfall, in seinen Augen, jagte ihr ein Kribbeln über den Rücken. Sie erhob keinerlei Protest, als er eine Hand durch die Gitterstäbe streckte, um ihr Haar zu berühren. Er ließ es durch seine Finger gleiten, während sein Blick unverwandt auf ihr ruhte.

Vicky spürte sich von einer Hitzewelle erfasst, gegen die sie sich immun geglaubt hatte. Es durchfuhr sie so blitzartig, als wäre sie aus einem kühlen, verdunkelten Zimmer in die grelle Sonne hinausgetreten. Es war jene Art von Hitze, die die Knie einknicken lässt und einen wie vor einer Naturerscheinung in Sprachlosigkeit versetzt. Sie stand da wie gelähmt.

Ein gefährlicher Mann, folgerte sie überrascht. Ein sehr gefährlicher Mann. Sie bemerkte ein verlangendes Flackern in seinen Augen und gleich darauf eine Spur von Belustigung. Seine Mundwinkel bogen sich leicht nach unten, während er sie immer noch musterte.

»Baby«, sagte er mit einem diabolischen Lächeln, »ich könnte einen Star aus dir machen.«

Die bewusst abgedroschene Phrase zerriss die Spannung und brachte sie zum Lachen. »Oh, Mr Kincaid«, sagte sie mit der rauchigen Stimme eines verruchten Vamps, »könnte ich wirklich eine Probeaufnahme bekommen?« Ein verblüffter Phil wurde Zeuge, wie sie sich in theatralischer Pose gegen die Gitterstäbe lehnte.

»Ich werde auf dich warten, Johnny«, rezitierte sie aus dem Stegreif mit zitternden Lippen und tränenfeuchten Augen. »Einerlei, wie lange es auch dauern mag, Johnny.« Sie griff durch das Gitter, krallte sich mit einer Hand an Phil fest. »Ich werde dir jeden Tag schreiben«, versprach sie gebrochen. »Und jede Nacht von dir träumen. Oh, Johnny …«, ihre Wimpern senkten sich flatternd, »küss mich noch einmal zum Abschied!«

Fasziniert wollte Phil ihr gehorchen, aber kurz bevor seine Lippen die ihren berührten, trat sie lachend zurück. »Nun, wie war ich, Mr Hollywood? Bekomme ich die Rolle?«

Phil betrachtete sie zwischen Erheiterung und Verdruss. Ein Jammer, dachte er, dass ich nicht wenigstens eine Kostprobe dieser herrlichen Lippen zu schmecken bekommen habe. »Ein bisschen übertrieben«, sagte er schroffer, als er wollte, »aber für eine Anfängerin nicht schlecht.«

Vicky zwinkerte ihm freundschaftlich zu. »Jetzt sind Sie böse.«

»Böse?«, wiederholte er verärgert. »Haben Sie jemals in einem dieser elenden Käfige gesessen?«

»Allerdings, das habe ich.« Sie warf ihm ein leichtes Lächeln zu. »Und unter weniger glücklichen Umständen als Sie. Entspannen Sie sich, Kincaid. Ihr Freund wird kommen und die Kaution für Sie hinterlegen.«

»Der Bürgermeister«, sagte Phil in plötzlicher Eingebung. »Ich will den Bürgermeister sprechen. Ich habe ihm ein geschäftliches Angebot zu unterbreiten«, fügte er hinzu.

»Oh.« Vicky überlegte kurz. »Tja, ich bezweifle, ob ich es Ihnen für einen Samstag genehmigen kann. Der Bürgermeister geht samstags immer fischen. Möchten Sie es nicht mir erzählen?«

»Nein.«

»In Ordnung. Übrigens, Ihr letzter Film hätte den Oscar erhalten sollen. Es war der schönste Kinostreifen, den ich je gesehen habe.«

Der plötzliche Wechsel in ihrem Verhalten verwirrte Phil. Argwöhnisch forschte er in ihrem Gesicht, fand aber nichts als schlichte Ehrlichkeit darin. »Danke.«

»Eigentlich sehen Sie nicht aus wie ein Mann, der einen Film mit Intelligenz, Redlichkeit und Gefühl zustande bringt.«

Mit einem kurzen Auflachen fuhr er sich mit der Hand durch das Haar. »Erwartet man von mir, dass ich jetzt gleichfalls Danke sage?«

»Nicht nötig. Es ist nur, dass Sie haargenau wie der klassische Frauenheld aussehen, der sich mit all diesen hochgestochenen Berühmtheiten amüsiert. Wann finden Sie dabei eigentlich Zeit zum Arbeiten?«

Er schüttelte über so viel unverfrorene Ehrlichkeit den Kopf. »Ich … führe Regie«, presste er grimmig hervor.

»Das erfordert eine Menge Vitalität.«

»Für die Arbeit oder die eingebildeten Berühmtheiten?«

»Ich nehme an, sie kennen die beste Antwort darauf.« Bevor er eine vernünftige Antwort formulieren konnte, fuhr sie fort: »Erzählen Sie Max möglichst nicht, dass Sie Filmemacher sind. Er würde anfangen, wie John Wayne zu gehen und uns beide zum Wahnsinn treiben.«