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Stell dir vor, du könntest deinem Lebensweg noch mal eine ganz neue Richtung verleihen. Mit nur einem Klick. Julian Beeman, Anfang 40, steckt fest. Sein kleines Kino mitten in San Francisco steht hochverschuldet vor dem Aus, und die Banken verlangen ihr Geld zurück. Die Frau für's Leben hat er auch noch nicht gefunden und so heißt seine Lieblingskneipe wohl nicht umsonst Dead End. Ein Neustart wäre dringend nötig. Nur wie soll das gehen? Sein bester Freund empfiehlt ihm die Online-Plattform LifeExchange.club. Hier tauschen Menschen ihr Dasein miteinander, um im Lebensumfeld eines anderen noch mal ganz neu durchzustarten. Das Angebot, das Julian für sein gescheitertes Kino-Leben bekommt ist absolut fantastisch. Nie hätte er gedacht, dass er einmal ein derart sorgenfreies Leben leben dürfte! Doch leider tauchen schon bald jede Menge ungeahnte Überraschungen auf, die Julian ein weiteres Mal dazu zwingen, um sein Glück zu kämpfen. Das Gute: Diesmal weiß er genau, wie es aussehen soll, dieses Lebensglück - denn es hat Klick gemacht… Mit viel Humor und Esprit erzählt Katharina Reschke in ihrem neuen Roman von den Verheißungen im Netz und den Tücken, die das analoge Leben bereithält. >>Ohne Träumen kein Mut. Ohne Mut kein Machen.<< Wim Wenders
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Seitenzahl: 313
Katharina Reschke
Tausche Leben – Suche Glück
FISCHER E-Books
In Memoriam
für meine einzigartige Sister
Sybille
Am Ende hegen wir doch alle den geheimen Traum von einem zweiten Leben, oder? Von der Option, alles noch mal ganz anders zu machen, bevor unsere Uhr auf dieser Welt ein für alle Mal abgelaufen ist.
Hendrik Hendriksen, Gründer von LifeExchange.club
Die Firmenzentrale von LifeExchange befand sich in einer ehemaligen Stofffabrik in Potrero Hill. Das Viertel war in den letzten Jahren zum Mekka für junge Erfinder geworden, die hier, fern von den Internetgiganten des Silicon Valley, an ihren Start-ups bastelten und gleichzeitig das Partyleben von San Francisco genossen.
Noch einmal schaute Julian auf die kobaltblaue Visitenkarte in seiner Hand.
LifeExchange.club stand in weißer Schrift darauf.
Und: Hendrik Hendriksen, Potrero Hill.
Julian erinnerte sich nur bruchstückhaft an den gestrigen Abend, als der junge Mann mit dem Aussehen eines dreißigjährigen Brad Pitt plötzlich neben ihm am Tresen des Dead End gestanden hatte. Der Begegnung waren fünf Biere vorangegangen, die Julian helfen sollten, seine Panik zu überwinden. Panik vor dem Abgrund, der sich am Tag zuvor unangekündigt vor ihm aufgetan hatte und seitdem immer tiefer wurde.
Normalerweise trank er nicht mehr als zwei Gläser, aber Gerry, sein bester Freund und Besitzer des irischen Pubs, hatte gemeint, dass ihn der Alkohol beruhigen würde. Es stimmte. Zumindest, was seine Erinnerung betraf. Julian wusste nicht einmal, wie er gestern Nacht nach Hause gekommen war.
Mit einem einnehmend lässigen Lächeln hatte Hendriksen ihm auf die Schulter geklopft und das Gespräch begonnen. »Du bist Gerrys Kumpel, oder?«
»Äh, ja. Warum?«
Sein Händedruck war fest und verbindlich gewesen.
»Er hat mir von dir erzählt. Du leitest das Astor im Mission District, stimmt’s?!«
»Ja. – Bisher zumindest.«
Mit einem Mal war klar gewesen, dass die Begegnung keine zufällige war, sondern von Gerry eingefädelt. Julian hatte fragend zu seinem Freund geschaut, doch der hatte hinter der Theke gestanden und sich auf das Zapfen neuer Biere konzentriert.
»Er sagte, du könntest ’nen Neustart gebrauchen?!«
Um ein Lächeln bemüht, nickte Julian nun am Eingangsportal des ehemaligen Fabrikgebäudes in die Kamera. Gerry hatte in der Früh noch einmal angerufen, um sicherzugehen, dass er sich das Angebot auch tatsächlich anhörte.
»Es könnte deine Chance sein, Bee.«
»Kannst du mir bitte noch einmal sagen, was die genau machen? Ich hab leider einen totalen Filmriss.«
»Lass es dir von Hendrik direkt erklären. Ist ’ne ziemlich abgefahrene Sache. Scheint aber abzugehen wie ’ne Rakete.«
Die warme Stimme einer Frau begrüßte Julian durch die Gegensprechanlage – »Einfach in den dritten Stock rauf und dann rechts« –, dann glitt die Glastür vor ihm auf.
Als Julian das Loft von LifeExchange betrat, erwarteten ihn geschätzte sechshundert Quadratmeter Bürofläche mit einem gigantischen Blick auf Downtown San Francisco. Ohne Zwischenwände saßen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den langen Tischreihen nebeneinander und tippten auf ihre Computer und Laptops ein. Keiner von ihnen schien älter als fünfundzwanzig.
»Hi, Julian, willkommen bei LifeExchange!«
Hendrik Hendriksen stand plötzlich hinter ihm. Bei Tag wirkte er mit seinem Dreitagebart und den schulterlangen Haaren gleich noch cooler, und sein aus der Hose hängendes T-Shirt erinnerte sicher nicht von ungefähr an das Understatement-Vorbild aller Dotcoms, Mark Zuckerberg. »Schön, dass du’s einrichten konntest. Normalerweise geben wir ja keine Sonderführungen, aber für einen Freund von Gerry mach ich gerne ’ne Ausnahme.«
»Danke, ist echt nett.«
Der Startupper wies durch den Raum. »Hier siehst du eigentlich schon alles, was zu unserem Unternehmen dazugehört. Wir stocken gerade monatlich auf. Wenn’s weiter so geht, müssen wir demnächst zur Nachbaretage durchbrechen.« Er grinste vergnügt und machte eine Geste, als komme der Erfolg für ihn ganz unverhofft.
»Glückwunsch«, murmelte Julian beeindruckt.
Vorgestern war ihm jener Brief ins Kino geflattert, auf den er seit Monaten gewartet hatte, doch er enthielt nicht die erhoffte Antwort.
Die Bank hatte ihn so lange hängen lassen bis er schließlich unumkehrbar im Dispo hing. Täglich war Julians erste Tat ein Anruf in der Filiale gewesen, aber sein Berater war nie für ihn zu sprechen gewesen. Stattdessen kam das kurze Schreiben mit der Post. Eine Absage. Das Aus für das Astor – San Franciscos ältestes Lichtspielhaus –, und damit auch für dessen Leiter Julian Beeman. Die Bank verweigerte ihm nicht nur den beantragten Kredit, sondern forderte auch die noch offene Schuld in Höhe von 156000,– Dollar bis zum Monatsende zurück. Aufschub oder Stundung wurden nicht gewährt, was bedeutete, dass Julian noch exakt zehn Tage blieben, um die Summe aufzutreiben.
Er hatte keinen Schimmer, wie das gehen sollte – es sei denn, es geschah ein Wunder. LifeExchange sollte so etwas sein. Deshalb war er hier.
»Latte, Espresso, Cappuccino?« Hendriksen winkte, ihm zu dem abgetrennten Cafeteriabereich am Ende des Fabrikraums zu folgen. Auf der Küchenzeile stand eine riesige, verchromte Kaffeemaschine, die deutlich besagte: Wir haben es geschafft!
»Einen ganz normalen Kaffee mit Milch, danke«, entgegnete Julian betont unbeeindruckt, denn er wollte nicht wie ein Opfer wirken, das hier auf sein Gnadenbrot hoffte.
»Der wertbeständige Purist. I love it.« Der LifeExchange-Gründer schoss grinsend seinen Zeigefinger wie eine Pistole auf ihn ab und machte sich an der Maschine zu schaffen.
Julian nutzte die Zeit, um seine Umgebung zu beäugen. Es war sein erster Besuch in einem Start-up, und er fand es genauso, wie seit Jahren von allen beschrieben: das ultimative Arbeitsparadies. Eine Reihe Gläser war mit Croissants, Keksen, Müsli und vielen weiteren Köstlichkeiten gefüllt, und im Kühlschrank, den Hendriksen gerade öffnete, warteten Milch und Snacks für jedweden Verfechter von eiweißreich bis vegan und glutenfrei. Alles selbstverständlich kostenlos.
Hinter einer Glasscheibe, ein paar Meter weiter lag die kreative Ruhezone, wo sich die Mitarbeiter beim Minigolf fokussieren, in Sitzsäcken chillen oder an einer Wand mit Graffiti erproben konnten.
»Tut mir leid, was du da gerade erlebst.« Hendriksen warf ihm über die Schulter einen mitfühlenden Blick zu. »So was wie das Astor gibt’s ja echt nur noch selten. Würde mal sagen, es ist eine der Perlen unserer Stadt, oder?«
Julian nickte.
Vor sieben Jahren hatte er das Kino mit seinen originalgetreuen Dekors aus den Zwanzigern, das in allen einschlägigen Reiseführern über San Francisco aufgeführt war, von seinem ehemaligen Arbeitgeber übernommen. Hoch und heilig hatte er bei der Schlüsselübergabe dem von der Krankheit bereits schwer gezeichneten Marten Faulkner versprochen, dass er alles für das Filmtheater geben werde – egal, was da komme. Natürlich wusste er, dass dies auch Investitionen bedeutete, die nur mit einem Kredit zu finanzieren waren, aber Julian glaubte an das Kino. Nicht nur, weil er wie sein Vorgänger Filme liebte, sondern weil das Astor zur Kulturszene der Stadt gehörte und über Jahrzehnte hinweg mit seinem sorgfältig kuratierten Programm die Zuschauer begeistert hatte.
»Setz dich doch.« Hendriksen stellte einen henkellosen Fünfzigerjahre-Becher sowie ein Kännchen mit heißer Milch auf dem Tisch ab und wies zum Stuhl ihm gegenüber. Er selbst hatte sich für ein Kokoswasser entschieden.
»Hast du Erfahrung mit Tauschen – Wohnungstausch zum Beispiel?«, fragte er.
»Nein.« Julian hatte in den letzten Jahren das Geld und die Zeit zum Verreisen gefehlt.
Sein Gastgeber griff nach dem iPad neben sich, und auf dem Display leuchtete der Schriftzug von LifeExchange auf.
»Teilen und Tauschen liegt ja schon seit geraumer Zeit im Trend und wird sich ganz sicher auch noch weiter durchsetzen«, erklärte er. »Wenn du so willst, kannst du unsere Website als ein logisches Sequel von Seiten wie Airbnb und den Wohnungstauschportalen betrachten, nur dass wir deutlich weiter gehen.«
Er wischte über den Screen des Tablets, und es flogen die Wohnangebote der Privatanbieter auf den besagten Portalen vorbei, darunter ein malerisches Baumhaus, ein Beduinenzelt auf dem Dach eines New Yorker Wohnhauses und ein Loft mit Blick über Paris. »Warum zieht man heutzutage in einer fremden Stadt eine Privatwohnung einem Luxushotel vor, was denkst du?«, fragte er.
Julian hatte sich darüber noch nie Gedanken gemacht. »Weil’s günstiger oder heimeliger ist?«
Hendriksen schoss erneut mit seinem Zeigefinger auf ihn. »Heimelig. Genau das trifft’s. Die Wohnung eines anderen wird für kurze Zeit dein Zuhause. Du lebst in New York, Amsterdam, Paris als Bewohner und nicht als Gast. Das macht was mit dir. Vielleicht sogar, dass du fern von deiner Routine plötzlich eine neue Lebensweise an den Tag legst und dich glücklicher darin fühlst. Ein neues Leben, das dich deine alten Rollenmuster abstreifen lässt und die Bahn für einen Neustart ebnet.«
Julian nickte. »Und was macht ihr?«
Sein Gegenüber wechselte zur LifeExchange-Seite zurück. »Wir bauen genau auf diesem Gefühl auf und bieten unseren Kunden etwas, das noch einen Schritt weitergeht.«
Er schob Julian das Tablet hin. »Hier siehst du die Anzahl der gegenwärtig angemeldeten User. Wir liegen derzeit bei 33458 in den USA. Unsere Dealrate steht bei über hundert die Woche mit zehnprozentiger Steigerung. Und das, obwohl wir so gut wie keine Werbung machen. Wir setzen allein auf den Geheimniseffekt und Mund-zu-Mund-Propaganda.«
Jetzt wusste Julian auch, warum er bisher noch nichts von der Website gehört hatte. Es klang nach geheimer Sekte. »Und was sind das für Abschlüsse?«, fragte er, denn er war sich sicher, dass Hendriksen am Vorabend nichts darüber gesagt hatte.
»Eine ehemalige Studienkollegin hat mich vor zwei Jahren auf die Idee gebracht. Ich war zu dem Zeitpunkt schon mit einer Handvoll anderer Projekte gescheitert.« Hendriksen blinzelte. »Du weißt ja, wir Techies sehen Versagen eher als positiven Entwicklungsbeschleuniger an. Be wrong fast. Aber, um's kurz zu machen: Bei uns kannst du dein Leben gegen ein anderes tauschen.«
Julian blickte ihn verblüfft an. »Mein Leben tauschen? Ist jetzt nicht wahr, oder?«
Sein Gegenüber lachte. »Doch.«
Auf dem iPad war nun eine Reihe von Alias-Bildern zu sehen, daneben selbstgewählte Namen wie Genialo und Life2. Darunter Teaserzeilen: Cooles Leben in Down Town New York gegen Stranddasein in Venice Beach. Oder: San Diego, erfolgreiche Zahnarztpraxis für Farmer-Leben in Maine.
»Wie kann man denn sein Leben einfach so tauschen?« Julian konnte es nicht glauben.
»Man kann, und zwar absolut legal. Wohnung, Job, Freunde, Familie. Es liegt ganz in deinem Ermessen, was du anbietest. Beim Abschluss des Deals behältst du nur dein Portemonnaie und Handy, sofern du das willst, und lässt allen sonstigen Ballast hinter dir, um vollkommen unbelastet neu durchzustarten.«
Hendriksen tippte auf eines der Profile, und es ploppten Fotos von einem Haus an der Pazifikküste im Staat Washington auf, mit Hund, schickem Auto und gigantischen Aussichten auf Kamin, Designerküche und Weinkeller. Das Angebot sah wie ein Traum von Luxus und Sorglosigkeit aus.
»Das ist aber nur Werbung und nicht echt, oder?«, meinte Julian.
»Nope, alles echt. Bei LifeExchange findest du keine aufgepimpte Fakewerbung. Das haben wir nicht nötig.«
»Aber warum will so jemand tauschen? Der lebt doch einen absoluten Traum!«
»Für dich vielleicht. Für ihn ist’s wahrscheinlich langweilig geworden, nicht am richtigen Ort oder zu einsam. Was auch immer. Jeder hat da ja seine eigenen Gründe.« Hendriksen machte eine weitläufige Geste. »Am Ende hegen wir doch alle den geheimen Traum von einem zweiten Leben, oder? Von der Option, alles noch mal ganz anders zu machen, bevor unsere Uhr auf dieser Welt ein für alle Mal abgelaufen ist.«
Julian schüttelte belustigt den Kopf. Diese Techies waren einfach unglaublich. Für sie schien es wirklich keine Schranken zu geben.
»Aber warum tauschen und die Existenz von jemand anderem übernehmen, wenn ich es doch auch selbst machen kann? Versteh ich nicht«, insistierte er.
Sein Gegenüber lehnte sich über den Tisch zu ihm vor. »Stell dir vor, es wäre schon immer dein Wunsch gewesen, einen Klamottenladen aufzumachen, und du hättest die Wahl: Entweder du übernimmst einen, den es seit Jahren gibt, bekannt, mit großem Kundenstamm. Oder du beginnst bei Null. Baust die ganze Chose aus dem Nichts neu auf – und das mit dem Wissen, dass deine Lebensuhr gnadenlos tickt. Was würdest du tun?«
Julian musste ihm recht geben. Ein gemachtes Nest bot in der Tat viele Vorteile und senkte die Hemmschwelle für einen Neuanfang enorm. Vor allem dann, wenn das andere Leben so erfolgreich war. »Und was tun die, die nicht so ’n perfektes Dasein anzubieten haben wie der da zum Beispiel?« Er wies zu den Bildern an der Pazifikküste.
Hendriksen fiel in seinen Stuhl zurück und wies zur Fensterfront raus. »Wer sagt denn, dass es ein perfektes Leben gibt, Julian? Es existiert doch nur eins, das dich glücklich macht – oder eben nicht.«
Julian begriff endgültig, wie der LifeExchange-Gründer an die Millionen Startkapital gekommen war: Er hatte auf jede Frage eine Antwort und löschte letzte Zweifel mit seinem Charme. Sicher hätte einer wie er sogar für das Astor noch einen Kredit rausgeholt.
»Ich wette, da draußen gibt es zig Menschen, die schon immer von einem schnuckeligen Zwanziger-Jahre-Kino geträumt haben.«
»Es ist nur gepachtet, und es gibt jede Menge Schulden.«
»Na und? Es gibt Leute, die sich so was leisten können. Und du wärst deine Sorgen los.«
Hendrik Hendriksen stand auf und fingerte etwas aus seiner Tasche. »Da du hier auf ’ner Sonderkarte von Gerry fährst und ich engagierte Typen wie dich echt schätze, kriegst du hiermit die einmalige Möglichkeit, dir zu Hause alles noch mal in Ruhe anzugucken.«
Er gab Julian ein Kärtchen. Es standen Benutzername und Passwort darauf.
»Der Code verschafft dir einen Zwanzig-Minuten-Zugang. Danach kannst du dich entscheiden, ob du die Chance nutzen willst, die LifeExchange dir bietet – oder eben nicht.« Mit einem Zwinkern klopfte er Julian auf die Schulter. »Eins sag ich dir aber jetzt schon, bro: Wenn du erst gesehen hast, welche Perspektiven dir die Seite eröffnet, wirst du dich nur noch schwer dagegen entscheiden können.«
Zurück in seinem Einzimmerapartment im ersten Stock über dem Kinosaal, legte Julian den mitgegebenen Zugangscode auf seinem Schreibtisch ab und rieb sich ratlos über den Kopf. War das möglich, was er da eben erlebt hatte?
Er griff nach seinem Handy und rief Gerry an.
»Hey, Bee, wie schaut’s aus?«
»Ziemlich unglaublich. – Woher kennst du diesen Hendriksen eigentlich?«
Das Telefon zwischen Wange und Schulter geklemmt, tippte Julian die Adresse von LifeExchange in seinen Browser ein.
Träumst du auch von einem anderen Leben? Bei uns liegt dein Glück nur einen Klick entfernt.
»Wir waren in Sausalito an derselben Schule. Er natürlich ein paar Klassen unter mir. Hab ihn letztes Jahr beim Alumni-Treffen kennengelernt.«
»Und du meinst, man kann dem wirklich trauen?« Julian klickte den Reiter Mitgliedschaft an.
»Absolut. Der war schon immer einer von den Weltverbesserern, die nicht nur reich und berühmt werden wollten. Hab mich natürlich über ihn informiert, bevor ich ihn auf dich loslasse.«
Gerry lachte.
»Die nehmen hundert Dollar am Tag …«, las Julian. »Tzz, ich hab grad genug, um bis zum nächsten Wochenende was zwischen die Zähne zu kriegen.«
»Bee, wenn dich die Sache überzeugt, gehen zwei Tage auf mich. Versprochen. Mehr hab ich leider auch nicht. Aber wenn jemand weiß, wie er noch ’n paar Kröten an Land zieht, dann du. Für die alte Dame hast du doch auch immer noch was aufgetan.«
»Ja, aber alles nur geliehen. Deshalb bricht sie mir ja jetzt auch das Genick – Madame Astor.«
»Hauptsache du bewahrst dir deinen Galgenhumor, Bee. Du weißt, wie sehr ich dich dafür liebe.«
»Schauen wir doch mal, ob das für mein nächstes Leben auch noch gilt«, gab Julian schmunzelnd zurück. »Vielleicht entscheide ich mich ja für ’ne egoistische Arschlochexistenz mit fett Zaster, und hör auf, so ’n verdammter Kämpfer für die guten, alten Werte zu sein.«
»Du weißt ja, Bee: unsere Stadt braucht nostalgische Idealisten, die dieser ganzen Digitalblase noch was entgegenzusetzen haben, lass uns also nicht im Stich.«
»Zu spät, mein Freund. Ich trete jetzt einer Internetsekte bei, und du bist schuld daran.«
Sie witzelten noch ein paar Minuten weiter, dann verabschiedeten sie sich, und Julian ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Für die nächsten zwanzig Minuten benötigte er einen klaren Kopf.
Aus der Pappschachtel auf der Küchenzeile nahm er eine der verbliebenen Kapseln und steckte sie in die Maschine. Seine Schwester hatte ihm diesen Kaffeeautomaten für zwei Personen zu seinem letzten Geburtstag geschenkt, und er wirkte wie ein einsames, gelacktes Ufo zwischen all den Trödelmarktanschaffungen. Susan hatte bisher nichts unversucht gelassen, um – zumindest äußerlich – einen Erfolgsmenschen aus ihm zu machen, der schon bald auch das perfekte Match an seiner Seite hatte. Sie selbst lebte mit drei Töchtern und Mann auf der anderen Seite der Bucht in Berkeley und führte dort ein beschauliches und sorgenfreies Dasein als Professorengattin. »Glaub mir, Bruderherz, Liebe ist das Allerwichtigste. Was du brauchst, ist eine Familie«, wurde sie nicht müde zu sagen. »Dann funktioniert auch der Rest in deinem Leben.«
Julian war einer festen Beziehung gegenüber gar nicht abgeneigt. Im Gegenteil. Er hatte sogar einige Versuche gestartet, aber keine Frau wollte auf Dauer mit einem Mann zusammen sein, der sieben Tage die Woche bis Mitternacht arbeitete.
Der Automat war bereit, und er stellte seinen Becher unter die zwei Ausläufe.
In exakt einer Woche war es wieder so weit. Diesmal schob sich die Vier vor sein Alter, und er betrat damit unwiderruflich die statistische Lebensmitte. Was für manche einen Moment markierte, an dem man zufrieden auf das bereits Erreichte zurückschauen konnte, drohte für Julian unweigerlich zum Tiefpunkt zu werden. Denn spätestens zum Monatsende musste er die Wohnung räumen und stand auf der Straße. Noch wusste sein Vermieter, der Sohn des alten Faulkner, nichts vom Aus des Astor-Kinos, doch würde Julian es ihm nicht mehr lange verschweigen können.
Für einen Moment hatte er in seiner Verzweiflung nach Erhalt des Bankschreibens am Samstag die Möglichkeit erwogen, über die mexikanische Grenze zu fliehen, doch war seinem alten Honda letzte Woche wegen abgelaufener Parkerlaubnis eine Wegfahrsperre angelegt worden, und die Kosten für deren Aufhebung überstiegen um ein Vielfaches sein verbliebenes Budget. Zudem schreckte er auch davor zurück, straffällig zu werden. Noch zumindest.
Die Kaffeemaschine neben ihm verstummte, und er nahm den dampfenden Becher mit sich in den Wohnschlafraum.
An seinem Computer loggte er sich mit Hilfe von Hendriksens Code in den Mitgliederbereich von LifeExchange ein und wurde mit einem fröhlichen Dreiklang im Kreise der Community empfangen.
Willkommen bei LifeExchange.
Ein Banner zog sich über die Startseite, das mit Kürzlich-eingestellt-und-beachtenswert-Angeboten warb. Julian klickte auf das nächste vorbeiziehende Bild, und das dahinterliegende Profil führte ihn zu Cowboy5 aus Wyoming. Der User stellte sich und seinen Alltag auf einer Ranch in den Black Hills vor. Wer schon immer davon geträumt hatte, inmitten von Pferden und Kühen zu leben, war hier genau richtig. Ein umfangreiches Arsenal an Waffen zum Jagen und zur Selbstverteidigung zählte ebenfalls zum Angebot. Coltträger erhalten bei Darleen im Truck Stop Café den ersten Drink umsonst, verhieß Cowboy5. Es lebe das freie Amerika! Sag Nein zur Waffenkontrolle!
Julian verließ das Profil und gab im Suchfeld San Francisco ein. Zu seiner Überraschung erzielte er 55 Treffer. Ein weiterer Button zeigte ihm die Möglichkeit an, 187 Kandidaten aus der Bay Area zu sehen oder 354, die im Umkreis von achtzig Meilen wohnten. Es war enorm. Nie hätte er gedacht, dass es in seiner näheren Umgebung so viele Menschen gab, die ihr Leben gegen ein anderes eintauschen wollten. Und dies hier waren ja nur solche, die die Website kannten und über das nötige Geld verfügten, um sie zu nutzen. Wie viele mehr mochten da draußen sein, die sich ebenfalls einen Neuanfang wünschten?
German House Paintress lautete der erste Treffer. Dahinter verbarg sich Sylvia, achtundvierzig Jahre alt, die deutscher Herkunft war und in einer aparten kleinen Wohnung im Marina District wohnte. Der Bezirk lag im Norden der Stadt, unweit der Golden Gate Bridge am Wasser. Sylvia bot ein gut laufendes Ein-Frau-Unternehmen und eine dreiwöchige Einweisung in die Kunst des Tapezierens und Wandanstrichs. Sie riet, falls man keine deutschen Wurzeln vorzuweisen hatte, sich auf jeden Fall ein so klingendes Pseudonym zuzulegen, da der Erfolg des Business zu einem Großteil auf dem Ruf ihres Herkunftslandes beruhte. Arbeitsethos und so.
Julian musste lachen, denn es erinnerte ihn sofort an die Schwester seiner Mutter in Berlin, die ihn mit ihrem Hang zum Perfektionismus – damals, als er nach dem College eine Zeit lang bei ihr zu Besuch war – fast in den Wahnsinn getrieben hatte.
Unter Wünsche gab Sylvia die Tauschorte New York, Chicago und Portland an. Unter Berufe: Café, Malerei, Museum. Sie hatte ganz offensichtlich eine klare Vorstellung, wie ihr zukünftiges Wunschleben auszusehen hatte, und Julian kehrte in die Übersicht zurück, um jemand anderes auszuwählen, jemanden, der Wünsche: offen angegeben hatte.
Hinter dem ersten der nunmehr noch siebzehn Angebote verbarg sich der Betreiber eines Teashops mit Namen Tea Heaven im Inner Sunset. Es war ein zunehmend attraktiv werdender Stadtteil in San Franciscos Westen, gleich unterhalb des Parks und nicht weit vom Pazifik entfernt. Viele asiatischstämmige Menschen lebten hier und betrieben Restaurants und kleine Läden. Als Julian die Fotos sah, erkannte er den Shop sofort wieder. Früher, als er noch als Kartenabreißer für Marten Faulkner gearbeitet hatte, waren seine Nachmittage meist frei geblieben, und er hatte Zeit für einen Spaziergang durch den Golden Gate Park gehabt. Danach war er oft die Neunte hoch zur N-Judah-Straßenbahn gelaufen und an dem kleinen Teeladen vorbeigekommen. Kein einziges Mal hatte er das Geschäft ohne eine Menschenschlange davor angetroffen. Es hieß, bei Tea Heaven gebe es den besten Chai in der ganzen Bay Area. Warum, fragte sich Julian nun, wollte der Inhaber bei einem derartigen Erfolg so ein lukratives Leben loswerden?
Er scrollte zum Informationstext hinunter, fand dort aber keine Angaben zur Motivation. Schnell wechselte er zum Nächsten in der Liste, doch da legte sich ein schwarzer Infobalken über die Seite.
Die Probesitzung ist hiermit abgelaufen.
Die zwanzig Minuten waren so schnell vergangen, dass Julian sich aus der LifeExchange-Welt hinausgeworfen fand, wo er sie doch gerade erst zu verstehen begann. Es war nach wie vor unglaublich und gleichzeitig genau so, wie Hendrik Hendriksen es versprochen hatte: Auf der Website taten sich Möglichkeiten auf, die Julian nicht nur zutiefst verblüfften, sondern eine bis dahin unbekannte Lust in ihm weckten. Die Begierde auf etwas Neues, Überraschendes ebenso wie die Möglichkeit, alle Probleme, die ihn gerade in den Abgrund zu ziehen drohten, mit einem Mal wie einen ausgebeulten Mantel abzustreifen und jemand anderem zu übergeben.
Doch wie groß war seine Chance, dass sich bei LifeExchange jemand fand, der sich für Julians Leben interessierte und tatsächlich tauschen wollte? Mit allen Konsequenzen? Ein historisches Kino, das jede Menge Leidenschaft und Einsatz forderte, mit einer spartanischen Einraumwohnung im ersten Stock und fettem Schuldenberg?
Und: Hätte dieser jemand dann auch eine Existenz zu bieten, die Julian ebenso gerne übernahm?
Nachdenklich drehte er sich auf seinem Schreibtischstuhl und leerte seinen Kaffeebecher.
»Wie lange dauert es nach eurer Erfahrung im Durchschnitt, bis ein Tauschdeal zustande kommt?«, fragte er, sobald Hendriksen seinen Anruf entgegengenommen hatte.
»Das hängt davon ab, wie wählerisch du bist. Ein Stück Zufall ist natürlich auch dabei.«
»Du meinst, ob ein passender Tauschpartner gerade zeitgleich registriert ist?«, fragte Julian.
»Yep.«
»Mein Limit läge bei sechshundert Dollar. Mehr kann ich auf keinen Fall aufbringen.«
»Ist doch gar nicht schlecht. Wenn du dich heute noch anmeldest, hast du das Wochenende mit drin. Da haben wir das Zehnfache an traffic«, erklärte Hendriksen und fuhr fort: »Garantieren kann ich dir zwar nichts, aber ich biete dir an, dass wir dein Profil für sechs Tage aufs Premiumbanner setzen. Da erhöhen sich die Klickzahlen noch mal um ein Vielfaches, und keiner kommt an dir vorbei. Für den Dienst muss man normalerweise extra zahlen.«
»Wow. Danke!«
»Und noch was: Falls du dich tatsächlich für eine Mitgliedschaft entscheidest, musst du wissen, dass die Uhr erst ab Freischaltung läuft. Das heißt, du kannst in Ruhe dein Angebot aufpimpen, wozu ich dir auch sehr rate. Je besser es rüberkommt, umso größer die Chance auf einen schnellen Abschluss. Auf gar keinen Fall solltest du die Haken verschweigen. Das gibt nur Probleme.«
»Mach ich nicht«, entgegnete Julian und stellte fest, dass er seine Entscheidung damit getroffen hatte.
»Wenn du willst, schicken wir dir unsere Fotografen vorbei. Die kosten dann aber leider.«
»Danke, ich hab ’n halbes Fotostudium hinter mir. Das sollte ich gerade noch hinkriegen.«
»Cool. Na dann … Freut mich, wenn du dich für uns entscheidest – und uns weiterempfiehlst.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, stand Julian wie unter Strom. Die Uhr im Computer zeigte 16:30. In exakt sechs Tagen, sieben Stunden und dreißig Minuten wurde er vierzig. Was, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einem anderen Leben wiederfände?
Wenn er sich beeilte und Glück hatte, gelang es ihm möglicherweise noch vor Schließung der Bank, seinen Dispo so weit aufzufüllen, dass sie seine Kreditkarte wieder freischalteten und für LifeExchange brauchbar machten.
Julians Blick schoss durch den Raum. Oben auf dem Schrank lag sein Koffer mit der analogen Fotoausrüstung. Seit Abbruch seines Studiums hatte er sie nur ein Mal ausgepackt – aus dem gleichen Grund, aus dem er es nun wieder tat. Damals hatte ihm der Mann im Pfandleihhaus zweihundertfünfzig Dollar dafür geboten. Mit etwas Verhandlungsgeschick bekam er nun wohlmöglich noch ein bisschen mehr dafür, denn die Kamera war zu einem echten Liebhaberstück geworden. Die Lampen wollte er behalten, er würde sie für die Fotosession brauchen.
Julian kniete sich auf den Boden und zog unter dem Bett die Metalldose vor. Es verbargen sich drei Goldmünzen darin. Seine allerletzte Notreserve. Sie waren noch genauso unangetastet in Plastik eingeschweißt wie an dem Tag, als sein Großvater Fritz sie ihm übergeben hatte. Mit zweiundzwanzig war ihm Julian auf seiner Europareise zum ersten Mal begegnet, denn die Großeltern lebten in Deutschland, wo auch seine Mutter Martha herkam. Im Ostteil aufgewachsen, war sie nach dem Abitur aus der DDR geflohen, um ihr Glück in den USA zu finden. Da sie schon bald eine Familie ernähren musste, hatte sie, wie Opa Fritz und Oma Gertrud, das Backhandwerk zu ihrem Beruf gemacht. Noch heute stand sie von früh bis spät in Martha’s Bakery südlich der Market Street und zog mit ihrem Sauerteigbrot und all den anderen Köstlichkeiten nach deutschen Rezepten ihre Kundschaft aus der ganzen Bay Area an.
»Die Münzen habe ich als Bub von meinem Vater geerbt«, hatte sein Großvater ihm damals erzählt, »um mir was Eigenes aufzubauen. Es hat auch so funktioniert, und ich brauche sie nicht mehr. Nimm du sie, Junge, damit sie dir Glück bringen.«
Julian ahnte, dass der mittlerweile Verstorbene über die Entscheidung seines Enkels, damit sein Leben im Internet gegen ein anderes zu tauschen, nur den Kopf geschüttelt hätte. Kein Wunder. Selbst Julian kam mit der Rasanz, in der sich die Welt seit der Erfindung des Internets veränderte, und den Möglichkeiten, die daraus entstanden, kaum noch mit. Gleichzeitig war für die Millennials, zu denen auch seine Nichten zählten, ein Leben ohne Netzzugang überhaupt nicht mehr vorstellbar.
»Aber, wenn ihr damals kein Internet hattet«, fragten ihn Susans Töchter immer wieder. »Wie habt ihr denn dann Netflix geschaut?«
Schnell sammelte Julian die Wertgegenstände zusammen, steckte sie in einen Einkaufsbeutel und stand auf.
»Hoffen wir, dass dies die richtige Entscheidung ist, Opa«, murmelte er und lief los.
»Wozu brauchst du Kerens Kamera?«, fragte seine Schwester, wie immer mit alarmiertem Unterton.
»Ich muss was ins Netz hochladen. Mein Smartphone reicht dazu nicht aus. Es soll gut aussehen.«
Die Olympus hatte zusammen mit den Goldmünzen gerade so viel eingebracht, dass Julian seine Kreditkarte freischalten konnte. Zu seiner Erleichterung war sein Bankberater auf einem Außentermin gewesen, und die Kollegin wollte schnell in den Feierabend, so dass sie keine weiteren Fragen zu Julians Kreditschulden stellte, sondern seiner Bitte kurzerhand nachkam.
Danach war er mit dem Bus auf die andere Seite der Bucht gefahren, um seine Schwester in ihrem bunt verzierten viktorianischen Holzhaus zu besuchen. Während sie am Tisch in der Küche saßen, drang von oben Musik zu ihnen herunter, vermischt mit den Stimmen seiner Nichten Keren, Emmy und Linda.
»Was denn hochladen? Was ist mit deiner Kamera?«, insistierte Susan.
»Die ist analog, ich hab sie weggeben«, erwiderte Julian ungeduldig. »Keren bekommt sie morgen zurück, wenn sie sie so dringend braucht, keine Sorge.«
»Was meinst du mit weggeben? Warst du etwa schon wieder im Pfandhaus?« Seine um drei Jahre ältere Schwester setzte ihr Kreuzverhör unverdrossen fort. Zwar bemühte sie sich, ihre letzte Frage vor allem besorgt klingen zu lassen, aber ihr Gesichtsausdruck verriet, was sie eigentlich sagen wollte: Herrgott, du bist doch nicht schon wieder pleite, oder?
»Alles gut, ich brauche nur eine Kamera. Für eine Bewerbung. Was ist so wild daran?«
»Eine Bewerbung?!? Du willst dich bewerben, Jules?«
Die frankophone Abkürzung seines Namens war Susans einstiges Mitbringsel aus Paris gewesen, als sie mit sechzehn von einem Schüleraustausch zurückgekehrt war. Julian mutmaßte, dass sie ihm damit schon damals einen hochwertigeren Anstrich verleihen wollte.
»Ja, Susan, ich bewerbe mich.«
»Hey, das sind doch super Neuigkeiten! Warum sagst du das nicht gleich?« Erfreut sprang sie auf und lief in den Flur, um die Treppe hinaufzurufen: »Keren! Bring deinem Onkel mal deine Kamera runter! Er braucht sie.« Dann kehrte sie in die Küche zurück und legte aufgeregt ihre Hände auf seinen Arm. »Erzähl, worum geht’s?«
Julian überlegte, was er ihr antworten sollte, denn er wusste nur zu genau, dass Susan seinen Entschluss, das Astor zu übernehmen, für einen Fehler gehalten hatte – wie auch sonst eigentlich alles, wozu er sich entschied – und nur darauf wartete, sich in ihrer Einschätzung bestätigt zu finden. »Na ja, also –«, begann er und wurde von seiner Nichte unterbrochen, die aufgeregt die Treppe runtergerannt kam.
»Onkel Jules, du bist da. Wie toll!« Beglückt fiel sie ihm um den Hals. »Mommy, warum hast du denn nichts gesagt?«
Die Freude der Mädchen berührte Julian immer wieder aufs Neue, ahnte er doch, dass seine Schwester und sein Schwager sich gegenüber den Kindern vornehmlich kritisch über ihn äußerten – und wenn auch nur aus erzieherischen Gründen. Du willst doch nicht etwa so enden wie Onkel Jules!?
»Fängst du wieder mit dem Fotografieren an?«, fragte Keren und drängte ihre Mutter zur Seite, um sich auf den Platz neben ihm zu setzen.
»Nein, ich brauch nur ein paar Bilder, fürs Netz.«
»Fürs Netz? Bist du jetzt etwa doch auf Instagram?«
»Nein.« Er lachte. »Dein Onkel möchte sein Leben zum Tausch anbieten.«
Sein Blick glitt zu Susan, deren Augenbrauen sich irritiert zusammenzogen. »Bitte was? Was –«
Weiter kam sie nicht, denn ihre Tochter rief: »Wie cool ist das denn?! Etwa bei LE?«
»Du meinst LifeExchange? Ja. Kennst du die Seite etwa?«, fragte Julian überrascht.
»Klar, die ist voll cool. Sobald ich volljährig bin, will ich da auch drauf.« Keren stockte. »Heißt das etwa, du gibst das Astor weg?«
In ihrem Gesicht machte sich Bestürzung breit. Nicht ohne Grund, denn seit seine Nichten alt genug waren, um ins Kino zu gehen, besuchten sie ihn zu den Nachmittagsvorstellungen, wann immer sie konnten, und halfen, im Vorführraum die alten Zelluloidfilmrollen einzuspannen und später den Startbutton zum digitalen Filmabspiel zu drücken, im Foyer neues Popcorn zu rösten und schließlich unter seiner Anleitung das Saallicht zu löschen, um danach schnell zu ihren Lieblingsplätzen zu sprinten und in das Geschehen auf der Leinwand einzutauchen. An ihren Geburtstagen durften sie mit allen Freundinnen und Freunden kommen und den Film selbst bestimmen. Sie liebten das.
»Ja, Keren, leider.«
Die Sechzehnjährige nickte stumm. »Das tut mir leid, Onkel Jules. Das ist bestimmt nicht leicht für dich.«
»Sag mal, könnt ihr mir bitte mal verraten, wovon ihr hier sprecht? Was bitte ist LifeExchange???«, schaltete sich Susan ein.
»Das ist absolut genial, Mommy. Der Bruder meiner Freundin hat’s mir neulich gezeigt. Da kann man sein Leben zum Tauschen reinstellen oder auch Teilen. – Willst du teilen?«, fragte Keren Julian.
»Nein. Neustart. Nur ich«, sagte er, und sie nickte.
Eilig setzte sie für ihre Mutter fort: »Ich könnte zum Beispiel das Leben von jemandem in New York City übernehmen, der oder die käme dafür hierher.« Sie machte eine So-leicht-ist-das-Geste. »Mega, oder?«
Susan betrachtete ihre Tochter jedoch wie ein frisch geschlüpftes Alien, das sie soeben in ihrem Nest entdeckt hatte. »Warum solltest du mit jemandem in New York tauschen wollen?«
»Weil es das geilere Leben ist?« Keren verdeutlichte mit ihrer Miene und der dazu passenden Handbewegung, dass sie ihre Aussage nur deshalb wie eine Frage klingen ließ, weil ihre Mutter es offensichtlich nicht raffte. Doch ehe die etwas erwidern konnte, drehte sie sich schnell wieder Julian zu. »Hast du dich schon registriert? Du könntest doch L.A. als Wunschort angeben, dann würden wir dich am Wochenende immer besuchen, oder gleich ganz bei dir wohnen. Bitte, Onkel Jules, kannst du L.A. oder NYC reinschreiben?«
Julian bemerkte, wie seine Schwester sprachlos-entsetzt nach Luft schnappte.
»Tut mir leid, Keren, aber ich will lieber hier bleiben, in eurer Nähe.« Er strich ihr über die Wange. »Einen besseren Ort als San Francisco gibt’s für mich nicht.«
»Dann sag doch, dass du ’n Club oder ’nen coolen Coffee Shop suchst. Ich hab gehört, dass es da die genialsten Angebote gibt. Oder einen Laden für reduzierte Designerklamotten, das wär’s doch!«
»Keren, stopp!« Ihre Mutter streckte den Rücken gerade und rückte vor. »Du hörst jetzt sofort auf damit, hast du verstanden?«
»Aber warum denn, Mommy? Das ist doch total spannend. Stell dir mal vor, ich –«
»Dein Onkel wird dich schon unterrichten, wenn es Neuigkeiten gibt.« Bestimmt schob sie Julian die Kamera zu und wies der Tochter den Weg nach oben. »Geh jetzt bitte und mach deine Schulaufgaben fertig!«
»Mommy, nicht wirklich, oder?!« Keren stampfte auf den Boden, doch ihre Mutter blitzte sie unmissverständlich an.
»Ich mein’s ernst, Keren.«
Wütend schob die sich darauf vom Tisch ab und schimpfte: »Eltern wie du sind genau der Grund, warum es LifeExchange gibt. Echt, Mann. Das ist doch voll das Gefängnis hier.«
Julian schaute seiner Nichte mitfühlend nach, wie sie die Küche verließ. Er konnte sich nur zu gut an seine eigene Jugend erinnern, als er im gleichen Alter war.
»Danke für die Kamera, Keren. Du kriegst sie bald zurück«, rief er ihr nach, doch es kam nur ein mürrisches »Umpf« von der Treppe zurück, gefolgt von einem gemurmelten »Bin ich froh, wenn ich endlich volljährig bin«. Kurz darauf flog oben laut krachend ihre Zimmertür ins Schloss.
»Spinnst du eigentlich total?« Susan hielt ihm ihren gespitzten Zeigefinger vors Gesicht. »Was pflanzt du deiner Nichte da für einen Blödsinn in den Kopf? Du siehst doch, dass sie gerade mitten in der Pubertät ist!«
»Ich pflanze ihr keinen Blödsinn in den Kopf. Ich hab nur auf ihre Fragen geantwortet.«
»Du bist ihr Onkel, Jules, du hast Verantwortung!«
Julian wäre darauf einiges eingefallen, aber er behielt es für sich. Es war eine dieser sich seit Jahren wiederholenden Diskussionen, die er einfach nicht gewinnen konnte. Aus Susans Sicht gab es immer etwas zu kritisieren. Nahm er seine Nichten auf eine Wanderung mit, war sie zu gefährlich. Organisierte er für die drei einen Kinonachmittag, waren es die falschen Filme, zu viel Popcorn oder Cola. Und wenn er sie zum Essen ausführte, lieferte er sie garantiert zu spät zu Hause ab. Denn egal, was er tat, es war Susan nicht recht.
»Du meinst das doch nicht ernst mit diesem Internetportal!?«
»Doch. Es ist tatsächlich eine ziemlich geniale Idee und gerade meine letzte Chance.« Julian blickte sie entschlossen an. »Ich war heute bei der Firma in Potrero Hill, um mir alles anzusehen. Gerry kennt den Inhaber.«
»Duwarst bei denen? Ich dachte, du hast es diesen Internettechies zu verdanken, dass dein Astor so schlecht läuft?! Weil die mit ihrem Netflix-Scheiß die Leute auf den Sofas festkleben und keiner mehr den Weg ins Kino auf sich nimmt. Das sagst du doch selbst immer, dass diese verdammten Dotcoms ohne Gewissen jede Chance für sich nutzen und die Stadt zu einer unbezahlbaren Blase gemacht haben. Wie kannst du da deren Dienste nutzen? Und dann auch noch für so einen Schwachsinn?«
»Ich hab keine Wahl, Susan.«
»Man hat immer eine Wahl, Jules, immer!« Sie blitzte ihn zornig an, als ginge es hier auch um ihr eigenes Leben.
»Ja, und genau deshalb ergreife ich sie. Ich kann mein Leben ändern. Was stört dich daran?«
»Im Internet …!?«
»Im Internet, exakt.«
»Und dann?«
»Fang ich noch mal ganz neu und von vorne an.«
Seine Schwester lachte auf. »Was denkst du denn, Jules? Glaubst du wirklich, das würde irgendetwas ändern? Du schleppst doch das alles weiter mit dir rum.« Sie wies an ihm herab. »Dein Leben, das bist doch du. Du lässt doch nicht dein Ich zurück.«
»Und?«
Susan rückte von ihm ab, als wäre er nicht mehr ganz dicht. »Sag mal …« Ihr Blick wurde mit einem Mal fast mitleidig, »du glaubst doch nicht wirklich, ich meine wirklich, dass sich damit irgendetwas ändert?!«
Julian richtete sich auf und griff nach der Kamera. »Doch, das glaube ich.«
»Aber du hast doch nach wie vor die gleiche Einstellung.«
»Was denn für eine Einstellung, Susan?« Es ärgerte ihn, dass sie es schon wieder nicht schafften, die alten Muster zu durchbrechen. Große Schwester, kleiner Bruder. Sie gesettelt, er der Loser.
Er kannte ihre Perspektive nur zu gut. Ihrer Meinung nach hatte er sein Fotostudium nur wegen Bettina angefangen, das Kino wegen Faulkner übernommen, und nun tauschte er sein Leben, weil ein Bekannter von Gerry es ihm günstig anbot.
»Du bist wie ein Goldfisch im Glas«, konstatierte seine große Schwester denn auch. »Du schnappst nach jedem Köder, der dir ins Wasser gehalten wird. Statt selbst zu entscheiden und dir einen Plan zu machen, den du dann konsequent verfolgst.«
»Du meinst, so wie du?«