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Die engagierte Unternehmerin Claudia steht kurz vor der Erfüllung ihres großen Traums: Bürgermeisterin ihrer süddeutschen Heimatstadt zu werden. Plötzlich taucht ihre achtzehnjährige Tochter Anouk im Umfeld radikaler Klimaaktivisten auf, landet im Gefängnis und beschert ihrer Familie sogar eine Hausdurchsuchung – alles ein gefundenes Fressen für die Medien. Claudias Kandidatur ist gefährdet, der Ruf des Autohauses, das sie in dritter Generation leitet, beschädigt, die Kunden bleiben weg. Ihre Mutter Marianne, die heimliche »Bössin« der Firma, hintertreibt Claudias Pläne ebenfalls. Und anstatt seiner Frau beizustehen, wird Ehemann Martin zum unberechenbaren Gegenspieler. Claudias ganze Existenz steht auf dem Spiel – und schließlich sogar das Leben ihrer Tochter. Wird es ihr gelingen, Anouk zu retten?
»Warmherzig und brillant … Ein klasse Familienroman über drei entschlossene Frauen und wichtige Fragen unserer Zeit.« Für Sie
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DASBUCH
Die engagierte Unternehmerin Claudia steht kurz vor der Erfüllung ihres großen Traums: Bürgermeisterin ihrer süddeutschen Heimatstadt zu werden. Plötzlich taucht ihre achtzehnjährige Tochter Anouk im Umfeld radikaler Klimaaktivisten auf, landet im Gefängnis und beschert ihrer Familie sogar eine Hausdurchsuchung – alles ein gefundenes Fressen für die Medien. Claudias Kandidatur ist gefährdet, der Ruf des Autohauses, das sie in dritter Generation leitet, beschädigt, die Kunden bleiben weg. Ihre Mutter Marianne, die heimliche »Bössin« der Firma, hintertreibt Claudias Pläne ebenfalls. Und anstatt seiner Frau beizustehen, wird Ehemann Martin zum unberechenbaren Gegenspieler. Claudias ganze Existenz steht auf dem Spiel – und schließlich sogar das Leben ihrer Tochter. Wird es ihr gelingen, Anouk zu retten?
DIEAUTORIN
Amelie Fried, Jahrgang 1958, wurde als TV-Moderatorin bekannt. Alle ihre Romane waren Bestseller. Traumfrau mit Nebenwirkungen, Am Anfang war der Seitensprung, Der Mann von nebenan, Liebes Leid und Lust und Rosannas Tochter wurden erfolgreiche Fernsehfilme. Für ihre Kinderbücher erhielt sie verschiedene Auszeichnungen, darunter den »Deutschen Jugendliteraturpreis«. Zusammen mit ihrem Mann Peter Probst – mit dem sie Workshops in Kreativem Schreiben gibt – schrieb sie den Sachbuch-Bestseller Verliebt, verlobt – verrückt?. Bei Heyne erschien zuletzt der Bestsellerroman Traumfrau mit Ersatzteilen.
AMELIE FRIED
ROMAN
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Copyright© 2024 by Amelie Fried
Copyright © 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik · Design, München
unter Verwendung eines Motivs von © Elizabeth Lennie
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-26189-4V001
www.heyne.de
Dieses Buch widme ich all jenen, die nicht aufgeben, im Leben und in der Liebe.
Die gläserne Kathedrale des Autohauses war festlich erleuchtet. Die Gäste scharten sich um weiß verkleidete Stehtische, die zwischen den glänzenden Karosserien der Vorführwagen aufgebaut waren. Sie stellten ihre Sektgläser ab und griffen nach den Häppchen, die von Kellnerinnen und Kellnern auf Tabletts herumgetragen wurden. Eine Gruppe Männer in dunklem Anzug umringte bewundernd das rote Karmann Ghia Cabrio von 1957, das auf einem Podest in der Mitte der Halle stand.
»Des isch a feins Wägele«, sagte einer, und die anderen nickten.
Claudia beobachtete das Treiben und fühlte sich für einen Moment, als hätte sie mit all dem nichts zu tun. Als wäre sie durch Zufall hier gelandet und könnte jederzeit den Raum verlassen, ohne dass jemand es bemerken würde.
Sie seufzte und nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
Irritiert kniff sie die Augen zusammen. Das quer über dem Eingang gespannte Banner mit der Aufschrift 110 Jahre Autohaus Berner hing leicht schief. Sie unterdrückte den Impuls, eine Leiter zu suchen und trotz Abendkleid und hoher Schuhe hinaufzusteigen, um es gerade zu hängen.
Neben sich hörte sie ihren Mann Martin etwas über E-Mobilität und neue Herausforderungen sagen. Die anderen am Tisch lauschten interessiert. Er war der beste Verkäufer gewesen, den das Unternehmen je gehabt hatte. Überzeugend, charmant, hartnäckig. »Der verkauft auch ein Auto an jemanden, der gar keinen Führerschein hat«, hieß es über ihn.
Sein bester Deal war, sie zu erobern, die Tochter des Eigentümers, »die Kleine vom Boss«, wie die Belegschaft sie genannt hatte. Zwanzig Jahre war das her. Ihr Vater war längst tot, inzwischen war sie die Geschäftsführerin des größten Autohändlers in der Region. Und Martin ihr angestellter Prokurist.
»Nach dem Besuch bei uns muss der Kunde etwas wollen, auch wenn es nicht das ist, was er vor dem Besuch zu wollen glaubte – stimmt’s oder hab ich recht?«, sagte er und blickte, um Bestätigung heischend, zu ihr hinüber.
Lächelnd strich sie ihm über den Arm. Als Frau in einer Männerbranche hatte Claudia eines gelernt: einem Mann niemals öffentlich zu widersprechen. Nicht mal dem eigenen. Vor allem nicht dem eigenen.
Ihr Blick fiel auf ihre Mutter Marianne, die aufrecht, in einem smaragdgrün schimmernden Kleid und mit eleganter Hochsteckfrisur, am anderen Ende der Halle stand und sichtlich geschmeichelt die Honneurs der Gäste entgegennahm. Sie war »die Bössin«, auch heute noch, viele Jahre nachdem sie sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hatte. Aber immer noch durchschritt sie alle paar Wochen wie eine abgedankte Königin den Servicebereich und die Verkaufsräume der Zentrale und ließ es sich nicht nehmen, einmal im Jahr alle vier Filialen zu besuchen. »Präsenz zeigen«, nannte sie es. Die Menschen sollten wissen, wem sie ihren Arbeitsplatz zu verdanken hatten. Und die Familie sollte wissen, dass mit ihr zu rechnen war. Sie hütete das Erbe ihres verstorbenen Mannes, und wehe, jemand wollte sich daran vergreifen.
Es war nicht einfach für Claudia, die sich von ihrer Mutter oft bevormundet und überfahren fühlte. Noch schwieriger war es für Martin, gegen den Marianne ein grundsätzliches Misstrauen hegte, das er auch nach über zwanzig Jahren in der Firma nicht völlig hatte ausräumen können.
Claudia beobachtete die festlich gekleideten Gäste, die sich wie nach einer geheimen Choreografie durch den Raum bewegten, in Grüppchen zusammenfanden und wieder auseinandergingen. Gläserklirren, freudig erregte Stimmen, zwischendurch das perlende Lachen einer Frau, die den Kopf zurückwarf und ihren nackten Hals präsentierte.
Wenn jetzt eine Bombe explodierte, wäre die gesamte Elite der Region ausgelöscht. Alle wichtigen Politiker, Geschäftsleute, Wirtschaftsbosse und andere Persönlichkeiten der Gesellschaft waren heute Abend hier. Aber wer sollte im beschaulichen Meutlingen eine Bombe werfen? Sie verscheuchte den Gedanken und nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas. Der Sekt war warm geworden.
Wo war eigentlich Anouk? Ihre Tochter war sonst überpünktlich. Seltsam, dass sie noch nicht da war. Schon als Erstklässlerin war sie morgens immer als Erste fertig gewesen und stand, den Schulranzen auf den Rücken geschnallt, geduldig an der Tür, bis jemand sie zur Schule brachte. Mittags kam sie jeden Tag zur exakt gleichen Zeit nach Hause. Noch heute konnte man buchstäblich die Uhr nach ihr stellen.
Claudia sah sich suchend um, konnte Anouk aber nirgendwo entdecken. Stattdessen blieb ihr Blick bei ihrem fünfzehnjährigen Sohn Julian hängen, der gerade ein Glas Sekt auf ex leerte und es sofort wieder füllte. Energisch ging sie zu ihm und nahm ihm das Getränk aus der Hand.
»Untersteh dich«, murmelte sie. Erst vor wenigen Wochen hatte er nach einer Party das Bad vollgekotzt.
Genervt sah er sie an, sagte aber nichts.
»Weißt du, wo Anouk ist?«
Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
Claudia blickte auf das volle Glas in ihrer Hand, wusste nicht, wohin damit, und kippte den Inhalt schließlich unauffällig in eine Topfpflanze. Sie lächelte ihrem Sohn aufmunternd zu.
»Gruftiparty, ich weiß. Halt noch ein bisschen durch, okay?«
Er verzog das Gesicht. »Vielleicht krieg ich ja einen Kreislaufkollaps und muss ganz schnell an die frische Luft.«
Claudia klopfte ihm lächelnd auf die Schultern. »Den Kreislaufkollaps kriegst du höchstens, wenn du weiter Sekt in dich reinschüttest.«
Sie entdeckte die Mitarbeiterin, die sie vor kurzem als Serviceassistentin eingestellt hatte und die auch heute Abend im Dienst war. Eine Kollegin sagte etwas zu ihr, worauf die junge Frau sich nach unten beugte und ihr Bein inspizierte. Dann schlug sie erschrocken eine Hand vor den Mund.
Claudia setzte sich in Bewegung. Unterwegs wurde sie von Gratulanten aufgehalten, die ihr die Hand schüttelten, Anekdoten über ihren Vater erzählten und bedauerten, dass er den heutigen Abend nicht miterleben konnte.
»Er wär so stolz auf dich gwäsa, der Walter«, sagte ein Mann, der mit ihrem Vater in die Grundschule gegangen war. »Du hasch des so gut gemacht, obwohl du a Mädle bisch.«
Die anderen nickten.
Claudia bedankte sich und ging zum Empfangstresen, wo sie das Glas abstellte.
»Frau Horn, was ist passiert?«
Die junge Frau deutete mit Tränen in den Augen auf ihr Bein. Eine breite Laufmasche in der Feinstrumpfhose zog sich vom Knie bis zum Knöchel.
»Es ist mir so peinlich«, sagte sie. »Mein erster großer Einsatz, und dann so was …«
Claudia berührte leicht ihre Schulter. »Ich bin gleich wieder da.«
Sie durchquerte die Halle und fuhr mit dem Lift nach oben in die Büroetage. Als sie ausstieg, schlüpfte sie aufatmend aus den hohen Pumps und ging den Flur entlang in ihr Büro, wo sie eine Reihe von Schubladen aufzog. Hinter Notizblöcken und Post-its fand sie die Packung Feinstrumpfhosen, die sie dort deponiert hatte.
Es war wohltuend still. Von unten drangen die Stimmen der Feiernden nur noch gedämpft zu ihr hoch. Claudia setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl, schloss die Augen und massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. Wenn der Abend nur schon vorbei wäre.
Sie war mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Autos den Menschen Freiheit gaben, dass sie Wohlstand und Fortschritt bedeuteten und dass sie, die Familie Berner, dazu beitrugen, diesen Wohlstand zu mehren. Als Kind hatte sie den Geruch fabrikneuer Autos geliebt. Sie hatte überlegt, ob man ihn in Spraydosen abfüllen könnte, um Gebrauchtwagen damit zu imprägnieren.
»Schnapsidee«, hatte ihre Mutter sie abgefertigt, während ihr Vater sie liebevoll angelächelt hatte. »Aus dir wird mal was, Mädle.«
Und es war etwas aus ihr geworden. Eine Geschäftsführerin, die kein Geschäft mehr führen wollte. Die das dringende Bedürfnis verspürte, mehr zu gestalten als den Verkaufsraum eines Autohauses.
Es fiel ihr immer schwerer, sich mit dem Verkauf von Fahrzeugen zu identifizieren, daraus Befriedigung zu ziehen. Sie hatte alles versucht, um sich zu motivieren – die Beschäftigung mit der Erfolgsgeschichte ihrer Familie, Gespräche mit Mitarbeitern und Kunden, neue Ideen für die Firma –, aber es gelang ihr nicht mehr. Es war, als wäre in ihrem Inneren ein Schalter umgelegt worden.
Claudia öffnete die Augen, stand auf und eilte zurück zum Lift, wo sie mit schmerzverzerrtem Gesicht die unbequemen Schuhe wieder anzog. Schönheit muss leiden, hörte sie ihre Mutter sagen. Wieso eigentlich?
Unten durchquerte sie die Halle und steckte Frau Horn die Packung mit der Strumpfhose zu.
Die junge Frau strahlte sie an. »Oh … Frau Berner! Vielen Dank!«
Claudia lächelte und sah zu, wie ihre Angestellte in Richtung Damentoilette entschwand.
In diesem Moment öffneten sich die riesigen Glasschiebetüren und zwei weitere Gäste traten ein. Anouk, die, wie Claudia sofort bemerkte, mit Jeans und Bluse absolut nicht angemessen für den Anlass gekleidet war, sowie ein junger Mann, den sie nicht kannte. Auch er trug Jeans, dazu derbe Schnürschuhe und einen Kapuzenpulli. Der Anblick nahm Claudias ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, deshalb entging ihr, wie die Gäste am Nebentisch die Köpfe zusammensteckten und über die Neuankömmlinge tuschelten.
Sie winkte ihrer Tochter zu, aber die bemerkte sie nicht, sondern sagte etwas zu ihrem Begleiter und zog ihn in Richtung der Getränketheke.
Zur gleichen Zeit kam Bewegung in die Gästeschar. Bürgermeister Manfred Abele schritt zum Rednerpult, und Claudia gab ihr Vorhaben, Anouk zu erreichen, vorerst auf.
Sie ging zurück zu Martin und stellte sich, ein demonstratives Lächeln auf dem Gesicht, neben ihn. Ansprachen von Abele konnten dauern, das wusste sie aus Erfahrung. Da war es besser, ein Getränk in der Hand zu haben und sich irgendwo anlehnen zu können.
Ceyda, Claudias Beraterin und Freundin, gesellte sich an den Tisch. Sie war Inhaberin einer Marketing- und Eventagentur und hatte den Abend organisiert. Mit ihrer wilden, dunklen Lockenmähne, dem riesigen Brillengestell und der farbenprächtigen Kleidung wirkte sie wie ein exotischer Vogel zwischen lauter Pinguinen.
»Alles okay?«, fragte sie leise.
Claudia stöhnte. »Ungefähr so okay wie kurz vor dem Sprung aus einem Flugzeug.«
Ceyda hob den Daumen und lächelte ihr aufmunternd zu. »Hauptsache, du hast den Fallschirm eingepackt.«
Claudia feixte.
Ceydas Großvater war vor Jahrzehnten nach Meutlingen gekommen und hatte bis zu seiner Pensionierung im Autohaus Berner gearbeitet. Claudia kannte Ceyda von klein auf, hatte sie ermutigt und gefördert, als sie ihre Marketingfirma gegründet hatte, und die Freundin jetzt gebeten, sie bei ihrem großen Schritt zu unterstützen. Einem Schritt, der nicht nur ihr Leben verändern würde.
Der Bürgermeister, der sich kurz vor dem Ende seiner ersten Amtszeit befand und sich von seiner Partei bereits für eine zweite hatte aufstellen lassen, räusperte sich, klopfte mit dem Finger gegen das Mikrofon und blickte leutselig in die Runde.
»Was für ein freudiger Anlass«, begann er lächelnd und breitete die Arme aus. »Ich tät mir wünschen, dass ich häufiger bei solchen Gelegenheiten reden dürfte und seltener bei anstrengenden Gemeinderatssitzungen rumsitzen oder vor aufgebrachten Bürgern stehen müsste!« Beim Wort Bürger zeichnete er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.
Claudia verdrehte die Augen. Sie wusste, worauf er anspielte: auf eine Demonstration gegen den Bau von Windrädern im Gemeindegebiet.
»Demokratie ist, wenn alle meiner Meinung sind«, flüsterte Ceyda ihr ins Ohr, und die beiden Frauen warfen sich einen verständnisinnigen Blick zu.
Bürgermeister Abele holte wie üblich weit aus. Nach einigen weltpolitischen Anmerkungen, die zeigen sollten, dass er als Politiker über den baden-württembergischen Tellerrand hinaus blickte, pries er die wirtschaftlichen Anstrengungen der Region und die Vorteile der schwäbischen »Schaffensmentalität«, die so viele großartige Unternehmen hervorgebracht hätte, darunter das Autohaus Berner, dessen hundertjähriges Jubiläum man heute feiere.
»Hundertzehn«, wisperte ihm sein persönlicher Referent Pascal Heuweiler hörbar zu.
»Natürlich, das hundertzehnte Jubiläum«, korrigierte sich Abele. »Hab ich doch gesagt. Und wenn nicht, hab ich’s gemeint!«
Er grinste, weit davon entfernt, sich für den peinlichen Fehler zu schämen. Genau so führt er sein Amt, dachte Claudia, selbstherrlich und schamlos. Abele räusperte sich, und Heuweiler reichte ihm beflissen ein Glas Wasser, das er entgegennahm, ohne sich zu bedanken.
Wenn Claudia sich entscheiden müsste, wen sie unangenehmer fand – den Bürgermeister oder seinen speichelleckenden Adlatus –, die Wahl wäre ihr schwergefallen.
Abele lobte die Unternehmenskultur im Hause Berner, das mit über zweihundert Mitarbeitern einer der größten Arbeitgeber der Region war.
»Wir können auf Sie nicht verzichten!«, rief er aus. »Und obwohl das Auto, das Herzstück unserer deutschen Industrie, von allen Seiten unter Beschuss steht, bin ich zuversichtlich, dass es überleben wird. Und mit ihm das Autohaus Berner, hoffentlich auch in fünfter Generation!«
Applaus brandete auf, die Blicke der Gäste richteten sich auf Julian, der errötend Schutz hinter einer Säule suchte.
»Endlich ein Bub«, hatten die Meutlinger nach seiner Geburt getuschelt, »das wurde aber auch Zeit.«
Zwei Generationen lang hatte es jeweils nur eine Tochter in der Familie Berner gegeben, zuerst Marianne, dann Claudia, die beide aus Sicht der Meutlinger das Richtige getan und den Fortbestand der Firma durch die Heirat mit geeigneten Männern gesichert hatten. Martin hatte sogar den Namen Berner angenommen, was ihm von den einen als Loyalität, von den anderen als Opportunismus ausgelegt wurde. Aber eigentlich, so dachte man hier, sollten Männer die natürlichen Erben von Unternehmen sein, besonders wenn es um Autos ging.
Julian tat bislang alles, um diese Erwartungen zu enttäuschen. Er hatte schlechte Schulnoten, fiel durch dreistes Verhalten und gelegentliche Alkoholexzesse auf. Anscheinend wollte er um jeden Preis seine Unfähigkeit für die Nachfolge unter Beweis stellen.
»Das verwächst sich«, sagte Marianne, wenn er wieder für Ärger gesorgt hatte. Obwohl sie selbst bewiesen hatte, dass eine Frau sehr wohl ein Unternehmen leiten konnte, hing sie insgeheim patriarchalischen Ansichten an. Vielleicht wollte sie auch nur ihrer Enkelin Anouk ihr eigenes Schicksal und das von Claudia ersparen.
Abele hatte seine Ansprache beendet und nahm den Applaus der Anwesenden entgegen. Dann ging er zu Claudia und Martin, schüttelte beiden die Hand und klopfte Martin auf die Schulter.
»Machen Sie weiter so«, sagte er und stellte sich, Martins Hand noch in der seinen, in Positur für die Fotografen. Claudia schob sich energisch ein Stück nach vorn. Sie würde nicht zulassen, dass Abele sie auf dem Bild verdeckte. Blitzlichter flammten auf, die Fotografen versuchten, auf sich aufmerksam zu machen, als wären sie Stars bei der Oscarverleihung. Nach wenigen Sekunden war der Hollywoodmoment vorüber.
»Sie bleiben doch noch?«, fragte Claudia den Bürgermeister lächelnd. »Ich sage gleich auch ein paar Worte.«
Abeles Blick flog zu Heuweiler, der nickte. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn der Bürgermeister ging, bevor jemand von den Gastgebern gesprochen hatte.
»Aber natürlich«, dröhnte Abele und griff nach einem Schälchen mit Wildgulasch und Spätzle, das auf einem Tablett an ihm vorbeigetragen wurde.
In diesem Augenblick kam Anouk mit ihrem Begleiter auf Claudia zu. Ihr Gesicht leuchtete, ihre schmale Gestalt schien zu tanzen.
»Hallo, Mama«, sagte sie errötend. »Das ist Joshua.«
Claudia reichte dem jungen Mann die Hand. Er drückte sie fest und blickte ihr dabei selbstbewusst in die Augen.
»Grüß Gott, Frau Berner. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Hallo, Joshua«, sagte sie freundlich.
Sie taxierte ihn unauffällig. Aufrechte Körperhaltung, dunkler Haarschopf, graugrüne Augen mit einem Kranz dichter Wimpern. Ob Anouk verliebt war? Sie hatte bisher erst einen Freund gehabt, der sie sitzen lassen hatte, weil sie ihm, wie er ihr erklärte, »zu nett« war. Tatsächlich war Anouk sanft, empathisch und stets auf das Wohlergehen anderer bedacht. Wenn diese Eigenschaften ein Ausschlusskriterium für einen Mann darstellten, konnte sie aus Claudias Sicht froh sein, ihn loszuhaben.
Aber ob es vernünftig wäre, ausgerechnet jetzt eine neue Beziehung anzufangen, wenige Wochen vor dem Abitur?
Anouk sah sie entschuldigend an. »Tut mir leid wegen der Klamotten, Mama. Wir … haben es nicht mehr geschafft, uns umzuziehen.«
Wir.
Claudia fragte sich, was die beiden wohl Wichtiges zu tun gehabt hatten, was ihnen nicht einmal erlaubte, sich für ein Fest umzuziehen. Vermutlich hatten sie den Nachmittag im Bett verbracht und die Zeit vergessen. Schnell schob sie den Gedanken von sich. So wenig Kinder sich vorstellen wollten, dass ihre Eltern Sex hatten, so wenig wollten Eltern sich vorstellen, dass ihre Kinder Sex hatten.
»Ehrlich gesagt, hab ich auch gar keinen Anzug«, sagte Joshua.
»Hauptsache, ihr seid da«, sagte Claudia lächelnd. »Habt ihr schon was gegessen?« Sie winkte einen Kellner mit einem Tablett herbei. Er nahm es von der Schulter und präsentierte ihnen die Töpfchen mit Wildgulasch und Spätzle.
»Ich esse kein Fleisch«, sagte Joshua.
»An Vegetarier haben wir natürlich auch gedacht«, sagte Claudia. »Es gibt Fisch und Gemüsecurry. Anouk, frag bitte beim Service nach, ja?«
»Okay.«
»Also dann, ihr zwei, habt einen schönen Abend. Später gibt es Livemusik!«
»Vielen Dank, dass ich hier sein darf«, sagte Joshua artig.
Claudia glaubte, einen Hauch Ironie in seinen Worten wahrzunehmen, aber dann verwarf sie den Gedanken. Bestimmt hatte sie es sich eingebildet.
»Tschüss, Mama.«
Anouk winkte ihr zu, dann entfernten sich die beiden.
Nachdenklich sah Claudia ihnen hinterher. War sie zu nett gewesen? Hätte sie Anouk rügen sollen, weil sie in diesem Aufzug hier auftauchte, noch dazu in Begleitung eines Fremden? Der ganze Auftritt passte nicht zu ihrer Tochter. Claudia war irritiert.
Sie beobachtete, wie ihre Mutter Anouk und Joshua musterte, als könnte sie nicht glauben, was sie sah. Verstöße gegen die Etikette konnte Marianne nicht ausstehen. Das würde garantiert ein Nachspiel haben.
Claudia fing einen Blick von Martin auf, der mit dem Finger auf seine Uhr tippte. Es war Zeit für ihre Ansprache. Sie nickte ihm zu, straffte den Rücken und durchquerte die Halle. Auf dem Weg griff sie nach einem Glas Mineralwasser und nahm es mit zum Rednerpult. Mit geübtem Griff brachte sie das Mikrofon in die richtige Position und klopfte leicht dagegen. Die Gespräche tröpfelten aus und verstummten schließlich. Alle Augen ruhten auf ihr.
Claudia atmete tief durch. Sie hieß die Anwesenden im Namen der Familie Berner herzlich willkommen: die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens, die Kunden und Freunde des Hauses, die Honoratioren der Stadt und des Landes.
Sie erinnerte an ihren Urgroßvater Karl Berner, der sich als noch recht junger Mann 1912 mit dem Verkauf von Landmaschinen selbstständig gemacht hatte, und würdigte seinen unternehmerischen Mut. Sie erzählte von ihrem Großvater Ernst, dessen Brüder im Zweiten Weltkrieg gefallen waren, sodass ihm keine Wahl blieb, als das Unternehmen allein weiterzuführen und – weil die Welt sich auch in Meutlingen veränderte – nach und nach die Traktoren und Mähdrescher durch Autos zu ersetzen. Natürlich Autos des bewährten Herstellers, mit dem sie nun schon so viele Jahrzehnte harmonisch zusammenarbeiteten.
An dieser Stelle warf Claudia einem drahtigen Mann, der ganz vorn in der ersten Reihe der Zuhörer stand und jedem ihrer Worte aufmerksam folgte, ein Lächeln zu. Jobst Huber war so etwas wie die Nemesis des Autohauses. Er vertrat den Hersteller, bestimmte über Liefermengen, Rabatte und Bonusprogramme, aber auch über die Einrichtung der Verkaufsräume und sogar über die Kleiderordnung der Mitarbeitenden mit Kundenkontakt. Die Beziehung zwischen ihm und den Berners ähnelte einer langjährigen Ehe: Man kannte sich, vertraute einander bedingt, war oft extrem genervt voneinander, konnte sich aber nicht trennen, weil einfach zu viel dranhing.
Huber nickte ihr verhalten zu und fuhr sich mit der Hand über den kurz geschorenen Schädel, mit dem er seine Halbglatze kaschieren wollte.
Claudia fuhr fort. Sie sprach mit großer Wärme von ihrem Vater, der sein Leben dem Geschäft gewidmet und Tag und Nacht an nichts anderes gedacht hatte als an das Wohlergehen seiner Mitarbeiter und Kunden.
»Ich bin mir nicht sicher, mit wem er mehr verheiratet war«, sagte sie, »mit meiner Mutter oder mit der Firma.«
»Ich schon«, sagte Marianne trocken.
Die Leute lachten.
Claudia erzählte, wie ihr Vater sie schon als Kleinkind in einer Miniversion eines Cabrios herumgeschoben und ihr später den Spaß am Autofahren vermittelt hatte, indem er sie verbotenerweise auf dem Firmengelände fahren ließ, lange bevor sie den Führerschein hatte. Wie er einfach ignorierte, dass sie ein Mädchen war und damit angeblich ungeeignet für die Leitung eines Autohauses.
»Mein Vater war konservativ im besten Sinn, andererseits aber moderner als viele Männer heute«, sagte Claudia und zwang sich, nicht in Richtung des Bürgermeisters zu blicken. »Nie wäre ihm ein abfälliger Spruch über Frauen über die Lippen gekommen. Er schätzte und respektierte Frauen, er traute ihnen etwas zu und förderte sie im Unternehmen, so gut er konnte.«
Applaus ertönte.
Claudia sah aus den Augenwinkeln die verkniffene Miene von Abele, der vermutlich genau wusste, auf wen ihre Bemerkung gemünzt war.
»Ich verdanke meinen Eltern alles, was ich heute bin«, fuhr sie fort. »Von meiner Mutter habe ich die Hartnäckigkeit geerbt, die man in unserer Branche braucht.« Sie machte eine kurze Pause und lächelte. »Manche nennen es auch Sturheit.«
Amüsierte Gesichter, vereinzeltes Murmeln.
»Meinem Vater verdanke ich das Vertrauen in meine Fähigkeit, neue Dinge zu lernen. Er hat mich gelehrt, bei allem Respekt vor der Familientradition selbstständig zu denken und meinen eigenen Weg zu gehen. Und deshalb habe ich Ihnen an dieser Stelle eine Mitteilung zu machen.«
Kurz schien es, als hielten alle die Luft an. Überraschte Gesichter, Unruhe, fragende Blicke.
Sie holte tief Atem. »Ich bin nicht nur das Kind meiner Eltern, sondern auch ein Kind unserer Stadt. Ich bin hier in Meutlingen aufgewachsen und in die Schule gegangen, ich bin als Jugendliche nachts über den Zaun ins Freibad geklettert und habe meinen ersten Kuss im Discoclub bekommen.« Sie unterbrach sich und schmunzelte. »Und ich weiß auch noch, von wem. Nach einigen Ausflügen in die Welt bin ich hierher zurückgekehrt, bin Mutter und Unternehmerin geworden, und sehr glücklich hier. Ich bin sozusagen mit Meutlingen verwachsen, die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger liegen mir am Herzen, und ich möchte mich zukünftig noch mehr engagieren. Deshalb habe ich mich entschlossen, die Leitung des Autohauses Berner vollständig in die bewährten Hände meines Mannes Martin zu legen und mich nach Jahren des ehrenamtlichen Engagements als Stadträtin bei der kommenden Wahl um das Amt der Bürgermeisterin zu bewerben. Vielen Dank.«
Die Stille war so vollkommen, dass das Absetzen eines Glases auf der Empfangstheke klang, als hätte jemand einen Schuss abgefeuert. Im nächsten Moment löste sich die Spannung, einige Gäste fingen an zu klatschen. Andere fielen ein, schließlich applaudierten fast alle. Nur Abele, Heuweiler und Huber standen mitstarrer Miene da, die Arme vor der Brust verschränkt. Auch Marianne wirkte überrascht, dabei hatte Claudia sie in ihre Pläne eingeweiht. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter sie wieder einmal nicht ernst genommen.
Martin ging zu Claudia und umarmte sie demonstrativ. Der Applaus brandete noch einmal auf und verebbte dann. Plötzlich schien es, als fingen alle im Raum gleichzeitig zu sprechen an.
Hand in Hand kehrten Claudia und Martin zurück an ihren Tisch, wo die lächelnde Ceyda sie erwartete. »Super gemacht«, sagte sie und erhob ihr Glas. »Du hast genau den richtigen Ton getroffen. Die Meutlinger werden dich lieben.«
Zu dritt stießen sie an.
Claudia nahm einen tiefen Schluck und stellte ihr Glas ab. »Ich hab’s wirklich getan«, sagte sie staunend.
»Du machst doch immer, was du dir vornimmst«, sagte Martin.
Sie lächelte. »Das glaubst auch nur du.«
Claudia wirkte nach außen zielstrebig und selbstbewusst, aber hinter der Fassade lauerte eine beachtliche Portion Selbstzweifel. Monatelang hatte sie mit ihrer Entscheidung gerungen. Und selbst jetzt war es nicht so, dass sie keine Bedenken mehr hätte.
Ceyda hielt ihr Handy hoch und warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Soll ich?«
Claudia nickte.
Ceyda tippte einige Male aufs Display, dann ließ sie das Handy sinken und erhob die Hand für ein High five. Claudia schlug ein. Die vorbereitete Pressemeldung, in der ihre Kandidatur bekannt gegeben wurde, war raus.
Plötzlich hob Ceyda die Augenbrauen und machte eine unauffällige Kopfbewegung. Claudia drehte sich um. Manfred Abele kam auf sie zu, sichtlich bemüht, seinem Gesicht einen jovialen Ausdruck zu geben. Dicht hinter ihm folgten Heuweiler und ein eifriger Pressefotograf.
»Das isch ja mal eine Überraschung, liebe Frau Berner«, sagte Abele. »Dann wollen wir doch mal sehen, wem die Meutlinger mehr vertrauen, dem erfahrenen Amtsinhaber oder dem ahnungslosen Neuling. Oder sollte ich sagen, der Neulingin?« Er verzog maliziös den Mund.
Claudia streckte die Hand aus. »Auf einen fairen Wahlkampf, Herr Bürgermeister.«
Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. Claudia drehte sich zur Kamera und lächelte, es klickte mehrfach. Abele blickte grimmig, machte auf dem Absatz kehrt, gefolgt von Heuweiler, der hinter ihm her zum Ausgang wuselte.
Auf Ceydas Gesicht lag ein breites Grinsen. »Allein für diesen Moment hat es sich doch schon gelohnt, oder?«
Claudia wusste, dass der eigentliche Kampf noch vor ihr lag. Es war ein aufregendes und beängstigendes Gefühl; ähnlich wie damals, als sie zum ersten Mal ihr Elternhaus verlassen hatte, um ein Schuljahr in Mexiko zu verbringen, wo der Hersteller ein großes Werk betrieb und ihr Vater Beziehungen hatte. Endlich war die Zeit vorbei, in der ihre Eltern oder ihr Mann sie ausbremsten. Nun würde sie ihren ganz eigenen Weg gehen.
Mehrere Gäste kamen zu ihr an den Tisch, und mit einem Mal war sie umringt von Menschen, die ihr gratulierten und Fragen stellten. Ob sie schon genügend politische Erfahrung gesammelt habe? Wie sich das Amt mit der Familie vereinbaren lasse? Ob sie keine Interessenkonflikte fürchte? Alles Fragen, die sie sich selbst auch gestellt hatte. Und auf die sie Antworten gefunden hatte oder finden würde.
Wie anders es sich anfühlte, diese Glückwünsche entgegenzunehmen! Sie galten nicht den Leistungen ihrer Familie in der Vergangenheit, sondern ihr persönlich, und einer Zukunft, die sie – wenn alles gut ging – mitgestalten würde.
Marianne wanderte durch ihre Wohnung, eine selbst gedrehte Zigarette in der Hand. Der süßliche Geruch von Cannabis erfüllte die Räume und kontrastierte auf eigenartige Weise mit der Einrichtung aus altmodischen Stilmöbeln, die noch von ihren Eltern stammte. Schon lange plante sie, sich neu einzurichten, hatte sich aber bis jetzt nicht dazu durchringen können.
Gras beruhigte sie und half gegen die Schlaflosigkeit. Vor Jahren hatte ein befreundeter Arzt es gegen ihre Migräneanfälle verschrieben, und zu ihrer größten Überraschung hatte es gewirkt. Nicht nur die Schmerzen wurden schwächer, sie schlief auch besser. Es war ihr immer noch peinlich, und sie legte größten Wert darauf, dass niemand außer ihrem Arzt und der Apothekerin etwas davon erfuhr. Was würden die Leute sich das Maul über sie zerreißen, wenn es bekannt würde! Eine kiffende Rentnerin, das wäre ja noch schöner. Auch die Witze, die ihre Familie darüber reißen würde, konnte sie sich lebhaft vorstellen. Oma ist schon wieder high, würde es heißen, und was sonst noch alles.
Glücklicherweise hatte sie alle dazu erzogen, niemals unangemeldet bei ihr aufzutauchen. So viel Privatsphäre musste sein, wenn sie schon gezwungen war, im selben Haus zu wohnen. Nun ja, gezwungen war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Immerhin war es ihr Elternhaus, hier war sie aufgewachsen, hier hatte sie mit Walter gelebt, während sie gemeinsam die Firma leiteten, hier hatten sie Claudia aufgezogen, und als Claudia selbst eine Familie gründete, waren sie – wie eine Generation zuvor ihre Eltern – in die Dachgeschosswohnung gezogen. Walter war vor sieben Jahren gestorben, und nun lebte sie hier allein, umgeben von den Gespenstern der Vergangenheit, denen sie mit eiserner Disziplin und gelegentlicher Unterstützung durch Substanzen begegnete.
Sie zog ein letztes Mal und drückte den Stummel aus. Das Zeug wirkte heute nicht. Sie öffnete ein Fenster und ließ den Rauch abziehen.
Claudia hatte in den letzten Monaten hin und wieder davon gesprochen, dass sie eine Kandidatur in Erwägung zog, aber Marianne hatte keinen Moment daran geglaubt. Sie hatte es für eine dieser Schnapsideen gehalten, die ihre Tochter manchmal überkamen und die sie oder Martin ihr normalerweise ausredeten. Zuletzt wollte Claudia ein Frauenförderprogramm in der Firma auflegen, um mehr junge Frauen für den Beruf der Mechatronikerin zu begeistern. Die Mitarbeiterinnen in Personal und Verwaltung sollten Fortbildungen und Coachings in Selbstbewusstsein erhalten.
»Damit sie dann kündigen, weil sie plötzlich glauben, sie wären zu Höherem berufen«, hatte Marianne gesagt. »Kommt nicht infrage.«
Schließlich gab Claudia sich damit zufrieden, dass die Firma sich an einer Aktion zum Girls Day beteiligte, bei der Mädchen durch den Werkstattbereich geführt wurden und dabei zuschauen konnten, wie ein kaputter Anlasser repariert wurde. Keine der Teilnehmerinnen hatte sich danach für einen Ausbildungsplatz beworben.
Und jetzt dieser Quatsch mit der Kandidatur zur Bürgermeisterin! Natürlich, alle ärgerten sich hie und da über Abeles Selbstherrlichkeit, insgesamt hielt Marianne ihn aber für einen vernünftigen Mann. Seine Familie war seit Generationen hier verwurzelt, er kannte die Stadt wie kein Zweiter, war ein gewiefter Jurist und wusste, wie man Fördergelder und Sponsoren an Land zog. Er war bestens vernetzt, seine Seilschaften reichten bis in die Bundespolitik und vor allem tief in die Wirtschaft. Er hatte so viele Leute von sich abhängig gemacht, dass er fest im Sattel saß.
Was hatte Claudia dem entgegenzusetzen? Ein Austauschjahr als Schülerin in Mexiko, ein knapp zu Ende gebrachtes Politikstudium, ein paar Jahre bei NGOs. Bevor sie ihren Traum von der Entwicklungshelferin wahr machen konnte, war sie auf den smarten Verkäufer Martin reingefallen, der es aus Mariannes Sicht von Anfang an auf ihre Tochter abgesehen hatte. Claudia war schwanger geworden, und schon war es vorbei gewesen mit den großen Visionen. Als Anouk aus dem Gröbsten heraus war, hatte Claudia im Schnelldurchgang die Abteilungen der Firma durchlaufen und Fortbildungen in Betriebswirtschaft und Personalführung absolviert.
Einer der wichtigsten Grundsätze der Familie Berner lautete: Wir halten uns raus aus der Politik. Denn mit jeder politischen Positionierung verlor man Kundschaft. Schon Claudias Tätigkeit als Stadträtin verstieß gegen diesen Grundsatz, aber eine Kandidatur zur Bürgermeisterin trat ihn regelrecht mit Füßen. Selbst wenn sie nach der Wahl die Geschäftsführung aufgäbe, würde ihr Name untrennbar mit dem des Autohauses verbunden bleiben, und jede ihrer Äußerungen, jeder Konflikt, den sie austrug, würde der Firma schaden.
Marianne stand jetzt in der Küche und füllte ein Glas mit Leitungswasser, das sie in wenigen Schlucken hinunterstürzte. Nach kurzem Zögern griff sie in den Küchenschrank, holte die Flasche Whiskey heraus und füllte das Glas zu einem Drittel. Dann ließ sie sich auf einen der Stühle am Küchentisch fallen.
Hätte sie bloß ihre Leitungsfunktion nicht abgegeben! Nach Walters Tod hatte sie keine Kraft mehr gehabt, außerdem hatte sie damals schon das Rentenalter erreicht. Was war da naheliegender, als den Weg freizumachen für die nächste Generation und Claudia die Verantwortung zu übertragen? Claudia und Martin waren ein Unternehmerpaar wie aus dem Bilderbuch, ihre Zusammenarbeit war seit Jahren eingespielt, und so war auch die Übergabe des operativen Geschäfts nahezu reibungslos verlaufen.
Wenn sie geahnt hätte, wie die beiden ihr in den Rücken fallen würden, wäre sie auf ihrem Posten geblieben! Warum sollte sie mit vierundsiebzig nicht in der Lage sein, eine Firma zu leiten? Sie war wenigstens Herrin ihrer Sinne. Und was war eigentlich mit Martin? Offenbar unterstützte er die Pläne seiner Frau, dabei hätte er ihr diesen Unfug ausreden müssen. Die Firma zuerst lautete ein anderer Grundsatz. Im Zweifelsfall mussten persönliche Ambitionen eben zurückgestellt werden.
Marianne hatte die Vorbehalte gegen ihren Schwiegersohn nie überwunden. Er hatte das Beste aus seiner Rolle gemacht, der anhaltende Erfolg der Firma ging zu einem großen Teil auf sein Konto. Aber er hatte den gleichen Makel, den auch ihr Mann Walter gehabt hatte: Er war kein echter Berner. Und wer nicht zur Familie gehörte, dem konnte man niemals vollständig vertrauen.
Aber was sollte man machen, wenn es in einem Familienunternehmen keinen männlichen Nachkommen gab? Man übertrug die Leitung pro forma den Töchtern und sorgte dafür, dass sie die passenden Männer heirateten.
Auch sie, Marianne, hatte mal andere Ambitionen gehabt. Sie hatte davon geträumt, Lehrerin zu werden. Sie wollte Wissen an die nächste Generation weitergeben, die Persönlichkeit junger Menschen formen, sie zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft machen. Aber in ihrer Generation wusste man eben noch, was Pflichtbewusstsein ist. Daran, dass ihr Platz im Unternehmen war, hatte ihr Vater keinen Zweifel gelassen. Sie hatte nicht gewagt, sich zu widersetzen.
Marianne stand wieder auf und ging, das fast geleerte Glas in der Hand, zurück ins Wohnzimmer. Vor den zwei Ölgemälden mit den Porträts ihrer Eltern blieb sie stehen. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Gesicht ihres Vaters, der – ungefähr im Alter von fünfzig – im Stil alter Meister festgehalten war.
»Sei froh, dass du das nicht mehr miterleben musst«, sagte sie und prostete ihm zu. »Was du ererbt von deinen Vätern …« Sie brach ab und schnaubte.
Dann nahm sie den letzten Schluck aus ihrem Glas.
Dieser junge Mann, den Anouk im Schlepptau hatte, dieser abgerissene Kerl, der offensichtlich einen schlechten Einfluss auf ihre Enkelin ausübte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Er erinnerte sie an jemanden, und den ganzen Abend hatte sie nicht herausgefunden, an wen. Auch auf ihn war sie wütend.
Martin streckte den Arm aus und berührte die Wange seiner Frau, die neben ihm im Bett lag. Der Abend hatte ihn aufgeputscht, er war erregt und wünschte sich Sex. Anders, das wusste er, würde er nicht einschlafen können.
Claudia wandte ihm den Kopf zu und lächelte. Sie schien mit den Gedanken weit weg zu sein. Er näherte sich ihr, um sie zu küssen. Sie ließ es geschehen, erwiderte seinen Kuss aber nicht.
»Hast du die Gesichter der Leute gesehen?« Sie gluckste wie ein Schulmädchen, dem ein Streich gelungen war.
Er küsste sie erneut, diesmal drängender, und legte seine Hand auf ihre Brust.
»Komm doch«, murmelte er an ihrem Hals.
»Jetzt nicht.« Claudia schob seine Hand weg. »Ich bin noch zu … aufgedreht.« Sie stemmte sich auf ihren Ellbogen und stützte den Kopf auf.
Martin biss die Zähne zusammen und überlegte, wie er sie herumkriegen könnte.
»Abele sah aus, als hätte ihn der Schlag getroffen«, fuhr sie unbeirrt fort, »und Heuweiler hatte regelrecht Schnappatmung.«
Er gab es auf und drehte sich wieder auf den Rücken. Manchmal sehnte er sich nach den Zeiten zurück, wo Widerstand als Teil des Vorspiels betrachtet wurde und es okay war, ein bisschen zudringlich zu werden.
»Wir müssen unbedingt mit Huber reden«, sagte er und versuchte, seine Erektion zu verbergen.
»Aber der wusste doch Bescheid!«, rief Claudia.
»Nicht, dass du es während des Festaktes verkünden würdest. Er hat sich übergangen gefühlt, und du weißt, wie er das hasst.«
Claudia zuckte die Schultern. »Er wird sich schon wieder beruhigen.« Sie verschränkte ihre Beine zum Schneidersitz, offenbar war sie in Plauderlaune. Martin unterdrückte den Frust, der in ihm aufstieg. Warum konnte sie nicht einfach mit ihm schlafen, wenn sie merkte, dass er es brauchte?
»Hast du Anouks neuen Freund gesehen?«, fragte sie.
»Woher weißt du, dass er ihr neuer Freund ist?«, gab er gereizt zurück.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Was glaubst du, warum sie in diesem Aufzug erschienen ist? Unsere brave Tochter! Sie hatte sich für den Abend doch extra ein Kleid gekauft. Das war kein Versehen, das war so was wie eine … öffentliche Liebeserklärung.«
»Ich hoffe nur, er lenkt sie nicht vom Lernen ab, so kurz vor dem Abi«, sagte er und setzte sich nun ebenfalls auf. Die verdammte Erektion ließ nicht nach.
Energisch schüttelte Claudia den Kopf. »Du kennst sie doch, sie ist so pflichtbewusst. Ein bisschen Ablenkung schadet ihr bestimmt nicht.«
Martin litt. Was war aus seinem angeblich so unwiderstehlichen Charme geworden? War er nicht mehr in der Lage, seine eigene Frau zu verführen? Er wollte es jetzt. Er brauchte es. War es nicht sogar irgendwie … sein Recht?
»Dir würde ein bisschen Ablenkung übrigens auch nicht schaden«, sagte er mit seiner sinnlichsten Stimme und blickte ihr tief in die Augen.
Einen Moment zögerte sie, dann gab sie auf und legte sich hin. Er rollte sich neben sie, küsste ihren Hals und begann erneut, ihre Brust zu streicheln. Sie bog den Rücken, was er als Zustimmung wertete, nahm ihre Hand und zog sie zwischen seine Beine. Sie begann, ihn zu massieren. Er stöhnte auf.
Plötzlich fuhr sie hoch und schwang die Beine über den Bettrand.
»Ich muss pinkeln.«
Er sah, wie sie auf dem Weg zum Bad nach ihrem Handy griff, das auf der Kommode lag. Bestimmt wollte sie nachsehen, ob schon was über ihre Ankündigung im Netz stand, ob Leute ihr geschrieben und gratuliert hatten. Als könnte das nicht bis morgen warten. Eine unerwartet heftige Wut erfasste ihn. Seine Erektion pulsierte, seine Hoden schmerzten. Er kam sich vor wie ein Idiot.
Von Anfang an hatte er sie bei ihrem Plan unterstützt, hatte sie bestätigt und ihr gut zugeredet, wenn ihr Zweifel gekommen waren. Weil sie es sich so sehr wünschte, aber auch, weil er an sie glaubte. Claudia würde eine gute Bürgermeisterin abgeben, da war er sich ganz sicher. Sie interessierte sich wirklich für die Menschen, anders als Abele, dem es nur um seinen persönlichen Vorteil ging. Sie war intelligent, vorausschauend, pragmatisch. Die Leute mochten sie, weil sie nicht nur redete, sondern auch anpackte.
Und ihr Schritt war auch eine Chance für ihn. Endlich würde er aus ihrem Schatten treten. Er wäre nicht mehr der Mann von Claudia Berner, der Schwiegersohn von Marianne Berner, der Angestellte des Autohauses Berner. Er würde Geschäftsführer werden.
Martin setzte sich auf den Bettrand und atmete gegen die Wut an. Er konnte jetzt keinen Konflikt mit Claudia riskieren. Immer wieder hatte er ihre Unsicherheit gespürt, ob sie diesen Schritt wirklich gehen und ihren Posten aufgeben sollte. Sie empfand es als Verrat an ihrem Vater und wurde von Schuldgefühlen gequält. Einige Male war sie kurz davor gewesen, einen Rückzieher zu machen. Er durfte ihr keinen Vorwand dafür liefern.
Er hatte lange genug bewiesen, dass er kein Emporkömmling war, kein Goldgräber, der nur auf Wohlstand und Status aus war. Er hatte geschuftet, und er war immer loyal gewesen. Ohne ihn wäre die Firma nicht da, wo sie heute war. Ohne ihn wäre Claudia nicht da, wo sie heute stand. Der Geschäftsführerposten war die Anerkennung, die er sich verdient hatte.
Er blickte an sich hinunter. Seine Erektion war in sich zusammengefallen.
Claudias Schritte näherten sich. Schnell legte er sich hin und deckte sich zu. Als sie das Schlafzimmer betrat, grinste er sie an.
»Tut mir leid, Schatz, das war unsensibel von mir.«
Sie blieb stehen und blickte ihn überrascht an. »Ach ja?«
»Es war ein aufregender Abend, ich verstehe, dass du nicht … entspannt genug bist.« Er schlug die Bettdecke zurück. »Komm ins Bett. Das Sexmonster lässt dich in Ruhe.«
Der sonntägliche Brunch war, seit Claudia denken konnte, ein fester Termin im Hause Berner. Die Familienmitglieder fanden sich pünktlich um elf Uhr in der Wohnküche ein, Ausnahmen gab es nur, wenn jemand krank oder verreist war.
Als Kind liebte sie diese regelmäßigen Zusammenkünfte mit ihren Großeltern, die so ein angenehm heimeliges Gefühl in ihr hervorriefen. Natürlich wurde immer viel übers Geschäft gesprochen, aber das Wichtigste war, dass sie alle zusammen waren. Dann starben nacheinander ihr Opa und ihre Oma, zuletzt ihr Vater, und inzwischen fühlte sich das sonntägliche Familienfrühstück an wie eine lästige Pflichtveranstaltung, an der nur noch Marianne gelegen war. Aber Claudia brachte es nicht übers Herz, die langjährige Tradition abzuschaffen. Es gab so wenig, was ihrer Mutter geblieben war, da wollte sie ihr diese Freude nicht auch noch nehmen.
Claudia saß am Tisch und scrollte in ihrem Handy. Auf der Internetseite des Meutlinger Tagblattes stand eine kurze Meldung über ihre geplante Kandidatur, mit dem Foto von ihr und Abele, auf dem sie strahlte und er verkniffen dreinblickte. Andere Zeitungen aus der Region würden sicher bald folgen. In ihrem Postfach landeten immer mehr E-Mails mit Gratulationen und Angeboten, sich auf die Unterstützerliste setzen zu lassen. Für ihre Bewerbung musste sie hundert Unterschriften von Persönlichkeiten der Stadt sammeln. Ceyda hatte schon rund siebzig Namen notiert, bei denen sie anfragen wollten, die restlichen würden sich bei einer Einwohnerzahl von fast sechzigtausend sicherlich auch noch finden. Sie zwang sich, das Handy wegzulegen, und blickte auf. Martin stand am Küchenblock und schnitt Obst. Er lächelte ihr zu.
Sie war immer noch überrascht. Er konnte es schwer ertragen, im Bett zurückgewiesen zu werden. Normalerweise reagierte er eingeschnappt, sprach manchmal den ganzen folgenden Tag nicht mit ihr. Sein verständnisvolles Verhalten von gestern Nacht war ganz und gar ungewöhnlich, ja fast verdächtig gewesen. Als wollte er auf keinen Fall riskieren, sie zu verärgern. Irgendwann in der Nacht war sie aufgewacht und hatte ihn mit offenen Augen daliegen sehen, offensichtlich wütend und frustriert. Schnell hatte sie die Augen geschlossen und sich schlafend gestellt.
Die Tür öffnete sich, und Julian schlurfte grußlos herein. Er sah mitgenommen aus. Claudia war sicher, dass er sich trotz ihres Verbots gestern weiteren Alkohol genehmigt hatte. Das schlechte Gewissen sprang sie an wie ein tollwütiges Tier. Kümmerte sie sich zu wenig um ihren Sohn? War sie zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt? Und wie würde es erst sein, wenn man sie tatsächlich wählte? Dann hätte sie noch weniger Zeit für die Familie.
Anouk würde klarkommen, sie war eine Selbstläuferin, die noch nie Probleme gemacht hatte. Claudias Sorgenkind war Julian, ihr Knubbelchen. Er war labil, vielleicht sogar gefährdet. Auf ihn würde sie unbedingt ein Auge haben müssen.
Sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Schritte näherten sich der Küche. Wieder ärgerte sie sich, dass ihre Mutter einen Schlüssel zu diesem Teil des Hauses besaß, während keiner von ihnen es wagen durfte, unangemeldet ihr Reich im Dachgeschoss zu betreten.
Die Tür ging auf.
»Guten Morgen allerseits.« Marianne, wie immer tadellos gekleidet und frisiert, blieb einen Moment stehen, bis alle ihr einen guten Morgen gewünscht hatten. Dann ließ sie den Blick durch die Küche schweifen und schritt zu ihrem Platz.
»Wo ist Anouk?«
»Knubbel, sei so lieb und sieh mal nach«, bat Claudia ihren Sohn.
Der stand widerwillig auf. »Ich heiße Julian.«
Martin schenkte Kaffee ein und stellte Milch und Zucker auf den Tisch, dann reichte er Marianne die Schüssel mit dem Obstsalat und Claudia den Brotkorb. Das Ritual des Sonntagsfrühstücks war so lange eingeübt, dass jeder die Vorlieben der anderen Familienmitglieder kannte.
Marianne füllte ihr Schälchen, dann reichte sie Martin die Schüssel. Er bedankte sich und erkundigte sich höflich nach ihrem Befinden. Es war bekannt, dass sie manchmal schlecht schlief. Sie ignorierte seine Frage.
»Das war ein bemerkenswerter Abend«, sagte sie.
»Ja, nicht wahr?«, erwiderte Claudia schnell. »Ein voller Erfolg.«
Ihr war klar, dass ihre Mutter eine Attacke plante, und sie hatte sich fest vorgenommen, sich nicht provozieren zu lassen.
Bevor Marianne antworten konnte, rumpelte Julian wieder herein.
»Sie ist nicht da.«
Martin blickte überrascht. »Was?«
»Wie bitte«, verbesserte Marianne ihn.
»Hast du überall nachgesehen?«, fragte Claudia.
»Sie ist nicht in ihrem Zimmer und nicht im Bad«, sagte Julian. »Wo soll ich sie eurer Meinung nach sonst suchen? Im Wandschrank? Auf dem Speicher?«
»Vielleicht ist sie heute Morgen früh los«, sagte Claudia.
»Aber ihr Bett ist gemacht.«
Ihre Tochter war sehr ordentlich, aber dass sie nach einer langen Nacht früh aufstehen und vor dem Verlassen des Hauses ihr Bett machen würde, war dann doch unwahrscheinlich.
Anouk meldete sich immer ab. Schon als Kind hatte sie in krakeligen Buchstaben Zettel geschrieben, wenn sie zu einer Freundin gegangen war. Wenn sie heute irgendwo übernachtete, sagte sie immer Bescheid. Konnte es sein, dass Claudia ihre Nachricht übersehen hatte?
Sie griff nach dem Telefon. Als sie keine Nachricht fand, rief sie Anouks Nummer an. Mailbox. Sie tippte: Wo bist du? Bitte melde dich.
»Sie wird halt bei dem Typen sein, mit dem sie da war«, sagte Julian und biss in sein Brötchen.
Marianne blickte indigniert in die Runde. »Findet ihr das etwa in Ordnung?«
»Was?«, fragte Claudia verständnislos und legte das Telefon vor sich auf dem Tisch ab.
»Na, dass Anouk bei diesem fremden Kerl übernachtet. Wer weiß, wer das ist.«
»Ich fand, er sah nett aus.« Claudia griff nach der Butter.
»Hoffentlich haben die beiden Spaß zusammen«, sagte Martin und lächelte Claudia anzüglich zu.
Sie reagierte nicht.
»Weiß jemand, wer das war?«, wollte Marianne wissen. »Julian, du kennst doch immer alle.«
»Hab ihn gestern zum ersten Mal gesehen.« Julian leckte Nussnugatcreme von seinem Messer.
Claudia warf ihm einen tadelnden Blick zu.
Er kannte die Freunde und Freundinnen seiner Schwester, weil er sie, wie Anouk es ausdrückte, »stalkte«. Wenn er Joshua bisher nicht begegnet war, bedeutete es, dass sie ihn erst vor kurzem kennengelernt hatte.
»Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte Marianne.
»Natürlich taucht sie wieder auf«, gab Claudia gereizt zurück.
»Um auf gestern Abend zurückzukommen …«, fuhr Marianne fort.
Claudia unterbrach sie. »Mutter, lass es bitte. Ich habe dir mehrfach mitgeteilt, dass ich eine Kandidatur plane. Wenn du mir nicht zuhörst oder mich nicht ernst nimmst, ist das dein Problem.«
Ihre Mutter blickte streng. »Wir halten uns raus aus der Politik, schon vergessen?«
»Das mag für meine Vorfahren gegolten haben, für mich gilt es nicht mehr.«
Marianne beugte sich vor und fixierte sie scharf. »Ohne diese Vorfahren wärst du nichts! Du würdest in einem afrikanischen Dorf den Bau eines Brunnens beaufsichtigen oder Kindern Nachhilfe in Englisch geben.«
Claudia zuckte die Schultern. »Vielleicht hätte mich das glücklicher gemacht, als Autos zu verkaufen.«
Martin, der schweigend sein Rührei verspeist hatte, sah sie überrascht an.
Julian hob die Hand. »Kann ich mal den Obstsalat haben?«
Martin reichte ihm die Schüssel, ohne ihn anzusehen. Er hielt seinen Blick unverwandt auf Claudia gerichtet. »Du warst doch die letzten zwanzig Jahre nicht unglücklich, oder?«
Claudia legte ihm die Hand auf den Arm. »Natürlich nicht, Schatz.«
Nein, sie war nicht unglücklich. Aber sie hatte sich immer gewünscht, etwas zu verändern, Dinge zum Besseren wenden zu können. Nicht umsonst hatte sie Politik studiert und in die Entwicklungshilfe gehen wollen. Sie hatte bei einer Jugendhilfsorganisation und einem internationalen Bündnis gegen Hunger gearbeitet, dann war die Zusage für einen Einsatz in Kolumbien gekommen. Sie hatte die Flügel schon ausgebreitet gehabt und war kurz davor gewesen loszufliegen. Und dann war sie schwanger geworden.
Alles umsonst, alle Träume dahin. Sie war verzweifelt gewesen, hatte an Abtreibung gedacht. Martin drohte, sie zu verlassen, wenn sie die Schwangerschaft abbräche. Sie fürchtete, ihn zu verlieren und es vielleicht eines Tages zu bereuen, das Kind nicht bekommen zu haben. Und so war sie geblieben. Bald darauf hatten sie geheiratet, Anouk wurde geboren. Alles lief nach Plan. Nur dass es nicht ihr Plan war.
Aber natürlich liebte sie Anouk über alles und war glücklich, dass sie da war. Es war alles in Ordnung. Sie hatte sich richtig entschieden.
»Warum redest du deiner Frau diesen Quatsch mit der Kandidatur nicht aus?«, wollte Marianne von Martin wissen. »Weil du glaubst, dann hast du freie Bahn in der Firma?«
»Mutter!« Claudia funkelte sie zornig an.
Angespannte Stille senkte sich über den Tisch.
Schließlich sagte Martin: »Meine Frau ist durchaus in der Lage, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Und ich unterstütze sie dabei, weil ich sie liebe.«
Marianne gab ein leises Schnauben von sich.
»Wenn der Typ recht hat, wird’s das Autohaus Berner in der nächsten Generation sowieso nicht mehr geben«, sagte Julian, und es klang, als fände er diese Vorstellung beruhigend.
»Welcher Typ?«, fragte Martin.
»Na, dieser Joshua.«
»Du hast dich mit ihm unterhalten?« Claudia war überrascht.
»Klar, wieso nicht?«
»Und wie kommt er zu dieser Erkenntnis?« Marianne stach mit der Gabel in eine Weintraube.
»Weil mit dem Individualverkehr bald Schluss sein wird, sagt er, wegen dem Klima.«
»Wegen des Klimas«, verbesserte Marianne.
»Interessant«, sagte Martin. »Offenbar hat der junge Mann noch nichts von E-Mobilität gehört.«
»Er sagt, das wär alles Greenwashing.« Julian hob die Schultern und ließ sie fallen. »Ich hoffe, dass er spinnt. Ich will später mal einen Ferrari fahren.«
Julian hatte bereits mit vier Jahren sämtliche Automarken erkannt und mit sechs verkündet, er werde Rennfahrer. Noch immer galt seine Leidenschaft schnellen, ausgefallenen Autos. Für die »spießigen Mittelstandskutschen«, die seine Familie vertrieb, hatte er nur Verachtung übrig.
Claudia wollte dringend das Thema wechseln. »Und wie ist Joshua sonst so?«, fragte sie lächelnd.
»Er trinkt nicht.« Es klang verächtlich.
»Das ist aus unserer Sicht eine sehr gute Nachricht«, sagte sie streng. »Es reicht schon, dass du viel zu häufig Alkohol trinkst.«
Julian verdrehte die Augen. »Ach, Mama.«
»Was hast du noch über ihn erfahren?«, setzte Martin das Verhör fort.
Julian überlegte. »Er studiert irgend so was mit Energie und … Nachhaltigkeit.«
»Nachhaltige Energiewirtschaft?«
Er zuckte die Schultern. »Kann sein. Keine Ahnung. Mit dem Ökokram kenne ich mich nicht aus.«
»Würde dir nicht schaden, dich mal mit dem Ökokram zu beschäftigen«, sagte Martin. »Dann wüsstest du nämlich, dass wir bei Berner bereits fünfundzwanzig Prozent E-Autos verkaufen und auch sonst alles tun, um die Firma nachhaltig und zukunftsfähig zu machen.«
Claudia lächelte in sich hinein. Martin klang mal wieder so, als wollte er einen Kunden überzeugen. Vielleicht wollte er auch nur ihrer Mutter imponieren.
Die schlug unvermittelt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich war übrigens noch nicht fertig«, sagte sie scharf.
Claudias Kopf schnellte herum. »Nicht dieser Ton, Mutter! Ich bin kein Kind mehr.«
»Dann benimm dich nicht wie eins«, sagte Marianne. »Du hast Verantwortung, du kannst nicht einfach weglaufen.«
»Ich übernehme eine andere Art der Verantwortung«, sagte Claudia. »Und erst mal muss ich überhaupt gewählt werden.«
»Dann hoffen wir, dass die Wähler klüger sind als du.« Marianne stand auf. »Informiert mich, wenn das Kind wieder da ist.« Sie rauschte aus dem Zimmer und ließ die Tür demonstrativ ins Schloss fallen.
Julian stand ebenfalls auf. »Ist doch immer wieder schön mit euch.« Und weg war er.
Claudia seufzte. »Tut mir leid, Schatz.«
Martins Gesicht verfinsterte sich. »Wenn ich erst mal das Sagen habe, springt sie nicht mehr so mit uns um, das verspreche ich dir.«
»Warten wir’s ab.«
»Ich gebe ihr Hausverbot«, sagte er heftig. »Ich mache von meinem Hausrecht Gebrauch und untersage ihr, die Firma zu betreten!«
Als er Claudias erschrockenen Gesichtsausdruck sah, fing er an zu lachen.
»War nur ein Scherz!«
Anouk kam am späten Nachmittag zurück, mit vor Müdigkeit geröteten Augen und ungewöhnlich schweigsam. Auf Claudias Frage, warum sie sich nicht gemeldet habe, reagierte sie abweisend.
»In drei Wochen werde ich achtzehn, Mama. Ich muss mich nicht mehr abmelden.«
Sie ging in ihr Zimmer und tauchte erst zum Abendessen wieder auf. Anstatt sich an den Tisch zu setzen, füllte sie ihren Teller und ging zur Tür.
»Ich geh nach oben.«
Martin blickte sie perplex an. »Wieso isst du denn nicht mit uns?«
»Ich muss noch lernen. Ihr wollt doch, dass ich ein gutes Abi mache, oder?«
Und schon war sie aus der Tür.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Tochter. Claudia hatte gewartet, ob sie etwas zu ihrer Kandidatur sagen würde. Sie hatte sich darauf gefreut, mit ihr zu diskutieren, ihre Ideen zu hören. Aber nichts. Anouk sagte kein Wort dazu. Als wüsste sie nichts davon. Oder, schlimmer, als wäre es ihr unangenehm. Mit fast jeder Reaktion hatte Claudia gerechnet, nur nicht damit.
Selbst Julian hatte sich dazu herabgelassen, ihr zu gratulieren.
»Ich finde Politik zwar blöd, aber wenn du wen brauchst, der Plakate für dich klebt, dann mache ich das. Nicht aus Überzeugung, nur weil ich ein guter Sohn bin.« Er hatte gegrinst. »Und natürlich gegen Bezahlung.«
Der Montag begann mit dem obligatorischen Morgenmeeting, das seit der Pandemie meistens online stattfand. Heute hatte Claudia aufgrund der besonderen Umstände zu einem Präsenztreffen geladen. Üblicherweise waren außer ihr und Martin der Verkaufsleiter, der Serviceleiter, die Disponentin und die Leiter der vier Filialen dabei. Heute kamen noch die Personalbeauftragte, die Chefbuchhalterin und die Marketingleiterin dazu.
Claudia bot Kaffee, Mineralwasser und, zur Feier des Tages, frische Butterbrezeln an. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen setzten sich um den Konferenztisch und blickten erwartungsvoll auf ihre Chefin. Bevor sie anfangen konnte zu sprechen, öffnete sich die Tür, und Marianne schlüpfte herein.
»Lasst euch bitte nicht stören, ich bin gar nicht da«, sagte sie und setzte sich ans andere Ende des Konferenztisches.
Claudia fing Martins Blick auf.
»Guten Morgen, Mutter«, sagte sie. Dann wandte sie sich an die Anwesenden. »Ich kann mir denken, dass die Mitteilung meiner Kandidatur für Sie alle überraschend kam.«
»Kann man wohl sagen«, murmelte der Verkaufsleiter und griff nach einer Brezel.
»Ich find’s gut«, sagte die Marketingleiterin. »Nicht weil ich nicht gern mit Ihnen arbeite«, fügte sie an Claudia gewandt schnell hinzu, »sondern weil ich mich freue, dass jemand wie Sie gegen den Abele antritt.«
Marianne räusperte sich.
»Vielen Dank«, sagte Claudia. »Für Sie wird sich im Grunde nichts ändern, außer dass Sie demnächst an meinen Mann berichten statt an mich. Und Sie können sich sicher sein, dass er sich mit ebenso viel Herzblut für die Firma einsetzen wird, wie ich es getan habe.«
Martin rang sich ein Lächeln ab.
Sie wusste, dass er eine Rede vorbereitet hatte, in der er von seiner Verbundenheit mit dem Unternehmen und der Belegschaft sprechen und seine nächsten Ziele skizzieren würde. Er wollte die anwesenden Führungskräfte für sich begeistern und zeigen, dass er der Richtige war, um Claudias Platz einzunehmen.
Sie breitete die Arme aus. »Und nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich dem zukünftigen Geschäftsführer der Autohaus Berner GmbH das Wort übergeben.« Sie lehnte sich zurück und sah ihn gespannt an.
»Danke dir, Claudia«, sagte Martin lahm. Dann wandte er sich an die Anwesenden. »Sie kennen mich, und ich verspreche Ihnen, dass ich als Geschäftsführer kein anderer sein werde als bisher. Mir ist wichtig, dass wir hier größtmögliche Transparenz haben. Sie können mir vertrauen. Vielen Dank.«
Er setzte sich zurück und verschränkte die Arme.
Verblüfft sah Claudia ihn an. Das war alles? Was war aus der mitreißenden Ansprache geworden, die er in den letzten Tagen eingeübt hatte?
Marianne setzte sich kerzengerade auf. »Und sollte es Probleme geben, können Sie natürlich immer auch zu mir kommen«, sagte sie vernehmlich.
Martins Körper spannte sich an. Claudia berührte ihn unter dem Tisch.
»Vielen Dank, Mutter«, sagte sie. »Es ist gut, dich hinter uns zu wissen.«
Die Runde applaudierte. Marianne neigte geschmeichelt den Kopf.
»Was sagen wir den Kunden?«, fragte der Verkaufsleiter. »Manche werden das nicht gut finden. Der Abele hat viele Fans.«
»Sie lassen sich bitte nicht in Gespräche über Politik verwickeln«, sagte Claudia. »Die Kunden kommen zu Ihnen, um sich beim Autokauf beraten zu lassen. Wenn sie über Politik sprechen wollen, sollen sie zu einer Wahlkampfveranstaltung gehen.« Sie blickte in die Runde. »Keine Fragen mehr? Dann bitte ich um die Kennzahlen der letzten Woche.«
Marianne erhob sich. »Und schon bin ich wieder weg. Alles Gute für den Neustart!« Sie klopfte zum Abschied zweimal kurz auf den Tisch, dann verließ sie den Raum.
Der Verkaufsleiter sowie die vier Betriebsleiter der Filialen nannten die Ergebnisse der letzten Woche, die bereits ins System eingespeist und allen Beteiligten zugänglich waren. Trotzdem bestand Claudia darauf, dass sie bei den Sitzungen besprochen wurden. Zahlen allein sagten ihrer Meinung nach nichts aus, sie bedurften einer Interpretation.
»Was sind das für magere Ergebnisse?«, sagte Martin und deutete auf den Bildschirm. »Wir haben Frühling, die Wirtschaft erholt sich, die Leute sollten in Kauflaune sein.«
Die Anwesenden blickten betreten vor sich hin.
»Sie lesen aber schon die Zeitung?«, sagte der Verkaufsleiter schließlich. »Pandemie, der Überfall auf die Ukraine, die Angst vor steigenden Preisen …«
»Die Kunden sind aus vielen Gründen verunsichert«, sprang einer der Betriebsleiter dem Verkaufsleiter bei. »Auch die Gerüchte um Dieselverbote und ums Verbrenneraus belasten uns. Ist zwar noch eine Weile hin, aber viele überlegen da schon.«
»Davon müssten aber E-Modelle und Hybride profitieren«, widersprach Martin und zeigte auf die entsprechenden Zahlen der letzten Monate. »Da sieht’s aber genauso mau aus.«
Claudia fragte sich, warum Martin so tat, als wäre die Belegschaft schuld daran. Die Gründe dafür lagen anderswo und waren längst bekannt. Es gab derzeit Lieferschwierigkeiten vonseiten des Herstellers, aber auch der Mangel an Ladestationen, die Diskussion um die umweltschädlichen Lithium-Ionen-Akkus und deren Entsorgungsprobleme bremsten den Absatz.
Die Betriebsleiter berichteten nun der Reihe nach von den zum Teil frustrierenden Kundengesprächen, die sie in den letzten Wochen geführt hatten. Martin hörte dem Ganzen mit finsterer Miene zu.
Claudia beobachtete ihn. Das Unbehagen, das sie in ihrem Inneren spürte, wurde immer stärker. Im Zweierteam hatten sie perfekt funktioniert, deshalb war es ihr völlig natürlich erschienen, dass Martin ihre Nachfolge antreten sollte. Der Gedanke, dass er es allein nicht stemmen könnte, war ihr nie gekommen.
»Claudia, was sagst du dazu?«
Martins Stimme ließ sie aufschrecken. Er hatte ihr seinen Laptop zugeschoben, auf dem der Entwurf für den nächsten Newsletter zu sehen war.
»Ich schau ihn mir gleich an«, murmelte sie.
Die Runde diskutierte noch eine Weile, aber Claudia war nicht mehr bei der Sache.
»Gibt es noch Fragen?«, erkundigte sich Martin am Schluss der Sitzung.
Der Serviceleiter hob die Hand. »Wann erfolgt denn die Übergabe der Geschäftsführung?«
Bevor Martin antworten konnte, sagte Claudia: »Es gibt noch ein paar bürokratische Dinge abzuwickeln, das wird etwas dauern. Ich rechne damit, dass die offizielle Übergabe der Geschäftsleitung in circa … sechs bis acht Wochen erfolgen kann.«
Sie bemerkte Martins überraschten Blick.
Nachdem die Mitarbeiter sich verabschiedet hatten und sie zu zweit im Konferenzraum zurückgeblieben waren, sah er sie fragend an.
»Sechs bis acht Wochen? Was ist los, hast du kalte Füße gekriegt?«
Sie hatten immer von einer sofortigen Übergabe gesprochen, um kein »Machtvakuum« entstehen zu lassen, wie Martin es nannte. »Die Leute müssen wissen, woran sie sind«, hatte er immer wieder betont, und sie hatte ihm recht gegeben.
»Auf ein paar Wochen hin oder her kommt es doch jetzt nicht mehr an«, wiegelte sie ab. »Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass ich mit fliegenden Fahnen von der Brücke gehe.«
Martin schüttelte den Kopf. »Der Vertrag steht, wir müssen nur noch zum Notar. Sogar eine Assistentin habe ich schon gefunden. Sobald sie anfängt, ziehe ich in dein Büro um, und das war’s.«
Sie blickte ihm direkt ins Gesicht. »Mach keinen Machtkampf daraus, Martin. Ich brauche noch etwas Zeit.«
»Es ist deine Mutter, stimmt’s?«, sagte er. »Wirkt ihr Gift schon?«
Bevor sie antworten konnte, klingelte ihr Telefon. Sie blickte aufs Display und stand seufzend auf. »Huber.« Mit dem Handy am Ohr verließ sie den Raum.
Durch die gläserne Wand seines Büros beobachtete Martin seine Frau. Er verstand nicht, was plötzlich in sie gefahren war. Die schnelle Übergabe war beschlossene Sache gewesen – warum also die Verzögerung?
Claudia ging den Flur auf und ab, während sie telefonierte. Mit ihrer sportlichen Figur und dem schulterlangen Haar sah sie deutlich jünger aus, als sie war. Noch immer bewegte sie sich wie ein junges Mädchen, auch ihre lebhafte Mimik war noch dieselbe. Sie hatte ihm von Anfang an gefallen, aber zuerst hatte sie ihn gar nicht bemerkt. Oder bemerken wollen. Klar, dachte er, sie war ja auch die Tochter vom Chef und er nur ein kleiner Autoverkäufer. Als sie bei einer Betriebsfeier zum ersten Mal ins Gespräch kamen, war er schon zwei Jahre in der Firma und hatte die Hoffnung, ihr näherzukommen, längst aufgegeben. Schnell merkte er, dass ihr egal war, was er darstellte; sie wollte erfahren, wer er war. Sie fragte ihn nach seiner Kindheit und seinen Träumen, und in kürzester Zeit hatte er ihr mehr über sich erzählt, als er jemals zuvor preisgegeben hatte. Claudia trug an jenem Abend hohe Schuhe, die sie, wie er inzwischen wusste, verabscheute, und irgendwann kickte sie die eleganten Pumps von sich und blieb den Rest des Abends barfuß. Sie redeten, bis alle Gäste gegangen waren. In der Morgendämmerung liefen sie über die feuchte Wiese im Stadtpark um die Wette, sie barfuß, er in seinen schwarzen Anzugschuhen. Claudia gewann.
Inzwischen waren sie seit bald zwanzig Jahren verheiratet, und sie schaffte es immer noch gelegentlich, ihn einzuschüchtern. Manche nannten Claudia »durchsetzungsstark«, andere »bossy«. In Wahrheit war sie einfach leidenschaftlich, wenn ihr etwas wichtig war.