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Einmal wie Thomas Müller das entscheidende Tor schießen und von Millionen Fans bejubelt werden. Wer hat noch nicht davon geträumt? Noch nie zuvor wurde das Berufsbild Profifußballer so spannend und detailliert beschrieben wie in diesem Buch von Jörg Runde und Thomas Tamberg. In zahlreichen Insider-Geschichten, Anekdoten und Reportagen von den Schauplätzen des deutschen Fußballs wird erzählt, was einen Fußballer während seiner Laufbahn erwartet. Vom ersten Vereinseintritt als kleiner Junge, über die Ausbildung in einem Bundesliga-Nachwuchs-Leistungszentrum, den ersten Lizenzspielervertrag bis hin zur Zeit nach der Karriere werden alle Stationen durchlaufen und begleitet. Zu Wort kommen aktive Akteure der Szene wie Philipp Lahm, Thomas Müller, Mario Götze, Hermann Gerland, Robin Dutt oder Ernst Tanner ebenso wie besorgte Eltern, Spielerberater, Psychologen, Medienwissenschaftler, Nachwuchstrainer und viele andere Experten aus allen relevanten Bereichen der Bundesliga. Das Buch beleuchtet alle Facetten dieses Traumberufs ohne zu glorifizieren. Entstanden ist ein einmaliges Porträt, spannend erzählt, für alle, die wissen wollen, wie das Leben eines Profifußballers wirklich verläuft. Mit einem Geleitwort von Jung-Nationalspieler Lewis Holtby. Diese limitierte Weltmeister-Ausgabe enthält ein Extra-Kapitel zum Werdegang unserer Nationalspieler und der stillen Helden, die sie ausgebildet haben.
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Seitenzahl: 460
2. Auflage 2014
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Print ISBN: 978-3-527-50827-3epub ISBN: 978-3-527-69164-7 mobi ISBN: 978-3-527-69165-4
Juli 2011 in den Räumen der Gemeinschaftsredaktion von t-online.de und fussball.de in Darmstadt. Es ist ein ruhiger Sommer, ohne Fußball-EM oder -WM. Ausnahmsweise treibt die Aktualität einmal nicht. Genug Zeit also, sich stressfrei um die etwas anderen Themen rund um die schönste Nebensache der Welt zu kümmern.
Irgendwann in diesen Tagen fiel uns bei der Recherche eine Studie in die Hände, die unser Interesse weckte. Bei einer Umfrage unter Jungs zwischen sechs und zwölf Jahren gaben 17,3 Prozent der Befragten den Berufswunsch Fußballprofi an. Auf den Plätzen zwei und drei in der Umfrage folgten weit abgeschlagen Polizist (10,1 Prozent) und Pilot (7,5 Prozent).[1]
Ein verblüffendes Ergebnis. Obwohl, ist es das wirklich? Ist es nicht fast schon normal, dass junge Burschen ihren Idolen nacheifern? Haben wir vor rund 30 Jahren nicht auch von den ganz großen Auftritten auf der Fußballbühne geträumt? Wollten wir nicht auch unbedingt mit dem geliebten Sport unser Geld verdienen?
Für uns endete der Traum von der Karriere als Fußballprofi sehr früh. Schon in der Jugendzeit als Torhüter des TSV Nieder-Ramstadt beziehungsweise als Mittelstürmer des KSV Langenbergheim war klar: Das wird nichts. Uns fehlte es nicht nur an fußballerischem Talent, sondern auch an Willen, Durchhaltevermögen und körperlichen Voraussetzungen.
Die Faszination für das Spiel Fußball und das dazugehörige Drumherum blieb aber immer bestehen. Und so schlugen wir beide einen Weg ein, den viele gerne gehen würden, die es als aktive Kicker nicht schaffen. Wir wählten den Beruf, der fast so schön ist, wie der des Fußballprofis: den Beruf des Fußballreporters.
Seit mehr als 15 Jahren schreiben wir über Fußball. Ob Jugendfußball, Amateurfußball, 3. Liga, 2. Bundesliga, Bundesliga, Champions League oder Nationalmannschaft – überall waren und sind wir dabei und berichten.
An diesem Sommertag in Darmstadt sprechen wir also über diese Studie. Wir fragen uns, wie viele dieser 17,3 Prozent sich ihren Traum am Ende tatsächlich erfüllen können? Wer unterschreibt wirklich einmal einen Profivertrag? Warum schaffen es die einen bis in die Bundesliga, die anderen sogar bis in die Nationalmannschaft? Wieso scheitern andere – trotz fußballerischer Klasse – schon im Jugendbereich? Wer wiederum kommt in der überdrehten Glitzer- und Scheinwelt gut zurecht und wer zerbricht daran? Und überhaupt: Mit welchen Hürden müssen die jungen Talente auf ihrem Weg in den Traumberuf rechnen?
Die Fragen lassen uns nicht mehr los, wir wollen Antworten. Und so ist dieser ruhige Tag im Juli der Startschuss für eine große Fußballreise durch Deutschland mit gezielten Abstechern ins europäische Ausland.
Wir verbrachten ein Wochenende mit Lewis Holtby in London, hockten mit Thomas Müller im Medienraum des FC Bayern und mit Holger Badstuber in der Bayern-Kantine. Wir tranken mit Mario Götze im Hotel Villa Kennedy in Frankfurt einen Espresso, aßen mit Andreas Beck bei seinem Lieblingsitaliener in Heidelberg Pasta, saßen mit Andreas Hinkel in Freiburg bei Kaffee, Tee und Kuchen und frühstückten mit Christian Eichner in Pforzheim.
Wir surften mit Bixente Lizarazu auf den Atlantikwellen vor der Küste seiner baskischen Heimat, fuhren mit Ernst Tanner durch das Salzburger Land und gingen mit Holger Broich in die Kältekammer von Bayer Leverkusen.
Wir sprachen mit Ulf Schott in der DFB-Zentrale in Frankfurt und redeten mit Marcos Álvarez von den Stuttgarter Kickers und seinen Eltern in der heimischen Küche. Wir interviewten Uwe Harttgen in Bremen, Robin Dutt in Frankfurt, Heiko Vogel in München und Thorsten Fink in Hamburg.
Wir lauschten den Ausführungen von Joachim Löw und Christian Streich bei einer Podiumsdiskussion zum 10-jährigen Jubiläum der Fußballschule des SC Freiburg, scouteten mit Wolfgang Geiger ein Jugendspiel des Karlsruher SC, schwitzten gemeinsam mit den Gastrednern Mats Hummels und Jürgen Klopp im Hörsaal 1 der Deutschen Sporthochschule Köln, stöberten dort in der Bibliothek und schauten beim Trainingscamp für arbeitslose Kicker in Duisburg vorbei.
Wir warfen bei Besuchen der Nachwuchsleistungszentren von Bayer Leverkusen, 1899 Hoffenheim und des VfB Stuttgart einen Blick hinter die Kulissen, verbrachten mit VfB-Profi Robin Yalcin einen Tag an einer DFB-Eliteschule, sprachen mit rund 20 Jugendspielern und schauten ein gutes Dutzend Spiele der B- beziehungsweise A-Junioren-Bundesliga.
Im Souterrain des Western Hotels Riedstern saßen wir mehrere Stunden und folgten mit einer Handvoll Männern dem Vorbereitungskurs für die Spielerberaterprüfung.
Und natürlich waren wir auch bei der WM 2014 in Brasilien dabei, als sich die Elite der deutschen Fußballprofis mit dem WM-Titel die Krone aufsetzen konnte.
Hinzu kamen Telefonate mit Profis, Jugendspielern, Sportwissenschaftlern, Journalisten, Beratern, Datenexperten, Spielanalytikern, Pädagogen, Psychologen, Trainern und Managern.
Aus rund 100 Stunden Gesprächsaufnahmen entstanden rund 300 Seiten mit Fakten, Analysen, Einschätzungen und vielen Geschichten, in denen es immer um die gleichen Fragen geht: Was erwartet angehende Fußballprofis auf ihrem langen und steinigen Weg in ein knallhartes Geschäft? Worauf kommt es für die hoffnungsvollen Talente und später auch den Berufsfußballer an?
Übrigens: Mit diesem Buch ist das Thema für uns noch nicht abgeschlossen. Wir haben bei den Recherchen erlebt, wie schnelllebig das Geschäft ist. Einige Manager, Trainer und Spieler haben nach den Interviews den Verein gewechselt oder sie sind mittlerweile in einer neuen Funktion tätig. Wir bleiben aber dran, informieren über die Veränderungen bei unseren Gesprächspartnern und gehen vielen anderen spannenden Fragen rund um das Thema unter www.der-fussball-profi.de weiter nach.
Die Sonne ist gerade hinter dem Horizont verschwunden und die Nacht bricht über Deutschland herein. Die Triebwerke des Lufthansa-Airbus A340-600 heulen auf und beschleunigen das Flugzeug auf fast 300 Stundenkilometer. Es ist Samstag, der 7. Juni 2014. Um exakt 22.07 Uhr geht der Sonderflug LH2014 mit dem Ziel Brasilien in die Luft. An Bord befindet sich die deutsche Nationalmannschaft. Im hinteren Teil des Fliegers sind einige Journalisten dabei. Auch ich habe einen Platz ergattert. An Schlaf denkt in diesem Moment niemand. Vorfreude und leichte Nervosität beflügeln die Phantasie. Vor uns liegt eine Reise ins Unbekannte. Wie lange das Abenteuer Südamerika dauern wird, weiß in diesem Moment niemand. Am Ende werden es fast sechs Wochen sein. Am Ende wird Deutschland nach 24 Jahren des Wartens wieder Weltmeister sein.
Und alle, die dabei gewesen sind, werden diesen Trip niemals in ihrem Leben vergessen. Allen voran natürlich die deutschen Spieler und das Trainerteam. Sie haben das Kunststück fertig gebracht, als erste europäische Mannschaft den Goldpokal auf amerikanischem Boden zu gewinnen. Sie haben Geschichte geschrieben. Innerhalb weniger Wochen sind aus Stars echte Helden geworden.
Davor lag eine Zeit, die einem mental und körperlich alles abverlangt hat. Dabei spielt es keine Rolle in welcher Funktion man die Reise nach Brasilien angetreten hat. Es war für jeden eine Grenzerfahrung. Vollgepackt mit Abenteuern, die von harter Arbeit, Stress, Hektik, Jubel, Ekstase, Freundschaften, Sonnenuntergängen, Atlantikspaziergängen, rappelvollen Stadien, packenden Spielen, großen Dramen, kleinen Gesten, unterschiedlichen Kulturen und spannenden Begegnungen mit Menschen jeglicher Couleur erzählen. Das pralle Leben gepresst in sechs Wochen.
Wie keine andere Nation lebte die deutsche Nationalmannschaft dieses Leben in Brasilien. Es war toll zu beobachten mit welcher Freude sich Philipp Lahm und Co. voll auf dieses WM-Abenteuer einließen. Die Menschen in Brasilien merkten dies schnell. Sie fühlten sich ernstgenommen und schlossen die DFB-Elf in ihr Herz. Auch die 1:7-Niederlage im Halbfinale änderte nichts an der Sympathie der Gastgeber. Den Titel gönnte ihr jeder. Für die Spieler ist damit ein großer Kindheitstraum in Erfüllung gegangen und für so machen Journalisten auch.
Dieser Traum begann vor vielen, vielen Jahren, als Bambini-Kicker irgendwo bei einem kleinen Verein oder als kleiner Praktikant bei der Heimatzeitung und fand sein Ende im „Estádio do Maracanã” im Herzen Rio de Janeiros. Es muss viel zusammenkommen, damit man so etwas erleben darf. Ob als Fußballer oder als Reporter: Ohne Leidenschaft für den Sport und die Liebe zum Beruf geht es nicht.
Wer in Brasilien dabei war, weiß, wie es sich anfühlt, wenn Träume wahr werden und kann jeden nur bestärken, ihnen zu folgen.
Thomas Tamberg
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Weltmeister-Edition
Vorwort
Kapitel 1: Endlich wieder Weltmeister
Kapitel 2: Ein Traum wird wahr
Abenteuer Tottenham
Schlüsselerlebnis auf dem Bökelberg
Magaths Zorn wird zum Anker
Der Bundestrainer auf der Mailbox
Kapitel 3: Kracher statt Knalltüten
Am Tiefpunkt angekommen
Die Liga wird zu ihrem Glück gezwungen
Talentförderung lohnt sich
Die Welt beneidet Deutschland
Kapitel 4: Dirk Nowitzki als Vorbild
Baustelle Persönlichkeitsentwicklung
Die Seele hechelt hinterher
Alles auf die Bundesliga
Charakter geht vor Talent
Kapitel 5: Schule muss sein
Plan B in der Tasche
Der Lehrer ist immer dabei
Götze will die Schule schmeißen
VIP-Karten für die Versetzung?
Kapitel 6: Abschied vom großen Ziel
Musik statt Muskelkater
Schimmel macht Schluss
Ein Supertalent in Not
Tiefpunkt in Thailand
Kapitel 7: Auf das Umfeld kommt es an
Der Kopf der Macheten-Bande
Einfach zum Fremdschämen
Fahrdienst und Kummerkasten
Die Familie leidet mit
Kapitel 8: Die Jagd nach den Talenten
Aufschrei in der Bundesliga
Drei Stunden auf der Autobahn
Reus wird aussortiert
Das Geschäft mit dem Nachwuchs
Kapitel 9: Die größte Hürde
Nicht mehr an Freunde denken
Angepinkelt vom Kollegen
Vorsicht vor der 2. Mannschaft
Gescheitert am süßen Leben
Kapitel 10: Meilensteine einer Karriere
›Geh hoch und unterschreib‹
Nur ein paar Minuten Bundesliga
Traumeinstand mit einem Tor
Mit einem Bauerntrick ins Glück
Kapitel 11: Spiele entscheiden sich im Kopf
Auch Gladiatoren haben ein Seelenleben
Auf Kriegsfuß mit der Sportpsychologie
Privatleben muss sein
Distanz zum Job tut gut
Kapitel 12: Der Körper als Kapital
Die Angst vor Verletzungen
Gefährlicher Missbrauch
Der gläserne Athlet
Musterprofis feiern auf dem Platz
Kapitel 13: Technik, Taktik und Teamgeist
Gegenpressing als Spielmacher
Jungs mit Waffen gesucht
Führungsspieler, Künstler und Arbeiter
Der größte Fehler des Kevin Kurányi
Kapitel 14: Gatekeeper und Entertainer
Die Bedeutung des Trainers für junge Spieler
›Lahm ist wie Bratwurstessen‹
Álvarez und der harte Hund
Jeder Coach braucht eine Philosophie
Kapitel 15: Immer im Fokus
Als Müller seine Omas grüßte
Boateng in der Sexfalle
Tausche Geheimnisse gegen gute Presse
Entlarvende Leistungsdaten
Kapitel 16: Die Macht der Öffentlichkeit
Als Özil zum ›Raffzahn‹ wird
Ohne Strategie gegen den Riesenhype
Vom Helden zur Hassfigur
Als Pezzonis Nase bricht
Kapitel 17: Plötzlich auf dem Abstellgleis
Randale im Sträflingskostüm
Unwürdiges Ende eines Nationalspielers
Letzte Ausfahrt Duisburg-Wedau
Ausnahme Arbeitsamt
Kapitel 18: Die Scheinwelt Profifußball ist voller Gefahren
Selbstmordversuch im Vollrausch
›Seit Enkes Selbstmord hat sich nichts geändert‹
Zocken, Saufen, leichte Mädchen
A-Junioren-Bundesliga: Die Wettmafia verdient Millionen
Kapitel 19: Strippenzieher im Millionengeschäft
Manche Berater denken nicht ans Geld
Delfine im Haifischbecken
Kritik zahlt sich aus
Blitzableiter und Sündenbock
Kapitel 20: Selbstbedienung auf dem Transfermarkt
So viel verdienen die Stars
Auf die Perspektive kommt es an
Verlockende Angebote
Sklavenhändler aus Brasilien
Kapitel 21: Ein Leben ohne Trikot
Eine Backpfeife für den Lothar
Retter der Meere
Brutto oder Netto?
Der Profi, der nebenbei studiert
Kapitel 22: Ende mit Würde und Perspektive
Zwei Träume platzen auf einmal
Mit etwas Glück zum Lieblingsklub
Gebote für eine Karriere
Frühes Ende als Chance
Die Autoren
Literatur und Quellen
Anmerkung
Deutschland hat neue Helden. 24 Jahre nach dem letzten Triumph hält wieder ein Nationalmannschaftskapitän den Goldpokal in die Luft. Bei der WM 2014 in Brasilien begeistert die DFB-Elf nicht nur sportlich, sondern auch in ihrer Außendarstellung. Die Gastgeber sind entzückt. Der Sieg gegen Argentinien inspiriert hunderttausende Jugendliche in Deutschland, ebenfalls den Traum vom Fußballprofi zu träumen.
Rio de Janeiro, Maracanã! Es gibt wohl keinen besseren Ort, um Fußballgeschichte zu schreiben als in diesem berühmten Stadion mitten in der Millionen-Metropole am Zuckerhut. Als Nationalmannschaftskapitän Philipp Lahm am 13. Juli 2014 um 19.04 Uhr Ortszeit den Goldpokal in den Himmel reckte, hatte das lange Warten endlich ein Ende. Nach 24 Jahren ist Deutschland wieder Fußball-Weltmeister. Zum vierten Mal in der Geschichte des Landes. Was für ein Triumph, was für ein Turnier, was für ein Jubel; vor Ort im Maracanã und bei Millionen Fans in der deutschen Heimat.
Fast neun Wochen lang haben Bundestrainer Joachim Löw, sein Trainer- und Betreuerstab sowie 23 Nationalspieler mit ganzer Kraft auf dieses Ziel hingearbeitet. Am Ende wurden sie nicht nur mit dem WM-Titel belohnt. Die deutschen WM-Fahrer haben in dieser Zeit einen Zusammenhalt entwickelt, der sie aufgrund des historischen Erfolgs ihr Leben lang miteinander verbinden wird. Und sie haben ihr Heimatland und damit alle Deutschen vor den Augen der Weltöffentlichkeit nicht nur sportlich, sondern auch menschlich herausragend vertreten und viele Sympathiepunkte sammeln können. Das ist mindestens genauso viel wert wie der Gewinn des WM-Finals. Den begeisternden Empfang vor knapp einer halben Million Menschen am Brandenburger Tor in Berlin hatten sie sich mehr als verdient.
Doch vor den Erfolg haben die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt. In ihrem Campo Bahia, mitten im kleinen Dörfchen Santo André an der Atlantikküste Brasiliens, bereitete sich das DFB-Team auf die Spiele gegen Portugal, Ghana, USA, Algerien, Frankreich, Brasilien und Argentinien vor. Es sollte sich als der perfekte Ort herausstellen. Hier, inmitten überwältigender Natur, wurde der Grundstein für den späteren Erfolg gelegt. Um der Nationalmannschaft nahe zu sein, mussten Journalisten, Fans und alle anderen Interessierten stets eine beschwerliche Anreise auf sich nehmen. Eine Fähre machte den Besuch zusätzlich zu einem zeitlich schwer kalkulierbaren Abenteuer. Ein Umstand, der sich im Laufe des Turniers als großer Vorteil herausstellen sollte – konnten sich die Profis doch so weitestgehend ungestört auf ihre Spiele vorbereiten.
Diese ungewohnte Freiheit wussten Bastian Schweinsteiger und Co. sehr zu schätzen. Ohne totale mediale Überwachung konnten sie sich relativ ungezwungen im Dorf Santo André bewegen und vielfältige Kontakte zu den Einheimischen knüpfen. Das gefiel den deutschen Stars zusehends. Wie kein anderes Team suchten die Deutschen die Nähe zur einheimischen Bevölkerung. Die Folge waren tolle Begegnungen mit Brasilianern beim gemeinsamen Fußballspielen am Strand oder auf offener Straße, es gab gemeinsame Gesänge auf Portugiesisch. Bilder und Videos verbreiteten die Spieler anschließend selbst über Facebook, Twitter oder Instagram. Die großen einheimischen Zeitungen und TV-Stationen nahmen diese Geschichten gerne auf. Und so bekamen alle Brasilianer dieses ehrliche Interesse an ihrer Kultur mit und schlossen die Deutschen schnell in ihr Herz. Ernst, diszipliniert, zuverlässig, hüftsteif und alles andere als spontan: So hatte man bisher die Deutschen im größten Staat Südamerikas gesehen. Doch die Nationalspieler sorgten dafür, dass sich dieses Bild im Laufe des Turniers deutlich änderte und sich die Menschen wunderten, wie ausgelassen und fröhlich die großen Blonden aus Übersee doch sein können.
Ein einschneidendes Erlebnis für beide Seiten dürfte sicherlich der sensationelle 7:1-Erfolg der DFB-Elf im Halbfinale von Belo Horizonte gegen Brasilien gewesen sein. Ein Spiel, dessen Stellenwert in den kommenden Jahren und Jahrzehnten stetig wachsen wird, da einem erst mit der Zeit die Einmaligkeit immer bewusster werden wird. Während die Gastgeber bereits zur Halbzeit bittere Tränen vergossen, erlebten die deutschen Fans die Geburtsstunde einer großen Mannschaft. Ihre Größe zeigten sie auch darin, dass sie den Gegner trotz der 5:0-Pausenführung im zweiten Durchgang nie vorführten, sondern der Seleção bis zuletzt Respekt entgegenbrachten. Das rechneten die Brasilianer dem deutschen Team hoch an und verabschiedeten es aus dem Mineirão-Stadion mit Standing Ovations für die beeindruckende Leistung. Überhaupt muss man sagen, dass sich die Brasilianer nicht nur als unglaublich freundliche Gastgeber präsentierten, sondern auch in der Niederlage als überaus faire Verlierer zeigten, wie man es in dieser Form nur selten erlebt. Nach dem Supergau im Halbfinale drückte ganz Brasilien dem DFB-Team die Daumen, zumal im Finale ausgerechnet Argentinien wartete. Nicht auszudenken, wenn der große Rivale aus Südamerika im Maracanã den Weltmeister-Titel feiern würde. Diese Schmach konnte fortan nur noch Deutschland verhindern.
Und so ergab sich am Finaltag eine sonderbare Atmosphäre im beeindruckenden Rund des wohl geschichtsträchtigsten Stadions der Welt. Auf den Rängen verfolgten gleich drei Fangruppierungen ihre eigenen Interessen. Einzeln betrachtet waren die Argentinier in der Überzahl. Zu Tausenden strömten sie in den Tagen zuvor über die Grenze, um Messi und Co. zu unterstützen. Die deutschen Fans waren zahlenmäßig klar unterlegen. Aber nicht alle Brasilianer hatten ihr Finalticket verkauft. Sie ärgerten mit ihren Sprechchören die argentinischen Fans, die sich dadurch nicht so sehr auf das Finale konzentrieren konnten. Hingegen konnten die deutschen Fans bedingungslos ihre Mannschaft anfeuern. Den Rest erledigte Mario Götze.
Damit ging eine lange Zeit ohne WM-Titel zu Ende. Als Deutschland 1990 das bis dato letzte Mal den ganz großen Coup feiern konnte, war der Mauerfall gerade erst ein paar Monate her. Dieter Thoma gewann die Vierschanzentournee, Nelson Mandela wurde freigelassen, Microsoft veröffentlichte Windows 3.0 und das Internet steckte noch in den Kinderschuhen. Die Charts bestimmten Hits wie „Verdammt ich lieb' dich“ von Stefan Reim, „Nothing Compares 2 U“ von Sinead O'Connor, „We Didn't Start The Fire“ von Billy Joel oder „Herzilein“ von den Wildecker Herzbuben.
Es wurde also allerhöchste Zeit, dass Nachfolger gefunden wurden für die Völlers, Klinsmanns und Matthäus’. Schließlich tut sich die heutige Generation der Nachwuchsfußballer leichter, sich an modernen Helden zu orientieren als an Ikonen einer längst vergangenen Zeit. In Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Mats Hummels, Manuel Neuer, Sami Khedira, Mesut Özil, Lukas Podolski, Julian Draxler oder Mario Götze haben die Helden von 1990 würdige Nachfolger gefunden.
Rund 100 000 Kinder und Jugendliche meldeten sich nach dem Gewinn des WM-Titels 1990 in deutschen Fußballklubs an. Sie wollten so werden wie eben diese Völlers und Klinsis. Einer von ihnen war Philipp Lahm. „Das war etwas ganz Besonderes. Das habe ich mir 100-mal auf Video angeschaut“, sagte der Bayern-Star kurz bevor die WM in Brasilien losging. Ähnlich wie er damals werden nun viele tausend Kinder die Tore von Thomas Müller oder Mario Götze anschauen und ebenfalls beschließen, einem Fußballverein beizutreten. Gut möglich dass darunter ein kommender Weltmeister ist.
Sie werden dann in Vereine eintreten, die Namen haben wie TSV Pattensen, TuS Haltern, BV Rentfort, TSV Pähl oder SC March – allesamt Kleinstvereine verstreut über ganz Deutschland. Mit ihren Mannschaften jagen sie irgendwo in der Kreisliga dem Ball hinterher. Und doch sind es besondere Orte. Hier machten einige Kicker der Weltmeister-Mannschaft von 2014 ihre ersten Gehversuche. Diese Klubs stehen stellvertretend für tausende Amateurvereine in denen quer durch die Republik Fußballer ihrer großen Leidenschaft nachgehen. Und wer weiß, vielleicht würde Per Mertesacker heute noch in Pattensen, Benedikt Höwedes in Haltern und Matthias Ginter in March die Abwehr organisieren, Julian Draxler in Rentfort das Mittelfeld beackern oder Thomas Müller in Pähl auf Torejagd gehen. Vielleicht hätten sie es auch aufgrund ihres Naturtalents noch zu einem höherklassigen Verein in der Nachbarschaft geschafft. Aber hätte der DFB seine Talentförderung zur Jahrtausendwende nicht komplett revolutioniert, dann wären sie eines heute sicherlich nicht: Weltmeister.
Dank dieser außergewöhnlichen Talentförderung des DFB, die in den folgenden Kapiteln beleuchtet wird, ist es Fußball-Deutschland gelungen, gegenüber der Konkurrenz verloren gegangenes Terrain wiedergutzumachen und sich aktuell an die Spitze des Weltfußballs zu setzen. Der 1:0-Sieg gegen Argentinien im WM-Finale von Rio des Janeiro mag am Ende vielleicht auch etwas glücklich zustande gekommen sein, doch zufällig kommt dieser Erfolg keinesfalls. Es ist die zwischenzeitliche Krönung einer kontinuierlichen Entwicklung über viele Jahre hinweg, an der viele Menschen ihren Anteil haben.
Daher dürfen sich weit mehr als nur die 23 WM-Fahrer als Weltmeister fühlen. Unzählige Trainer, Betreuer und ehrenamtliche Helfer in den Leistungszentren, in den DFB-Stützpunkten und natürlich in den kleinen Heimatvereinen der neuen Helden haben ihren Anteil daran. Die Stars wissen das längst und geben auch etwas zurück. So wie Sami Khedira: Der Mittelfeldspieler unterbrach nach der WM seinen Urlaub, um beim TV Oeffingen vorbeizuschauen, dem Ort, an dem für Khedira alles begann. Dort wurde er von 2 500 großen und kleinen Fans empfangen. Der Sportplatz in Oeffingen wurde offiziell zum Sami-Khedira-Stadion umbenannt. Solche Gesten sind die ersten Anzeichen für die große Bedeutung des Geleisteten. „Das macht mich unheimlich stolz. Dass noch während meiner Karriere ein Stadion nach mir benannt wird, ist unglaublich“, sagt Sami Khedira.
Die Heimatvereine der WeltmeisterTennis Borussia BerlinJerome BoatengBV RentfortJulian DraxlerSG RieschweilerErik DurmSC MarchMatthias GinterSC 1919 RonsbergMario GötzeVfL KemminghausenKevin GroßkreutzTuS HalternBenedikt HöwedesTV OeffingenSami KhediraSG Blaubach-DiedelkopfMiroslav KloseBV GräfrathChristoph KramerGreifswalder SCToni KroosFT München-GernPhilipp LahmTSV PattensenPer MertesackerTSV PählThomas Müller1. FV BebraShkodran MustafiDJK Westfalia 04 GelsenkirchenMesut ÖzilFC 07 BergheimLukas PodolskiLudwigshafener SCAndré SchürrleFC OberaudorfBastian SchweinsteigerSportfreunde EisbachtalRoman WeidenfellerViktoria KölnRon-Robert ZielerUnd die nächste Generation steht schon in den Startlöchern. Wenige Wochen nach dem Triumph von Brasilien konnte die deutsche U19-Nachwuchsnationalmannschaft in Ungarn mit einem 1:0 gegen Portugal den Europameistertitel feiern. Merken Sie sich Namen wie Davie Selke, Julian Brandt, Levin Öztunali, Marc Stendera oder Hany Mukhtar. Sie stehen am Anfang einer großen Fußball-Karriere, deren Grundstein zu einer Zeit gelegt wurde, als die Macher im deutschen Fußball noch Berti Vogts und Erich Ribbeck hießen.
Lewis Holtby lebt eine Karriere mit Höhen und Tiefen. Er ist schon in jungen Jahren ganz weit oben angekommen und somit ein Vorbild für viele Talente.
Es ist ein Bild wie aus einem Agententhriller: Die Red-Bull-Kappe tief ins Gesicht gezogen, dazu seine große Nike-Sonnenbrille auf der Nase, die mehr als nur die Augen verdeckt. Selbst geübteste Papparazzi können ihn nicht erkennen. So steigt Lewis Holtby am 25. November 2012 auf dem Flughafen in Düsseldorf-Weeze in eine Ryanair-Maschine, um eine gute Stunde später in London-Stansted zu landen. Niemand soll ihn erkennen, schließlich spielt Lewis Holtby noch für den FC Schalke 04 in der Bundesliga. Gerüchte über einen London-Trip würden nur unnötige Spekulationen nach sich ziehen.
Denn Lewis Holtby fliegt nicht zum Shoppen nach London. Er will sich gemeinsam mit seinem Berater Marcus Noack das Premier-League-Spiel zwischen Tottenham Hotspur und West Ham United anschauen. Lewis Holtby möchte sich unbedingt selbst ein Bild von dem Klub machen, der ihm kurz zuvor zum wiederholten Male ein Angebot unterbreitet hat. Der englische Fußball, die Premier League war schon immer ein Traum von Lewis Holtby. Aber ausgerechnet Tottenham? »Wir sind mit gemischten Gefühlen dahin geflogen. Eigentlich hatten wir Tottenham gar nicht so auf dem Radar«, erzählt er.
Dank seiner Verkleidung fällt Lewis Holtby niemandem auf. Auch für die Objektive der unzähligen TV-Kameras des Senders Sky bleibt er unsichtbar, obwohl die Kameraleute immer und immer wieder die VIP-Boxen des Stadions nach Prominenten durchscannen. Tottenhams Co-Trainer Steffen Freund, deutscher EM-Held von 1996 und seit seiner aktiven Zeit bei den Spurs mit dem Gütesiegel Kultfigur versehen, hat die beiden deutschen Besucher bestens vorbereitet. Und so können sich Lewis Holtby und sein Berater ungestört einen ersten Eindruck vom Team und vor allem von der Atmosphäre des Stadions an der White Hart Lane verschaffen, das den besonderen Charme vergangener Jahrzehnte problemlos in die Neuzeit hinüber retten konnte.
Überwältigt von der Atmosphäre dreht Lewis Holtby mit seinem Handy ein Video nach dem anderen. Dann singen die Fans den Evergreen aller Tottenham-Gesänge: »When the Spurs go marching in…« Für Lewis Holtby war das die Schlüsselszene. »In dem Moment habe ich gedacht: ›Das möchte ich erleben.‹ Als kleines Kind habe ich mit meinem Vater immer vor dem Fernseher englischen Fußball geguckt und davon geträumt, einmal hier aufzulaufen. Ich will dabei sein, genau hier bei Tottenham Hotspur.«
Viele junge Nachwuchsfußballer träumen ebenfalls von solch einer Karriere. Aber nur ganz wenige schaffen es bis dorthin. Schließlich gibt es jede Menge innere und äußere Faktoren, die darüber entscheiden, ob ein Talent den Sprung in den Profifußball schafft oder nicht. Manche Faktoren kann man beeinflussen, manche nicht. Viele davon werden in diesem Buch beschrieben.
Aber über allem steht dieser Traum vom Profifußballer. Der Traum von den schönsten Arenen der Welt, Titeln, Toren, Anerkennung und jeder Menge Geld. Lewis Holtby ist sozusagen die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Aber auch der Beweis, dass Träume wahr werden können. Auch wenn er den Sprung in den WM-Kader 2014 nicht gepackt hat, kein anderer aktueller deutscher Nationalspieler lebt ihn so konsequent wie Lewis Holtby.
Am 28. Januar 2013 löst Lewis Holtby seinen Vertrag beim FC Schalke 04 auf. »Wir haben für alle Beteiligten die beste Lösung gefunden«, teilt Schalkes Manager Horst Heldt offiziell mit: »Lewis hatte uns signalisiert, dass er nicht abgeneigt wäre, vorzeitig zu wechseln, und der FC Schalke 04 hat fünf Monate vor Auslaufen des Vertrags noch eine ordentliche Ablösesumme erhalten.«
Die anschließende Nacht ist kurz. Um 5.30 Uhr stehen Lewis Holtby und Berater Marcus Noack schon wieder auf dem Flughafen Düsseldorf-Weeze. Nur wenige Stunden nach der Vertragsauflösung nehmen die beiden die erste Maschine nach London. Ein vorerst letztes Interview auf deutschem Boden mit dem TV-Sender Sky, eine Umarmung mit dem Vater, der ihn zum Flughafen begleitet hat, dann geht es los. Das nächste Abenteuer wartet.
Bei der Landung in London ist es diesig und kalt. Auf dem Flughafen werden sie von zwei Mitarbeitern der Tottenham Hotspurs erwartet. Von dort fahren sie gemeinsam zum Trainingsgelände. Nach der Präsentation und dem Foto mit seinem neuen Trikot mit der Nummer 23 geht es direkt zum Trainingsplatz. Endlich! »Ich konnte es kaum abwarten, obwohl ich nur vier Stunden geschlafen habe und eigentlich ziemlich müde war, aber die Vorfreude war riesig«, sagt Lewis Holtby. Er hat Glück und kommt genau rechtzeitig zum Abschlusstraining. Am nächsten Tag muss Tottenham Hotspur auswärts zum Ligaspiel bei Norwich City antreten.
Tottenhams portugiesischer Trainer André Villas-Boas stellt den Spielern um Superstar Gareth Bale, der mittlerweile für Real Madrid spielt, und Kapitän Michael Dawson den Neuen vor. Dann muss sich Lewis Holtby bereits dem ersten englischen Begrüßungsritual unterziehen: den »Walk of Fame«. Die Tottenham-Profis bilden einen ganz engen Tunnel. Durch diesen muss der Deutsche laufen und bekommt von jedem Spieler einen Tritt in den Allerwertesten verpasst. »Das ist nicht besonders schön und ich hatte schon ein mulmiges Gefühl. Du bist neu und da stehen auf einmal 25 Jungs, die sich tierisch darauf freuen, dir den Arsch zu versohlen«, erzählt Lewis Holtby. »Ein typisch britischer Willkommensgruß eben.«
Anschließend beginnt das Training. Am Ende steht ein Spiel auf dem Programm. Trainer André Villas-Boas lässt Jung gegen Alt antreten. Jung gewinnt 2:0. Beide Tore erzielt Lewis Holtby. Beim anschließenden Gang in die Kabine strahlt er über das ganze Gesicht. Was für ein erstes Training! Zwar hofft er auf eine Nominierung für das morgige Ligaspiel gegen Norwich City, aber bei ehrlicher Betrachtung wäre eine Berufung nach nur einer Trainingseinheit doch etwas vermessen. Auch wenn er gerade das Trainingsspiel mit zwei Toren im Alleingang entschieden hat.
In der Kabine bekommt Lewis Holtby die Trainingsanzüge seines neuen Arbeitgebers. Weiter hinten im Raum entdeckt er an der Wand einen Zettel. Er geht näher heran und bemerkt, dass es die Kaderliste für das Norwich-Spiel ist. Beim flüchtigen Überfliegen schießt ihm plötzlich eine volle Ladung Adrenalin durch den Körper. »Auf einmal entdecke ich meinen Namen auf der Kaderliste. Ich schaue einmal hin, zweimal. Dann frage ich lieber noch einmal nach: ›Bin ich jetzt wirklich im Kader oder was?‹« Ist er. André Villas-Boas hat ihn tatsächlich für das nächste Match nominiert. »Das war super. Ich war voller Vorfreude. Eigentlich wollten wir uns am nächsten Tag Wohnungen anschauen. Das konnten wir natürlich vergessen. Den ganzen Abend habe ich nur gedacht: ›Oh Mann. Vielleicht bekomme ich morgen meinen ersten Einsatz.‹«
Am nächsten Tag steht Lewis Holtby in Norwich. Im 1935 erbauten Stadion an der Carrow Road, das nicht einmal 30 000 Zuschauer fasst.
Lewis Holtby erinnert sich: »Das war ein typisches kleines englisches Stadion. Die Umkleidekabine war total für den Arsch. Sogar bei meinem Heimatverein Sparta Gerderath ist mehr Platz zum Umziehen. Bevor wir rausgegangen sind, habe ich noch eine kurze Massage bekommen. Ich lag zum Teil in der Dusche, zum Teil in der Toilette. Und wenn da einer reingeschissen hat, hast du das wirklich bis zum Spielfeld gerochen. Ich fand das geil. Diese Enge hat mich an meine Bochumer und Aachener Zeiten erinnert. So habe ich mir England immer vorgestellt. Nicht so viel Schickimicki, sondern typisch britisch. Mein Mund war weit geöffnet, die Augen ganz groß als ich dann zum Aufwärmen rausgegangen bin. Dann sah ich die Ersatzbank, die direkt am Rand zu den Zuschauern steht. Die Fans, das Flutlicht. Alles war klasse.«
Tottenham liegt Mitte der zweiten Hälfte mit 0:1 in Rückstand. André Villas-Boas erhöht das Risiko und schickt in der 71. Minute tatsächlich seinen jüngsten Neueinkauf aufs Feld.
Lewis Holtby: »Dann komme ich auch noch rein und leite einen Angriff zum Ausgleich ein. Was für ein geiler Tag. Die zwanzig Minuten, die ich spielen durfte, waren fantastisch. In der Nacht habe ich kaum ein Auge zugemacht. Ich war voller Freude. Ich habe realisiert, dass ich mein erstes Premier-League-Spiel gemacht habe. Ich habe das erreicht, wovon ich als kleiner Junge immer geträumt habe, als ich mit meinem Vater englischen Fußball im Fernsehen geschaut habe.«
Nach der Rückkehr vom 1:1 bei Norwich City bittet das Klub-TV der Spurs zum Einstandsinterview. Da sein Vater Brite ist, spricht Lewis Holtby perfekt Englisch. Der Umstand ist zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum einem Anhänger bekannt. »Die Fans waren fast schon ein bisschen geschockt, dass ein deutscher U21-Nationalmannschaftskapitän sein erstes Interview mit einem beherzten britischen Akzent führt«, erzählt Lewis Holtby. »Aber das hat sicher auch zu meiner schnellen Integration beigetragen.«
Wegen seiner Sprach- und Kulturkenntnisse und natürlich auch dank seiner offenen Art kommt Lewis Holtby bei den Fans und den Teamkollegen gut an. Und so haben beide, Mannschaft und Fans, wenige Tage später im Rahmen des nächsten Spiels bei West Bromwich Albion noch eine ganz besondere Überraschung für den Deutschen parat. In beiden Fällen wird gesungen.
Lewis Holtby weiß, dass er irgendwann diesen peinlichen Moment überstehen muss. Bereits unmittelbar nach seiner Ankunft haben ihm die neuen Mitspieler gesagt, dass er demnächst ein Lied singen müsse. Jeder, der erstmals in den Profikader berufen wird, muss diesen Moment überstehen. Am Vortag des nächsten Spiels bei West Bromwich Albion warnt ihn Kapitän Michael Dawson im Hotel sicherheitshalber vor: »Heute nach dem Abendessen bist du dran.«
Lewis Holtby erinnert sich: »Das Abendessen begann gegen 20 Uhr. Alle aßen und ich war fürchterlich nervös. Ich überlegte mir ein Lied, ich vergaß das Lied wieder, ich vergaß sogar die Wörter. Schweißgebadet saß ich am Tisch und überlegte: Singe ich das Lied oder lieber ein anderes Lied. Welches Lied kenne ich überhaupt? Während ich so nachdachte, fragte mich mein Tischnachbar irgendetwas und brachte mich völlig aus dem Konzept, sodass ich schon wieder vergessen hatte, was ich eigentlich singen wollte. Ich konnte an diesem Abend überhaupt nichts essen. Ich habe die ganze Zeit gezittert und in den großen Saal geschaut und gedacht: ›Soso, hier und heute stehe ich jetzt gleich auf und fange einfach so an zu singen.‹ Dann waren alle mit dem Essen fertig. Unser Kapitän Michael Dawson gab mir das Zeichen: ›Junge, es ist soweit‹. Und alle schauten mich an, auch der Trainer. Ich stieg also auf den Stuhl. Plötzlich wirkte alles noch viel größer und es fühlte sich so an, als wären 30 000 Menschen im Saal. Ich habe dann das englische Rugby-Lied Swing Low, Sweet Chariot gesungen. Zum Schluss war es cool und ich habe sogar Applaus bekommen.«
Einen Tag später wird wieder gesungen. Beim 1:0-Sieg gegen West Bromwich Albion wird Lewis Holtby in der 39. Minute für Jermain Defoe eingewechselt. Mindestens genauso sehr wie über den Sieg freut sich Lewis Holtby über den Willkommensgruß der Fans. Sie haben ihm nach nur zwei Spielen einen eigenen Song gewidmet. Zur Melodie des Depeche-Mode-Klassikers Just can't get enough singen die Spurs-Fans ihrem neuen Liebling fast die gesamte zweite Hälfte ein Ständchen. »Das ist alles nicht normal. Da läuft man von ganz alleine«, kann Lewis Holtby diese besondere Ehre immer noch nicht richtig in Worte fassen.
Es war ein weiter Weg bis zur Huldigung durch die Tottenham-Fans. Viele Steine musste der Junge aus Erkelenz auf dem Weg dorthin zur Seite schieben, Rückschläge hinnehmen, Kritik einstecken und auch mal einen Schritt zurück machen. Lewis Holtby hat immer an seinem Traum festgehalten. Am Ende wurde er für seine Beharrlichkeit belohnt.
Dabei sah es für den 1,76 Meter großen Mittelfeldspieler trotz anfänglicher Erfolge lange Zeit nicht nach der großen Profilaufbahn im Scheinwerferlicht aus.
»Begonnen hat alles bei meinem Heimatverein Sparta Gerderath. Dort hab ich bereits mit vier Jahren zum ersten Mal gegen den Ball getreten«, erzählt der am 18. September 1990 geborene Nachwuchskicker und kann sich noch ganz genau an das Highlight seiner Anfänge erinnern. »Es ging um nicht weniger als die Kreismeisterschaft in der E-Jugend gegen unseren großen Konkurrenten TuS Jahn Hilfarth. Wir haben sensationell mit 5:0 gewonnen und ich hab' alle fünf Treffer erzielt. Obwohl ich damals gerade einmal acht oder neun Jahre alt war, sehe ich heute noch jeden einzelnen Treffer genau vor mir.«
Dank solcher Auftritte klopfen die Scouts der Bundesligisten an die Tür von Lewis Holtbys Elternhaus. Bayer Leverkusen und Borussia Mönchengladbach werben um die Gunst des Talents. »Ich habe mir beide Vereine angeschaut und mich letztlich aufgrund der Nähe zu meinem Heimatort für Gladbach entschieden«, sagt Lewis Holtby. Im rund 30 Kilometer entfernten Gladbach kommt der kleine Lewis erstmals in den Genuss einer professionellen Jugendarbeit.
Auf dem Bökelberg hat Lewis Holtby sein Schlüsselerlebnis. »Wir Kiddies hatten das Vorspiel vor einer Bundesligapartie der Profis. Es waren bestimmt schon 15 000 Zuschauer im Stadion und ich habe zwei Tore erzielt – eins per Fallrückzieher und eins per direkt verwandeltem Freistoß. Ich war mächtig stolz. Ab diesem Zeitpunkt war mir klar: ›Lewis, du willst und musst Profi werden.‹ Ich entwickelte in der Folge einen unglaublichen Willen und tat alles dafür, eines Tages wieder in einem Bundesligastadion zu spielen – dann allerdings im Hauptspiel.«
Ein Selbstläufer ist der Weg dorthin allerdings nicht. Nach drei Jahren in der Jugendabteilung von Borussia Mönchengladbach ist die Konkurrenz auf seiner Position zu groß geworden. Lewis Holtby gilt als zu klein, zu schmächtig und zu langsam für eine höhere Fußballlaufbahn. In den U15-, U16- und U17-Jugendnationalmannschaften des deutschen Fußballbundes taucht sein Name nie auf.
Um mehr Spielpraxis zu bekommen macht er einen Schritt zurück und wechselt in die Jugendabteilung von Alemannia Aachen. Hier wird teilweise noch auf Ascheplätzen gespielt. Während zu Gladbacher Zeiten der Fahrdienst des Klubs das Talent von Haustür zu Haustür chauffiert hatte, fährt Lewis Holtby jetzt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Umstellung ist groß, er tut sich am Anfang schwer. Doch er zeigt damals schon Kämpferqualitäten und gibt nicht auf. Und wird dafür belohnt. »In Aachen durfte ich schon mit 16 Jahren bei den Profis mittrainieren und habe bei den Amateuren gespielt. Der Wechsel war die beste Entscheidung meines Lebens.«
Am 16. Spieltag der Zweitligasaison 2007/08 wechselt Aachens Interimscoach Jörg Schmadtke den damals 17-Jährigen in der 80. Minute beim 2:2 gegen den FC St. Pauli ein. Lewis Holtby hat seinen ersten Einsatz im Profifußball und ist mächtig stolz.
In seinem zweiten Zweitligajahr für Alemannia Aachen gelingt ihm mit dem Klub der Aufstieg. Mit acht Toren in 31 Spielen trägt er seinen Teil dazu bei. Längst haben auch Bundesligisten auf den nunmehr 18-Jährigen ein Auge geworfen. Sogar Borussia Mönchengladbach will ihn wieder zurückholen. Doch am Ende macht der FC Schalke 04 das Rennen. Lewis Holtby unterschreibt einen Vierjahresvertrag bei den Königsblauen, einem der traditionsreichsten Klubs Deutschlands. Nicht ganz drei Millionen Euro beträgt die Ablöse. »Ein Schnäppchen«, wie die Presse den Schalker Coup feiert. Die Karriere nimmt Fahrt auf.
Am 8. August 2009 wird der Traum vom Bundesligaprofi für Lewis Holtby Wirklichkeit. Gleich im ersten Spiel der Saison 2009/10 setzt Schalke-Trainer Felix Magath auf den jungen Neuzugang. Beim 2:1-Auftakterfolg der Königsblauen in Nürnberg wird der Neu-Schalker in der 46. Minute für Levan Kobiashvili eingewechselt.
Diesen Tag wird Lewis Holtby niemals vergessen. Aber nicht, weil er so besonders schön war. Im Gegenteil. »Dieser Tag ist ein Anker in meinem Leben«, sagt er rückblickend. »Anker« nennt er solche Momente, an die er sich oft zurückerinnert, um sich gewisser Dinge, Erfahrungen oder Werte wieder bewusst zu werden.
Lewis Holtby setzt in der Nachspielzeit den Sieg gegen Nürnberg leichtfertig aufs Spiel und treibt Trainer Felix Magath damit zur Weißglut. Und zwar so sehr, dass dieser an der Seitenlinie herumtobt, nach Spielschluss wutentbrannt in die Kabine rast und den damals schüchternen Bundesligadebütanten gegenüber den Medien öffentlich an die Wand nagelt.
Was war passiert? Anstatt einen Konter auszuspielen, versucht Lewis Holtby ein Traumtor zu erzielen und gewährt so dem Gegner ohne Not noch eine letzte Chance, den Ausgleich zu erzielen.
Lewis Holtby erzählt: »Die Nachspielzeit lief und ich hätte einen idealen Konter einleiten können. Kevin Kurányi und Farfán standen auf den Außenbahnen völlig frei. Aber ich hatte in dem Moment einen Tunnelblick und habe meine Mitspieler überhaupt nicht wahrgenommen. Nürnbergs Keeper Raphael Schäfer stand zu weit vor seinem Tor. Ich laufe also noch ein Stück mit dem Ball und versuche von der Mittellinie über den Torhüter zu lupfen, anstatt auf die Außenbahn abzuspielen. Und das bei nur einem Tor Vorsprung kurz vor dem Abpfiff. Mein Lupfer ging dann Richtung Eckfahne. Zum Glück war das Spiel anschließend schnell vorbei. Aber ich sehe aus den Augenwinkeln, wie Trainer Felix Magath ausflippt und schnurstracks in die Kabine läuft. Beim Gang in die Kabine frage ich meinen Teamkollegen Christoph Moritz, ob der Trainer irgendwie sauer gewesen sei? Aber so wie es Christians ausgleichende Art ist, sagt er nur: ›Ach was, war gar nicht so schlimm.‹ Ich habe mir dann zwar gedacht: ›Okay, der Coach ist zwar eben ausgerastet und in die Kabine gesprintet, aber dann wird es wohl doch nicht so schlimm gewesen sein.‹ Doch genau das Gegenteil war der Fall. Das Ende vom Lied war, dass Felix Magath voll gewütet hat. Ich bin dann Duschen gegangen und war fix und fertig. Mein Kopf war kaputt. Anschließend kam er auf mich zu und hat nur gesagt, dass wir über meine Aktion nochmal sprechen würden, wenn ich vom U21-Länderspiel zurückgekommen bin. Ich war damals 18, es war meine erste Einladung zur U21 und ich hatte kein Selbstvertrauen mehr, zur Nationalmannschaft zu fahren.«
Das schlechte Gewissen lässt Lewis Holtby den restlichen Tag keine Ruhe. Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und ruft am Abend mit klopfendem Herzen Felix Magath an. »Ich wollte das klären, bevor ich zur Nationalmannschaft fahre.« Er ist einigermaßen darauf vorbereitet, dass sein Coach gleich wieder anfangen würde zu toben.
Aber wieder fällt die Reaktion anders aus als erwartet. »Felix Magath war superfreundlich«, erzählt Lewis Holtby. Beide beschließen nach Lewis Holtbys Rückkehr noch einmal unter vier Augen in Ruhe zu erörtern, wie man es das nächste Mal besser machen kann. In diesem Moment löst sich bei Lewis Holtby die ganze Nervosität. »Felix Magath ist gar nicht so verkehrt, wie er manchmal dargestellt wird, mit ihm kann man sich durchaus sachlich unterhalten«, sagt er.
Felix Magaths Ausraster ist natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien. Immer wieder laufen die Szenen im Fernsehen. Schon nach seinem ersten Bundesligaspiel macht Lewis Holtby die Erfahrung, dass in Deutschlands höchster Spielklasse ein ziemlich rauer Wind weht, in der jeder Fehler bestraft wird und die Medien gnadenlos sein können. Damals findet er die Aktion von Felix Magath nicht sonderlich prickelnd. »Ich war so jung, unerfahren und hatte Schiss ohne Ende. Das war sehr schwierig für mich«, erzählt Lewis Holtby mit ein paar Jahren Abstand. »Heute bin ich dankbar, dass er mich zur Sau gemacht hat. Das hat er fantastisch gemacht. Ich bin dadurch schnell sehr viel reifer geworden.«
In seiner ersten Bundesligasaison kommt Lewis Holtby für den FC Schalke 04 bis zur Winterpause allerdings nur auf neun Einsätze. Meist wird er in der Schlussphase eingewechselt. Zu wenig Spielzeit für den ambitionierten Nachwuchskicker. Er lässt sich im Winter an den VfL Bochum ausleihen. Bei der 1:4-Niederlage gegen Borussia Dortmund am 13. März 2010 schießt er sein erstes Bundesligator. Den Bochumer Abstieg kann er aber nicht verhindern.
In der folgenden Saison 2010/11 wird Lewis Holtby trotzdem nicht wieder das Schalker Trikot tragen. Bereits weit vor Saisonbeginn ist klar, dass der mittlerweile 20-Jährige erneut ausgeliehen wird. Dieses Mal zum FSV Mainz 05. Hier hat sich im zurückliegenden Jahr der junge Trainer Thomas Tuchel einen Namen gemacht. Lewis Holtby ist sofort begeistert vom neuen Trainer-Stern, den er »Mastermind« und »Taktikfuchs« nennt. Die positive Besessenheit, die klare, emotionale Ansprache, all das stößt bei der Schalker Leihgabe auf offene Ohren. Später wird er ihn mit Tottenhams Coach André Villas-Boas vergleichen.
In Mainz gelingt Lewis Holtby der endgültige Durchbruch. Das Team startet fulminant in die Saison, gewinnt die ersten sieben Spiele in Folge und grüßt plötzlich von der Tabellenspitze. Der zwischenzeitliche Höhepunkt ist der 2:1-Sieg beim FC Bayern München.
Immer mehr in den Mittelpunkt rücken dabei André Schürrle, der Ungar Adam Szalai und Lewis Holtby. Das Trio versteht sich auf und außerhalb des Platzes. Die Jubelarien nach Torerfolgen, bei der sie eine Rockband imitieren, erreichen in Deutschland schnell Kultstatus. Nach dem Bayern-Spiel hat das Trio als Boygroup verkleidet einen legendären Auftritt im Aktuellen Sportstudio des ZDF. Die »Bruchweg Boys« sind geboren. Frei benannt nach dem alten Stadion der Mainzer, das an der Straße mit dem Namen Bruchweg liegt. Sein offener und frecher Auftritt sowie das Bekenntnis des Halbbriten zu Deutschland (»Als ich in der U-Nationalmannschaft das erste Mal die Nationalhymne gehört habe, habe ich mich sofort verliebt«) machen ihn auf einen Schlag landesweit bekannt und steigern seine Sympathiewerte.
Mit den starken Leistungen in Mainz legt Lewis Holtby die Grundlage für die Erfüllung seines nächsten Traums. Seit seinem ersten U18-Länderspiel im Mai 2008 gegen die Türkei steht er endlich im Blickfeld von Bundestrainer Joachim Löw.
Oktober 2010. Lewis Holtby und André Schürrle kommen gerade aus dem Kino. Wie der Film hieß, daran können sich die beiden Freunde nicht mehr erinnern. Auf dem Weg zum Auto macht André Schürrle sein Handy an, um zu schauen, ob er in den letzten zwei Stunden angerufen wurde. Tatsächlich: Es hatte sich jemand gemeldet. Genauer gesagt nicht irgendjemand, sondern der Bundestrainer höchstpersönlich. Joachim Löw hatte André Schürrle auf die Mailbox gesprochen und ihn zum ersten Mal für die A-Nationalmannschaft nominiert. Keine vier Jahre später wird dieser junge Mann die entscheidende Vorlage zu Deutschlands viertem Weltmeistertitel geben und sich damit für immer in die Geschichtsbücher eintragen.
»Ich habe André gratuliert«, erinnert sich Lewis Holtby, der sein eigenes Handy in seiner Wohnung vergessen hatte. »Ich bin dann ganz schnell und voller Vorfreude nach Hause gefahren. Ich hatte schon eine gewisse Ahnung, weil der Bundestrainer auf Andrés Mailbox so Sachen gesagt hat wie: ›Ihr seid beide gut drauf oder so ähnlich.‹ Als ich zu Hause angekommen bin, habe ich natürlich sofort auf mein Handy geschaut. Zwei Anrufe in Abwesenheit. Ich habe also meine Mailbox abgerufen und dann die Stimme von Joachim Löw gehört und wie der Bundestrainer meinen Namen sagt. Das war für mich ein Glücksgefühl ohne Ende. Ich habe dann sofort zurückgerufen. Bei diesem Gespräch hat mir der Bundestrainer dann erklärt, warum er mich berufen hat. Das war fantastisch für mich. Mir schossen viele Gedanken durch den Kopf. Ich kann nicht beschreiben wie glücklich ich war. Ich habe sofort meine Eltern angerufen, meine Berater Marcus und Johannes Noack und jede Menge Freunde. Dieses Gefühl ist das Beste, was du als Fußballer haben kannst.«
Als sich Lewis Holtby im November 2010 auf der Reise nach Göteborg erstmals im Kreise der Nationalmannschaft bewegt, ist es für ihn ein aufregender Moment. »Man hat als kleiner Mainzer Spieler mit gerade einmal 20 Jahren riesengroßen Respekt vor allen Leuten beim DFB. Wenn irgendjemand einen Witz gemacht hat, haben André und ich immer erst mal aus Höflichkeit und Schüchternheit mitgelacht. Hihi da, haha dort. Aber im Training war alles ganz anders. Das Selbstvertrauen, das ich aus Mainz mitgenommen hatte, hat mir im Training der Nationalmannschaft geholfen. Ich habe mir gesagt: ›Okay, ich muss mich hier nicht verstecken.‹ Dann habe ich super trainiert. Anschließend kam Joachim Löw zu mir und hat mir ein großes Lob ausgesprochen und gesagt, dass ich von Anfang an spielen werde. Da hat alles gepasst. Das sind Emotionen, die kann ich gar nicht beschreiben, weil ich solche noch nie hatte.«
Am 17. November 2010 in Göteborg steht Lewis Holtby gegen Schweden in seinem ersten Länderspiel für die deutsche A-Nationalmannschaft gleich in der Startformation. Beim 0:0 gegen den Gastgeber gehört er zu den besten Spielern auf dem Platz und wird in der 78. Minute gegen André Schürrle ausgewechselt.
Der einstmals kleine, schmächtige Junge, der von Erkelenz nahe der niederländischen Grenze auszog, um die Fußballwelt aus den Angeln zu heben, hat sich den nächsten großen Traum erfüllt. Er ist jetzt ein deutscher Nationalspieler. Am Ende hat es für ihn zur Nominierung für die WM in Brasilien nicht ganz gereicht. Doch wer ihn kennt, weiß, dass er einen weiteren Anlauf nehmen wird.
Bis heute hat sich Lewis Holtby schließlich seine Begeisterungsfähigkeit bewahrt. Für ihn ist es keinesfalls selbstverständlich, mit dem Adler auf der Brust aufzulaufen oder in den größten Stadien Europas gegen den Ball zu treten. Im Laufe seiner noch jungen Karriere hat er viele richtige Entscheidungen getroffen. In seiner Jugendzeit machte er beim Wechsel von Borussia Mönchengladbach zu Alemannia Aachen einen Schritt zurück, nur um anschließend in Windeseile gleich mehrere Schritte vorwärts zu gehen.
Er ließ sich zwei Mal ausleihen, um Spielpraxis zu sammeln. Von Nackenschlägen wie seinem ersten Bundesligaspiel hat er sich nicht unterkriegen lassen. Im Gegenteil. Er hat das Positive rausgezogen und sie als wichtige Erfahrung auf dem Weg nach oben verbucht.
Lewis Holtby hat die richtigen Berater an seiner Seite, die auch gleichzeitig ein wichtiger Teil seines sozialen Umfelds sind. Er hat keinerlei Starallüren. Er spielt nicht Fußball, um viel Geld zu verdienen, sondern um des Spiels willen. Geld ist für ihn ein angenehmer Nebeneffekt. Er hat früh in seiner Jugend begonnen, alles dem Fußball unterzuordnen und in jeder freien Minute gegen den Ball getreten. Keine Zigaretten, keine ausufernden Partys, keine Discobesuche, kein Alkohol. Doch all das hat er nie als Verzicht wahrgenommen. Weil er immer nur eines wollte: Fußballprofi werden.
Keine Frage: Lewis Holtby hat bis jetzt eine Sonnenscheinkarriere hingelegt. Und es spricht alles dafür, dass es auch so weitergehen wird. Das Gröbste hat er schließlich hinter sich. Die Zeit, in der ein falscher Trainer, ein falscher Freund, eine Verletzung oder schlichtweg eine falsche Entscheidung die Karriere ins Wanken hätte bringen können, hat er längst hinter sich gelassen.
Auch wenn man es Lewis Holtby bei all seiner Begeisterung für diesen Sport nicht anmerkt: Der Weg zum Fußballprofi ist lang, hart und voller Klippen, die es zu umschiffen gilt. Immerhin können die Nachwuchstalente in Deutschland mittlerweile auf eine einzigartige Förderung zurückgreifen. Der WM-Titel 2014 ist der aktuelle Beweis dafür. Doch das war nicht immer so.
Der Tiefpunkt zur Jahrtausendwende leitet den Beginn der deutschen Talentförderung ein. Die Entwicklung ist beeindruckend und bietet jungen Spielern allerbeste Chancen.
Erst einmal geht Mario Götze mit einer hübschen, blonden Frau weg – ein Interview mit dem Wochenblatt Die Zeit. Als er zum vereinbarten Termin kommt, ist der Barraum im Hotel Villa-Kennedy bereits voll besetzt. Wo man hinschaut Nationalspieler in Gesprächen mit Journalisten. Bundestrainer Joachim Löw schlendert durch die Lobby, an Bastian Schweinsteiger vorbei, der es sich auf einem Chaiselounge bequem gemacht hat. Nach einem festen Händedruck nimmt Götze in einem cremefarbenen Ledersessel Platz. Dunkelblaues T-Shirt mit dem Adler auf der Brust, die passende kurze Hose dazu und barfuß in Laufschuhen – Mario Götze ist locker drauf. Entspannt spricht er über das Spielsystem in der Nationalmannschaft, die Entwicklung im deutschen Fußball, seine Zeit im Leistungszentrum von Borussia Dortmund und über die WM 2014, sein großes Ziel. Er weiß in diesem Moment noch nicht, dass er sich mit seinem Siegtor im Finale gegen Argentinien auf eine Stufe mit Helmut Rahn, Gerd Müller und Andreas Brehme ballern wird.
Mario Götze ist freundlich und abseits des Platzes immer ein bisschen unsicher. Und er ist der wohl talentierteste Fußballer den Deutschland seit Jahrzehnten hervorgebracht hat. Der Offensivspieler steht genau wie Lewis Holtby, Mats Hummels, Marco Reus oder Thomas Müller stellvertretend für eine Generation Fußballprofis, die das Berufsbild neu definiert. Mario Götze hat, genau wie die jungen Kollegen, alle Ausbildungsmaßnahmen in Anspruch genommen, die hierzulande von den Bundesligavereinen und dem DFB angeboten werden. Mario Götze, der wenige Monate nach dem Gespräch zum FC Bayern München wechselt, verkörpert den Wunsch unzähliger junger Kicker, die genau dorthin kommen wollen, wo er ist: im Rampenlicht der großen Fußball-Bühne. Er reist um die Welt, schläft in Luxushotels, misst sich mit den besten Teams und Spielern. Mario Götze ist ganz oben auf der Karriereleiter eines Traumberufs, ihm und vielen Teamkollegen fliegen die Herzen der Fans zu.
In Deutschland ist man wieder stolz auf seine Nationalspieler, die am Tag nach dem Termin in Frankfurt in Kasachstan 3:0 gewannen und wenige Monate später spielerisch glanzvoll, locker, leicht das Ticket für die Weltmeisterschaft in Brasilien lösten.
Zur Jahrtausendwende war an so viel Glanz nicht einmal zu denken, der deutsche Fußball lag am Boden. Die Schlagzeilen in der Presse waren vernichtend. »Deutschland schämt sich für euch«, titelte die Bild-Zeitung. Als »Mega-Blamage« bezeichnete der Kölner Express das, was sich am Abend des 20. Juni 2000 in Rotterdam abspielte. Als »lustigste Mannschaft der Welt« verspottete Harald Schmidt in seiner Show die deutsche Nationalelf und sprach von »Erich und die Knalltüten«.
Der deutsche Fußball war weltweit nur noch eine Lachnummer und hatte den absoluten Tiefpunkt erreicht. 1:1 gegen Rumänien und 0:1 gegen England endeten die ersten Partien des EM-Turniers. Zum Abschluss kam das Team von Bundestrainer Erich Ribbeck gegen eine portugiesische B-Elf unter die Räder. 0:3 hieß es nach desolaten 90 Minuten. Das peinliche EM-Aus war besiegelt und jeglicher Respekt vor der großen Fußballnation Deutschland hatte sich in Luft aufgelöst.
Taktisch und technisch hinkte die DFB-Auswahl den Kontrahenten meilenweit hinterher. Die Fußballwelt spielte längst mit Vierer-Abwehrkette, verteidigte im Raum und presste organisiert vor. Deutschland hingegen bot den 39-jährigen Lothar Matthäus als Libero auf. Spielerisch bekamen Dietmar Hamann, Mehmet Scholl und Co. nichts zu Stande. Als »Rumpelfüßler« bezeichnete Franz Beckenbauer, Weltmeister als Spieler und Trainer, die DFB-Kicker spöttisch.
Die Auswirkungen dieser unsäglichen Darbietung waren verheerend. Die Vereine in allen Landesverbänden des DFB verzeichneten ein gewaltiges Nachwuchsproblem. Immer weniger Kinder und Jugendliche wollten in einem Klub Fußball spielen. Auf den Bolzplätzen der Nation trugen die Kids Trikots mit der Aufschrift »Ronaldo« oder »Zidane«. Deutsche Spieler mit Potenzial für eine große Karriere gab es, von Michael Ballack und Sebastian Deisler einmal abgesehen, so gut wie keine. Fragte man Jungs im E- oder D-Jugend-Alter nach ihrem Traumberuf, antwortete kaum einer »Fußballprofi«.
Warum von etwas träumen, das ohnehin keiner mag. Zu schlecht war die Perspektive in den Vereinen. Deutsche Nachwuchskicker bekamen so gut wie keine Chancen sich zu beweisen. Die Klubs der deutschen Topligen verstärkten ihre Kader fast durchweg mit Profis aus dem Ausland. Favorisiert wurden günstige Gastarbeiter aus Osteuropa. Diese Entwicklung ging sogar soweit, dass Energie Cottbus am 6. April 2001 in der Begegnung gegen den VfL Wolfsburg erstmals in der Bundesligageschichte die Startelf mit elf ausländischen Spielern bestückte.
Heute präsentiert sich der deutsche Fußball auch dank Typen wie Mario Götze in einem ganz anderen Gewand. Schön, glamourös, geradezu elegant, taktisch auf höchstem Niveau und dazu erfolgreich. Die Bundesligaklubs sorgen genauso durch attraktiven und erfolgreichen Fußball für Begeisterung wie die Nationalelf.
Diese positive Entwicklung ist ohne Zweifel eine Spätfolge des EM-Desasters 2000. Der Juni des Jahres gilt als Wendepunkt; in dieser Zeit fand endgültig ein Umdenken statt. Verantwortliche des DFB und der Bundesligaklubs holten längst entwickelte Konzepte zur Nachwuchsförderung aus den Schubladen, setzten sich an einen Tisch und machten Nägel mit Köpfen. Es entstand eine Talentförderung, die heute weltweit ihresgleichen sucht und bereits eine erste herausragende Spielergeneration hervorgebracht hat.
Einer der maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt war, ist Ulf Schott. Der Diplom-Sportwissenschaftler, der auch die A-Trainerlizenz besitzt, arbeitet seit 1997 beim DFB. Seit dem 1. Juni 2012 leitet er die Verbandsdirektion Jugend, Spielbetrieb, Trainerwesen, internationale Kooperationen, Talentförderung und Schule. Gemeinsam mit Dietrich Weise und Berti Vogts trieb er die Talentförderung seinerzeit voran.
In seinem Büro in der Otto-Fleck-Schneise erinnern Fotos, auf denen er mit Vogts und Weise zusammensteht, an die Tage des Umbruchs. Rückblickend erzählt er: »Schon vor der WM 1998 gab es Überlegungen, im Nachwuchsbereich einiges zu ändern. Die WM-Bewerbung für 2006 stand auf dem Plan. Da haben wir uns gefragt: Haben wir eine Mannschaft? Und was müssen wir tun, um eine schlagkräftige Truppe zu haben?«
Erklärend fügt Ulf Schott an: »Bis dahin war die Nachwuchsarbeit föderal organisiert. Also jeder Landesverband hat nach seinen Vorstellungen gearbeitet. Der DFB hat nur die Nachwuchs-Nationalmannschaften betreut. Damals entstand die Idee, auch neben den Nationalteams etwas zu machen und ein gemeinschaftliches Konzept zu entwickeln. Dietrich Weise war derjenige, der als Trainer eingestellt wurde und verantwortlich war. Ich sollte das Konzept mitentwickeln und umsetzen.«
Und so reiste Ulf Schott durch die Welt, um bei erfolgreichen Nationen wie Frankreich, Holland aber auch den skandinavischen Ländern zu recherchieren, wie die Talentförderung dort organisiert ist.
Und nicht nur das: »Wir haben uns auch bei anderen Sportarten in Deutschland informiert. Bei den Hockeyspielern zum Beispiel. Schließlich haben wir ein Konzept erstellt«, so Schott.
Der erste Entwurf wurde im März 1998 vorgestellt und beinhaltete den Aufbau von 120 Stützpunkten. »Da die WM 1998 ziemlich in die Hose ging, wurde es in Abstimmung mit Berti Vogts sofort umgesetzt«, erzählt Schott. Zur Erinnerung: Bei der WM in Frankreich scheiterte Deutschland nach durchgehend mäßigen Leistungen im Viertelfinale an Kroatien.
Der Prozess der Jugendförderung war jedenfalls angeschoben und wurde zwei Jahre später sogar noch deutlich beschleunigt. Schott: »Nach der schlechten EM 2000 war der öffentliche Druck in Deutschland noch größer, etwas zu machen. Das kam uns entgegen, denn wir konnten unsere Ideen noch schneller umsetzen. Auch die Bundesligavereine waren sich damals einig, etwas machen zu müssen.«
Vor allem im Bereich der 11- bis 14-Jährigen sollte etwas passieren. Es wurden deutschlandweit rund 350 Stützpunkte geschaffen. Jeder Standort wurde mit zwei bis drei qualifizierten Trainern besetzt. Talente der Region werden seitdem dort gesichtet und gefördert. Außerdem dienen die Stützpunkte als Fortbildungsmaßnahmen für Nachwuchstrainer.
Auch die Leistungszentren der Bundesligaklubs wurden auf Initiative von DFL und DFB schon vor der EM 2000 beschlossen. Die Bundesligaklubs kamen nach der EM noch einmal mit dem DFB an einen Tisch. Es wurde ein Kriterienkatalog aufgesetzt, mit den Vereinen besprochen und geplant. Für Vereine der 2. Liga wurden die Leistungszentren erst ein Jahr später Pflicht.
»Natürlich haben die Vereine nicht Hurra geschrien. Es hieß in den Managerrunden immer: ›Nachwuchsarbeit ist wichtig, aber so wichtig auch nicht.‹ Aber durch die schlechte EM konnte keiner öffentlich etwas gegen die Planung sagen«, blickt Ulf Schott auf die Anfangszeit zurück. Auch der damalige Manager des SC Freiburg und heutige DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig erinnert sich: »Wir mussten die meisten Klubs zu ihrem Glück zwingen.«