Träume sind wie wilde Tiger - Katharina Reschke - E-Book

Träume sind wie wilde Tiger E-Book

Katharina Reschke

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Beschreibung

Wenn du ein Ziel hast, kannst du alles schaffen!

Ranji Ram und Toni Finster könnten unterschiedlicher nicht sein. Während der soeben aus Mumbai nach Berlin gezogene dreizehnjährige Ranji von einer Star-Karriere beim Film träumt, kämpft die zwölfjährige Toni mit ihren Karatefähigkeiten gegen so manches Hindernis in ihrem Leben an. Leider stehen sich die beiden mit ihren Zielen zunächst ganz und gar im Weg. Aber dann werden sie zum Team und machen gemeinsam das Unmögliche möglich.

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Seitenzahl: 161

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KATHARINA RESCHKE

mit Auszügen aus den Filmsongs von Peter Plate und Ulf Leo Sommer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Coverillustration und -gestaltung: Melanie Korte unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com / Suzanne Tucker

Kapitelvignetten: Melanie Korte

ah + TP · Herstellung: bo

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-24334-0V001

www.cbj-verlag.de

Für Kamal und Oliver

Ranji

Für einen Moment schloss Ranji die Augen und horchte. Über seinem Kopf flatterte der Sonnenschutz aus bunten Tüchern im Wind, und von vorne drang die Stimme seines Lehrers, der etwas erklärte. Ranji horchte an ihm vorbei über die Brüstung des kleinen Flachdachs hinweg, das den Rams als erweitertes Wohnzimmer diente. Unten in der Gasse blökte die Ziege des Nachbarn gegen das Kreischen der wilden Affen an, die sich von Strommast zu Strommast hangelten und in dem Meer von zweistöckigen Häusern nach Essensresten suchten. Das Läuten einer Kuhglocke mischte sich dazu, und wahrscheinlich entfachte das festlich geschmückte Tier gerade einen Stau, denn Kühe waren in Ranjis Land heilig und durften nicht aus dem Weg gescheucht werden.

Von der Hauptstraße drang das Hupen der Autos, und Ranji sah vor seinem inneren Auge zwischen den vielen Fahrzeugen hindurch die Plakate am Straßenrand, die seine Idole Amir Roshan und Rani Chopra zeigten. Sicher standen auch heute wieder Passanten davor und tauschten sich in ihren farbenfrohen Gewändern aufgeregt über das bevorstehende Ereignis aus. Mumbai in Action hieß der neueste Kinofilm der beiden Stars, und Ranji selbst hatte die Poster schon an die hundert Mal betrachtet. Es war zum Heulen. Denn ausgerechnet er, der größte Fan der beiden Schauspieler, er, der bisher jeden ihrer Filme mindestens fünf Mal gesehen hatte – er konnte sich Mumbai in Action nicht anschauen. Ebenso wie alle noch folgenden Produktionen, denn …

»Ranji? Ranji!«

Erschrocken zuckte er zusammen.

Sein Lehrer Amal tippte ihn mit dem Finger an und fragte streng auf Deutsch: »Was habe ich gerade gesagt, Ranji?«

»Äh … keine Ahnung.«

»Grr, Ranji!«, schimpfte sein Vater Sunil und verpasste ihm eine Kopfnuss. »Wann hörst du endlich auf zu träumen und konzentrierst dich auf Wichtigkeit?«

Seine Eltern saßen am klapprigen Gartentisch neben ihm und hatten ihre Lehrbücher aufgeschlagen. Es war ihr letzter Tag hier. Morgen früh ging es nach Berlin.

»Ranji, es geht um Begrüßung«, half ihm seine Mutter liebevoll. »Wie begrüßen wir?«

»Namasté.« Schnell legte er die Hände vor der Brust zusammen und machte eine kleine Verbeugung.

Doch sein Vater verdrehte die Augen. »Deutsch, Ranji, Begrüßung auf Deutsch!«

»Ach, ja.« Ranji ergriff die von seinem Lehrer hingehaltene Hand und schüttelte sie kräftig. »Guten Tag, Lehrer Amal, wie geht es Ihnen?«

»Gut, danke«, antwortete der und trat zurück, um seine Lektion fortzusetzen. Seit fast einem Jahr hatte Ranji bei ihm Deutsch-Unterricht, und seine Eltern nahmen teil, wann immer sie konnten.

»Wir gehen jetzt zum Abschluss noch mal die wichtigsten Dinge durch, damit Sie für Ihre Ankunft in Berlin gut präpariert sind«, erklärte der Lehrer und nickte Ranjis Vater zu. »Herr Ram, was führt Sie zu uns nach Deutschland?«

Sunil Ram richtete sich stolz in seinem Stuhl auf und antwortete: »Mein Name ist Sunil Ram und ich mache Arbeit in Deutschland als Computer-Programm.«

»Sie arbeiten als Computer-Programmierer, richtig«, verbesserte Amal und wandte sich an Ranjis Mutter Kalinda. »Woher kommen Sie, Frau Ram?«

»Ich komme aus Mumbai«, antwortete sie und lächelte schüchtern, »in Indien.«

»Sehr gut!«

Ohne etwas dagegen tun zu können, schweifte Ranji erneut ab und ließ seinen Blick über die dicht beieinanderstehenden zweistöckigen Häuser hinwegwandern bis nach Downtown Mumbai, wo die Wolkenkratzer in den Himmel ragten.

Wenn er erwachsen wäre, dachte er, dann könnte er selbst entscheiden, wo er leben wollte. Dann würde er hierbleiben und sich in den berühmten Filmstudios von Mumbai bewerben. Er würde jeden Job annehmen – ganz egal welchen –, Hauptsache, er bekam einen Fuß in die Tür dieser einzigartigen Welt. In seinen Pausen würde er sich heimlich zu den Hallen schleichen, wo Amir und Rani drehten, und er würde ihnen live beim Tanzen, Singen und Schauspielern zusehen. Ja, er würde …

»Ranji!« Eine Fahrradklingel läutete schrill in der Gasse vor ihrem Haus. »Ranji!«

»Shiva!« Begeistert sprang er auf und lief zur Dachbrüstung. Es war seine um sieben Jahre ältere Schwester, die dort unten mit ihrem Fahrrad stand. »Shiva! Hast du schon aus?«, rief er auf Hindi. Normalerweise musste sie bis sieben arbeiten, aber es war gerade mal fünf.

Seine Schwester rang nach Atem, so schnell war sie gefahren. Tatsächlich trug sie noch ihre Arbeitskleidung, die sie sich vor wenigen Monaten für ihre Anstellung an der Universität von Mumbai zugelegt hatte. Es war ihr erster Job und deshalb ging sie auch nicht mit Ranji und seinen Eltern nach Deutschland.

»Ranji, ich habe Karten für die Premiere ergattert«, rief sie zurück.

»Was??? Echt?«

»Deutsch, Ranji, Deutsch!«, schimpfte sein Vater und trat neben ihn, um seiner Tochter zuzurufen: »Dein Bruder hat Unterricht für Deutschpräparation. Morgen ist Abreise.«

»Ich weiß doch, Paa, aber ich habe Karten für Ranji und mich«, entgegnete sie in Hindi. »Für Mumbai in Action.«

Obwohl Shiva die ersten Monate zusammen mit Ranji die fremde Sprache gelernt hatte, hielt sie sich trotzdem nicht an Sunils Gebot, dass bei der Familie Ram ab sofort nur noch Deutsch gesprochen wurde. Für bestmögliche Präparation auf neue Heimat.

Stattdessen bat sie in ihrer Muttersprache: »Bitte, Paa, lass ihn gehen.«

Ranji drehte sich zu seinem Vater und flehte: »Paa, bitte, ja?! Es ist meine letzte Chance. Ich habe Amir und Rani noch nie live gesehen!«

Doch sein Vater blieb stur und wies zu seinem Stuhl am Gartentisch: »Ranji, du hast Lektion nicht geschlossen. Lektion ist wichtiger als Film. Da ist Sitz.«

»Beendet, Paa, das heißt beendet«, platzte es aus Ranji heraus. Er wusste, dass man seine Eltern nicht verbesserte und ihnen schon gar nicht widersprach, aber jetzt konnte er nicht anders. Immerhin ging es hier um Bollywood! Seinen Traum!

Noch ehe sein Vater reagieren konnte, wandte er sich an den Lehrer und ratterte los: »Ich bin Ranji Ram. Ich komme aus Mumbai in Indien. Mumbai hieß früher Bombay und es werden bei uns die besten Filme der Welt gedreht. Deshalb heißen sie Bollywood-Movies, weil sie es locker mit denen in Hollywood aufnehmen können. Ich bin der größte Fan von Amir Roshan und Rani Chopra und heute ist meine letzte Möglichkeit, sie in echt zu sehen. Deshalb muss ich leider los. Tschüss.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, rannte er in Richtung Treppe und eilte jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend ins Erdgeschoss hinunter. Vor dem Haus sprang er auf Shivas Gepäckträger und rief: »Los, schnell!«

»Ranji, du bist ohne Erlaubnis!«, hörte er seinen Vater vom Dach herunterschimpfen.

Aber Shiva trat mit aller Kraft in die Pedale. Und zu ihrem großen Glück stand gerade keine Kuh im Weg.

Toni

Die Haare zu einem Zopf gebunden, das an der Zimmerdecke befestigte Gummiband um ihren Bauch, kam Toni mit den Füßen an der gegenüberliegenden Wand auf. Zielsicher griff sie dort nach einer auf Schienen in der Decke verankerten Schlinge und lief waagerecht an der Wand entlang. Vier Schritte waren mittlerweile möglich, dann stieß sie sich ab, schwang zur nächsten Zimmerseite und setzte ihren Lauf dort auf die gleiche Weise fort.

Es hatte Wochen gedauert, bis Toni die perfekten Stellen für ihre Halterungen ausgemacht hatte, um wie eine Martial-Arts-Kämpferin an ihren Zimmerwänden entlangrennen zu können. Jetzt verschafften sie ihr einen lückenlosen Rundlauf und sie juchzte beglückt.

Dong, dong, dong tönten ihre Schritte und ließen die Wände unter ihren Füßen vibrieren. Ähnlich wie beim Karate verlieh Toni der Lauf am Gummiband ein Gefühl von Stärke und Unbesiegbarkeit. Denn die Überwindung der natürlichen Schwerkraft war für sie ein Beweis, dass alles möglich war, wenn man es nur wollte.

Dong, dong, dong.

Toni brauchte dieses Gefühl gerade mehr denn je, denn ihr Vater Hannes war vor drei Wochen bei ihnen ausgezogen. Zwar nicht mit allem Drum und Dran, aber mit einer Tasche voller Kleidungsstücke.

»Es ist grade besser so«, hatte ihre Mutter Jannette gesagt. »Wir brauchen mal eine kleine Auszeit.«

Toni traute den Versprechungen, dass es nur vorübergehend sein sollte, nicht. Dazu hatten sich ihre Eltern in den letzten Monaten viel zu oft gestritten. Meist war es dabei um das ewig Gleiche gegangen: dass Hannes durch seine Arbeit als Tierpfleger zu wenig Zeit mit der Familie verbrachte und sich bei ihm alles nur um seine Schützlinge drehte, und dass Jannette darüber ständig schimpfte.

Toni konnte beide Seiten verstehen. Immerhin hatte ihr Vater erst kürzlich wieder über eine Woche am Stück im Tierpark verbracht, da die Tigerdame Alice mit einigen Komplikationen Junge zur Welt gebracht hatte und danach alle Hände für deren Versorgung benötigt wurden.

»Warum musst du das eigentlich immer machen?«, hatte Jannette Hannes zum wiederholten Mal gefragt. »Warum immer du?«

Sie hatte recht, denn natürlich hatte Hannes mehrere Kolleginnen und Kollegen im Tierpark, die ebenso gut ausgebildet waren wie er. Aber er konnte es einfach nicht lassen. Die Tiere waren wie Kinder für ihn.

»Ihr seid mir das Wichtigste«, beteuerte er Toni und Jannette dennoch wieder und wieder. »Echt.«

Toni glaubte ihm. Aber ihre Mutter brauchte dafür einen Beweis, und so hatte sie Hannes vor drei Wochen zum Nachdenken ganz in den Tierpark verbannt, wo er seither auch schlief.

Toni besuchte ihn, wann immer sie konnte, nachmittags nach der Schule. Leider fand sie aber bisher bei ihren Eltern keinerlei Anzeichen dafür, dass die Auszeit bald vorbei sein würde. Im Gegenteil.

Umso wichtiger wurden daher ihre Wandläufe für sie, denn sie halfen, Wut abzubauen. Und gegen die Angst anzukämpfen, dass es vielleicht nie wieder so werden würde, wie es einst gewesen war.

Dong, dong, dong.

»Toni?! Schatz?!« Ihre Mutter klopfte an die Tür, öffnete sie und schob ihren dunklen Schopf durch den Spalt. »Du weißt, dass die neuen Nachbarn gleich kommen, oder?«

»Hm.« Mit einem enttäuschten Murren ließ Toni die Schlinge über sich los und kam auf dem Boden auf. »Mist.«

Ihre Mutter strich ihr die herausgerutschten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Als ahne sie Tonis Sorge, sagte sie: »Es gibt bestimmt Zeiten, in denen die Rams nicht da sind und du dich hier weiter austoben kannst. Aber jetzt wollen wir sie erst mal in Ruhe ankommen lassen, okay?«

»Klar«, grummelte Toni und löste das Gummiband um ihren Bauch.

Drei Monate hatte die Wohnung neben ihnen leer gestanden, und Toni hatte jede Chance genutzt, um hemmungslos Lärm zu machen. Das hatte so gut getan!

»Hat Ecki gesagt, wer die sind?«, fragte sie ihre Mutter.

Ecki war der Hausmeister und die gute Seele in der Großen Einheit 108. Mit seiner Frau Anja, die als Flugbegleiterin arbeitete, wohnte er unten im Erdgeschoss und passte auf das Hochhaus auf.

»Sie kommen aus Mumbai, also aus Indien, und Herr Ram fängt hier in Berlin bei einer Bank an. Ich glaube, der Sohn ist in deinem Alter. Vielleicht ist er ja nett?!« Jannette lächelte verschmitzt, doch Toni verzog nur das Gesicht.

»Pff, schönen Dank. Versuch mir ja nicht, irgendwelche Freunde anzuhängen. Ich brauche nämlich keine. Ich bin auch so glücklich.«

Das mit dem glücklich stimmte natürlich nur halb, aber das lag allein an ihren Eltern.

Und dass sie keine Freunde hatte, war irgendwie kein Wunder, denn die Jungs machten wegen ihrer Karatefähigkeiten lieber einen Bogen um sie und die Mädchen redeten – typisch dreizehn – gerade nur über Klamotten und Schminken. Das interessierte Toni nicht die Bohne.

»Hast du schon nach deinem Vogel gesehen?«, wechselte Jannette das Thema und lief vor ihr den Flur ihrer kleinen Wohnung entlang in Richtung Wohnzimmer.

»Das ist kein Vogel, sondern ein Papagei!«, erklärte Toni zum gefühlt hundertsten Mal. »Käpt’n Flint.«

Den Namen hatte sie aus der Schatzinsel. Das war ein Piratenroman, den sie im letzten Halbjahr in der Schule gelesen hatten. Der Papagei darin hieß Käpt’n Flint – genau wie sein Herrchen, der Kapitän des Schiffes.

Vor zwei Wochen hatte Toni den türkis-gelben Ara unten in der Grünanlage gefunden und ihm den Namen gegeben. Das noch nicht ganz ausgewachsene Tier war extrem unterernährt gewesen. Ihm war ein Flügel gebrochen, und seine Besitzer hatten ihn offensichtlich ausgesetzt. Wahrscheinlich, weil er ihnen zu groß geworden war.

Aras lebten normalerweise in Süd-Amerika und konnten eine Länge von 90 Zentimetern erreichen. Von ihrem Vater wusste Toni, dass wenn sie einmal ihre Traumpartner gefunden hatten, sie diese bis an ihr Lebensende nicht mehr verließen. Das gefiel ihr besonders gut.

Zum Glück hatte der Tierarzt den Bruch an Käpt’n Flints Flügel operieren können, sodass er nun nur noch gepflegt und aufgepäppelt werden musste.

Dass sie das übernehmen durfte, hatte Toni jede Menge Überredungskünste gekostet, denn ihre Mutter war auf Tiere gerade überhaupt nicht gut zu sprechen.

»Sobald er fliegen kann, kommt er sofort hier weg«, hatte Jannettes Bedingung gelautet. »Der Vogel braucht Platz und nicht so eine kleine Wohnung wie unsere.«

Sie hatte natürlich recht damit, aber die Vehemenz ihrer Forderung zeigte vor allem, wie sehr sie den Tieren die Schuld dafür gab, dass ihre Ehe in der Krise steckte.

»Ich glaube, der ist bald so weit, meinst du nicht?« Ihre Mutter tippte gegen das Käfiggitter. »Na, Vogel, du hoppelst ja schon wieder ganz aufgeregt auf deiner Stange rum. Sieht ganz danach aus, als wärst du kuriert.«

Toni trat neben sie. »Mama, Vögel hoppeln nicht. Das machen Kaninchen. Und außerdem hat er alle Zeit der Welt und kommt hier nicht eher weg, bis er nicht zu hundert Prozent wieder fit ist.«

Ihre Mutter seufzte: »Schon klar, Tochter deines Vaters.«

Toni knuffte sie. »Ganz genau.«

»Und wenn wir ihm mal den Verband abmachen, um zu schauen, ob er seinen Flügel bewegen kann?«, schlug ihre Mutter vor.

»Okay.« Toni öffnete die Käfigtür und begrüßte den Ara mit dem Glück bringenden Wunsch für Segler: »Hallo, Käpt’n Flint, Mast- und Schotbruch!« In den zwei Wochen, die er jetzt bei ihnen wohnte, hatte sie wiederholt mit diesem Satz versucht, ihm das Sprechen beizubringen – aber bisher ohne Erfolg.

Wie ihr Vater es ihr schon oft im Tierpark gezeigt hatte, nahm Toni den Papagei behutsam mit beiden Händen und hielt ihn fest, während ihre Mutter die Binde abwickelte. Von seinem Verband befreit, setzte Toni ihn auf einer der Stuhllehnen am Esstisch ab.

»Kannst du ihn nicht wieder reintun?«, fragte ihre Mutter besorgt. »Das wär mir echt lieber.«

»Nur einen Moment, Mama. Der kann bestimmt noch nicht fliegen«, sagte Toni. »Aber so gewöhnt er sich schon mal ein bisschen an die Freiheit.«

»Hm«, murmelte ihre Mutter und ließ sich mit gerunzelter Stirn aufs Sofa sinken. »Bleib schön brav, wo du bist, Vogel – kapiert?«

Käpt’n Flint drehte seinen Kopf zu ihr. »Hallo, Käpt’n Flint, Mast- und Schotbruch«, krächzte er, und Toni begann zu lachen.

»Er kann reden!«, rief sie begeistert. »Genau wie ich’s ihm beigebracht hab.«

»Na«, murmelte ihre Mutter ahnungsvoll, und im nächsten Moment breitete der Ara auch schon seine Flügel aus und krächzte erneut: »Hallo, Käpt’n Flint, Mast- und Schotbruch.«

Ranji

Vor genau fünfzehn Stunden waren die Rams aus ihrem kleinen Haus in Mumbai getreten und in ein Tuk-Tuk-Taxi gestiegen. Jetzt fanden sie sich viele Tausend Kilometer weit weg in Deutschland wieder, und Ranji schaute sich unsicher um. Während sie in Mumbai ihr Gepäck auf das Dach des kleinen dreirädrigen Autos hatten schnallen und sich selbst im Inneren zusammenquetschen müssen, saßen sie nun in einem riesigen Wagen, in dem mehrere Familien Platz gehabt hätten.

Sein Lehrer Amal hatte ihm erklärt, dass die Deutschen auf der rechten Straßenseite fuhren und nicht wie sie links. Trotzdem klammerte sich Ranji jetzt erschrocken am Türgriff fest, denn so mittendrin fühlte sich das extrem bedrohlich an. Sein natürlicher Instinkt ließ ihn immer wieder zusammenzucken und rief: Halt! Wir fahren falsch!

Ranji kniff die Augen in der Erwartung zu, dass sie in der nächsten Sekunde mit einem anderen Auto kollidierten.

Argh!

»Schau einfach nicht nach vorne«, riet ihm seine Mutter, die neben ihm auf der Rückbank saß und zum seitlichen Fenster hinauswies. »Da. Schau, unsere neue Heimatstadt.«

Von seinem Lehrer wusste Ranji, dass das deutsche Wort Heimat mehr bedeutete, als nur Zuhause zu sein. Es war ein Gefühl damit verbunden, das den Ort zu etwas Einzigartigem werden ließ und eine tiefe Verbundenheit schuf.

Aber wenn Ranji aus dem Fenster schaute, sah er dort nur jede Menge Unsicherheit. Alles wirkte so anders und furchtbar fremd.

Weder gab es hier in Berlin Kühe oder Ziegen auf der Straße noch sprangen Affen in den Bäumen herum. Stattdessen war da allenfalls ein Hund an der Leine, dessen Geschäft von den Besitzern in eine Plastiktüte gepackt wurde.

Auch drängten sich auf den Bürgersteigen keine Trauben von farbenfroh gekleideten Passanten, sondern es schien, als liefen die Menschen mit besonders viel Abstand zueinander – und meistens alleine. Für Ranji fühlte sich das sehr merkwürdig an, denn in Indien lief man immer mindestens zu zweit. Egal, wie kurz der Weg war, man ging einfach nicht alleine. Nie! Es war eine ungeschriebene Regel, die hier aber offensichtlich niemand kannte.

Wenn Ranji seinen Eindruck auf den Punkt bringen sollte, dann würde er sagen, er hätte das Gefühl, als habe gerade eben jemand mit einem Riesenstaubsauger die Stadt sauber gemacht und dabei alle Tiere, Menschen und Farben gleich mit eingesogen. Nur das Cremeweiße, wie ihr Taxi, war noch übrig geblieben.

»Keine Sorge, Priy, du wirst glücklich sein hier«, flüsterte seine Mutter und legte ihre Hand auf seine.

Priy hieß Liebling und war das einzige Wort in Hindi, das Kalinda noch benutzte. Ansonsten hielt sie sich ganz an die von Sunil aufgestellte Deutsch-Familie-Deutsch-Regel.

Du wirst glücklich sein.

Ranji bezweifelte das. Spätestens seit der Premiere von Mumbai in Action hatte er seine Heimatstadt nicht mehr verlassen wollen und sich mit Händen und Füßen gegen die Abreise gewehrt.

Die Sitze des altehrwürdigen Liberty Kinos waren bis auf den letzten Platz ausgebucht gewesen, und er und Shiva hatten zwischen all den anderen dicht gedrängten Zuschauern beieinandergesessen. Wie in Indien üblich, waren sie während der Tanz- und Gesangsszenen alle aufgesprungen und hatten mit Amir und Rani auf der Leinwand mitgetanzt und gesungen. Popcorn und Konfetti flogen dabei durch die Luft und es war ein rauschendes Fest. Die Krönung bildete am Ende der Auftritt der beiden Stars auf der Bühne. Der Jubel war so laut gewesen, dass selbst Ranji sich zeitweise die Ohren zuhalten musste. Das Größte aber war, als Shiva sich durch die Menge gequetscht hatte, um als weitere Überraschung für ihn Autogrammkarten der Stars zu ergattern.

Diese lagen nun in seinem Gepäck im Kofferraum. Genauso wie, in einen Schal eingewickelt, ein Smartphone, das Shiva sich von ihrem Gehalt abgespart und gebraucht gekauft hatte. Seine Eltern wussten nichts davon.

»Du weißt, dass Paa und Maa nicht wollen, dass du schon ein eigenes Handy hast«, hatte Shiva nach der Premiere geflüstert, als sie ihm vor dem Haus das Gerät zugesteckt hatte. »Aber mir ist es wichtig, dass wir auch ohne sie in Kontakt bleiben können.«