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Eine starke Frau, ein ungewöhnlicher Auftrag, eine Liebe auf dem Prüfstand
Die vierzigjährige Bauingenieurin Katja erhält die Chance ihres Lebens: Sie soll einen Windpark in Litauen bauen. Während zu Hause das Kinder-Chaos tobt, kämpft sie gegen korrupte Politiker und gewaltbereite Windkraftgegner. Mit Mut und Raffinesse überwindet sie alle Widerstände – doch dann taucht das attraktive Au-pair-Mädchen Sofia auf und will Katja offenbar den Platz an der Seite ihres Mannes streitig machen …
Katja Moser ist Bauingenieurin, seit fünfzehn Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Endlich bietet sich ihr die Chance, wieder voll in den Beruf einzusteigen: Ihr Chef macht sie zur Verantwortlichen für ein Windkraftprojekt in Litauen. Trotz ihrer Skrupel, die Kinder so lange allein zu lassen, nimmt sie die Herausforderung an – und alles geht schief: Das erste Au-pair-Mädchen ist völlig unfähig und fährt nach zwei Tagen wieder ab, ihre ausgeflippte Mutter macht das Chaos noch größer, und die Aufgabe in Litauen erweist sich als nahezu undurchführbar – gegen Korruption, Bestechung und massive Bedrohungen fühlt Katja sich machtlos. Als sie dann noch das Opfer einer üblen Intrige wird, scheint ihr Vorhaben endgültig zu scheitern. Verzweifelt kämpft sie um ihr Projekt und schließlich um ihr Leben, denn ihre Gegner scheinen auch vor Mord nicht zurückzuschrecken. Zu Hause hat inzwischen Sofia, das neue Au-pair-Mädchen, ihre Rolle übernommen. Und Katja ist überzeugt, dass die attraktive junge Frau nichts anderes im Sinn hat, als sie zu verdrängen. In ihrer Panik riskiert sie, alles zu verlieren, was ihr wichtig ist . . .
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Seitenzahl: 426
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Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
Covergestaltung: Eisele Grafik Design
ISBN 978-3-641-06830-1V002
www.heyne.de
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Es gibt Momente im Leben einer Frau, die sie nie mehr vergisst. Den ersten Kuss. Das erste Mal. Das erste Kind. Das erste Au-pair-Mädchen.
Unseres hieß Olga. Lange hatten wir uns nicht entscheiden können, ob sie es sein würde oder eines der vielen anderen Mädchen, die uns angeboten worden waren. Immer wieder lasen wir im Internet die Beschreibungen und verglichen die Vor- und Nachteile der Bewerberinnen miteinander.
»Diese kann Auto fahren«, sagte Michael.
»Aber sie hat so gut wie keine Deutschkenntnisse«, wandte ich ein.
»Die da sieht echt niedlich aus. Woher kommt sie? Argentinien? Brasilien?«
Stirnrunzelnd sah ich ihn an. »Niedlich? Ist das wirklich ein Kriterium?«
»Schönheit ist ein gern gesehener Gast, wie Goethe gesagt hätte. Schließlich habe ich sie jeden Tag vor Augen, da kann es nicht schaden, wenn ihr Anblick Freude bereitet.«
»Abgelehnt«, entschied ich.
Er grinste. »Traust du mir nicht?«
»Darum geht es nicht«, sagte ich gereizt, »von mir aus kann sie aussehen wie Miss World. Aber stell dir vor, sie taugt nichts oder hat solches Heimweh, dass sie nicht hierbleiben will. Dann können wir ihr für tausend Euro ein Rückflugticket nach Brasilien kaufen.«
Michael grinste. »Dann sollten wir am besten ein Mädchen aus Stuttgart nehmen. Die kann nach Hause trampen.«
So war es immer mit ihm. Seine Art, die Dinge zu betrachten, unterschied sich komplett von meiner. Wo ich die praktische Seite sah, suchte er nach der ästhetischen. Wo ich ein Problem witterte, vermutete er eine Chance. Wenn ich vor Schlafmangel zusammenzubrechen drohte, schlug er vor, auszugehen und eine Nacht durchzutanzen. Wir waren so verschieden, wie zwei Menschen nur sein konnten. Außerdem waren wir verheiratet und Eltern zweier Kinder. Man kann nicht behaupten, dass die Lage dadurch einfacher wurde.
An diesem Sonntagvormittag saßen wir vor dem Computer und waren im Begriff, unserem Leben eine völlig neue Wendung zu geben. Genauer gesagt, hatte es diese Wendung bereits genommen, und nun bemühten wir uns, mit den Folgen fertigzuwerden.
Ich war Bauingenieurin, gerade vierzig geworden, und hatte den Gedanken an eine berufliche Karriere eigentlich schon begraben. Als Frau war es nicht leicht, in einem Umfeld zu arbeiten, in dem sich prozentual mehr Männer tummeln als auf einem Heringskutter, und ich war schon dankbar gewesen, dass ich nach ein paar Jahren Kinderpause halbtags in meine alte Firma hatte zurückkehren können. Das war jetzt vier Jahre her. Inzwischen war Pablo eingeschult und Svenja auf dem Gymnasium.
Obwohl es mir anfangs schwergefallen war, auf meinen Beruf zu verzichten, hatte ich die Zeit mit den Kindern genossen. Sie hatten mich gelehrt, die Welt aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, mit mehr Offenheit, Liebe und Geduld. Für lange Zeit hatte ich es als beglückend empfunden, dass die Fahndung nach Svenjas Kuschelhasen oder die Frage, wann Pablos erster Milchzahn kommen würde, zum Zentrum meines Kosmos geworden waren, während ich mir vorher den Kopf darüber zerbrechen musste, wie ich möglichst viele Solarzellen auf ein Einfamilienhaus packen kann, ohne dass die Baubehörde einschreitet. Für mich, die bis dahin nichts wichtiger fand als Effizienz, war diese Phase sehr lehrreich gewesen. Ich lernte, dass nicht alles im Leben einem Ziel dienen muss und dass der Erfolg einer Tätigkeit sich nicht darin bemisst, dass sie möglichst schnell durchgeführt wird. Wer einmal erlebt hat, mit welcher Ausdauer und Begeisterung Kinder einen Regenwurm beobachten, der eine kunstvoll errichtete Sperre aus Sand und Gras zu überwinden versucht, weiß, wovon ich spreche.
Aber nun hatte ich große Lust, noch einmal etwas anderes zu errichten als Wurmsperren. Und eine glückliche Fügung wollte es, dass ich die Chance dazu erhalten hatte.
Vor einer Woche hatte Franz Obermüller, mein Chef, mich zu sich gebeten. Er war ein sympathischer, gut aussehender Typ Mitte vierzig, dessen bayerische Sprachfärbung ihn ein bisschen harmlos erscheinen ließ. In Wahrheit war er ein gewiefter Geschäftsmann, der seine Firma Sunwind äußerst erfolgreich führte. Das Unternehmen war spezialisiert auf Projekte im Bereich erneuerbarer Energien. Damit bewies Franz Konsequenz – in jungen Jahren war er bei den Grünen aktiv gewesen. Dann hatte er Dahlia kennengelernt, eine verwöhnte junge Frau aus reichem Haus, deren körperlichen Reizen er völlig erlag, die sich aber keineswegs mit seinem alternativen Lebensstil zufriedengeben wollte. Um sie zu halten, musste er ihr mehr bieten als Campingurlaub und Klamotten aus ungebleichter Baumwolle. Also wurde er Unternehmer. Nun lautete seine Devise: Geld verdienen, aber mit gutem Gewissen.
»Was weißt du über Litauen?«, fragte er mich ohne Einleitung.
»Der größte der drei baltischen Staaten, im geografischen Zentrum Europas gelegen, ungefähr so groß wie Bayern«, rasselte ich herunter.
»Energiesituation?«
Ich überlegte. »Überwiegend Kernkraft, vermute ich, wie überall in der ehemaligen Sowjetunion.«
Franz wiegte den Kopf. Die Antwort schien ihn nicht zu befriedigen.
»Da fällt mir was ein«, fuhr ich fort. »Musste sich Litauen beim EU-Beitritt nicht verpflichten, sein größtes Atomkraftwerk abzuschalten? Das Ding war baugleich mit Tschernobyl. 2004 ging die erste Stufe vom Netz, dieses Jahr, glaube ich, die zweite.«
Jetzt wirkte Franz zufrieden. »Bingo. Und nun müssen sie zusehen, wo sie ihren Strom herkriegen. In den nächsten Jahren wollen sie auf einen Anteil von zehn Prozent erneuerbarer Energien kommen. Da sich der Windpark bei Palanga als rentabel erwiesen hat, stehen die Chancen für einen zweiten äußerst günstig. Und nun rate, wer genügend Investoren für das Projekt aufgetrieben hat?«
Ich gab vor, angestrengt nachzudenken. »Wahrscheinlich der cleverste, innovativste und risikofreudigste Energie-Unternehmer westlich des Urals?«
Er strahlte. »Richtig geraten! Wir haben einen komplett neuen Fonds aufgelegt, und die Anteilseigner sind hin und weg. Das Genehmigungsverfahren läuft schon, das ist nur noch reine Formsache. Wir können also loslegen!«
Ich erinnerte mich, dass in den letzten Monaten immer wieder die Rede von einem Projekt in Litauen gewesen war. Franz war auch einige Male dorthin gefahren. Er hatte schon länger den Wunsch, Richtung Osten zu expandieren, weil er in den ehemaligen Ostblockstaaten einen riesigen Markt für Solarzellen und Windkraftanlagen vermutete. Dass es sich um ein Projekt dieser Größenordnung handelte, hatte ich nicht geahnt.
»Gratulation!«, sagte ich und lächelte.
Er beugte sich so weit vor, dass seine Krawatte eine elegante Drehung auf der Schreibtischplatte vollführte. »Und jetzt willst du sicher wissen, warum ich es dir als Erster erzählt habe?«
Ich hob die Schultern und ließ sie fallen. »Ja, klar.«
Zufrieden lehnte er sich wieder zurück. »Weil du die Projektmanagerin bist.«
Seither hatte ich Nacht für Nacht wach gelegen und mir die immer gleichen Fragen gestellt. Kann ich das überhaupt? Bin ich nicht schon viel zu lange aus dem Geschäft (in den letzten Jahren hatte ich nur Teilzeit gearbeitet)? Werden die Kinder seelischen Schaden nehmen, wenn ich so viel weg bin? Und wer soll sie überhaupt betreuen?
Nach der dritten schlaflosen Nacht erzählte ich Michael von dem Angebot, das Franz mir gemacht hatte. Das heißt, eigentlich war es ja weniger ein Angebot als ein Befehl. Ich hatte nicht den Eindruck, eine Wahl zu haben. Aber von genauso einer Herausforderung hatte ich insgeheim geträumt. Ich wollte es so gern allen noch einmal zeigen!
»Es irrt der Mensch, solang er strebt«, zitierte Michael.
»Was soll das heißen?«, fragte ich. »Traust du mir das etwa nicht zu?«
»Aber natürlich, ich finde es großartig. Du bist reif für solch eine Aufgabe.« Seine Euphorie erschien mir ein bisschen aufgesetzt.
»Und die Kinder?«, fragte ich zaghaft.
»Was soll mit ihnen sein?«
»Ich wäre die meiste Zeit in Litauen, sie würden mich wenig sehen.«
»Aber ich bin doch da«, sagte er.
Ich stieß spöttisch die Luft aus. Wenn er mit »da« meinte, dass er sich auf demselben Kontinent aufhielt, stimmte das. Aber er war mindestens drei, vier Abende die Woche unterwegs, bei Theaterpremieren, Ausstellungseröffnungen oder anderen Kulturevents, bei denen seine Anwesenheit als Redakteur des Monatsmagazins Kultwärts unverzichtbar war.
»Was ist mit deinen Abendterminen?«
»Wir finden jemanden für die Kinder.«
»Und wer soll das sein?«
»Eine Leihoma. Eine Kinderfrau. Ein Au-pair-Mädchen.«
»Ein Au-pair-Mädchen?«, kreischte ich. »Nur über meine Leiche!«
Alles, was ich von meinen Freundinnen über Au-pairs gehört hatte, war dazu angetan gewesen, mich für immer von dieser Idee zu kurieren. Eines der Mädchen hatte eine Telefonrechnung von achthundert Euro produziert und war abgehauen. Ein anderes hatte in der Wohnung der Gasteltern Freier empfangen und mit ihnen im Ehebett gevögelt. Wieder eine andere war von einem Mann, der sich rettungslos in sie verliebt hatte, entführt worden. Er hatte sie in seine Wohnung gebracht, von innen abgeschlossen und den Schlüssel aus dem sechsten Stock geworfen.
Ein Au-pair-Mädchen sei wie ein zusätzliches Kind, man habe noch mehr Verantwortung und kaum Entlastung, so die übereinstimmende Meinung aller Befragten. Meine beste Freundin Tine hatte es auf den Punkt gebracht: »Das Maximum, was du von einem Au-pair erwarten kannst, ist, dass bei deiner Rückkehr das Haus noch steht und die Kinder nicht verhungert sind.«
Nein, vielen Dank, das brauchte ich nicht. Hatte ich gedacht. Und saß nun mit meinem Mann vor dem Computer, um herauszufinden, ob Biljana aus Zagreb oder Georgette aus Marokko besser zu uns passte. Ein Blick in die Stellenanzeigen der Tageszeitung hatte uns gezeigt, dass der Lohn für eine fest angestellte Kinderfrau ungefähr die Hälfte dessen verschlingen würde, was ich netto rausbekäme, und da Michael als Kulturredakteur auch nicht gerade üppig verdiente, war schnell klar, dass ein Au-pair die einzig realistische Lösung war, wenn wir die Kinder nicht zur Adoption freigeben wollten.
Vielleicht hatten meine Freundinnen ja übertrieben. Es war doch gar nicht möglich, dass alle diese Mädchen unfähig, kriminell oder nymphoman waren. Man musste nur sorgfältig suchen, dann würde sich bestimmt eines finden, mit dem es auszuhalten wäre. Mehr noch, vielleicht würde es richtig nett werden und das Mädchen wie eine große Schwester für Pablo und Svenja sein. Man hatte ja schließlich auch soziale Verantwortung – dem Mädchen eröffneten sich nach einem Auslandsjahr bessere Zukunftschancen, und unsere Kinder würden Toleranz und Gastfreundschaft lernen.
»Ich finde es schön, nicht in der Enge der bürgerlichen Kleinfamilie zu verharren, sondern sein Haus und sein Herz zu öffnen«, sagte ich verträumt.
»Vor allem, wenn man die meiste Zeit nicht da ist«, gab Michael zurück.
Ich sah ihn an. »Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war?«
Er seufzte. »Jede große Idee, sobald sie in Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch.«
»Hat Goethe eigentlich zu allem eine Meinung?«, fragte ich genervt. »Tine hat gesagt, man muss sich nur von Anfang an abgrenzen. Die Mädchen brauchen klare Regeln.«
»Hat Tine eigentlich zu allem eine Meinung?«
Ich musste lachen. »Ja, aber was die Au-pair-Thematik angeht, ist sie Goethe an Sachverstand eindeutig überlegen.«
»Ich bräuchte auch jemanden, der für mich arbeitet«, maulte Michael, »jemanden, der Recherchen für mich macht, Material sammelt, Telefonate erledigt. Kann ein Au-pair so was?«
»Michael«, sagte ich geduldig, »diese Mädchen können nur wenig Deutsch. Deshalb kommen sie ja hierher. Natürlich können sie so was nicht.«
Er gab nicht auf. »Ich will morgens keine Fremde in meinem Badezimmer treffen.«
»Außer, sie ist Brasilianerin?«
»Ehrlich gesagt, nicht mal dann.«
»Wir haben ein Gästeklo und eine Dusche im Keller«, erinnerte ich ihn. »Unser Haus ist wie geschaffen für das Zusammenleben mit einem Au-pair-Mädchen!«
Insgeheim erträumte ich mir eine Art moderner Mary Poppins, die, elegant an ihrem Schirm hängend, aus den Weiten des World Wide Web zu uns hinabgeschwebt käme, um mit leichter Hand zu schaffen, was mir bislang nicht gelungen war: unsere Kinder zu erziehen und einen perfekten Haushalt zu führen.
»Also, dann nehmen wir jetzt diese Olga?«, vergewisserte ich mich. Mein Zeigefinger schwebte über der Computermaus. Michael nickte ergeben. Mein Zeigefinger senkte sich nach unten. »Sicher?« Michael stöhnte. Ich holte tief Luft. Legte den Zeigefinger auf die Maus. Click. Danke für Ihren Einkauf.
Olga aus der Ukraine, schrieb ich auf einen Zettel, einundzwanzig, Vater Landwirt, Mutter Lehrerin. Ich hängte den Zettel an meine Pinnwand, an der Hunderte von anderen Zetteln klebten, die mich an alles Mögliche erinnern sollten.
Mädchen aus Osteuropa, so hatten wir von der Leiterin der Au-pair-Agentur gehört, seien besonders motiviert und weniger anspruchsvoll als Mädchen aus westlichen Ländern. Der Kulturschock sei nicht so groß wie bei Bewerberinnen aus dem afrikanischen oder lateinamerikanischen Raum, sie wären sehr anpassungsfähig und würden sich schnell an die hiesigen Lebensverhältnisse gewöhnen.
Die Art, wie diese Frau über die Mädchen sprach, hatte mich an eine Hundezüchterin erinnert, die ich mal kennengelernt hatte. Sie hatte sich ganz ähnlich über die Eigenschaften und Vorzüge der verschiedenen Hunderassen ausgelassen. Motiviert. Nicht so anspruchsvoll. Besonders anpassungsfähig. Gutes Hundchen. Braves Mädchen.
Bei diesem Gedanken fühlte ich mich schlecht. Noch schlechter fühlte ich mich allerdings bei dem Gedanken, Svenja und Pablo einer wildfremden jungen Frau zu überlassen, über die wir nur das wussten, was in ihrer Bewerbung zu lesen war. Und die glich den anderen so sehr, dass wir sicher waren, es gäbe vorbereitete Standardbewerbungsbögen für Au-pairs, die einfach abgeschrieben wurden. Alle Mädchen hatten angeblich Deutsch in der Schule gelernt, als Betreuerinnen in Kinder-Ferienlagern gearbeitet und großen Spaß am Umgang mit Kindern sowie an Hausarbeit. Alle waren Nichtraucherinnen, gingen nicht gerne in Diskotheken, sondern gaben als Hobbys Lesen, Sport und Kochen an. Alle wollten nach Deutschland, um die Sprache zu lernen und die Kultur zu erleben.
»Ha«, hatte Tine geschnaubt, als ich ihr von unserem Plan erzählt hatte. »In Wahrheit wollen sie einen Kerl kennenlernen und heiraten. Bei Jana war’s jedenfalls so. Und dann ist sie an diesem Türken hängengeblieben, der sie eingesperrt und beschimpft hat, wenn sie einen kurzen Rock anziehen oder mit ihren Freundinnen weggehen wollte.«
»Was sind das denn für rassistische Sprüche«, sagte ich empört.
Tine lachte nur. »Du wirst an mich denken. Bei dieser Au-pair-Nummer geht dir die letzte Multikulti-Romantik flöten, das verspreche ich dir.«
Ich dachte nicht daran, mich negativ beeinflussen zu lassen, sondern schwelgte in den mit fröhlichen Fotos geschmückten Erfahrungsberichten, die es im Internet zu lesen gab. Darin berichteten Gasteltern voller Dankbarkeit von der Unterstützung, die sie durch ihr Au-pair erfahren hätten, und die Mädchen schwärmten vom Spaß mit den Kindern und den tollen Ausflügen, die ihre Gasteltern mit ihnen unternommen hatten.
Ausflüge? Was für Ausflüge?
»Ist doch ganz einfach«, klärte Tine mich auf, »die kommen hierher und wollen Neuschwanstein sehen und das Deutsche Museum und das Oktoberfest. Also, in Wirklichkeit wollen sie natürlich nur aufs Oktoberfest, aber weil das einen schlechten Eindruck machen würde, behaupten sie, sie wollten das andere auch sehen. Und ihr macht dann jedes Wochenende Ausflüge zu touristischen Sehenswürdigkeiten, die eigentlich keiner sehen will, weil ihr euch als Gasteltern nicht nachsagen lassen wollt, ihr hättet das Mädchen nur ausgebeutet und nichts mit ihm unternommen. «
Ich schluckte. Die Wochenenden waren die einzige Zeit, die ich mit meiner Familie würde verbringen können, da wollte ich doch nicht nach Neuschwanstein oder ins Deutsche Museum! Eigentlich wollte ich nicht mal, dass an diesen Tagen eine fremde Person im Haus wäre. Ich wollte mit meinen Kindern und meinem Mann am Frühstückstisch sitzen und das Gefühl genießen, daheim zu sein und mich erholen zu dürfen von einer anstrengenden Woche in der Fremde. Das Handelsvertretergefühl nannte ich es bei mir. Als Kind hatte ich eine Freundin gehabt, deren Vater »in Fenstern machte«. Er war die ganze Woche unterwegs und kam am Wochenende nach Hause. Dann durfte man diese Freundin nicht besuchen, ja, nicht mal bei ihr anrufen, weil der Vater keine Störungen wollte, und schon gar keinen Besuch. Aber wie sollte ich das hinkriegen, dass so ein Mädchen die Woche über alles machte, was nötig war, und sich am Wochenende in Luft auflöste?
Mir kam der Verdacht, dass diese ganze Au-pair-Sache weit komplizierter war, als ich angenommen hatte.
Als Erstes richtete ich das Gästezimmer ein. Die Matratze war ziemlich durchgelegen, eigentlich hatten wir sie länger schon ersetzen wollen. Aber sollte ich wirklich jetzt eine teure neue Matratze kaufen, wo nicht mehr meine Eltern oder Michaels Geschwister im Gästebett schlafen würden, sondern eine Fremde? Wer weiß, in welchen Verhältnissen sie in der Ukraine lebte, bestimmt würde sie es gar nicht bemerken.
»Verwöhn sie bloß nicht«, hatte Tine mich gewarnt. »Du reichst diesen Mädchen einen Finger, und sie reißen dir den Arm ab.«
»Was meinst du damit?«, hatte ich gefragt. Ich stellte mir vor, die Mädchen müssten dankbar sein für das, was sie hier vorfanden. Ein eigenes Zimmer, kostenloses Essen, Taschengeld, einen Sprachkurs – für die meisten musste das doch eine enorme Verbesserung ihrer bisherigen Lebensverhältnisse darstellen.
»Erst sind sie dankbar«, hatte Tine gesagt, »und dann werden sie gierig.«
So wollte ich nicht denken, es war nicht meine Art, anderen immer das Schlimmste zu unterstellen. Wenn man einem Menschen mit Offenheit und Großzügigkeit begegnet, würde er sich ebenso verhalten, davon war ich überzeugt.
Ich räumte den Schrank leer, schleppte einen Schreibtisch, den wir vor Jahren ausrangiert hatten, aus dem Keller nach oben und wusch die Vorhänge. Es fanden sich noch ein alter, aber gemütlicher Sessel und ein Beistelltischchen.
»Stell ihr unbedingt einen Fernseher rein«, hatte Tine empfohlen. »Sie glotzen in jeder freien Minute. Deine Kinder glotzen übrigens mit, nur damit du das schon mal weißt.«
Bisher hatten wir es geschafft, Svenja und Pablo fast völlig vom Fernseher fernzuhalten. Wir hatten ihnen viel vorgelesen und mit ihnen gespielt. Und obwohl ich es langweilig fand, auf dem Boden zu liegen und Barbies anzuziehen oder Playmobilmännchen herumzuschieben, obwohl ich Brettspiele hasste und trotz meines technischen Berufes ziemlich unbegabt fürs Basteln war, hatte ich mich all die Jahre dazu gezwungen, damit meine Kinder in einer kreativen und anregenden Atmosphäre heranwüchsen. Ich würde strenge Regeln fürs Fernsehen aufstellen.
Mir fiel ein, dass wir noch einen uralten, kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher von meiner Oma besaßen. Sie hatte ihn mir damals unbedingt schenken wollen, als sie sich einen neuen kaufte. »Er ist doch noch gut«, hatte sie gesagt, »wäre doch schade drum!« Ich hatte ihn genommen und in den Keller gestellt, und da stand er noch immer. Nun würde er wieder zu Ehren kommen.
Pablo stürmte ins Zimmer. »Mama, darf ich …«, er verstummte und sah sich überrascht um. »Warum machst du es hier so schön? Kommt Oma?«
Ich klopfte mit der Handfläche auf die Matratze. »Setz dich, mein Großer, ich erklär’s dir.«
Bisher hatten wir vor den Kindern zwar von dem großartigen neuen Projekt von Sunwind gesprochen, aber noch nicht darüber, dass ich diejenige war, die es ausführen sollte. Und schon gar nicht darüber, dass ich wochenlang weg sein würde und wir deshalb ein Au-pair-Mädchen bräuchten.
Ich legte einen Arm um seine schmalen Schultern. Für einen Siebenjährigen war Pablo ziemlich klein, außerdem war er ein äußerst empfindsames Kind. Viel zarter besaitet als seine Schwester. Um Svenja machte ich mir kaum Sorgen, um Pablo ständig. Nun versuchte ich, die richtigen Worte zu finden.
»Wir bekommen Besuch, aber es ist nicht Oma.«
»Opa?«, fragte er hoffnungsvoll.
Es gab mir einen Stich. Noch immer litt ich darunter, dass meine Eltern getrennt waren und nur einzeln zu Besuch kamen. »Nein, auch nicht Opa. Wir bekommen Besuch von einem Mädchen, sie wird eine Weile hier wohnen.«
»Ein Mädchen? Wieso nicht ein Junge? Ich spiele lieber mit Jungen.«
Ich lachte. »Es ist kein Kind, sondern eine junge Erwachsene, so was wie eine große Schwester. Sie wird auf euch aufpassen, wenn ich unterwegs bin. Sie kommt aus einem anderen Land und möchte hier Deutsch lernen. Wenn ihr viel mit ihr sprecht, lernt sie es ganz schnell. Man nennt so ein Mädchen Au-pair-Mädchen.«
Sein Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an, offenbar versuchte er zu begreifen, was das für ihn bedeutete. »Spielt sie auch mit uns?«
»Ich denke schon. Aber vor allem kocht sie für euch und wäscht eure Sachen und sorgt dafür, dass ihr pünktlich zur Schule kommt und Schulbrote dabeihabt.«
Er drehte den Kopf zur Seite und sah mich an: »Aber das machst doch alles du.«
Ich spürte einen Druck in der Magengegend. »Pablo, du hast doch von dem großen Auftrag gehört, den Franz bekommen hat? Er soll mit seiner Firma in Osteuropa einen Windpark bauen, damit die Leute dort gesunden und billigen Strom bekommen. Das ist wirklich eine tolle Sache, weißt du! Und das Tollste ist, dass er mich gebeten hat, das für ihn zu machen. Deshalb muss ich in nächster Zeit viel verreisen. Und damit ihr drei hier gut versorgt seid, kommt dieses Mädchen zu uns.«
Mit der unbestechlichen Logik eines Siebenjährigen, dem die Stromversorgung anderer Leute völlig schnuppe ist, sagte er: »Warum macht Franz das nicht selbst, wenn es so toll ist?«
»Weil er mir eine Chance geben will. Und weil ich Lust dazu habe. Da kann ich nochmal zeigen, was in mir steckt.«
»Kannst du das hier nicht?«
Ich musste lachen. »Doch. Aber eben nicht alles. Ich habe lange studiert, um meinen Beruf zu lernen, und dann habe ich mich viele Jahre hauptsächlich um euch gekümmert. Jetzt möchte ich gerne wieder mehr arbeiten.«
Eine Weile sagte er nichts. Dann blickte er mich prüfend von der Seite an. »Und wenn sie gemein zu uns ist?«
»Dann suchen wir eine andere.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Er blickte finster. »Ich glaube, die sind alle gemein.«
Beim Abendessen sah Pablo seine Schwester triumphierend an. »Ich weiß etwas, was du nicht weißt!«
»Was kann das schon sein, du Angeber«, sagte Svenja herablassend. Sie war fünf Jahre älter als ihr Bruder und fühlte sich ihm haushoch überlegen.
Manchmal bedauerte ich, dass wir uns mit dem zweiten Kind so viel Zeit gelassen hatten. Nach Svenjas Geburt war ich so traumatisiert gewesen, dass ich mir geschworen hatte, nie wieder schwanger zu werden. Michael schien es recht zu sein, er war ohnehin nicht wild darauf gewesen, Vater zu werden. Als Svenja immer größer wurde und es so aussah, als würde sie ein Einzelkind bleiben, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Mehr aus Pflichtbewusstsein als aus Leidenschaft zeugten wir ein zweites Kind. Als Pablo geboren wurde, war ich überglücklich. Ein Mädchen und ein Junge, das war einfach perfekt! Endlich waren wir die Familie, die ich mir vorgestellt hatte.
Was ich mir nicht vorgestellt hatte, war, wie anstrengend es sein würde, wieder ein Baby zu haben. Und einen Mann, der genauso weiterlebte wie zu der Zeit, als er noch keine Kinder hatte. Der nachts lange ausging, morgens lange schlief und jederzeit spontan zu einem Wochenendtrip aufbrach, egal, ob ein Kind zahnte, Brechdurchfall hatte oder für eine Mathearbeit lernen sollte. Die meiste Zeit fühlte ich mich wie eine alleinerziehende Mutter.
Die Geschwister hatten angefangen zu streiten. »Du bist so plöd!«, schrie Pablo verzweifelt.
»Und du?«, gab seine Schwester zurück. »Du weißt ja noch nicht mal, wie man blöd schreibt!«
»Du sollst deinen Bruder nicht dissen«, sagten Michael und ich wie aus einem Mund. Dann sahen wir uns an. Michael schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass wir auch schon dieses doofe Wort verwenden«, sagte er. Und zu unserer Tochter gewandt: »Du sollst ihn nicht ärgern.«
»Pablo hat angefangen.« Sie knuffte ihn in die Seite. »Los, sag schon, was weißt du?«
Unsicher sah Pablo zu mir rüber. Ich nickte ihm aufmunternd zu.
»Wir kriegen ein Opär!«, verkündete er.
»Ein Au-pair?« Fragend sah Svenja mich an. »Wie bei Tine?«
Ich nickte und ließ im Geist die zahllosen Mädchen Revue passieren, die in den letzten Jahren bei Tine und ihrer Familie gelebt hatten. Ich hatte es immer furchtbar gefunden, dass alle paar Monate eine neue Jana, Lenka, Marta oder Monika im Leben der Kinder auftauchte, aber offenbar waren sie so daran gewöhnt, dass sie die wechselnden Betreuerinnen gleichmütig hinnahmen.
»Ein Au-pair-Mädchen, echt? Ist ja cool!«, sagte Svenja.
Ich tauschte einen erleichterten Blick mit Michael. Wenigstens von dieser Seite kam kein Widerstand. »Wieso findest du das cool?«, wollte ich wissen.
»Weil man bei denen viel mehr darf als bei den Müttern. Die Au-pairs erlauben einfach alles, weil es ihnen egal ist.«
Michael setzte seine Strenge-Vater-Miene auf. »Da habe ich dann wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden«, dämpfte er Svenjas Erwartungen. »Ich bleibe nämlich hier. Ich baue kein Windkraftwerk im Osten.«
Täuschte ich mich, oder hatte das ein wenig vorwurfsvoll geklungen?
Nach dem Essen räumte ich die Spülmaschine ein. Michael ging mir zur Hand. Dann schrieb ich den Einkaufszettel für den nächsten Tag. Michaels Arme umschlangen mich von hinten. Ich notierte rasch »Wäsche raus« und »Schockfrost aus« und legte die Zettel so auf den Küchenblock, dass sie nicht zu übersehen waren. Michael begann, meinen Hals zu küssen.
»Hast du heute Abend gar nichts vor?«, fragte ich.
»Eigentlich schon«, sagte er, »aber du scheinst es mal wieder nicht zu merken.«
Großer Gott, dachte ich, ist es schon wieder so weit? Eine Woche ohne Sex nahm Michael noch ohne Beschwerde hin. Danach wurde er anschmiegsam. Dann wütend.
Ich hatte ganz andere Pläne für den Abend. Ich musste mich weiter in das Litauen-Projekt einlesen, meine E-Mails beantworten, mit Tine telefonieren.
Mein kurzes Zögern war offensichtlich bereits zu viel für ihn. Er ließ mich los und machte einen Schritt zurück. »Ach, natürlich, ich weiß schon! Es gibt keinen Zettel, auf dem es steht. Und ohne Zettel denkst du einfach nicht daran!«
Er riss mir die Einkaufsliste aus der Hand, drehte sie um und schrieb mit großen Buchstaben darauf: SEX! Er hielt mir den Zettel vor die Nase, dann heftete er ihn zu den vielen anderen, die mit Magneten am Kühlschrank befestigt waren. »Zahnarzt Pablo!« – »Steuererklärung!« – »Getränke bestellen!« – »Geb.Geschenk Petra!«
Ich seufzte schuldbewusst. Er hatte ja Recht. Immer war so viel zu tun. Die Kinder, der Haushalt, der Job. Ich kam gar nicht mehr dazu, an Sex auch nur zu denken. Von praktischer Umsetzung ganz zu schweigen. Und je seltener wir miteinander schliefen, desto weniger fehlte es mir.
Für Michael war Sex etwas so Selbstverständliches wie Nahrungsaufnahme oder Zähneputzen, es gehörte zu seinem Alltag. Ich hingegen wünschte mir, Sex sollte in Momenten stattfinden, die aus dem Alltag herausgehoben waren, also etwas Besonderes sein. Leider erlebten wir kaum noch solche Momente, seit wir Kinder hatten.
Zu Beginn war das ganz anders gewesen, obwohl alles mit einem großen Missverständnis angefangen hatte: Es war bei einer Mottoparty »Vamp und Vampir« gewesen. Ich hatte mich – sonst ganz der burschikose Hosentyp – für Vamp entschieden, mir ein enges schwarzes Kleid und hochhackige Schuhe von einer Freundin geliehen und mich zum ersten Mal seit Jahren geschminkt. In diesem Aufzug lief ich Michael in die Arme. Der hielt mich natürlich für das verführerische Biest, als das ich mich ausgab, und ich hatte zunächst auch Spaß an dieser Rolle. Im Laufe der Zeit hätte er eigentlich merken müssen, dass ich in Wahrheit nicht so war, aber bis heute hatte er diesen ersten Eindruck von mir konserviert und war offenbar immer wieder erstaunt darüber, wie ich es geschafft hatte, ihn so zu täuschen.
»Na gut«, lenkte ich ein und sah auf die Uhr. »In zwanzig Minuten im Schlafzimmer?«
Michael sah mich resigniert an. »Leidenschaft sieht anders aus, findest du nicht?« Er drehte sich um und verließ die Küche.
»Wir sprachen von Sex!«, rief ich ihm nach. »Nicht von Leidenschaft!«
Wütend riss ich den SEX-Zettel vom Kühlschrank und drehte ihn wieder um.
Spülmittel, notierte ich. Zahnseide, Wattestäbchen, Batterien.
Nachdem ich meine E-Mails beantwortet hatte, blieb ich sitzen, griff in meine Handtasche, holte einen Taschenkalender hervor und blätterte die letzten sechs Wochen durch. Nur vier Häkchen. Das war entschieden zu wenig. Es sollte auch mir zu wenig sein, denn eigentlich fand ich Michael immer noch sehr anziehend. Aber wo war die Leidenschaft des Anfangs geblieben?
Ich setzte mich aufrecht hin, schloss die Augen und stellte mir seinen Körper vor. Er hatte breite Schultern, eine glatte, weiche Haut und nur wenige Haare auf der Brust. Seitlich an seiner Taille saßen zwei kleine Muskelstränge, die sich ein wenig wölbten. Die Griffe zum Festhalten, nannte ich sie. Sein Hintern war klein und fest, sein Penis lag angenehm weich in der Hand und richtete sich bereitwillig auf, wenn er sollte. Seine Beine waren muskulös und behaart. Ich mochte Michaels Geruch, den Geschmack seiner Zunge, seine Berührungen und Bewegungen. Wenn wir uns liebten, war es vertraut und aufregend zugleich, trotz der vielen Jahre, die wir uns kannten. Ich sollte mich glücklich schätzen, dass er mich noch begehrte, denn damit ging es mir besser als den meisten meiner Freundinnen. Deren Männer (sofern noch vorhanden) verweigerten sich oft schon seit Jahren, viele hatten eine feste oder ständig wechselnde Geliebte.
Je länger ich da saß und mir Michaels Körper vorstellte, desto deutlicher spürte ich meine Erregung. Warum hatte ich trotzdem so selten Lust, mit ihm zu schlafen? Einen Augenblick lang verfluchte ich mein Leben zwischen Familie und Job, die ständige Hetzerei, das ewige Abgekämpftsein, und wünschte mich zurück in die Zeit, als ich noch frei und ungebunden gewesen war. War ich damals je zu müde für Sex gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.
Ich öffnete die Augen, streckte mich und gähnte. Dann griff ich nach der Einkaufsliste, die neben dem Computer lag, und verließ das Arbeitszimmer.
Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, ich warf einen kurzen Blick Richtung Bett. Wenn ich mich jetzt hinlegen würde, wäre ich innerhalb einer Sekunde eingeschlafen …
Im Wohnzimmer saß Michael vor dem Fernseher und starrte wütend auf die Mattscheibe. Als er nicht auf mein Erscheinen reagierte, ließ ich mich neben ihn gleiten und faltete den Zettel auseinander.
Die Vorbereitungen für meine erste Fahrt nach Litauen liefen auf Hochtouren. Franz überschüttete mich jeden Tag mit neuem Material. Die Ergebnisse der Windmessungen, die er seit zwei Jahren hatte durchführen lassen und die ihn bereits fünfzigtausend Euro gekostet hatten. Der Detailplan für die Windkraftanlage, auf dem die Lage der Grundstücke, die Sicherheitsabstände, Zuwege, Trafos und Fundamente eingezeichnet waren. Die Berechnungen über die zu erwartenden Geräuschemissionen, das Gutachten über den Schattenwurf der Windräder auf Gebäude in der Umgebung.
Vieles fehlte mir noch, wie zum Beispiel die Auflagen der Naturschutzbehörde bei »mastartigen Eingriffen« in die Landschaft. Wahrscheinlich müsste ich eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchführen lassen, um sicherzustellen, dass durch den Bau der Windräder keine geschützten Tierarten bedroht würden. Bis zur Genehmigung war es noch ein weiter Weg, und zwischendurch verließ mich immer wieder der Mut. Diese wahnwitzige Bürokratie – das war ja schlimmer als bei uns! Wie sollte ich das jemals bewältigen? Noch dazu in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht konnte?
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Franz und reichte mir eine weitere Mappe. Ich nahm sie und schlug sie auf.
»Jonas Macaitis«, las ich, »achtundzwanzig Jahre alt, geboren in Kaunas, Aufenthalte in England und Deutschland, studiert Architektur und Stadtplanung, arbeitet als Freelancer für ausländische Firmen in Litauen.«
»Dein persönlicher Babysitter«, grinste Franz, »außerdem Fahrer, Übersetzer und Mädchen für alles. Er kennt sich mit dem ganzen Behördenkram aus, hat gute Kontakte und kennt die Tücken des Geschäfts. Er ist dein Generalschlüssel, also behandle ihn gut, nein, trag ihn auf Händen, verstanden?«
Ich nickte. Hoffentlich war der Typ in Ordnung. Wie es aussah, würde ich in den nächsten Monaten mehr Zeit mit ihm verbringen, als ich jemals mit meinem Ehemann verbracht hatte. Wenn er sich als Kotzbrocken rausstellte, hätte ich ein Problem.
Drei Tage vor meiner geplanten Abreise sollte Olga eintreffen.
Ich hatte das Gästebett bezogen, einen Blumenstrauß auf den Beistelltisch gestellt und eine Schachtel Pralinen danebengelegt. Nicht die ganz teuren, die wüsste Olga vermutlich gar nicht zu schätzen, aber auch nicht die billigen vom Discounter. An die Vase lehnte ich einen Umschlag mit ihrem Taschengeld für die erste Woche. Die Kinder hatte ich dazu gebracht, ein Bild zu malen, das uns vier darstellte und den Schriftzug »Herzlich willkommen, Olga!« trug.
Mit prüfendem Blick war ich durchs ganze Haus gegangen, hatte da und dort etwas weggeräumt oder saubergemacht. Misstrauisch hatte Pablo mich beobachtet. »Muss man vorher putzen, wenn ein Opär kommt?«
»Wir wollen doch, dass Olga sich wohlfühlt«, sagte ich. In Wirklichkeit dachte ich, dass sie gleich sehen sollte, welcher Grad an Ordnung und Sauberkeit hier erwartet wurde.
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie unser Zuhause auf Olga wirken würde. Ein Reiheneckhaus am Rande von München, fünf Zimmer, ein gemütlicher Wohn-Ess-Bereich mit offener Küche, ein Garten, der hauptsächlich aus einer Wiese und ein paar Büschen bestand, damit die Kinder Platz zum Spielen hatten. Nichts Besonderes für hiesige Verhältnisse, schon gar nicht für das reiche München. Aber auf ein Mädchen aus einer ärmlichen Gegend in der Ukraine müsste eine solche Umgebung geradezu luxuriös wirken. Ich hoffte, sie würde sich davon nicht einschüchtern lassen. Oder sich absurde Vorstellungen über unsere Einkommensverhältnisse machen.
Der Bus sollte um 14 Uhr ankommen. Ich vergewisserte mich noch einmal, dass ich mir den Namen des Busunternehmens und die Parkplatznummer richtig notiert hatte. Für den Notfall hatte ich die Handynummer eines Agenturmitarbeiters. Olga besaß kein Handy.
Ich hatte den Kindern frische Sachen hingelegt und Michael gebeten, nicht seine Lederjacke zu tragen, sondern ein Sakko. Er hatte mich nur amüsiert angesehen, aber nichts gesagt. Ich selbst hatte zehn Minuten vor dem Schrank gestanden und überlegt, was ich anziehen sollte. Ich wollte nicht zu schick wirken, aber trotzdem gepflegt. Das Mädchen sollte von Anfang an den richtigen Eindruck von uns bekommen.
Auf dem Busparkplatz wimmelte es von Fahrzeugen und Menschen. Leute wurden begrüßt oder verabschiedet, es wurde gelacht, geweint, gewunken. Der Bus aus Kiew war noch nicht angekommen. Ich bemerkte einige Familien, die ähnlich gespannt warteten wie wir. Die Reisenden aus Prag, Sofia, Warschau und Zagreb trafen ein. Neugierig beobachtete ich, wenn junge Mädchen ausstiegen und sich schüchtern nach ihren Gastfamilien umsahen. Die meisten sahen nett aus, bei einigen war ich allerdings dankbar, dass ich sie nicht mit nach Hause nehmen musste.
»Da kommt er«, rief Svenja. »Nummer 23.«
Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
Der Bus beschrieb eine Kurve, bog in die für ihn vorgesehene Parkbucht und kam zum Stehen. Mit einem Zischen öffnete sich die vordere Tür, und Fahrgäste stiegen aus. Nun wurde auch die hintere Tür geöffnet, und es kamen so viele Personen gleichzeitig auf uns zu, dass ich den Überblick verlor. Verwirrt blickte ich mich nach allen Seiten um. »Seht ihr sie?«
»Nein«, sagte Svenja, »die sehen alle irgendwie gleich aus.«
Michael deutete auf ein hochgewachsenes Mädchen mit blondem, langem Haar. »Ist sie das?«
Ich sah in die Richtung. »Ich glaube nicht, Olga ist nicht so groß.«
Pablo griff nach meiner Hand. »Dann gehen wir jetzt wieder.«
»Nicht so schnell, mein Lieber«, sagte ich. »Sie wird schon noch kommen.«
In diesem Moment ertönte eine Stimme hinter uns, leise und ein bisschen kehlig. »Chier bin ich.«
Wir fuhren herum. Vor uns stand Olga. Sie sah genau so aus wie auf den Fotos. Erleichtert sagte ich: »Hallo, Olga, herzlich willkommen!«
Ich reichte ihr die Hand. Sie blickte mir in die Augen. Da ich wusste, dass wir einen Fehler gemacht hatten.
Ich schloss die Haustür auf, Michael trug Olgas Koffer ins Haus.
»So, hier wären wir!«, sagte ich und machte eine unbeholfene Armbewegung. »Willkommen bei Familie Moser.«
Olga folgte mir. Ich hatte erwartet, dass sie irgendetwas über das Haus sagen würde, dass es schön sei, dass es ihr gefalle, aber sie sagte nichts. Stumm sah sie sich um.
Auch auf der Fahrt hatte sie nur gesprochen, wenn einer von uns sie gefragt hatte. Ihre Antworten waren so einsilbig, dass die Kinder es bald aufgegeben hatten.
Ich redete mir ein, dass es an ihrer Schüchternheit läge, die sich bestimmt bald geben würde.
Als Erstes zeigte ich Olga ihr Zimmer. Sie sah sich um, dann fragte sie: »Wo kann ich Internet?«
»Das sehen wir dann«, sagte ich. An meinen Computer wollte ich sie nicht lassen, ich würde ihr sagen, dass sie ins Internetcafé gehen müsse.
Michael legte ihren Koffer aufs Bett.
»Ich auspacken«, sagte Olga.
Wir zogen uns in die Wohnküche zurück und sahen uns ratlos an.
»Die ist plöd!«, sagte Pablo mit Tränen in den Augen.
Ich strich ihm über den Kopf. »Lass ihr ein bisschen Zeit. Sie muss sich erst eingewöhnen. Stell dir vor, wie du dich fühlen würdest, wenn du ganz allein in einem fremden Land wärst, bei einer fremden Familie.«
»Da würde ich gar nicht erst hingehen«, murmelte er finster.
Svenja hatte sich das Telefon geschnappt und wählte die Nummer einer Freundin. Michael nahm ihr den Apparat weg. »Es wird nicht schon wieder telefoniert. Wir trinken jetzt Kaffee mit Olga und lernen sie ein bisschen kennen.«
»Die will ich gar nicht kennenlernen. Wie die schon aussieht! «
»Was stört dich denn?«, fragte Michael.
»Na, schau dir mal die Klamotten an. Total hässliche Jeans und dann dieses peinliche T-Shirt mit dem Hund drauf. Die soll mich bloß nicht irgendwo hinbringen oder abholen!«
Ich wurde sauer. »Jetzt reißt euch mal zusammen, ihr verwöhnten Wohlstandsbälger!«, zischte ich. »Das Mädchen kommt aus einem armen Land, und ihre Eltern sind einfache Leute. Das ist kein Grund, sie zu verachten.«
Noch während ich das sagte, ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass ich es selbst scheußlich fand, wie Olga angezogen war und wie schäbig alles an ihr wirkte. Auch ich hätte es angenehmer gefunden, ein hübsches, gepflegtes Mädchen in witzigen Klamotten im Haus zu haben, und überlegte, ob ich ihr einfach ein paar Sachen von H & M schenken sollte. Die waren billig und sahen trotzdem gut aus. Aber gleich hörte ich Tines warnende Stimme in meinem Kopf.
»Fang bloß nicht damit an, ihr was zu schenken! Wenn du ihr gebrauchte Sachen gibst, fühlt sie sich gedemütigt. Und wenn du ihr was Neues kaufst, glaubt sie, du bist ein Geldscheißer.«
Noch während ich darüber nachdachte, wie ich das Problem lösen könnte, wurde die Tür geöffnet und Olga kam herein. »Chab ich Geschenke«, sagte sie mit ihrer rauen Stimme und streckte uns mehrere Päckchen entgegen.
»Wie nett von dir, Olga! Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. « Meine Stimme überschlug sich fast vor falscher Freundlichkeit.
Wir packten aus. Den Kindern hatte sie zwei bemalte Holzfigürchen mitgebracht, wir bekamen eine Flasche Kräuterlikör. Unser Dank fiel so überschwänglich aus, als hätte sie uns wertvollste Antiquitäten und einen Château Lafitte von 1959 überreicht. Der letzte Idiot hätte gemerkt, was für Heuchler wir waren.
Ich bat Svenja, den Tisch zu decken, und kochte Kaffee. Am Morgen hatte ich einen Kuchen gebacken, das machte ich sonst nur an Geburtstagen.
Als alles fertig war, fehlte Pablo. Ich rief nach ihm, keine Antwort. Ich fand ihn in seinem Zimmer, wo er schlafend auf dem Bett lag, den Daumen im halb geöffneten Mund, mit verweintem Gesicht. Mein Magen krampfte sich zusammen, ich ließ mich neben ihn aufs Bett sinken. Fast hätte ich selbst angefangen zu weinen.
War es das wert? Dass mein Kind litt, weil ich glaubte, unbedingt eine berufliche Herausforderung zu brauchen? War Pablo nicht viel zu klein für so eine Umstellung? Eigentlich wollte keiner von uns ein Au-pair-Mädchen, trotzdem hatten wir jetzt eines. Und das nur, weil ich so egoistisch war. Am liebsten wäre ich nach unten gegangen, hätte Olga gepackt und zurück zum Bus gebracht. Ich seufzte unhörbar. Behalt die Nerven, befahl ich mir. Wie willst du einen Windpark bauen, wenn du beim kleinsten Problem einknickst? Ich holte tief Luft, strich Pablo die Haare aus dem Gesicht, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und ging leise aus dem Zimmer.
Die Kaffeerunde verlief angespannt. Michael und ich versuchten, ein Gespräch mit Olga zu führen, wir fragten sie nach ihrer Familie, ihrem Wohnort, ihren beruflichen Plänen. Immer kamen diese knappen Antworten, meistens sagte sie nur »Ja« oder »Nein«. Ich war nicht sicher, ob sie uns überhaupt verstand.
Als wir fertig waren, stand sie auf, stellte ihren Teller und ihre Tasse in die Spüle und ging in ihr Zimmer. Ich überlegte, ob ich hinterhergehen und ihr zeigen sollte, wie sie das Geschirr in die Spülmaschine einordnen sollte, aber ich ließ es bleiben. Sie hatte über zwanzig Stunden Busfahrt hinter sich und war bestimmt müde. Morgen würde ich sie einarbeiten.
Bei dem Gedanken, dass ich in drei Tagen wegfahren sollte, wurde mir ganz schlecht. Niemals würde ich ihr bis dahin beibringen können, wie unser Haushalt funktionierte, worauf sie achten müsste, wo sie einkaufen und was sie kochen sollte. Es würde eine Katastrophe geben.
Als die Kinder im Bett waren, saßen Michael und ich in der Küche. Er las, ich starrte niedergeschlagen in mein Rotweinglas. Das Abendessen war nicht besser verlaufen als das Kaffeetrinken. Olga hatte von sich aus nichts gesagt, und auch sonst hatte keiner von uns die Energie aufgebracht, sich die immer gleichen Ein-Wort-Antworten abzuholen. Also hatten wir uns irgendwann so verhalten, als wäre Olga gar nicht da.
Mit Entsetzen hatte ich festgestellt, dass Olga keine Tischmanieren hatte. Sie legte den linken Arm quer vor den Teller und schaufelte, mit der Gabel in der Rechten, das Essen in sich hinein. Fieberhaft überlegte ich, wie ich darauf reagieren könnte, ohne sie vor den Kindern zu kompromittieren. Svenja und Pablo bemerkten es natürlich sofort, machten sich gegenseitig Zeichen und deuteten auf Olga. Als Pablo anfing, genauso zu essen, wies ich ihn scharf zurecht. Ich spielte ihm auf völlig übertriebene Weise vor, wie er aß, und zeigte ihm anschließend, wie es richtig ist. Als ob er es nicht ganz genau wüsste. Ich hoffte, Olga würde den Wink verstehen. Aber die hörte nicht zu, verstand nichts oder wollte nichts verstehen, jedenfalls aß sie ungerührt weiter. Als Pablo einfach nicht aufhören wollte, zischte ich ihn wütend an.
»Aber Olga isst doch genauso!«, protestierte er lautstark.
»Das heißt nicht, dass du es darfst.«
»Wieso darf sie, und ich nicht? Sie ist erwachsen, und ich bin ein Kind!«
Dieser Logik konnte ich schwer widersprechen. Bei der Erwähnung ihres Namens blickte Olga kurz vom Teller auf, dann nahm sie sich eine zweite Portion. Jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten.
»Entschuldige, Olga«, sagte ich so freundlich wie möglich. »Wir warten, bis alle ihren Teller leergegessen haben, dann nehmen wir uns ein zweites Mal.«
Sie sah verwirrt aus, und mir war nicht klar, ob sie mich verstanden hatte. Mit übertriebenen Gesten und betont langsam sprechend versuchte ich zu erklären, was ich meinte. Das Resultat war, dass sie eingeschüchtert ihre Gabel weglegte und aufhörte zu essen, obwohl ihr Teller noch halbvoll war.
Als ich zum Gute-Nacht-Sagen in sein Zimmer kam, ließ Pablo gerade die Holzfigur, die Olga ihm mitgebracht hatte, vom Regal stürzen. Ein Ärmchen brach ab.
»Was für ein Schrott«, sagte er verächtlich und warf die Figur in seine Spielzeugkiste.
Am liebsten hätte ich ihm eine geknallt. Stattdessen hockte ich mich vor ihn hin und sagte: »Das war echt gemein von dir, Pablo. Olga wird die kaputte Figur sehen und traurig sein.«
»Mir doch egal«, sagte er. »Die soll wieder abhauen. Und du bist die plödeste Mutter von der Welt, weil du gewollt hast, dass sie zu uns kommt.«
»Jetzt reicht’s«, sagte ich ungewohnt heftig, »Du wirst Olga ab sofort anständig behandeln, sonst kannst du was erleben. Hast du mich verstanden?«
Erschrocken sah er mich an. Dann warf er sich aufs Bett, zog sich das Kissen über den Kopf und reagierte nicht mehr, als ich ihm eine gute Nacht wünschte.
Ich nahm einen tiefen Schluck Rotwein und seufzte. Michael, der im Spiegel geblättert hatte, sah auf. »Was ist los?«
»Ich frage mich, ob das Ganze nicht eine Riesendummheit war.«
»Das wird schon«, sagte er und drückte aufmunternd meine Hand. »Die ist halt verschüchtert, das ist doch normal. Außerdem kann sie kaum Deutsch. Ich wette, sie versteht höchstens die Hälfte von dem, was wir sagen.«
»Wenn überhaupt«, sagte ich düster. »Die sagt immer nur Ja, egal was man fragt. Wahrscheinlich versteht sie gar nichts.« Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. »Wie soll ich ihr bloß erklären, was sie zu tun hat?«
Michael sah plötzlich aus, als hätte er einen Einfall. »Es wäre interessant, zu beobachten, was passiert, wenn wir ihr einfach überhaupt keine Anweisungen geben. Wenn wir darauf vertrauen, dass sich das Ganze irgendwie regeln wird. Die Kinder sagen es ihr schon, wenn sie was brauchen oder wenn sie was falsch macht. Lass es doch einfach mal laufen, dann wirst du schon sehen, was passiert.«
Ich stieß verächtlich die Luft aus. »Ich kann dir sagen, was passiert. Die Bude versinkt im Chaos, die Kinder fressen nur Mist und schauen stundenlang fern, sie gehen viel zu spät ins Bett und kommen zu spät zur Schule.«
»Na, und?«, sagte Michael und lachte. »Zur Resignation gehört Charakter. Dafür werden sie Olga lieben!«
»Was soll denn das heißen?«, fragte ich spitz. »Dass sie mich nicht lieben, weil bei mir kein Chaos herrscht?«
»Kinder sind Anarchisten. Sie finden es toll, wenn die normale Ordnung der Dinge aufgehoben ist.«
»Für eine Weile vielleicht«, sagte ich. »Aber dann wollen sie, dass wieder alles seinen gewohnten Gang geht. Weißt du, manchmal habe ich den Verdacht, dass deine Theorien hauptsächlich dazu dienen, dir Anstrengung zu ersparen. Dinge laufen zu lassen ist immer einfacher, als sich zu kümmern.«
»Ach, Katja. Ich will doch nur, dass du dich nicht verrückt machst. Wir kriegen das hier schon irgendwie hin.«
»Wir? Und die viele Zeit, in der du nicht da bist? Die kann sich doch niemals gegen die Kinder durchsetzen, die werden ihr auf der Nase rumtanzen. Wahrscheinlich wird sie jeden Abend in ihrem Zimmer sitzen und weinen, und in einer Woche fährt sie wieder nach Hause.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Olga trat ein.
»Entschuldigung. Ist Fernsäh kaputt. Kein Farbe.«
»Der ist nicht kaputt«, sagte ich verlegen, »das ist ein Schwarz-Weiß-Gerät.«
Bewegungslos sah sie mich an, mit diesem Blick aus undurchdringlichen grauen Augen, der mir schon bei ihrer Ankunft einen Schauer über den Rücken gejagt hatte.
»Möchte ich Farbe«, sagte sie. Dann drehte sie sich um und ging wieder hinaus.
Michael sah mich ungläubig an. »Du hast ihr das alte Ding von deiner Oma reingestellt?«
»Na ja, ich dachte, sie ist dankbar, dass sie überhaupt einen im Zimmer hat.«
»Ich nehme an, sogar in der Ukraine hat man inzwischen Farbfernsehen«, sagte er, »du kannst das Mädchen doch nicht behandeln, als wäre es gerade vom Baum gestiegen.«
»So war das doch nicht gemeint«, verteidigte ich mich. »Ich dachte, dass die Kinder dann nicht so viel bei ihr schauen, weil sie schwarz-weiß blöd finden.«
»Vor allem findet Olga schwarz-weiß blöd. Und ich finde, sie hat Recht.«
»Weißt du, was dieses Mädchen uns kostet?«, brauste ich auf. »Die Fahrt, das Taschengeld, der Sprachkurs, Unterkunft und Essen, eine Monatskarte … und jetzt soll ich ihr auch noch einen Fernseher kaufen?«
»Mach, was du willst.«
»Also gut«, sagte ich widerwillig und stand auf. Ich ging über den Flur, klopfte an Olgas Zimmertür und trat ein. Ich bemühte mich, freundlich zu lächeln. »Wir besorgen dir einen Farbfernseher, okay?«
Sie sagte nichts, nickte nur leicht.
»Ist sonst alles in Ordnung? Brauchst du noch etwas?«
»Nein«, sagte sie und senkte den Blick wieder auf ihr Notizbuch.
Mir fiel auf, dass sie noch kein einziges Mal danke oder bitte gesagt hatte.
Am nächsten Morgen war sie schon in der Küche, als ich kam. Sie hatte Kaffee gemacht, der allerdings viel zu dünn war. Trotzdem lobte ich sie.
»Was essen Kinder?«
Ich zeigte ihr die Frühstücksflocken, erklärte ihr, welche Mischung mit welchem Joghurt und welcher Obstsorte Pablo bevorzugt, welche Svenja.
»Brot für Schule?«
Ich zeigte ihr, wie dick die Brotscheiben sein durften und wie sie belegt sein mussten. Svenja mochte Käse, Pablo nicht, dafür aß er gern Gelbwurst, die Svenja verabscheute. Svenja musste um halb acht das Haus verlassen, Pablo um zehn vor acht, außer an Donnerstagen, da hatte er die erste Stunde frei. Wie soll sie sich das bloß alles merken, dachte ich.
Als Michael aufgestanden war, frühstückten wir zu dritt. Wieder schwieg Olga, wieder unterhielten wir uns, als wäre sie nicht anwesend, wieder räumte sie ihren Teller und ihre Tasse in die Spüle. Diesmal sprang ich auf und erklärte ihr die Spülmaschine. Sie sagte nichts, fragte nichts. Am liebsten hätte ich sie geschüttelt.
Als ich Michael zur Tür begleitete, sagte er spöttisch: »Na, dann viel Spaß«, und beugte sich vor, um mir einen Abschiedskuss zu geben.
Ich hielt ihn fest. »Kommst du wieder?«
»Was meinst du?«
»Ich meine, ob du heute Abend wiederkommst oder ob du jetzt gehst und irgendwo ein neues Leben anfängst.«
Er lachte. »Ach, weißt du, es hat einen gewissen Reiz, einer Perfektionistin wie dir beim Scheitern zuzusehen. Das will ich mir nicht entgehen lassen.«
»Scheißkerl«, sagte ich und schob ihn aus der Tür.
Als ich in die Küche zurückkam, wartete Olga mit einigen Computerausdrucken auf mich.
»Sprachkurs«, sagte sie und schob mir die Bögen hin. Ich überflog sie, es waren die Deutschkurse, die in der nahe gelegenen Volkshochschule angeboten wurden. Die musste sie sich schon zu Hause aus dem Internet runtergeladen haben. Blöd war sie jedenfalls nicht.
»Das machen wir später«, sagte ich, »jetzt müssen wir zum Einkaufen.«
»Nein, jetzt«, sagte sie.
»Also gut«, lenkte ich ein und unterdrückte meinen Ärger über ihren fordernden Tonfall.
Sie deutete auf einen Kurs, den sie angestrichen hatte. Deutsch für Ausländer, Fortgeschrittene, Teil 1.
»Der ist nachmittags«, wandte ich ein, »da musst du zu Hause sein. Du kannst vormittags einen Sprachkurs machen, wenn die Kinder in der Schule sind.« Ich beugte mich wieder über die Bögen. »Hier. Deutsch für Ausländer, Anfänger, Teil 2.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nix Anfänger.«
»Ich glaube, du überschätzt dich. Du verstehst vieles nicht. Ein Anfängerkurs ist genau das Richtige.«
Ihre Miene verdüsterte sich. Sie deutete auf einen dritten Kurs, ebenfalls für Fortgeschrittene, der an drei Abenden in der Woche stattfand.
»Das geht auch nicht«, sagte ich. »Mein Mann ist abends oft beruflich unterwegs, dann musst du hier sein.«
Sie riss die Ausdrucke an sich und ging wütend aus der Küche. Ich ließ mich entnervt auf einen Stuhl fallen. So ging das nicht. Das Mädchen hatte völlig falsche Erwartungen.
Ich nahm das Telefon und wählte die Nummer der Agentur. Die Mitarbeiterin hörte sich meine Klage an, dann sagte sie kühl: »Ich glaube, dass nicht Olga falsche Erwartungen hat, sondern Sie. Ein Au-pair ist keine Haushaltshilfe. Sie muss höchstens dreißig Stunden in der Woche arbeiten, hat ein Recht auf vier freie Abende und einen freien Tag. Und sie hat das Recht auf einen Sprachkurs, der ihren Kenntnissen angemessen ist.«
»Das weiß ich alles«, sagte ich ungeduldig, »aber wir bezahlen ihr deutlich mehr als das übliche Taschengeld. Dafür muss sie auch mehr arbeiten.«
»Das habe ich jetzt nicht gehört«, sagte die Frau, und mir war klar, dass ich das nicht hätte sagen dürfen. Solche Abmachungen waren illegal.