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Sechzig werden? Eine Zumutung für Traumfrau Cora Schiller, die ihren runden Geburtstag am liebsten ignorieren würde. Aber plötzlich wollen alle von ihr wissen, welche Träume sie sich erfüllen möchte, bevor es zu spät ist. Ein Start-up gründen? Den Kilimandscharo besteigen? Dabei wünscht sie sich eigentlich nur, dass alles so bleibt, wie es ist. Als sie eine schockierende Mitteilung erhält, wacht Cora auf und begreift: Leben ist das, was passiert, während man gerade andere Pläne hat.
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Seitenzahl: 475
Das Buch
Die letzten zehn Jahre hat Cora das Älterwerden erfolgreich verdrängt, aber ihren sechzigsten Geburtstag wird sie so schnell nicht vergessen: Die Geburtstagsüberraschung von Ehemann Ivan erweist sich als teurer Flop, Sohn Paul verlobt sich mit seiner schrecklichen Freundin, und Coras beste Freundin Uli lüftet ein Geheimnis, das ihre Freundschaft zu zerstören droht. Zu allem Überfluss erhält Cora bald darauf eine Nachricht, die sie vor eine schwierige Entscheidung stellt. Da endlich beschließt sie, nicht mehr darauf zu warten, dass alles wieder gut wird, sondern selbst zu handeln. Mit Mut und Witz trotzt sie den Herausforderungen, die vor ihr liegen. Am Schluss ist sie um einige Illusionen ärmer, aber um eine wichtige Erkenntnis reicher: Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens – mach etwas draus!
Die Autorin
Amelie Fried, Jahrgang 1958, wurde als TV-Moderatorin bekannt. Alle ihre Romane waren Bestseller. Traumfrau mit Nebenwirkungen, Am Anfang war der Seitensprung, Der Mann von nebenan, Liebes Leid und Lust und Rosannas Tochter wurden erfolgreiche Fernsehfilme. Für ihre Kinderbücher erhielt sie verschiedene Auszeichnungen, darunter den »Deutschen Jugendliteraturpreis«. Bei Heyne erschien zuletzt der Roman Die Spur des Schweigens. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.
AMELIE
FRIED
Traumfrau
mit Ersatzteilen
ROMAN
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Copyright © 2022 by Amelie Fried
Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München,
unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com
(Galushko Sergey, Coffeemill, Ann Muse, Gringoann)
Herstellung: Mariam En Nazer
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-26188-7V001
www.heyne.de
Für Nina,
in Zuneigung und Bewunderung
EINS
Meine runden Geburtstage begannen immer harmlos und endeten mit einer Überraschung. An meinem dreißigsten erfuhr ich, dass meine beste Freundin schwanger war und bei mir einziehen wollte. An meinem vierzigsten bangte ich im Krankenhaus um das Leben meines Sohnes. An meinem fünfzigsten verließ mich mein Mann. Nicht auszudenken, was heute passieren würde.
Am besten würde ich im Bett bleiben und den Tag verschlafen. Mein Smartphone hatte ich ausgeschaltet, das Kabel des Festnetzanschlusses rausgezogen. Mails und Nachrichten würde ich nicht lesen. Ich würde einfach so tun, als wäre nichts, und das Ereignis ignorieren. Und morgen wäre der Spuk vorbei.
Ich zog mir die Decke über den Kopf und versuchte weiterzuschlafen. Das Schrillen der Klingel katapultierte mich wieder aus dem Bett. Ich ging zur Wohnungstür und öffnete.
»Was ist denn los?«, murmelte ich verpennt. »Du hast doch einen Schlüssel.«
»Happy Birthday, Traumfrau!« Ivan zog mich an sich.
Mein Mann. Der mich vor zehn Jahren verlassen hatte. Genau genommen hatte er mich gar nicht verlassen, sondern war nur in sein Atelier gezogen, um an einem neuen Bilderzyklus zu arbeiten. Und dort war er dann geblieben. Ivan war Künstler, und in seinem Leben gab es nichts Wichtigeres als die Kunst.
Wir waren immer noch ein Paar, lebten aber nicht mehr zusammen. »Kompliziert« wäre eine unzureichende Bezeichnung für unseren Beziehungsstatus. Ich hatte es aufgegeben, mir Gedanken darüber zu machen. Oder besser: Ich wollte es aufgeben, aber es gelang mir nicht so recht.
Ich vergrub meine Nase in seiner Halsbeuge. Er roch gut, kein bisschen nach altem Mann. Wenn ich etwas schrecklich fand am Alter, dann war es der Geruch. Ein bisschen staubig, modrig und nach zu lang getragener Kleidung. Manchmal schnüffelte ich an mir selbst, aber noch hatte ich ihn nicht bemerkt.
»Danke«, murmelte ich. Dann fiel mir ein, dass ich noch nicht Zähne geputzt hatte. Mit kaum geöffneten Lippen fragte ich: »Willf du Kaffee?«
Ivan grinste. »Hast du vergessen, dein Gebiss einzusetzen?«
»Fehr wipfig.«
Ich schaltete die Kaffeemaschine an und zog mir schnell etwas über. Der Anblick meines abgerockten Morgenmantels war selbst nach meinen Maßstäben niemandem zumutbar.
Als ich über den Flur ging, öffnete sich der Briefschlitz in der Wohnungstür, und eine Flut von Umschlägen und Karten ergoss sich aufs Parkett.
»Herzlichen Glückwunsch!«, hörte ich die Stimme des Briefträgers von draußen rufen.
»Danke«, gab ich zurück.
Ich sammelte die Postsendungen ein und legte sie in der Küche auf den Tisch. Ivan machte große Augen. »Du bist aber beliebt!« Er fuhr mit der Hand durch den Stapel und zog die eine oder andere Karte heraus, um sie mir vorzulesen.
»Willkommen im Club! Sechzig ist das neue vierzig! Besser sechzig werden als nicht sechzig werden! Man ist so alt, wie man sich fühlt! Sexy mit sechzig! Keep on rockin’ …«
»Hör auf«, bat ich. »Das ist ja grauenhaft.«
Er nahm einen Umschlag in die Hand und drehte ihn um. »Sogar deine Bank gratuliert dir.«
Ich lachte. »Kein Wunder, bei dem, was die an mir verdienen. Eigentlich müssten sie einen reitenden Boten mit einem auf Büttenpapier geschriebenen Brief schicken.«
Ich zahlte immer noch den Kredit für die Wohnung ab, samt den Zinsen von früher, die damals fünfmal so hoch waren wie die heutigen.
Er nahm einen anderen Umschlag. »Und deine Frauenärztin.«
»Danke«, sagte ich und schob den Haufen Post zur Seite. »Lese ich dann später.«
Ich schenkte uns Kaffee ein, fügte entrahmte Milch dazu und reichte Ivan seine Tasse. Er entblödete sich nicht, sie zu erheben, als wäre es ein edler Tropfen, und mit mir anzustoßen. So weit war es also gekommen: Rentnerplörre statt Champagner.
»Auf uns, die Liebe und viel gutes Essen«, deklamierte er unseren Familientrinkspruch. Er nahm einen Schluck und setzte die Tasse ab. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
Das hob meine Laune. Ich mochte Überraschungen eigentlich nicht besonders, aber Ivans Einfälle waren meistens originell. Einmal hatte er ein Kino gemietet und mir eine Nacht lang künstlerisch hochwertige Pornos gezeigt. Ein anderes Mal hatte er Karten für ein Technofestival besorgt, auf dem wir zwei Nächte unter lauter Teenies campiert hatten. Ein Dinner im Dunkeln, bei dem Geruchs- und Geschmackssinn geschult werden sollten, war noch eine der harmloseren Ideen gewesen. Ich war gespannt.
»Pack bitte für zwei Tage«, forderte er mich auf. »Bequeme Sachen, Turnschuhe und Badeanzug. Und was Elegantes.«
Ich hätte nichts dagegen gehabt, den Tag allein und ungewaschen im Bett zu verbringen, in Gesellschaft eines Tabletts voller Junkfood und einer Flasche Sekt. Ich hätte mir meine Lieblingsfilme auf Netflix angesehen, hätte geheult und gelacht, mit meinen Freundinnen telefoniert und wäre irgendwann betrunken und zufrieden eingeschlafen.
Aber nun ging ich folgsam ins Schlafzimmer und packte nach Ivans Anweisungen. Das gehörte zu den ungeschriebenen Regeln für eine glückliche Ehe: dem anderen nicht die eigene Geburtstagsüberraschung zu verderben.
»Wohin fahren wir?«
Ivan warf mir einen amüsierten Blick zu. »Wie oft willst du noch fragen?«
»Bis ich eine Antwort kriege.«
»Dann wär’s keine Überraschung mehr.«
Das stimmte, ich hätte es aber nicht schlimm gefunden. Nicht alle Überraschungen waren schließlich erfreulich. Mit Schrecken erinnerte ich mich an meinen vierzigsten Geburtstag, als meine Freunde mich überrascht hatten. Ich kam fix und fertig aus der Klinik zurück, wo mein Sohn Paul mit einem anaphylaktischen Schock eingeliefert worden und gerade dem Tod von der Schippe gesprungen war. Sosehr ich meine Freunde liebte, aber der Moment, in dem ich die Tür öffnete und sie mit Wunderkerzen dastanden und »Happy Birthday« sangen, gehörte zu den schlimmsten meines Lebens. Ich war in Tränen ausgebrochen und weggelaufen.
»Aber es ist nichts Komisches?«, fragte ich Ivan. »Irgendwas, wo ich mich blamiere oder heulen muss oder so was?«
»Na klar«, sagte er. »Sonst wär’s ja nicht lustig.«
Ich warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Bei ihm konnte man nie wissen.
In meiner Handtasche, die vor mir im Fußraum lag, brummte es unaufhörlich. Ich hatte mein Telefon leise gestellt, aber es vibrierte bei jeder Nachricht. Ich nahm es raus, um es auszuschalten.
»Noch mehr Glückwünsche?«, fragte Ivan. »Wie ist es nur möglich, dass dich so viele Leute für einen netten Menschen halten?«
Ich lächelte ihn kokett an. »Vielleicht, weil ich einer bin?«
»Die sind ja auch nicht mit dir verheiratet.«
Ich knuffte ihn spielerisch. »Witzig.«
Wir hatten die Stadt verlassen und fuhren auf der Landstraße. Draußen zogen grasende Kühe auf sattgrünen Wiesen und Bauernhöfe mit Geranienschmuck vorüber. Die Junisonne knallte, und obwohl erst später Vormittag war, zeigte das Thermometer bereits achtundzwanzig Grad. Ich ließ das Fenster auf meiner Seite ein Stück herunter und hielt mein Gesicht in den Fahrtwind. Die Landschaft wurde immer hügeliger, in der Ferne zeichneten sich die Alpen ab.
»Du weißt schon, dass ich Bergsteigen hasse, oder?«, sagte ich freundlich.
»Nein!«, sagte Ivan. »Das wusste ich nicht. Ich habe eine zweitägige Bergtour mit Hüttenübernachtung für uns gebucht!«
»Haha.«
Ich lehnte sämtliche Formen körperlicher Ertüchtigung ab. So ungefähr alle Frauen meines Alters machten Yoga, manche auch Zumba oder Bauchtanz. Diejenigen, die noch nicht geschieden waren, zwangen ihre Männer zu einem Tangokurs. Für Tango hätte ich mich erwärmen können, aber der Versuch, Ivan davon zu überzeugen, hätte fast mit unserer Scheidung geendet.
Wenn wir als Nichtargentinier Tango tanzten, sei das ein illegitimer Akt kultureller Aneignung, hatte er mir erklärt. Da könnte ich mir genauso das Gesicht schwarz anmalen und afrikanische Stammestänze aufführen. Oder mir wie die indischen Frauen einen roten Punkt auf die Stirn malen, um anzuzeigen, dass ich verheiratet sei.
Seit Ivan auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter abhing, war er bestens informiert über die aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Dass er diese auf niederträchtige Weise zur Durchsetzung seiner persönlichen Interessen benutzte, fand ich unfair.
Mein Bewegungsprogramm beschränkte sich darauf, dass ich im Alltag fast ausschließlich zu Fuß ging. Das hielt mich immerhin so gut in Form, dass ich noch in meine Klamotten von vor zehn Jahren passte. Und genau die trug ich auch noch.
Ivan legte mir die Hand aufs Bein und sah zu mir rüber. »Wie geht’s dir eigentlich? Ist schon ein besonderer Tag, oder?«
Ich seufzte. »Was willst du jetzt hören?«
»Die Wahrheit.«
Ich stieß hörbar die Luft aus. »Phhh.«
Die Wahrheit war, dass ich das Vergehen der Zeit als persönliche Beleidigung auffasste. Dass ich mich fragte, was ich eigentlich aus meinem Leben gemacht hatte und wie es möglich war, dass dieses Leben so schnell vorbeigerast war. Sechzig zu werden war immer unvorstellbar für mich gewesen. Eine Zumutung, der ich mich nie hatte aussetzen wollen. Und nun war es doch passiert.
»Ich bin dankbar«, sagte ich.
»Das ist schön«. Er drückte meine Hand. »Wofür bist du dankbar?«
»Dafür, dass mein Mann noch einen hochkriegt«, sagte ich grinsend.
Er schüttelte den Kopf. »Romantik kommt in deinem Gefühlsrepertoire nicht vor, oder?«
»Das, was die meisten Menschen als Romantik bezeichnen, ist Kitsch«, sagte ich. »Romantik ist was anderes.«
»Was zum Beispiel?«
»Wenn du mir zeigst, dass wir zusammengehören. Dass es dir wichtig ist, wie es mir geht. Dass ich mich auf dich verlassen kann. Das bedeutet mir mehr als jeder Brilli.«
Er blickte schuldbewusst. Nicht dass er jemals auf die Idee gekommen wäre, mir einen Brilli zu schenken.
Fast dreißig Jahre hielt unsere Ehe nun schon. Das Praktische an so langen Beziehungen ist, dass man den anderen in- und auswendig kennt. Immer wieder staunte ich über Geschichten, in denen Ehefrauen nach Jahrzehnten feststellen, dass ihr Mann ein Doppelleben führt, eine Geliebte hat oder gar eine Zweitfamilie in einer anderen Stadt. Die waren für mich ähnlich glaubwürdig wie die Geschichten über Frauen, die neun Monate lang nicht merken, dass sie schwanger sind.
Ein weiterer Vorteil einer langen Ehe ist, dass man nicht mehr ununterbrochen miteinander sprechen muss. Man weiß sowieso meistens vorher schon, was der andere gleich sagen wird. Man kennt alle Beschwerden, alle Geschichten, hat alle Witze schon tausendmal gehört. In einer guten Ehe lacht man trotzdem.
Nach einer knappen Stunde bog Ivan von der Hauptstraße ab, fuhr durch ein größeres Dorf, folgte einer schmaler werdenden Straße und bremste vor einem Gebäude mit der Aufschrift: Relax-Hotel Johannser.
Erstaunt blickte ich ihn an. So ein gediegenes Ambiente passte gar nicht zu Ivan. Und zu mir auch nicht.
Das Hotel, ein ehemaliger Bauernhof mit einem modernen Anbau, lag eingebettet zwischen zwei sanften Hügeln. Die nächsten Häuser waren Kilometer entfernt, vermutlich wurde man morgens nur vom Zwitschern der Vögel und entfernten Kirchenglocken geweckt. Neben dem Gebäude erstreckte sich eine ausgedehnte Restaurantterrasse.
»Keine Experimente diesmal«, sagte Ivan. »Nur ein spießiges Wochenende zu zweit. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht?«
Vielleicht musste das einfach so sein, wenn man älter wurde. Da guckte man keine künstlerischen Pornofilme mehr und wälzte sich nicht mehr zu Technomusik im Matsch. Da buchte man sich in ein oberbayerisches Luxushotel ein und genoss erlesenes Essen und teuren Wein.
»Der Küchenchef hat vor Kurzem seinen ersten Stern bekommen«, sagte Ivan.
Immerhin hatte er mir keinen Gutschein für ein Brustlifting geschenkt, das kam bei Paaren unseres Alters vor. Ich sollte also dankbar sein.
Unser Zimmer lag im schönen alten Teil des Hotels, neben dem sogenannten Hochzeitszimmer. Ein riesiges, mit Schnitzereien verziertes Holzbett nahm den größten Teil des Raumes ein, an der Wand darüber hing ein Kruzifix. Durch die weit geöffneten Fenster sah man auf eine sonnenbeschienene Kuhweide, und ich glaubte, den Duft von frisch gemähtem Gras zu riechen. Direkt daneben lag ein üppiger Bauerngarten, dahinter erstreckten sich endlose Bergwiesen.
Wir packten aus und gingen hinunter auf die Terrasse, wo nahezu jeder Tisch besetzt war. Ganz offensichtlich waren nicht nur Hotelgäste hier, sondern auch Feinschmecker von außerhalb, angelockt vom Stern des Küchenchefs.
Ivan hatte sogar daran gedacht, einen Tisch zu reservieren, und schob mir nun den Stuhl zurecht. Ich kam mir vor, wie in einem absurden Theaterstück. Älteres Ehepaar begeht gemeinsam den sechzigsten Geburtstag der Ehefrau. Solche Stücke gingen meist nicht gut aus.
»Wirklich schön hier«, sagte ich.
Er schien erleichtert. »Gefällt’s dir?«
Ich nickte und griff nach seiner Hand. »Danke«, sagte ich. »Für … alles.«
Ich studierte die Speisekarte und wählte das »sommerliche Mittagsmenü«, bestehend aus Brennnesselsalat mit Bachforelle, Zitronenhühnchen und Holunderblüteneis. Ivan schloss sich mir an.
Eine hübsche dunkelhäutige Kellnerin im Dirndl nahm die Bestellung auf.
Während wir warteten, ließ ich meinen Blick über die Terrasse wandern. Viel alpenländischer Designerschick, fette Klunker an gepflegten Damenhänden, sonnengebräunte Gesichter, wohlfrisierte Köpfe. Adrett angezogene Kinder, die quengelten, wenn sie nicht bekamen, was sie wollten, und von ihren Eltern zurechtgewiesen wurden, wenn sie zu laut waren.
Am Nebentisch feierte eine Familie den Geburtstag ihrer Patriarchin, einer mageren, aufrechten Frau mit sorgsam onduliertem Grauhaar und einem Zweiteiler im Chanel-Stil, die am Kopf des Tisches thronte. Vor ihr stand ein üppiges Blumengesteck, eine Girlande mit der Aufschrift Alles Gute zum 80. Geburtstag schlängelte sich über den Tisch.
Die Kellnerin kam und servierte unsere Vorspeise. Das Essen sah köstlich aus, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Aufgrund unseres überstürzten Aufbruchs hatte ich nicht mal mehr Zeit zum Frühstücken gehabt.
Die Kellnerin, auf deren Namensschild Sherry stand, wünschte uns einen guten Appetit und wollte sich entfernen, da kam eine knarzige Stimme vom Nebentisch.
»Das ist ja hier wie bei den Hottentotten.«
Sherrys Rücken straffte sich, sie zögerte kurz und ging dann weiter. Ivan und ich tauschten einen Blick. Ich sah hinüber, direkt in das missmutig verzogene Gesicht der Patriarchin. Hoffend, der Spruch sei nur ein verunglückter Kommentar zum Verhalten eines ihrer Enkel gewesen, wandte ich mich wieder meiner Bachforelle zu.
»Was tun diese Neger hier bei uns?«, hörte ich als Nächstes.
Ich erstarrte, die Hand auf halber Höhe zum Mund. Dann knallte ich meine Gabel hörbar auf den Teller.
»Oma«, hörte ich eine Stimme am Nebentisch zischeln. »Hör auf.«
»Ist doch wahr«, legte die alte Frau nach. »Die haben doch hier nichts zu suchen.«
Ivan legte mir besänftigend eine Hand auf den Arm.
»Bitte nicht«, murmelte er.
Der Nachteil einer langjährigen Ehe ist, dass man den Partner sehr gut kennt. Ivan wusste genau, dass ich kurz davor war aufzustehen, zum Nebentisch zu gehen und zu sagen: »Halten Sie gefälligst Ihren Mund, Sie blöde, rassistische Kuh.«
Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich eingemischt und eine öffentliche Szene verursacht hätte. Genau genommen war das meine Spezialität, und Ivan hasste das Aufsehen, das ich damit erregte. So mutig er als Künstler war, so feige war er leider im Alltag.
Ich biss die Zähne zusammen. Wenn ich mich jetzt nicht beherrschte, wäre unser Wochenende im Eimer.
»Wenn Sie noch mal was sagt, stehe ich auf«, kündigte ich an.
»Hör einfach nicht hin«, empfahl er. »Mit solchen Leuten kann man nicht diskutieren.«
Ich hatte keineswegs die Absicht, zu diskutieren. Mir schwebte eher ein verbaler K.-o.-Schlag vor. Aber ihre Verwandten schienen es geschafft zu haben, die alte Giftspritze zu bremsen, jedenfalls hörte ich keine weiteren Sprüche mehr.
Ich schluckte meinen Ärger hinunter und tat so, als wäre nun alles wieder in Ordnung. Aber meine gute Stimmung war dahin.
Ich fragte mich, wie Ivan darauf gekommen war, dass ich ein Wochenende an einem solchen Ort verbringen wollte. Er fragte sich wahrscheinlich, ob er es mir eigentlich nie recht machen konnte. Und wir beide fragten uns, wie es möglich war, dass wir uns so gut kannten und manchmal so wenig verstanden.
Nachdem er die Rechnung abgezeichnet hatte, stand ich vom Tisch auf und streckte mich. Ich wollte irgendwas tun, um die Situation aufzulockern.
»Komm, wir legen uns hin«, schlug ich vor.
Ivan zögerte.
Ich zwinkerte ihm zu. »Mittagsschlaf!«
In den ersten Jahren unserer Beziehung war Mittagsschlaf das Synonym für einen nachmittäglichen Quickie gewesen, da wir abends meistens zu müde gewesen waren.
Paul hatten wir eingeschärft, dass er den Mittagsschlaf seiner Eltern unter keinen Umständen stören durfte. »Nur wenn das Haus brennt«, hatte Ivan ihm mit erhobenem Zeigefinger gedroht.
Es hatte nicht lange gedauert, bis der Dreijährige ins Zimmer gestürmt kam und rief: »Haus brennt!«
Ivan war nackt aus dem Bett gesprungen und suchend durch die Wohnung gerannt. Paul hatte sich kaputtgelacht. Danach hatten wir die Zimmertür abgeschlossen. Wenn Paul nicht selbst einen Mittagsschlaf machte, stand er davor und hämmerte dagegen. Vielleicht war das schon der Anfang vom Ende unseres ehelichen Sexlebens gewesen.
Mit einem Seufzer ließ ich mich auf das monströse Bauernbett fallen, in dem früher vermutlich eine ganze Familie geschlafen hatte.
»Komme gleich«, verkündete Ivan und verschwand im Bad.
Eine wohlige Schwere bemächtigte sich meiner, und ich schloss die Augen.
Als ich aufwachte, lag Ivan nackt neben mir, Arme und Beine von sich gestreckt, den Mund halb geöffnet, und schnarchte laut. Das war einer der Vorteile getrennter Wohnungen: dass man sein eigenes Schlafzimmer hat.
Eine in meinem Freundeskreis durchgeführte Befragung hatte ergeben, dass hundert Prozent der Männer über fünfzig schnarchten. Je älter sie wurden, desto lauter schnarchten sie. Den Prozentsatz schnarchender Frauen hatte ich nicht ermittelt. Der war unerheblich, da hundert Prozent der Männer weibliches Schnarchen nicht hörten, während sich hundert Prozent der Frauen von männlichem Schnarchen gestört fühlten. Kein Wunder, dass sämtliche Männer behaupteten, sie würden nicht schnarchen, und sich vehement gegen getrennte Schlafzimmer aussprachen, während alle Frauen angaben, sich ein eigenes Schlafzimmer zu wünschen.
Ich drehte mich auf die Seite, stützte den Kopf in die Hand und betrachtete meinen Mann. Aus der Nähe sah er doch ganz schön alt aus. Sein Gesicht war faltig, die Haut am Kinn schlaff. In seinem rechten Mundwinkel hatte sich etwas Speichel gesammelt. Anders als früher trug er keinen Dreitagebart mehr, was ich schade fand. Ich hatte es immer gemocht, wenn er nicht so geschniegelt aussah. Aber er fand, mit Stoppeln wirke er »verwahrlost«.
Das Problem des Älterwerdens ist, dass man dem Eindruck der Verwahrlosung schwer etwas entgegensetzen kann. Der Körper entwickelt ein Eigenleben, setzt Fett an, wo nie welches war, wird breiter und unförmiger. Haare wachsen an Stellen, wo sie nicht hingehören, und fallen da aus, wo sie wachsen sollten.
Meine Augenbrauen kringelten sich neuerdings, als bestünden sie aus Schamhaar, und wenn ich sie nicht alle paar Tage zupfte, wucherten sie über die Augen.
Mein Blick wanderte über Ivans Brust und Bauch. Er achtete sehr auf seine Figur, trotzdem hatte sich um seine Taille ein kleiner Rettungsring gebildet. Sein Penis lag so schlaff da, als hielte er ebenfalls ein Nickerchen. Ich begann, ihn mit den Fingern zart zu umkreisen. Nach einer Weile zuckte er leicht.
Ivan bewegte sich. »Mhmm?«
Ich beugte mich vor und küsste seinen Bauch. Er griff mit der Hand in mein Haar. Gleich würde er meinen Kopf weiter nach unten schieben. Ich kannte doch die Vorlieben meines Mannes.
Ivan wuschelte mir durchs Haar, setzte sich auf und küsste mich auf die Stirn. »Wollen wir eine Radtour machen?«
»Eine Radtour?«, fragte ich entgeistert.
Wenig später fand ich mich auf dem Sattel eines E-Bikes wieder. Zu meiner Überraschung gefiel es mir gar nicht schlecht. Es war halb so anstrengend wie normales Fahrradfahren, dafür war ich doppelt so schnell.
»Ist das nicht super?«, fragte Ivan ein ums andere Mal, und jedes Mal stimmte ich ihm bereitwillig zu. Dass er die Fahrradtour einem Blowjob vorgezogen hatte, machte mich allerdings nachdenklich. Lange Zeit hätte es auf der ganzen Welt keine Verlockung gegeben, die für Ivan stärker gewesen wäre als Sex, ausgenommen vielleicht ungestörte Zeit in seinem Atelier. Kunst und Sex hielten sich in seiner Wertschätzung die Waage. Dass ich nun erotisch gegen ein E-Bike konkurrierte und dabei den Kürzeren zog, musste ich erst mal verdauen.
»Nicht so schnell!«, rief Ivan mir nach, als ich in halsbrecherischem Tempo einen Berg hinabsauste. Ich stand in den Pedalen, den Sattel fest zwischen die Knie gepresst, wie es mir der Typ vom Fahrradverleih gezeigt hatte. Ich geriet regelrecht in einen Geschwindigkeitsrausch und fühlte mich, als würde ich ein wildes Pferd zureiten. Nachdem Ivan mich eingeholt hatte und wir beide wieder standen, fauchte er mich an.
»Spinnst du eigentlich? Willst du dich umbringen?«
»Ist doch nichts passiert.« Atemlos lächelte ich ihn an. Es tat gut, meinen Körper in Bewegung zu fühlen. Wenn schon der Sex ausgefallen war.
Verschwitzt und ausgepowert, kamen wir zum Hotel zurück.
»Und jetzt ab ins Schwimmbad!«, schlug Ivan vor.
Ich war schon ewig nicht mehr im Schwimmbad oder an einem öffentlichen Strand gewesen. Die schlaffe Haut an meinen Oberarmen, die hängenden Brüste, die Speckfalten um die Taille und meine delligen Schenkel – diesen Anblick wollte ich anderen nicht zumuten.
»Schwimm du eine Runde«, schlug ich vor. »Ich gehe so lange unter die Dusche.«
»Kommt nicht infrage«, sagte Ivan energisch. »Und komm mir nicht mit diesem Quatsch von der Cellulite. Das ist unter deiner Würde!«
Er war schon dabei, sich auszuziehen. Praktischerweise trug er die Badehose unter der Sportkleidung.
Ich seufzte. »Also gut.«
Gemächlich ging ich in unser Zimmer, schlüpfte in meinen Badeanzug, ging wieder hinunter und spazierte im Bademantel bis zum Beckenrand. Ivan stieg gerade aus dem Wasser und winkte mir zu.
»Es ist herrlich!«
Ich ließ den Mantel fallen und war so schnell im Wasser verschwunden, dass ein unbeteiligter Beobachter Mühe gehabt hätte, meine Anwesenheit wahrzunehmen – geschweige denn die Beschaffenheit meiner Oberschenkel.
Genüsslich durchpflügte ich das Becken, in dem sich außer mir nur zwei giggelnde Teenies aufhielten. Im nächsten Moment stieg eine magere alte Dame ins Wasser, deren Badekappe mit Blüten aus Gummi verziert war. Sie kühlte sich systematisch ab, erst die Beine, dann die Arme, dann den Oberkörper. Danach ließ sie sich ins Wasser sinken und begann mit majestätisch erhobenem Kopf zu schwimmen. Als sie näherkam, erkannte ich sie. Die Patriarchin.
Angewidert wandte ich mich ab und versuchte, ihr nicht in die Quere zu kommen. Ohne Notiz voneinander zu nehmen, schwammen wir nebeneinander unsere Bahnen. Ich drehte mich auf den Rücken, schloss die Augen und paddelte leicht mit den Füßen. Das kühle Wasser umschmeichelte meinen Körper, ich spürte die Strahlen der Abendsonne auf dem Gesicht, meine Gliedmaßen entspannten sich. Bewegungslos lag ich da und ließ mich treiben.
Gedämpft durch das Wasser in meinen Ohren, hörte ich lautes Rufen, gleich danach aufgeregte Stimmen. Ich öffnete die Augen, hob den Kopf und versuchte, mich zu orientieren. Die zwei Teenies standen am gegenüberliegenden Beckenrand und deuteten ins Wasser. Ich sah mich um, begriff aber zuerst nicht, was sie meinten. Dann kapierte ich. Die Badekappe mit den Gummiblüten war verschwunden.
Ich drückte mein Gesicht mit geöffneten Augen unter Wasser. Nicht weit von mir entfernt sah ich eine Gestalt am Boden liegen. Mit aller Kraft schwamm ich auf die Frau zu und ließ mich nach unten sinken. Ich packte sie unter den Achseln, stieß mich mit beiden Beinen kräftig am Boden ab und zog sie nach oben. Dann schwamm ich zum Beckenrand, wo bereits Ivan und ein anderer Hotelgast warteten und die bewusstlose Frau aus dem Wasser zogen.
»Stabile Seitenlage«, befahl der Mann.
Er und Ivan beugten sich über die schmale Gestalt im dunkelblauen Badeanzug. Ivan nahm ihr vorsichtig die Kappe mit den Gummiblüten ab. Inzwischen waren noch mehr Leute zusammengelaufen, und alle Blicke konzentrierten sich auf die reglos daliegende Frau. Ich zog mich am Beckenrand hoch, stieg hinaus und hüllte mich in meinen Bademantel.
»Ich bin Arzt«, rief eine Stimme.
Ein korpulenter Typ in Shorts und Polohemd kniete sich neben die Frau und fühlte ihren Puls. Ihr Körper bäumte sich auf, sie erbrach Wasser. Nun legte der Mann sie auf den Rücken und begann mit Herzdruckmassage. Müsste er nicht zuerst Mund-zu-Mund-Beatmung machen? Ach herrje, keine Ahnung. Wie die meisten Menschen hatte ich den einzigen Erste-Hilfe-Kurs meines Lebens vor der Führerscheinprüfung gemacht. Und da ging es nicht um Ertrinkende.
Schwer atmend, ließ ich mich in einen Liegestuhl fallen.
Ivan setzte sich zu mir und drückte meine Hand. »Gut gemacht.«
»Eigentlich hätte ich die Alte absaufen lassen sollen«, sagte ich.
Einige Schaulustige drehten sich zu mir um, empörte Blicke richteten sich auf mich.
»Wie können Sie nur?«, sagte eine junge Frau mit einem Kind an der Hand.
Ivan grinste und reichte mir ein Handtuch. Ich begann, meine tropfenden Haare zu trocknen, und verkniff mir eine Antwort.
Nach kurzer Zeit hörte ich die Sirene des Rettungswagens. Zwei Sanitäter mit einer Trage sprinteten über die Wiese. Der Arzt erhob sich und machte ihnen Platz. Sie versorgten die Frau, legten sie auf die Trage und schnallten sie fest. Wenig später verließ der Wagen mit Blaulicht das Hotelgelände.
Ich blickte zu Ivan und verzog das Gesicht.
»Hoffentlich wacht sie zwischen lauter Krankenschwestern mit Migrationshintergrund auf.«
ZWEI
Beim Abendessen war ich in nachdenklicher Stimmung. Immer wieder spürte ich das Gewicht der alten Frau, die schlaff in meinem Arm hing. Sie hatte Glück, dass sie so schlank war. Wer weiß, ob ich sie sonst so schnell nach oben hätte bringen können.
Der Arzt ging von einem Herzinfarkt aus. Als die Sanitäter mit ihr losgefahren waren, hatte sie seiner Auskunft nach noch gelebt. Aber man wusste ja nie, ob weitere Infarkte nachkämen.
»Nutzt also alles nichts«, sagte ich und legte meine Gabel neben den Teller.
»Wie bitte?« Ivan blickte mich fragend an.
Ich schüttelte den Kopf. »Entschuldige, ich habe laut gedacht. Ich meine, da kannst du in einem Moment fit und gesund sein, und im nächsten erwischt es dich, wenn du Pech hast.«
»Wie die Frau heute?«
Ich nickte. »Lohnt es sich da überhaupt, auf die Gesundheit zu achten? Ulis Oma zum Beispiel, die hat geraucht, seit sie dreißig war, und wurde hundertzwei!«
»Nicht auszudenken, wie alt sie geworden wäre, wenn sie nicht geraucht hätte«, sagte Ivan.
Es war immer noch warm, bestimmt zwanzig Grad. Über uns wölbte sich ein Sternenhimmel, wie ich ihn in der Stadt noch nie gesehen hatte. In der Ferne hörte man hie und da leise eine Kuhglocke, sonst war nur das Reden und Lachen der Gäste zu vernehmen.
Ein paar Tische weiter feierte eine kleine Hochzeitsgesellschaft. Das Brautpaar sah so jung aus, dass ich mich fragte, ob die beiden schon volljährig waren. Auch so ein Effekt des Älterwerdens: Man kann das Alter junger Leute nicht mehr schätzen. Wenn ich Fernsehkrimis sah, hatte ich den Eindruck, auf den Polizeirevieren arbeiteten nur noch Kinder.
Heute Abend wurden wir von einem Kellner bedient, nicht von Sherry. Ich fragte mich, ob die junge Frau sich oft solche Sprüche anhören musste wie die von der alten Frau und wie sie sich dabei fühlen mochte. Als ich an die Szene vom Mittag dachte, wurde ich gleich wieder wütend.
Ihr Kollege kam an den Tisch und erkundigte sich, ob wir Nachtisch wollten. Ich schwankte mal wieder zwischen Selbstbeherrschung und einem Ist-doch-eh-schon-alles-egal-Gefühl.
»Die bayerische Creme mit Waldbeeren, bitte.«
»Sehr wohl, sehr zu empfehlen«, sagte der Kellner.
»Und noch eine Flasche von dem Saint-Émilion«, bat Ivan.
»Bist du dir da sicher?«, sagte ich. Die Flasche kostete so viel, wie wir sonst für fünf Flaschen ausgaben.
»Sehr gern, sehr wohl.« Der Kellner, der passend zu seinen Kolleginnen im Dirndl Lederhose und Trachtenhemd trug, verbeugte sich dienstfertig und entfernte sich.
Wir sahen uns an und mussten lachen. Ich kam mir vor, als hätte ich mich in einen Fünfzigerjahre-Heimatfilm verirrt. Gleich würde jemand anfangen, bayerisches Liedgut auf der Zither zu spielen.
Ivan beugte sich zu mir. »Was hast du dir denn für dein neues Lebensjahrzehnt vorgenommen?«
»Nichts«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Muss man das? Sich was vornehmen?«
Ich hatte die Neigung, das Bestehende zu bewahren, und am liebsten war es mir, wenn sich nichts veränderte. Nicht umsonst war ich bald dreißig Jahre mit demselben Mann verheiratet, und meine Freunde waren noch dieselben wie in meiner Jugend. »Unrettbar strukturkonservativ« hatte meine Freundin Uli mich mal genannt, und vermutlich traf es das recht gut.
»Du wünschst dir also, dass alles einfach so weitergeht wie bisher?«
»Wieso nicht?«, sagte ich schulterzuckend. »Ist doch alles prima.«
Das stimmte natürlich nicht ganz, aber unter dem Einfluss von Saint-Émilion konnte ich heute Abend über die kleinen Ärgernisse meiner Existenz großzügig hinwegsehen.
»Hast du keine unerfüllten Träume?«, hakte Ivan nach. »Irgendwas, was du unbedingt noch machen möchtest? Orte, an die du noch reisen möchtest?«
»Ich muss mal auf meiner Bucket List nachsehen«, sagte ich und zog mein Handy raus.
Ivan blickte mich ungläubig an. »Du hast eine Bucket List?«
»Na klar«, sagte ich todernst. »Du etwa nicht?«
Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keine To-do-Liste geschrieben, aus welchem Grund hätte ich also diese berühmte Liste der Zehn-Dinge-die-ich-tun-will-bevor-ich-sterbe führen sollen?
»Also, als Nächstes steht da ein Fallschirmsprung«, sagte ich und packte das Handy wieder weg. Davon hatte ich als junge Frau tatsächlich mal geträumt, seit Paul auf der Welt war aber nie mehr daran gedacht.
»Davon hast du mir nie erzählt«, sagte Ivan überrascht.
»Was hast du denn für Träume?«, gab ich die Frage zurück.
Er seufzte. »Die nächsten Jahre sind vielleicht die letzten, in denen noch vieles möglich ist. Danach wird es immer beschwerlicher, vielleicht wird man krank, wer weiß es schon. Wir sollten einfach machen, worauf wir Lust haben, bevor es zu spät ist.«
Ich nahm einen kräftigen Schluck Rotwein. »Ich mache eigentlich immer, worauf ich Lust habe.«
Ivan streckte sich und blickte träumerisch in die Ferne. »Ich wünsche mir noch mal eine richtige … Herausforderung.«
»So Abenteuerkram?«, fragte ich. »Den Kilimandscharo besteigen oder die Welt umsegeln oder was gelangweilte Sechzigjährige sonst so machen?«
Er verzog das Gesicht. »Nein, ich meine eine künstlerische Herausforderung. Ich will noch mal raus aus dem Trott und was Neues machen. So wie vor zehn Jahren.«
Damals hatte er mit einer aufsehenerregenden Werkserie endlich den ersehnten Erfolg gehabt und zum ersten Mal richtig Geld verdient. Seine Bilder waren in mehreren europäischen Städten ausgestellt worden, er hatte Einladungen zu großen Kunstmessen erhalten, und es hatte so ausgesehen, als stünde sein internationaler Durchbruch kurz bevor. Aber es war ein One-Hit-Wonder geblieben. Ivan hatte es nicht geschafft, an diesen Erfolg anzuknüpfen. Weil er stur war. Weil er Ivan war.
Die Nachfrage nach seinen Bildern war riesig gewesen, und er hätte nur die Serie fortsetzen müssen. Aber er wollte partout nicht »den Markt bedienen«, wie er es nannte. Er begann, völlig andere Sachen zu machen, und das Interesse an seiner Kunst ebbte ebenso schnell ab, wie es aufgeflammt war.
Das Thema war eine der Tretminen auf unserem ehelichen Gelände. Ich war stinksauer, dass er damals nicht wenigstens für eine Weile die Erfolgswelle geritten hatte. Wir hätten das Geld so gut brauchen können. Immerhin war ich in den ersten zwanzig Jahren unserer Ehe weitgehend allein fürs Familieneinkommen zuständig gewesen. Endlich gab es die Chance, das wieder auszugleichen, und er hatte sie nicht genutzt. Weil er stur war. Weil er Ivan war.
Als wir an der Rezeption vorbei in unser Zimmer gehen wollten, kam die Hoteldirektorin aus ihrem Büro geeilt. Sie war eine energische Frau in den Vierzigern mit einer blonden Hochfrisur und gesunder Gesichtsfarbe, die jedem Gast so herzlich begegnete, als würde sie ihn schon ewig kennen.
»Frau Schiller, Herr Remky, einen Moment bitte!«
Sie umrundete den Empfangstresen und kam mit strahlendem Gesicht auf uns zu. Mit beiden Händen nahm sie meine Hand und drückte sie.
»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Ihrem beherzten Eingreifen verdankt Frau Bachmaier ihr Leben.«
»Dann geht es ihr also gut?«
Die Direktorin nickte. »Alles in Ordnung. Sie liegt noch auf Intensiv, ist aber stabil. Ein Glück, dass Sie in der Nähe waren.«
»War mir ein Vergnügen«, sagte ich. »Allerdings war ich auch in der Nähe, als Frau Bachmaier sich rassistisch über eine ihrer Kellnerinnen geäußert hat. Das fand ich sehr unerfreulich.«
Die Direktorin nickte wissend. »Wir kennen die Einstellung von Frau Bachmaier und teilen sie nicht. Ich werde dafür sorgen, dass es nicht mehr zu einem solchen Vorfall kommt.«
»Wie wollen Sie das denn machen?«, fragte ich neugierig. »Frau Bachmaier scheint ja ein Stammgast von Ihnen zu sein.«
»Wir werden Sherry nicht mehr einsetzen, wenn sie da ist.«
Mir blieb kurz der Mund offen stehen.
»Entschuldigen Sie, aber wäre es nicht eher angebracht, Frau Bachmaier zu bitten, ihre Mahlzeiten anderswo einzunehmen?«
Die Direktorin wand sich unbehaglich in ihrem Dirndl.
»Die Mitglieder der Familie Bachmaier sind seit Jahrzehnten Gäste unseres Hauses und in der Gegend sehr bekannt. Das … können wir uns leider nicht leisten.«
Ich spürte, wie Ivan mich warnend berührte.
»Nun ja«, sagte ich ruhig. »Sie könnten schon, Sie wollen nur nicht.«
»Leider ist das nicht so einfach«, wich sie aus.
»Haltung zu zeigen hat eben seinen Preis«, stellte ich kühl fest und blickte direkt in das Direktorinnengesicht, das sich leicht rötete.
»Wir möchten uns gerne bei Ihnen erkenntlich zeigen«, fuhr sie lächelnd fort. »Ihr heutiges Abendessen betrachten Sie bitte als ein Geschenk des Hauses. Wir hoffen, dass es Ihnen gemundet hat?«
Ich dachte keine Sekunde nach.
»Vielen Dank«, sagte ich, »aber wir möchten das Essen lieber bezahlen.«
Damit ließen wir sie stehen und stiegen die knarzende Treppe in den ersten Stock hoch.
Im Zimmer angekommen, machte sich plötzlich eine seltsame Befangenheit zwischen Ivan und mir breit. Wir wussten beide, dass nun Sex auf dem Programm stand. Und sosehr ich es mir wünschte, so unsicher fühlte ich mich. Es war, als wäre die Kunst der Verführung eine Sprache, die ich einst fließend beherrscht und mit dem Älterwerden immer mehr verlernt hatte. Je mehr ich versuchte, mich an sie zu erinnern, desto unbeholfener stammelte ich.
Als junge Frau hatte ich über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügt, was auch an meinem attraktiven Äußeren gelegen hatte. Mein spanischer Vater hatte mir kräftiges dunkles Haar und eine markante Nase vererbt, meine Lippen waren von Natur aus so, wie andere Frauen sie nur durch Aufspritzen erreichten. Ich hatte eine gut proportionierte Figur und war immer schlank gewesen. Heute, wo meine Schönheit allmählich verblasste und ich mehr und mehr mit meinem Körper haderte, wusste ich nicht, woher ich das Selbstbewusstsein nehmen sollte, um einen Mann zu verführen. Nicht mal meinen eigenen.
Glücklicherweise nahm Ivan die Sache in die Hand. Er zog mich zu sich und küsste mich, dann drückte er mich an sich. Mit einer Bewegung öffnete er den Reißverschluss an meinem Rücken hinunter und ließ das Kleid zu Boden gleiten.
»Hey!«, rief ich, halb erschrocken, halb amüsiert. »Das ist mein teuerstes Teil!« Ich löste mich aus seiner Umarmung, hob das Kleid auf und holte einen Bügel aus dem Schrank.
Als ich mich wieder umsah, stand Ivan mit hängenden Armen da und blickte mich schweigend an. Seine beginnende Erektion hatte sich verflüchtigt. Er drehte sich um und verschwand im Bad.
Mit schlechtem Gewissen ließ ich mich aufs Bett fallen und wartete. Ich trug nur noch Slip und BH und hoffte, dass ich bei der schwachen Beleuchtung einigermaßen sexy aussah.
Als Ivan endlich zurückkehrte, merkte ich, dass ich zur Toilette musste.
»Entschuldige«, murmelte ich, stand auf und schlängelte mich an ihm vorbei ins Bad.
Schnell putzte ich mir die Zähne und cremte mein Gesicht ein. Dann sprühte ich einen Hauch Parfüm in meinen Nacken. Als ich wieder ins Zimmer kam, hatte Ivan das Licht der Nachttischlampe eingeschaltet und lag mit einem Buch im Bett.
»Ernsthaft?«, fragte ich.
Er blickte auf. »Was?«
»Du willst jetzt lesen?«
»Warum nicht?« Demonstrativ vertiefte er sich wieder in seine Lektüre.
Ich legte mich neben ihn und scrollte eine Weile in meinem Smartphone hin und her, bis es mir zu blöd wurde. Ich legte das Handy auf den Nachttisch, beugte mich über Ivan, nahm ihm sein Buch weg und schaltete das Licht aus.
»Hey«, protestierte er.
»Ich habe Geburtstag. Schon vergessen?« Sofort kam ich mir blöd vor. Als wäre Sex ein Geschenk, das ich einfordern könnte.
Ivans Blick wanderte nach oben. »Damit kann ich nicht.« Er zeigte auf das Kruzifix.
»Dann nimm’s weg«, sagte ich ungeduldig.
Er kniete sich hin und nahm das Kreuz von der Wand. Einige Staubflusen segelten auf mein Kopfkissen. Einen Moment lang wusste er nicht, wohin mit dem Ding, dann beugte er sich hinunter und schob es unters Bett.
Als wir endlich in Fahrt kamen, wurde es draußen laut. Irgendjemand rumpelte den Gang entlang, ich hörte Flüstern und Kichern, dann eine zuknallende Tür. Das Hochzeitspaar war offenbar von seiner Feier zurückgekehrt.
Wir hatten uns gerade von der Unterbrechung erholt und unser Liebesspiel wieder aufgenommen, da begann der Lärm von Neuem. Zuerst klang es, als würden Möbel gerückt, dann drang ein unterdrücktes Lachen zu uns herüber, das sehr schnell in Stöhnen überging. In sehr eindeutiges Stöhnen. Ich hatte nicht geahnt, wie hellhörig das alte Gebäude war. Es klang, als würde das Paar neben uns im Bett liegen.
Ivans Erektion fiel zusammen wie ein Soufflé.
»O Mann«, sagte ich genervt.
Beleidigt drehte er sich weg.
»Ich meine doch nicht dich!«, rief ich.
Vor meinem geistigen Auge wälzten sich die zwei glatten jugendlichen Körper des Paares auf ihrem Hochzeitslager, wollüstig, unbefangen, unersättlich. Wie herrlich ist Sex, wenn man jung ist und nichts von alldem ahnt, was einen später erwartet. Man vögelt unbeschwert drauflos, kein Gedanke an Libidoverlust, Scheidentrockenheit, Erektionsstörungen.
Ich streichelte Ivans Rücken. Er reagierte nicht. Ich war mir sicher, dass er dieselben Bilder vor Augen hatte wie ich. Früher hätten wir es vielleicht erregend gefunden, anderen beim Sex zuzuhören, nun war es nur noch deprimierend. Seufzend drehte ich mich auf meine Seite und schloss die Augen.
Am nächsten Morgen erwachte ich früh. Wir hatten vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, und so schien mir die Morgensonne direkt ins Gesicht. Ich hatte einen Kater vom Rotwein und einen Muskelkater vom Fahrradfahren.
Ivan schlief noch. Sein Mund war halb geöffnet, und das nächtliche Sägen, von dem ich mehrfach aufgewacht war, hatte sich in ein gedämpftes Röcheln verwandelt. Leise stand ich auf und ging ins Bad.
»Hey, Alte, wie siehst du denn aus?«, hörte ich jemanden höhnisch fragen.
Ach herrje, sie war wieder da! Meine innere Stimme, die mich gern in Situationen heimsuchte, in denen ich auf Kommentare überhaupt keinen Wert legte.
»Was willst du denn schon wieder?«, sagte ich seufzend. »Ich hatte gehofft, du bist tot.«
»Aber du brauchst mich doch noch«, sagte sie.
»Ungefähr so dringend wie ein Magengeschwür«, gab ich zurück.
Ich wollte die Stimme kraft meines Willens aus meinem Kopf verbannen, aber das hatte noch nie funktioniert. Je angestrengter ich sie zu vertreiben versuchte, desto penetranter wurde sie.
»Du siehst aus, als wärst du nicht sechzig geworden, sondern achtzig«, ließ sie mich wissen. »Und dein Hals würde einem Truthahn alle Ehre machen.«
»Du wirst doch auch älter«, sagte ich. »Könntest du nicht allmählich etwas nachsichtiger werden?«
»Vergiss es.«
Das hatte ich befürchtet.
»Was ist eigentlich mit deinen Haaren?«, fuhr sie fort. »Willst du damit den Die-verkommene-Alte-von-nebenan-Contest gewinnen?«
Ich betrachtete die grauen Strähnen, die sich immer mehr in meiner einstmals dunklen Mähne ausbreiteten und wirklich ungepflegt wirkten. Sollte ich endlich mit dem Färben beginnen, wie Uli es mir schon seit Jahren empfahl? Oder sollte ich in Würde abwarten, bis ich vollständig ergraut war?
»Haare färben ist peinlich«, sagte ich.
»Graues Haar ist grauenhaft«, konterte sie. »Um nicht zu sagen greisenhaft.«
»Ich finde, graues Haar kann sehr elegant aussehen.«
»Mach, was du willst, aber mach irgendwas«, sagte sie. »Auch mit deinen Klamotten. Es ehrt dich ja, dass du das alte Zeug aufträgst, aber allmählich siehst du aus wie eine Vogelscheuche.«
»Das ist aktiver Umweltschutz«, protestierte ich. »Ich kann nicht gegen den Konsumwahn wettern und gleichzeitig ständig neue Klamotten kaufen.«
»Es gibt auch optische Umweltverschmutzung«, sagte sie spitz.
So, das war genug. Das musste ich mir nicht weiter anhören.
»Verzieh dich!«, befahl ich, und endlich war sie weg.
Ich putzte mir die Zähne und wusch mein Gesicht mit eiskaltem Wasser. Dann trug ich ein straffendes Serum und Tagescreme auf. Der Klang einer Kirchenglocke erinnerte mich daran, dass Sonntag war. Wenig später hörte ich einen Hahn krähen. Dann das Meckern einer Ziege. Konnte das sein? Vielleicht spielte das Hotel eine Tonkonserve ab, damit es so klang, wie Touristen sich einen Morgen auf dem Land vorstellten.
Gleich sieben. Kurz entschlossen stieg ich in meinen Badeanzug, der vom Vortag noch feucht war. Ich warf den Bademantel über, griff nach einem Handtuch und schlüpfte in meine Flipflops. Vorsichtig öffnete ich die Zimmertür, die vernehmlich knarzte. Ivan grunzte und drehte sich auf die Seite.
Ich warf einen grimmigen Blick auf den Eingang zum Hochzeitszimmer. Ein kurzer Anflug von Neid auf das junge Paar wurde abgelöst von der Gewissheit, dass ihr Glück nicht von Dauer sein würde. Nach der Romantik des Anfangs käme die Ernüchterung des Alltags. Die traurige Erkenntnis, dass der Partner auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, mit nervigen Eigenheiten und unsympathischen Verhaltensweisen. Bald wären sie gestresste Eltern, würden sich streiten, gegenseitig verachten, betrügen und wieder versöhnen – oder auch nicht. Pah, dachte ich schadenfroh, ihr werdet schon sehen. Jede zweite Ehe wird heute geschieden!
Immerhin, das war Ivan und mir erspart geblieben. Inzwischen hatte ich genauso viel Zeit mit ihm verbracht wie ohne ihn. Mein halbes Leben. Wobei der Terminus »mit ihm« nicht ganz zutreffend war. »Auf ihn wartend« würde es besser treffen. Ivan war schon immer sehr eigenwillig gewesen und hatte wenig Rücksicht auf andere genommen. Vor allem, wenn es um seine Arbeit ging. Unzählige Elternabende, Arzttermine und andere familiäre Pflichten waren an mir hängen geblieben, obwohl auch ich Vollzeit arbeitete. Die gesamte Organisation unseres sozialen Lebens oblag mir – ohne mich würde Ivan aus seinem Atelier gar nicht mehr rauskommen.
Wahrscheinlich wäre er besser allein geblieben, ohne die Verantwortung für eine Familie. Vielleicht sollten alle Künstler frei sein, ohne Bindung, ohne Verpflichtungen. All das schränkte nur ein, führte zu Kompromissen und Mittelmäßigkeit. Ein wahrer Künstler musste radikal sein, rücksichtslos und egoistisch. Wie Ivan.
Ich durfte mich nicht beklagen, ich hatte gewusst, worauf ich mich einließ. All die Jahre war ich seinen Weg mitgegangen, hatte ihn bei seinen Ambitionen unterstützt und dafür zurückgesteckt. Aber seit ein paar Jahren spürte ich eine Art Erschöpfung. Und Enttäuschung über den Mangel an Wirgefühl, den er immer wieder demonstrierte.
Kurz nach meinem fünfzigsten Geburtstag hatte ich aus Frust eine alte Liebesgeschichte aufgewärmt, während es die Affäre, die ich Ivan zur gleichen Zeit unterstellte, gar nicht gegeben hatte. Danach hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen gehabt.
»Es wäre wirklich okay, wenn du mich auch mal betrügen möchtest«, hatte ich großzügig angeboten. »Ich meine, wegen der Gerechtigkeit.« Ich wusste nicht, ob er diesen Gutschein je eingelöst hatte.
Im Restaurant und auf der Terrasse war fürs Frühstück gedeckt, und die ersten Gäste, ein Ehepaar um die siebzig, waren schon da. Schweigend saßen sie einander gegenüber und arbeiteten sich gleichmäßig kauend durch die Berge von Essen, die sie auf ihre Teller geladen hatten. Ausdruckslos blickten sie aneinander vorbei. Ob wir in zehn Jahren auch so dasitzen würden?
Zum Glück war das Schwimmbad leer. Ich nahm mir vor, zwanzig Bahnen zu schwimmen. Nach der siebten war ich fix und fertig. Ich drehte mich auf den Rücken und ließ mich treiben. Ein diffuser Gedanke arbeitete sich an die Oberfläche meines Bewusstseins und formierte sich zu einem kurzen, erschreckenden Satz.
Ich bin alt.
Früher hätte ich beim Anblick sechzigjähriger Frauen sofort unterschrieben, dass ich lieber mit vierzig sterben wollte, als dieses Verblassen und Ergrauen, dieses allmähliche Verschwinden in Kauf zu nehmen. Eine Frau, die kein erotisches Verlangen mehr weckt, kann doch genauso gut tot sein, dachte ich damals.
Heute war mir das mit der Erotik überraschend egal. Ich musste niemanden mehr erobern, das hatte ich zur Genüge getan. Ich musste niemandem mehr beweisen, dass ich eine tolle Frau war, vor allem nicht mir selbst. Aber wenn ich an Ivan dachte, überfiel mich sofort eine tiefe Traurigkeit. Wenn sogar er mich nicht mehr begehrte, war ich wirklich so gut wie tot.
DREI
Nach der verkorksten Liebesnacht war die Luft aus unserem Paar-Wochenende raus. Stillschweigend begruben wir die Idee eines weiteren Ausflugs, packten unsere Sachen zusammen und fuhren zurück in die Stadt. Während der Fahrt sprachen wir nicht viel, jeder hing seinen Gedanken nach.
Zurück in der Wohnung hätte ich mich am liebsten für den Rest des Tages ins Bett verkrochen, aber ein weiteres prickelndes Event wartete auf Ivan und mich: eine Einladung von unserem Sohn Paul und seiner Freundin Janina. Und damit nicht genug. Heute Abend sollten wir zum ersten Mal Janinas Eltern treffen.
Prinzipiell hatte ich nichts dagegen, neue Leute kennenzulernen. Auch gegen Janinas Eltern sprach vermutlich nichts. Aber diese Begegnung bedeutete, dass es zwischen Paul und Janina ernst wurde. Und dagegen hatte ich ganz entschieden etwas.
Als Paul sich drei Jahre zuvor von seiner Freundin Marie getrennt hatte, war ich am Boden zerstört gewesen. Vermutlich hatte ich damals mehr geweint als Paul und Marie zusammen. Sie war mein Liebling gewesen, die Tochter, die ich nicht hatte, die Schwiegertochter, die ich mir wünschte. Wir hatten uns total gut verstanden und lange Gespräche miteinander geführt. Einmal war Marie sogar ein paar Tage ohne Paul mit uns in den Urlaub gefahren.
Ich sah sie vor mir, wie sie nachdenklich eine ihrer rotblonden Locken um den Zeigefinger wickelte und beim Lachen die Nase krauszog. In ihrer Anwesenheit hatte ich mich immer wohl und entspannt gefühlt. Sie war so natürlich und herzlich, ganz anders als Janina, der man ständig die Anstrengung anmerkte, etwas darstellen zu wollen.
Marie hatte Paul genommen, wie er war, aber sie hatte auch gespürt, was alles in ihm steckte. Sie hatte ihm nicht ihre Idee von ihm aufgedrängt, sondern ihn dabei unterstützt, er selbst zu sein. Ich konnte nicht begreifen, warum er diese tolle Frau hatte ziehen lassen. Insgeheim war er wohl die ganze Zeit von dem Gedanken besessen, nicht gut genug für sie zu sein. Aus lauter Angst vor Verletzung hatte er sich nie ganz auf sie eingelassen. Das musste Marie gespürt haben, worauf sie ihn irgendwann aufgab, obwohl sie ihn wirklich geliebt hatte. Eines Tages würde Paul vielleicht die Reife haben, das zu erkennen. Dann würde ihm dämmern, welchen Fehler er begangen hatte.
Für Janina war Marie ein rotes Tuch. Wann immer das Gespräch auf sie kam, wurde sie schmallippig. Sie nannte sie »Pauls Ex-Freundin« und sagte Dinge wie »sie war wohl sehr emotional« oder »sie scheint recht unreif gewesen zu sein«. Obwohl es mir schwerfiel, verzichtete ich darauf, Marie in Schutz zu nehmen.
Ich stand vor dem Spiegel und überlegte, was ich anziehen sollte. Ich ahnte schon, wie die Janina-Eltern angezogen sein würden, ich hatte ein Foto der beiden gesehen: Chinos, Lederslipper, Tommy-Hilfiger-Polohemd. Ralph-Lauren-Polokleid, strassbesetzte Zehensandalen. Beide gebräunt vor einer Jacht posierend, Sonnenbrillen auf die Stirn geschoben.
Diese Art Klamotten besaß ich überhaupt nicht, daher war es aussichtlos, mithalten oder gar konkurrieren zu wollen. Ich entschied mich also für was Gemütliches, griff nach einem bodenlangen Kleid im Folklorelook, das ich schon seit Jahrzehnten besaß, und pinkfarbenen Espadrilles.
»Vogelscheuche«, flüsterte es leise.
»Halt’s Maul!«, befahl ich.
Ich steckte mein Haar hoch und ließ demonstrativ ein paar graue Haarsträhnen raushängen. Dann legte ich ein Paar gigantischer silberner Ohrringe an und schminkte meine Lippen leuchtend rot.
Hinter mir im Spiegel erschien Ivan. Er trug immer noch Shorts und T-Shirt.
»Hey, Traumfrau, gut siehst du aus.«
»Danke.« Ich wandte mich um, den aufgedrehten Lippenstift in der Hand, und lächelte ihn an. »Ziehst du dich auch noch um?«
Unschlüssig stand er in der Tür, sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass etwas nicht stimmte.
»Es tut mir leid, Cora, aber ich … kann nicht mitkommen.«
»Waaaas?«, rief ich. »Wieso denn nicht?«
Er wich meinem Blick aus. »Ich kann einfach nicht.«
»Was ist los?«, fragte ich. »Bist du krank?«
Er schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich solche Veranstaltungen hasse. Ich sitze den ganzen Abend da und will nur weg. Es geht einfach nicht.«
»Mann, ich hätte auch lieber eine Darmspiegelung, das kannst du mir glauben!«, fauchte ich. »Aber wir müssen da hin. Unserem Sohn zuliebe.«
»Es ist eine Einladung anlässlich deines Geburtstags«, sagte Ivan. »Hat Paul ausdrücklich gesagt.«
»Und deshalb glaubst du, du musst nicht mit? Was werden ihre Eltern denken? Wie kannst du mich so im Stich lassen?«
»Tut mir leid, Cora.« Er drehte sich um und verließ das Badezimmer. Wenig später hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen.
Dieser verdammte Scheißkerl! Zog sich einfach in seine Gemächer zurück, wenn ihm was zu viel war oder er schlicht keine Lust hatte. Unzählige Male hatte ich das schon erlebt, aber dass er es heute wagen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Wutentbrannt knallte ich den Lippenstift ins Waschbecken. Er brach ab und hinterließ eine rote Spur auf dem weißen Porzellan.
Janina öffnete mir die Tür.
»Hallo, Cora, herzlichen Glückwunsch!«, rief sie und umarmte mich auf ihre seltsam steife Weise, bei der sie mich kaum berührte. Ihre Wangenküsse landeten rechts und links neben meinen Ohren und klangen wie »mpfua, mpfua«.
»Hallo, Janina«, antwortete ich mit aller Freundlichkeit, die ich aufbringen konnte. »Vielen Dank für die Einladung, ich freue mich, euch zu sehen!«
Die schicke Neubauwohnung, in der sie und Paul lebten, war ihnen von Janinas Eltern vermittelt worden. Der Vater hatte die Baufirma seiner Eltern geerbt und weitergeführt, die Mutter war Steuerberaterin und für die Buchführung des Unternehmens verantwortlich. Natürlich hatte das Ehepaar Beziehungen ins Baugewerbe, die es offenbar ausgenutzt hatte.
Ich war strikt dagegen gewesen, die Wohnung zu nehmen, aber Paul hatte mir erklärt, dass man als junges Paar auf dem üblichen Weg in München keine Wohnung fand. Ich war außerdem überzeugt, dass sie die Miete für den Luxusschuppen nicht allein aufbringen konnten. Sicher halfen Mama und Papa Hartmann mit, damit das Töchterchen standesgemäß residieren konnte.
Nun lebte das junge Paar also in einer Art Designerpenthouse aus Beton und Granit, mit edlem Interieur in Grau und Weiß, was überhaupt nicht zu Paul passte. In seinen ausgewaschenen Jeans und T-Shirts wirkte er darin wie ein Fremdkörper. Janina dagegen fügte sich in die sterile Umgebung wie dafür geklont. Sie war der Typ, der gestärkte Hemdblusenkleider, Caprihosen und quer gestreifte Oberteile trug, dazu flache Schuhe. Sie war ein paar Zentimeter größer als Paul, was ihr sichtlich unangenehm war. Wenn sie neben ihm stand, machte sie immer den Rücken ein wenig krumm. In Gedanken nannte ich sie »die Giraffe«.
»Du siehst übrigens … super aus«, sagte Janina mit Blick auf mein buntes Hippiekleid und die Ohrringe. »Finde ich mega, dass du in deinem Alter so mutig bist.«
Warum war es mutig, ein buntes Kleid anzuziehen? Vermutlich fand Janina, dass Frauen meines Alters eher gedeckte Farben tragen sollten, um nicht unangenehm aufzufallen. Ich schluckte alles runter, was mir an möglichen Entgegnungen einfiel, und lächelte nur vielsagend.
»Wo hast du denn deinen Göttergatten gelassen?«, fragte Janina.
»Der … äh Göttergatte hat leider Migräne«, sagte ich.
Dass ich auch noch für ihn lügen musste! Ich hatte ebenso wenig Lust, hier zu sein, wie er. Aber aus Liebe zu unserem Sohn und aus Rücksicht auf die Gefühle von Janina und ihren Eltern riss ich mich zusammen. Und ärgerte mich gleichzeitig darüber.
»Ach, der Arme!«, sagte sie und fügte eifrig hinzu: »Da gibt es übrigens ein neues Medikament. Ich schreib’s dir gleich auf. Migräne kann viele Ursachen haben, es ist wichtig, dass er sich untersuchen lässt, um ein paar Dinge auszuschließen. Schließlich will er ja nicht an einem unerkannten Hirntumor sterben, nicht wahr?« Sie lachte glockenhell über ihren kleinen Scherz. »Er soll das auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen. Ich kann dir einen Neurologen empfehlen, der ist eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet …«
»Vielen Dank, das ist sehr lieb von dir«, unterbrach ich ihren Redeschwall und war jetzt schon erschöpft, dabei hatte der Abend noch gar nicht richtig angefangen.
Bestimmt meinte sie es gut, aber ich fand Janinas Art furchtbar anstrengend. Immer wusste sie alles oder hatte gerade irgendwas dazu gelesen. Für jeden Fleck kannte sie ein Hausmittel, für jedes Problem eine Lösung. Wäre man wohlmeinend, würde man sie wohl als »patent« bezeichnen. Ich war aber nicht wohlmeinend.
Janina war Assistenzärztin und arbeitete in der plastischen Chirurgie. Sie konnte ergreifende Geschichten vom Schicksal der Unfallopfer erzählen, denen sie dort ein neues Gesicht machten, oder von Krebspatientinnen, die neue Brüste bekamen. Ich war überzeugt, dass sie in Wahrheit Schönheitschirurgin werden und mit einer Privatpraxis viel Geld verdienen wollte.
Sie begleitete mich in den offenen Wohn-/Koch-/Essbereich, in dem an einem modernen Esstisch die Eltern saßen, gut gefüllte Weingläser vor sich. Paul stand am Küchenblock und hackte Petersilie. Er legte das Messer zur Seite und kam auf mich zu, um mich zu umarmen.
»Happy Birthday, Mom! Ich wünsch dir alle Gute! Und keine Angst, heute singe ich nicht.«
Ich lachte. Bei meinem Fünfzigsten hatte Paul einen denkwürdigen Auftritt mit seiner Band hingelegt. Er performte einen Song, den Freunde von mir schon an meinem dreißigsten Geburtstag aufgeführt hatten. An zwei der vielen Strophen erinnerte ich mich.
Bist du mal achtzig und verwittert,
verlebt, vertrocknet und verbittert,
dann freu dich: Endlich hast du Ruh’
vor deinen Trieben, schubidu!
Aber noch bist du jung und knackig,
noch voll dabei und ganz schön zackig,
deshalb freu dich mal nicht zu früh:
Noch ist der Trieb da, schubidü!
Ich küsste Paul auf die Wange. »Danke dir, mein Herz. Du darfst auch gern singen. In meinem Alter ist einem nichts mehr peinlich.«
Die Gefahr, dass Paul mich peinlich fand, war deutlich größer als umgekehrt, das wussten wir beide. Deshalb wunderte ich mich, dass er mit einer Flasche edlen Gins vor meinem Gesicht wedelte.
»Wie wär’s?«
Ich liebte den Geschmack von Gin Tonic, aber er putschte mich gefährlich auf. Egal jetzt. Daumen hoch. Paul goss den Gin mit einer Sorte Tonic auf, die so hip war, dass nicht mal ich sie kannte, warf zwei Eiswürfel ins Glas und schnitt eine Scheibe von einer Limette ab.
»Cheers, Mom. Du bist die Coolste.« Er reichte mir das Glas.
Dann nahm er mich am Arm und zog mich zum Tisch.
»Das sind Andrea und Martin. Das ist meine Mom. Also, Cora.«
Andrea stand auf und umarmte mich, als wären wir alte Freundinnen. »Das wurde aber auch Zeit, was?«
Martin drückte mir so fest die Hand, dass ich nach Luft schnappte. »Sehr erfreut«, schnarrte er. »Alles Gute zum Wiegenfest!«
Vor meinem geistigen Auge sah ich mich in einer viel zu kleinen Kinderwiege liegen und Gin Tonic aus einer Babyflasche nuckeln.
»Wo ist Dad?« Paul sah sich um, als könnte Ivan jeden Moment hinter dem Sofa hervorkriechen oder aus dem Kamin fallen. Ja, einen offenen Kamin hatte die Wohnung auch. War ja wohl das Mindeste.
»Ivan lässt sich entschuldigen. Er … fühlt sich nicht wohl.«
»Wie schade«, sagte Andrea und klang ehrlich enttäuscht.
»Er hat Migräne«, sagte Janina. »Ich hab dir alles aufgeschrieben.« Sie reichte mir einen Zettel, auf dem in ihrer akkuraten Handschrift der Name eines Medikaments und die Anschrift des Neurologen notiert waren.
Die Frau machte mich fertig. Immer machte sie alles so verdammt richtig. Man konnte ihr nichts vorwerfen, und genau das brachte mich gegen sie auf.
Nun stellte sie sich neben Paul an den Küchenblock und klatschte, ganz engagierte Gastgeberin, in die Hände.
»Es geht los! Seid ihr bereit?«
Ich setzte mich zu Andrea und Martin an den Tisch, und wir wandten uns erwartungsvoll Janina zu.
»Zuerst möchte ich dem Geburtstagskind noch einmal ganz herzlich gratulieren«, sagte sie in der Art einer Strandclub-Animateurin, die ihre Gäste auf Trab bringen will. »Happy Birthday, Cora! Auf dich!«
Alle vier hoben die Gläser, riefen »woah, woah« und »alles Gute, Cora!«.
Ich prostete zurück. »Danke euch. Vielen Dank!«
»Dann möchte ich meine Eltern begrüßen und euch sagen, wie stolz ich auf euch bin«, fuhr Janina fort. »Und ich bin total aufgeregt, dass es heute zu einer Begegnung kommt, die mir sehr am Herzen liegt.«
»Uns«, rief Paul dazwischen.
Janina warf ihm einen irritierten Blick zu, dann lachte sie auf. »Natürlich, uns!« Sie lehnte kurz ihren Kopf an Pauls Schulter, wofür sie ihren langen Hals unnatürlich weit zur Seite biegen musste. Gegen meinen Willen befiel mich die Vorstellung von Janina beim Sex. Ob sie da auch so steif und unsinnlich war? Es konnte doch nicht sein, dass Paul diese staksige Giraffe wirklich erotisch fand. Oder verwandelte sie sich im Bett auf wundersame Weise in eine Sexgöttin? Ich versuchte, den Gedanken abzuschütteln, und nahm noch einen kräftigen Schluck von meinem Gin Tonic.