Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die ständigen Grübeleien über sich und das Leben machen Caroline zu schaffen, bis sie beim Lesen auf die fiktive Person Serena trifft. Diese Figur aus einem Abenteuerroman, die sich selbst das Segeln aneignet und mit einem Boot über die Meere zieht, fasziniert die junge Frau sehr. Caroline beschließt, einfach den gleichen Weg zu gehen wie die Romanheldin. Dabei entdeckt sie nicht nur, wie sie ein Boot am Wind halten kann. Sie macht sich auch auf eine Reise in ihr Inneres. Doch bald muss sie feststellen, dass das Buch, dem sie folgt, mehr Überraschungen für sie bereithält, als sie zu Beginn ihres Vorhabens jemals ahnen konnte.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 466
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Henning von Ketelhodt
Traumseglerin
Kann ein Buch den Weg vorgeben?
Roman
© 2019 Henning von Ketelhodt Umschlag,
Illustration: Pia-Maria von Ketelhodt
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Hamburg
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7439-8743-2
Hardcover:
978-3-7439-8744-9
e-Book:
978-3-7439-8745-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Das Buch im Buch
Teil I: aufwachen
Serena
Der Entschluss
Das Puzzle
Der Vater
Zweifel
Die Überwindung der Angst
Das Meer
Clara
Eine neue Welt
Ein Zuhause
Der Sturm
Bewusstsein
Der Aufprall
Die Rückfahrt
Ich, Caroline
Die zwei Tauben
Realität
Einhand
Geduld
Meditation
Loslassen
Entscheidung
Teil II: suchen
Winddreher
Ein neues Ziel
Sackgasse
Ein heißer Weg
Die Enttäuschung
Der kleine Junge
Seefahrt
Teil III: versöhnen
Ein Wiedersehen
Nacht
Flucht
Zurück
Spiegelbild
Ein neuer Anfang
Sterne
Vorwort: Das Buch im Buch
Das Gedankenkarussell dreht sich ständig im Kopf herum und versucht das Bewusstsein zu beschäftigen mit vergangenen oder zukünftigen Ereignissen. Dabei wird das Hier und Jetzt oft nicht berücksichtigt. Ständig setzt sich das Hirn mit dem auseinander, was wir lassen oder machen sollten. Aber diese Pläne und Träume sind konfus und teilweise widersprüchlich.
Wäre es nicht prima, wenn es für diese Pläne eine Struktur oder eine Anleitung geben würde? Dieser Gedanke, der natürlich auch aus einer dieser Grübeleien entstanden ist, brachte mich auf die Idee der Anleitung mithilfe eines schon geschriebenen Romans. In diesem Roman sollte ein nahezu perfekter Weg schon beschrieben sein und somit als Leitfaden für das Leben selbst dienen. Anhand meiner eigenen Träume und Erfahrungen skizzierte ich also in dem fiktiven Buch Stadt, Land, Meer den Weg der ebenfalls fiktiven Person Serena.
In dem nun vorliegenden Buch tritt die Leserin Caroline an die Stelle aller Grübler und Träumer. Ihre Gedanken sind teilweise nachvollziehbar, aber auch sprunghaft und unschlüssig. Sie versucht nun, der Serena aus dem fiktiven Buch zu folgen.
Das Faszinierende beim Schreiben von Die Traumseglerin war für mich die Problematik, wie sehr sich die Protagonistin auf die Anleitung des Romans Stadt, Land, Meer einlassen könnte. Schließlich sollte jedem klar sein, dass es niemals möglich sein würde, eine Anleitung zum Leben aus einem Buch zu übernehmen. So sind in Carolines Weg viele meiner eigenen Erfahrungen und Gedankengänge eingeflossen und das Schreiben hat mir geholfen, diese ein wenig zu sortieren. Das Schreiben selbst schickte mich zusammen mit Caroline auf eine Reise, die ich zu Beginn des Buches nicht vorgesehen hatte.
Henning von Ketelhodt
Facebook:
https://www.facebook.com/traumseglerin/
Teil I: aufwachen
„Ich will aufs Meer. Ich habe seit Jahren begriffen, das ist die einzige Freiheit, die es gibt.“
(Klaus Kinski)
Serena
Die Sonne war gerade untergegangen und ihr roter Streifen am Horizont war schon fast nicht mehr zu sehen. Irgendwie war dieser Moment zu unwirklich - besonders nach allem, was bisher geschehen war. Doch für Serena war es der schönste Augenblick des Tages. Der Augenblick, wenn die ersten Sterne sich zeigten, der Wind langsam nachließ und die Stille in die Welt trat. Nur ein paar Wellen waren zu hören. Diese Stille gab ihr den Raum für ihre Gedanken. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn, setzte sich aufrecht auf das Deck und legte die Hände in den Schoß.
Sie war dankbar für jeden dieser Momente, egal wie oft sie diese noch erleben würde. Dankbar für den Weg, den sie bis hierher gegangen war. Sie legte ruhig den Kopf zurück, spürte dem sanften Schaukeln des Boots nach und fühlte den Hauch des letzten Windes auf ihrer Haut. Sie konnte die Augen nicht schließen, konnte sich nicht von diesem Anblick abwenden. Denn über ihr, weit oben am Firmament, spannte sich die unendliche Weite des Nachthimmels und zeigte ihr alle seine Sterne.
Ende
Bevor Caroline das Buch schließen konnte, las sie den letzten Satz ein zweites Mal. Sie konnte dieses Buch nicht einfach zuschlagen und aus der Hand legen. Nicht, nachdem sie die letzten Abende damit verbracht hatte, es zu lesen und oft erst spät in der Nacht eingeschlafen war. Sie konnte Serena nicht verlassen. So viele Erlebnisse - frohe und schöne – aber auch schwere und traurige Momente hatte die Leserin Caroline mit der Romanfigur Serena erlebt. Nun war ihr gemeinsamer Weg zu Ende. Es war natürlich abzusehen gewesen: jeden Abend wurde der verbleibende Stapel der Seiten kleiner, der noch vom ungelesenen Buch übriggeblieben war. Doch insgeheim hatte Caroline gehofft, dass die Geschichte irgendwie weitergehen würde. Doch am Ende des Buches gab es - nichts. Kein Hinweis auf eine Fortsetzung, keine offenen Fragen, kein spektakuläres, überraschendes Ende. Konnte es das wirklich schon gewesen sein? Caroline hatte bis zu den letzten Seiten gehofft, sich nicht von Serena trennen zu müssen.
Natürlich war ihr klar, dass Serena nur eine Figur in einem Roman war. Das Buch, das sie gerade zu Ende gelesen hatte, trug den Titel Stadt, Land, Meer und war von einer gewissen Ellen Dorothy geschrieben worden. Eines Morgens lag es im Treppenhaus des Mietshauses, in der ihr Vaters lebte. Dort legten die Hausbewohner manchmal gebrauchte Dinge ab, von denen sie glaubten, dass noch andere Leute Verwendung dafür finden würden. So hatte Caroline das Buch nach einem Besuch bei ihrem Vater zuerst aus Neugierde mitgenommen und in ihre Tasche gelegt. Erst als sie später in ihr Zimmer im Studentenwohnheim zurückgekehrt war, erinnerte sie sich wieder an das gefundene Buch. Sie begann noch am selben Abend darin zu lesen und merkte kaum, wie die Stunden vergingen und sie sich von der ersten Seite an in der Geschichte verlor. Abend für Abend war Serena die letzten Tage ihre Begleiterin gewesen und dadurch ihre Freundin geworden. Doch jetzt war sie nicht mehr da. Es wäre natürlich einfach gewesen, zurückzublättern, um einige Passagen erneut lesen zu können. Aber der Zauber, den Caroline beim ersten Lesen verspürt hatte, wäre nicht mehr der gleiche. Ähnlich wie bei der Zusammenfassung eines Fußballspieles im Fernsehen, dessen Ergebnis man schon kannte, würde die Spannung sich schnell verflüchtigen.
Diese Erkenntnis machte Caroline ein wenig traurig und mutlos. Es war fast so, als ob sie mit dem Ende des Buches wirklich eine Freundin verloren hatte. Bei diesem Gedanken musste sie jedoch ein wenig lachen. Serena, die Protagonistin des Buches, war also ihre imaginäre Freundin, die nur ihr allein gehört hatte. Serena, die sich durchs Leben geschlagen und in allen Situationen, mit denen sie fertig werden sollte, Mut und Ideenreichtum gezeigt hatte. Dabei war sie immer eigenständig und unabhängig geblieben. Die Romanfigur Serena hatte sich im Laufe des Buches ihre persönliche Freiheit erkämpft und erarbeitet.
Caroline hingegen konnte nicht so sein wie Serena. Sie hatte nicht die Kraft und die Zuversicht, die von der fiktiven Frau ausging. Sie war nicht jemand, der sich so einfach in der Welt behaupten konnte, ohne Sicherheit und ohne ein klares Ziel vor Augen. Dazu waren ihre Gedanken zu durcheinander und ständig sprangen diese von einem Thema zum anderen. Denn auch wenn sie mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon einiges erreicht hatte, fühlte sie sich manchmal hilflos und zweifelte an vielen Dingen. Immerhin: sie studierte in einer großen Stadt, hatte ihr eigenes Reich in ihrem Zimmer im Wohnheim und stand kurz vor ihrem Bachelor Abschluss. Während eines sozialen Jahres hatte sie vor ihrem Studium weiterhin bei ihrem Vater gelebt. Sie hatte damals in einem Sozialheim ganz in der Nähe ihres zu Hauses gearbeitet. Dann war sie vor zwei Jahren bei ihrem Vater ausgezogen und nun froh, endlich auf eigenen Füßen stehen zu können. Ihr Vater schlug vor, sie solle BWL studieren. Was willst du denn sonst machen? So hast du wenigstensetwas Vernünftiges in der Hand, hatte ihr Vater sie oft ermahnt. Tatsächlich wusste sie in jenen Tagen nach der Arbeit im Sozialheim, in denen sie solche weitreichenden Entscheidungen treffen sollte, wirklich nicht so richtig, was sie denn sonst hätte machen sollen.
Das BWL Studium bedeutete, ihrem Jugendzimmer bei ihrem Vater den Rücken zu kehren und in eine neue Stadt zu ziehen. Von da an war sie auf sich allein gestellt und musste sich, wie die meisten ihrer Kommilitonen, einen Job suchen. Aber sie war frei und musste nicht mehr auf ihren Vater Rücksicht nehmen. Ja, Caroline hatte viel erreicht in den letzten zwei Jahren. Aber hatte sie das tatsächlich? Viele ihre Mitstudenten hatten ähnliche Hintergründe. Einige kamen sogar aus dem Ausland, hatten nebenbei Deutsch gelernt und schrieben sogar bessere Noten als sie. Andere hatten ein Semester übersprungen oder schon einen Praktikumsplatz für das im folgenden Semester notwendige Pflichtpraktikum gefunden. Und sie selbst? Sie saß in ihrem kleinen Zimmer und träumte von Serena und einem anderen, aufregenden Leben, anstatt sich hinzusetzen und für die Klausuren zu lernen, die am Ende des Semesters anstanden.
Jetzt, nachdem das Buch ausgelesen war, sollte sie sich eigentlich wieder in den Alltag stürzen und ihre Aufgaben erfüllen. Doch Caroline konnte das nicht. Zu sehr musste sie an die Erlebnisse mit Serena denken. Im Geiste ging sie einige Szenen noch einmal durch. Das Buch handelte von der Romanfigur Serena, die ihr Leben in England aufgegeben hatte, um von da an um die Welt zu reisen und sich unter anderem in einer Mission auf der indonesischen Insel Maluku für Waisenkinder einzusetzen. Dort entdeckte sie das Segeln und die für sie wichtige wahre Freiheit. Die Geschichte beginnt damit, dass Serena, unzufrieden mit ihrem Leben und genervt von ihrem Stiefvater, mit sechzehn ihr zu Hause verlässt. Sie erkennt, dass sie in die Welt hinaus muss, um ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Auf ihrem Weg trifft sie unterschiedliche Menschen und Kulturen, die ihr helfen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.
Caroline jedoch, die ihr Leben noch vor sich hatte, war nicht so mutig und gerade etwas ratlos bezüglich ihrer bevorstehenden Zukunft. Sie konnte sich ausmalen, wie wohl der weitere Verlauf ihres Lebens aussehen würde. Immer vorausgesetzt, dass sie sich endlich auf den Hosenboden setzte und etwas tat. Irgendetwas. Wenn sie sich also ein wenig anstrengte, könnte sie den Bachelor Abschluss schaffen, einen Job finden und in ein paar Jahren nach einigen mehr oder weniger erfolgreichen Beziehungen dazu entschließen, zu heiraten und Kinder zu bekommen, um diese dann groß zu ziehen und alt zu werden. Was für Aussichten!
Nach der Lektüre des Buches kamen ihr diese Gedanken über den vorgefertigten möglichen Ablauf ihres eigenen Lebens so fremd und einfallslos vor. Gewiss, durch ein paar Urlaube würde sie die Möglichkeit haben, das ein oder andere Land zu besuchen. Doch niemals hätte sie die Freiheiten erleben können, die Serena sich im Laufe der Jahre erkämpft hatte. Obwohl es nicht so war, dass Caroline selbst momentan keine Freiheiten besaß. Im Vergleich zu anderen Frauen in einigen fremden Kulturen konnte sie sich ihren Partner aussuchen und sogar einen Freund haben, ohne ihren Vater zu fragen. Es gab keine Familie, die den Mann für sie aussuchte oder bestimmte, wen sie zu heiraten hatte. Auch konnte sie, bis auf einige Ausnahmen, überall in der Welt an viele Orte reisen, wenn sie wollte. Kein politisches System in ihrer Heimat hinderte sie daran, ihre Freiheit zu nutzen. Sie dachte darüber nach, wie selbstverständlich all diese Freiheiten doch eigentlich für sie waren und überlegte, wie oft sie schon von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht hatte. Immerhin war Caroline einige Male innerhalb Europas unterwegs gewesen. Für weiter entfernte Ziele hatten das Geld und der Mut bisher nicht gereicht. Aber den meisten Menschen in den von ihr bereisten Ländern ging es ähnlich: abgesehen von wirtschaftlichen Zwängen konnten sie ihre Freiheit nutzen.
Für Caroline selbst bedeuteten wirtschaftliche Zwänge, dass sie gerade nicht das Geld hatte, um in ferne Länder zu reisen. Für andere jedoch bedeutete es wohl oft, dass sie eine Familie ernähren mussten und nur im Entferntesten daran dachten, ihre Heimat zu verlassen. Und wenn sie ihre Heimat verlassen mussten, dann gerade, weil sie auf der Flucht waren vor Hunger, Krieg und Perspektivlosigkeit. Da Caroline keine Zwänge einer Familie hatte, konnte sie sich doch eigentlich als frei fühlen. Aber was war mit anderen Zwängen? Sorgten nicht die gesellschaftlichen Erwartungen an sie einschließlich die ihres Vaters dafür, dass sie eben nicht wirklich frei war? Und was war mit ihren eigenen Ambitionen? War sie so frei, um Entscheidungen zu treffen, die etwas weiter gingen als die alltäglichen Erfordernisse? Aber auf der anderen Seite hielt sie auch niemand wirklich fest oder hinderte sie daran, dass zu tun, was sie wollte. Mal abgesehen von den Gesetzen, Regeln und Moralvorstellung einer Gesellschaft, die gewisse Leitplanken vorgaben. Dennoch oder gerade deswegen war es zum Verzweifeln: weder musste sie um ihre Rechte kämpfen, noch hatte sie ihre Freiheit verloren. Aber gerade deshalb hatte sie das Gefühl, ihr würde der Kompass fehlen. Wo war die Motivation, die vermeintlich nahen Ziele wie Studium und Praktikum anzugehen? Wäre sie doch nur wie Serena und könnte unbesorgt alles liegenlassen und zu neuen Ufern aufbrechen. Doch ihr fehlte der Mut dazu.
Der Entschluss
Das Klacken der Winsch wurde langsamer, bis es ganz zum Erliegen kam. Mit einem letzten Ruck an der Kurbel heißte Serena das Großsegel so weit wie möglich nach oben in den Mast. Der Wind kam stetig aus Südwesten und bei ihrem Nordwestkurs musste sie die Großschot ein wenig lösen, um den Baum mit dem Segel sanft durch den Wind ein wenig Richtung Lee gleiten zu lassen. Dann setzte sie die Schot wieder fest und beobachtete den Wind. Er nahm langsam zu – nach der Flaute des vergangenen Tages war das eine Freude. Sie hoffte, er würde nicht zu stark werden. Von ihrem Lieblingsplatz auf der Süll schaute Serena in die scheinbar unendliche blaue Weite des Ozeans.
Caroline schloss die Augen und stellte sich das Schaukeln des Bootes, das Rauschen des Windes und das Klatschen der Wellen gegen den Rumpf vor. Sie hatte nochmal das Buch auf irgendeiner zufälligen Seite aufschlagen. Nun versuchte sie sich vorzustellen, wie es war, so neben Serena auf der Süll zu sitzen. Das Gleiche zu fühlen und zu denken wie sie. Die Vorstellungskraft ist ein mächtiges Instrument des menschlichen Geistes, dachte sie. Es ist möglich, sich alles vorstellen und in Sekunden von einem Ort zum anderen zu fliegen oder Menschen zu sich holen. Alles gebildet aus der Erinnerung oder der Phantasie.
Sie hatte von Häftlingen in Arbeitslagern gehört, die mit Hilfe ihrer Vorstellungskraft die Mauern ihres Gefängnisses hinter sich lassen konnten und tief in ihrem Inneren frei waren. Sie waren in der Lage, durch Meditation so in sich zu versinken, dass der Geist wirklich glaubte, an einem anderen Ort zu sein. So wie man in einem Traum meist auch nicht die jeweilige absurde Traumsituation infrage stellte und diese für die Wirklichkeit hielt. Egal, ob sie nun inhaftiert war in irgendeinem fernen Lager oder hier in ihrem Studentenzimmer saß: die Vorstellungen im Traum würden die Gleichen sein. Nur die äußeren Umstände waren anders. Natürlich fühlte sie sich nicht wie ein Häftling in seiner Zelle. Es gab für sie ja keine richtigen Mauern in der Welt. Sie war doch frei und konnte gehen wohin sie wollte. Plötzlich fühlte sie sich in ihrem Zimmer seltsam eingeengt.
Freiheit: was für ein einfacher Begriff, der dennoch so unterschiedlich und anders interpretiert werden konnte. In der Geschichte der Menschheit hatten viele für ihre Rechte gekämpft. Aber der schwierigste Kampf war wohl der für die Freiheit in den Köpfen gewesen. Erst durch die Epoche der Aufklärung und alle sich daran anschließenden Entwicklungen war es möglich gewesen, dass Caroline frei war, ja als Frau sogar studieren konnte. Vor hundert Jahren wäre es noch unmöglich gewesen, als unverheiratete Frau überhaupt in einem eigenen Zimmer zu wohnen. Sie nahm das Buch wieder in die Hand und dachte an Serena. Eine literarische Figur hatte den Vorteil, dass diese tun und lassen konnte, was der Autor wollte.
Diese Figur konnte auch denken was sie wollte - oder was ihr Autor sie denken ließ. Wenn sie, Caroline, eine Geschichte schreiben könnte, dann könnte sie dem Protagonisten alles zeigen und erleben lassen, was sie als Autorin wünschte. Sie könnte die Geschichte der Figur immer so beschreiben, wie sie es gerade für nötig hielt und müsste sich nicht mit Konventionen und alltäglichen Banalitäten aufhalten. Allerdings wäre diese Geschichte wahrscheinlich etwas langweilig, da die Figur selten Konflikte auszustehen hätte. Das ist ja gerade das, was einen Leser interessieren würde. Die Konflikte selbst, und die Lösungen, die für diese Konflikte durch die Figur gefunden wurden, würden das Buch erst lesenswert machen.
Caroline überlegte, welche Geschichte sie erzählen konnte. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, fielen ihr immer nur Ideen ein, die sie schon einmal im Fernsehen gesehen oder in anderen Büchern gelesen hatte. Dann sah sie wieder auf das Buch in ihrer Hand. Sie musste ein wenig schmunzeln und hatte zugleich einen kleinen Stich in der Brust, als sie auf diesen Gedanken kam: In Carolines Hand lag bereits das Buch, dass sie schreiben würde. Fertig gedruckt und gebunden. Ein Buch von einem Mädchen, das die inneren und äußeren Mauern überwunden hatte um ihren Traum zu leben. Dabei hatte sie Gefahren und Konflikte zu überwinden, um am Ende glücklich sein zu können.
Aber wenn es dieses Buch nun schon gab, was sollte Caroline dann schreiben? Eine Fortsetzung? Das war unmöglich. Abgesehen davon, dass sie selbst nicht die Autorin war; die Geschichte schien in sich geschlossen und perfekt. Sie bedurfte keiner Fortsetzung.
Denk nach! sagte sich Caroline. Was hätte Serena getan? Musste sie wirklich ein Buch schreiben, um das perfekte Leben zu erfinden? Dann kam ihr in den Sinn:
Serena würde einfach ihr Leben leben. Aber warum kann ich das nicht auch so machen? - Weil deine Mauern in deinem Kopf dich daran hindern. antwortete Serena in ihr. Für einen Moment hatte Caroline nur diesen einen Gedanken. Sie war, für einen kurzen Augenblick, so leer und frei von ihren Ängsten und Sorgen, dass sie einfach nur dasitzen und das Buch festhalten konnte. Natürlich hatte Serena nicht wirklich mit ihr gesprochen. Es war einfach ein Gedanke, der ihr gekommen war. Der Gedanke, dass die Mauern in ihrem Kopf waren und nicht in der Realität. Caroline konnte sich mit ihrer Vorstellungskraft überall hinbegeben, aber gleichzeitig sagte ihre Vorstellung ihr auch, was sie alles nicht konnte oder was sie stattdessen machen sollte. Fast euphorisch kam sie wieder zu sich. Jetzt prasselten Ideen auf sie ein, was sie alles tun könnte und welche Möglichkeiten sie hatte. Doch sie musste sich zügeln.
Nein, nein, Caroline, so geht das nicht, sagte sie zu sich selbst. Ein Schritt nach dem anderen. Ich brauche einen Plan. Ich brauche eine Art Anleitung, sonst verzettle ich mich und drehe mich im Kreis.
Sie sah wieder auf das Buch. Es war fertig geschrieben und erzählte von Serena, dem Mädchen, dass genau das getan hatte: Sie hatte die Mauern überwunden und ihr Leben in die Hand genommen. Wenn Caroline nun das Buch schon nicht selbst schreiben konnte, dann könnte sie es doch vielleicht als Anleitung nutzen. Dann fiel ihr Blick auf den Ordner mit den Lernutensilien für die anstehende Klausur auf ihrem Bett. Verdammt! dachte sie. So einfach war die Realität wohl doch nicht zu überlisten. Aber der Keim eines Plans war aufgegangen.
Am darauffolgenden Vormittag traf sich Caroline mit ihrer Freundin Lisa in einem Café. Ziel des Treffens war es, die Unterrichtsmaterialien und offene Fragen zu besprechen. Natürlich hatte Caroline überhaupt keine Lust, sich mit dem Stoff zu beschäftigen. Betriebswirtschaftslehre konnte sehr langweilig und trocken sein. Aber andererseits hatte sie so die Gelegenheit, etwas mit Lisa zu unternehmen und mit ihr zu quatschen. Sie musste irgendwie all das loswerden, was in ihrem Kopf vor sich ging. Wer sonst, wenn nicht Lisa, ihre beste Freundin, würde sie verstehen können. Drei Stunden und zwei Kaffee später hatten beide die Unterlagen ein gutes Stück weit durchgearbeitet und gönnten sich eine Pause, in der der dritte Kaffee für Caroline fällig war. So aufgeputscht, hielt sie es nicht mehr aus und leitete ihren Themenwechsel mit der Frage ein:
„Was machst du eigentlich mit deiner Freiheit in den Semesterferien?“ Sie wollte eigentlich Freizeit sagen, doch aus ihr unerklärlichen Gründen schlich sich stattdessen das Wort Freiheit in ihre Frage ein. Lisa bemerkte diesen freudschen Versprecher kaum und zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß nicht. Ich muss noch was für das Projekt vorbereiten, dass Anfang nächsten Semesters abgegeben werden muss.“
„Ja, aber unternimmst du denn nichts?“, fragte Caroline.
„Na ja, ich fahre wahrscheinlich zu meinen Eltern für zwei Wochen, und danach habe ich mal Zeit zu arbeiten und das Geld für das nächste Semester zusammen zu bekommen“. So sieht also die Freiheit aus, dachte Caroline. Die Freizeit wird genutzt, um zu arbeiten. Na ja, das ist wohl das Schicksal unserer jungen Generation. Irgendwie dreht es sich immer um drei elementare Dinge. Es war irgendwie so ähnlich wie die Problematik des magischen Dreiecks in der Wirtschaft, mit dem sie sich gerade beschäftigt hatten. In diesem konnten zum Beispiel die Ziele hoher Beschäftigungsgrad, Preisniveaustabilität und Zahlungsbilanzgleichgewicht niemals alle gleichzeitig im vollen Umfang erreicht werden. Eines von den drei Zielen musste immer zugunsten der anderen zurückstecken. So verhielt es sich nach ihrer Ansicht auch mit den Eckpunkten Jugend, Zeit und Geld: keines dieser drei Bereiche konnte gleichzeitig maximiert werden. Eigentlich können nur Rockstars am Anfang ihrer Karriere alle drei Ecken des Dreiecks vereinen, wenn sie nicht dauernd auf Tournee waren. Aber sie scheinen das kaum auszuhalten, da sie sich meist den Drogen und dem Alkohol zuwendeten. Dann gab es noch die Möglichkeit, Sohn eines reichen Vaters zu sein. Aber diese Leute sind auch irgendwie abgedreht und zu verwöhnt.
„…und was machst du so?“ Lisa riss sie abrupt aus ihren Gedanken.
„Äh, also. Nun ja, ich habe da so eine Idee. Ich muss da erst noch drüber nachdenken.“
„Jetzt sag schon, Caro, was hast du nur wieder für Einfälle?“ Caroline war bei ihren Freundinnen für ihre sonderlichen Ideen bekannt. Meist waren dies nur spontane Eingebungen und selten verstanden die Anderen, was Caroline überhaupt meinte. Aber schließlich fasste sie sich ein Herz und erzählte Lisa von ihren Gedanken. Sie berichtete von dem Buch, das sie gelesen hatte und von ihren Überlegungen über die Mauern in den Köpfen der Leute.
„Was redest du da wieder für ein Blödsinn?“ erwiderte Lisa kopfschüttelnd und holte ihr Handy heraus, um nebenbei irgendjemanden auf eine Frage im Chat zu antworten.
„Überlege doch mal“, sprach Caroline weiter. „Wir machen immer genau das, was von uns verlangt wird.“ Sie versuchte, einen Bezug zu Lisas Welt herzustellen. Wenn dir einer was schreibt, dann antwortest du, weil es erwartet wird. Und so ist das mit so vielen Dingen. Wenn wir Klausuren schreiben müssen, dann lernen wir dafür, weil man es von uns erwartet. Und selbst in unserer Freizeit machen wir Dinge, die eigentlich nichts mit Freizeit zu tun haben.“
„Ja, aber ich mache das doch für mich. Ich will ja schließlich einen guten Abschluss bekommen.“
„Genau, das wird ja auch bei einer Bewerbung erwartet“, erwiderte Caroline.
„Ja, und was ist so falsch daran?“
„Gar nichts. Es ist nur so, dass man, also die meisten Leute, eigentlich kaum Zeit hat, über sich und die eigentlichen Ziele nachzudenken.“ Erst jetzt als sie es aussprach, wurde ihr dieser Zusammenhang klar. Caroline spürte, wie aufgeregt sie nun war. Hätte sie bloß nicht so viel Kaffee getrunken. Lisa entgegnete:
„Aber mein Ziel ist es nun mal, das Studium zu schaffen und einen Job zu bekommen.“
„Ja, aber sind es wirklich deine Ziele, oder die Ziele, die dir von der Gesellschaft vorgegeben werden: Studium, Job, Mann, Haus und so weiter?“
„Aber das machen doch alle so.“
„Ja, genau. Du siehst im Internet oder auf Facebook, was deine Freunde oder andere Leute machen, und dann willst du das irgendwann auch. Früher hat man das Propaganda genannt.“
„Du spinnst doch! Wenn du keinen Bock mehr hast auf Lernen, dann sag es doch gleich.“ Damit packte sie ihre Sachen, stand vom Tisch auf und zahlte am Tresen. „Melde dich, wenn du dich wieder eingekriegt hast.“ Sie wandte sich um und verschwand.
Caroline saß da und ließ ihren Kaffee kalt werden. War sie wirklich so eine Spinnerin? War sie zu weit gegangen? Sie wollte doch nur mit ihrer Freundin ein paar Dinge erörtern, die ihr durch den Kopf gingen. Wie kam es, dass Lisa sie nie verstand? Dabei hatte sie ihr ja noch nicht einmal von der Idee erzählt, das Buch als Anleitung zum Leben zu benutzen. Aber durch dieses Gespräch war Caroline etwas klar geworden: Die Erwartungen der Gesellschaft hingen irgendwie mit den Mauern in den Köpfen zusammen, über die sie nachgedacht hatte. Sie hindern sie das zu tun, was sie wirklich wollte. Diese Mauern wurden nach und nach dort aufgebaut. Sie sind bebildert mit dem Ausblick auf Geld und Erfolg. Es war für Caroline so, als ob sie Teile eines Puzzles entdeckt hatte und diese sich nun langsam zusammenfügte. Zugegeben, das bisherige Bild war noch klein und der Rahmen war ihr unbekannt. Aber sie würde weiter nach dem nächsten Stück suchen, und dann weiter nach dem nächsten und wieder dem nächsten. Sie wollte dann irgendwann das ganze Motiv vor sich haben. Aber von was eigentlich?
Zurück im Wohnheimzimmer schmiss Caroline den BWL-Ordner in die Ecke. Wie konnte sie jetzt ans Lernen denken? Ihr Kopf war nicht bereit dafür. Dennoch hatte sie ein schlechtes Gewissen. War das Gewissen nicht auch eines dieser Mauern im Kopf? Aber andererseits war ihr klar, dass ohne Gewissen eines Jeden ein Leben in einer Gesellschaft nicht reibungsfrei möglich wäre.
Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken. Hatte sie ein Gewissen gehabt, als sie ihren Vater und sie damals verlassen hatte? Caroline war damals zweieinhalb Jahre alt gewesen. Danach wurde sie von ihrem Vater alleine großgezogen. Aber vielleicht hatte ihre Mutter die engen Mauern um sie herum erkannt und war ihnen entflohen? Caroline spürte, dass sich plötzlich in einer anderen Ecke des Rahmens ihres imaginären Puzzles eine weitere Gruppe von zusammenhängenden Teilen platziert hatte. Diese Gruppe Mutter würde irgendwann einmal, wenn beinahe alle Stücke zusammenpassen würden, mit der jetzigen Gruppe Gewissen verbunden sein. Das Puzzle, das ja nur in Carolines Kopf entstanden war, schien weiterhin viele leere Stellen aufzuweisen. Instinktiv spürte sie, dass Serenas Weg sie vielleicht so weit bringen konnte, um all die leeren Stellen zu schließen. Spontan fasste Caroline einen Entschluss: Sie würde zukünftig alles daransetzen, Serena zu folgen und ihr Denken und Handeln nach den Ereignissen im Buch Stadt, Land, Meer ausrichten. Das Buch sollte von nun an wie eine Anleitung zum Leben für sie sein. Sie war bei vollem Verstand und wusste um die schier unmögliche Herausforderung. Aber dieses scheinbar so ferne Ziel gab ihr Motivation und Kraft. Mit diesem Entschluss fasste sie neuen Mut. Immer wenn sie sich zu sehr in Grübeleien verstricken würde, konnte sie sich an das Buch wenden. Und solange sie sich auf dem Weg befand, den Serena im Buch beschritten hatte, konnte ihr nichts passieren.
Das Puzzle
Zunächst musste die Umsetzung ihrer Entscheidung warten. Caroline fühlte sich noch nicht bereit für einen solchen Schritt. Dennoch ging sie in den folgenden Tagen mit anderen Augen durch die Welt. Ihr fiel auf, dass sich niemand zu fragen schien, warum und wozu das man das tat was man tat und ob die gesteckten Ziele eigentlich auch die eignen waren. Es stellte sich ihr die Frage, wie frei die Leute in ihrer Umgebung wirklich in ihren Entscheidungen waren.
Sie musste dabei an Lisa denken. Kaum hatte ihre Kommilitonin etwas Geld verdient, wurde dieses für neue technische Errungenschaften ausgegeben. Und so war es auch bei anderen: man musste das neueste Telefon haben und das tollste Auto fahren. Es schien ihr, als ob sich alles nur darum drehte, für diese Dinge zu arbeiten und damit seine Freizeit zu opfern. Die diversen Anschaffungen sollten das Leben zwar erleichtern, fraßen jedoch auch mehr Freizeit auf. Nach Carolines Ansicht wurden diese Anstrengungen nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch durch die Medien in Form von Werbung und ähnlichem forciert. Zusätzlich musste das Geld verdient werden, um teure Mieten und Studiengebühren zu bezahlen.
Es kam Caroline so vor, als ob niemand wirklich zur Ruhe kommen sollte, um über das eigentlich Wichtige nachzudenken. Was genau dieses eigentlich Wichtige war, konnte sie noch nicht sagen, sie hatte ja erst ein paar Puzzlestücke zusammengesetzt. Die Anderen schienen ihrerseits auch ein Puzzle füllen zu wollen. Aber die Puzzlestücke der Anderen waren meist materieller Natur und jeder hatte scheinbar ein klares Bild vor Augen, wie das Puzzle irgendwann einmal aussehen sollte, wenn es fertig sein würde. Da jeder ständig irgendwie kommunizierte und Informationen absondern musste, hörte niemand mehr richtig zu.
Caroline seufzte. Sie wollte diesen Quatsch nicht mitmachen und konnten deswegen ihre Mitmenschen nicht verstehen. Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr fragte sie sich, ob sie sich selbst jemals verstehen können würde. Inzwischen hatte sie es aufgegeben, für die Klausuren zu lernen. Sie konnte sich einfach nicht auf den Stoff konzentrieren. Auch hatte sie ihren Fernseher so abgestellt, dass sie nicht einfach so rumzappen konnte, ohne nicht vorher bewusst das Kabel wieder in die Box zu führen. Ihre Idee dabei war gewesen, dass sie sich bewusst dafür entscheiden sollte, was sie tat.
Es war einfach, nur die Fernbedienung zu drücken und schon war das Bild da. Müsste sie jedoch erst das Kabel aus dem Schrank holen und hinter den Fernseher kriechen um dieses Kabel anzuschließen, würde sie sich das zweimal überlegen. Seitdem sie das Kabel in den Schrank verbannt hatte, war es auch dort geblieben. Nicht, weil sie sich jedes Mal lange Gedanken gemacht hätte, ob es die Mühe wert gewesen wäre, dieses hervorzuholen, sondern weil sie nach zwei Tagen Kabelverbannung die Zerstreuung des Fernsehers nicht mehr vermisste.
Caroline hatte anders zu tun. Es gab noch so viele Puzzleteile zu finden und scheinbar so wenig kostbare Zeit, die sie nicht verschwenden wollte. Zum Beispiel die Sache mit dem Gewissen ließ ihr keine Ruhe. Sie hatte erkannt, dass das Gewissen von ihrem Vater mittels Erziehung an sie übertragen worden war. An sich ist das Gewissen eine gute Sache, das sie davor bewahren sollte, irgendwelche Dummheiten zu machen. Auch hatte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich nicht auf ihre Ziele konzentrierte. Es kam aber auch darauf an, welche Ziele man verfolgte. Wenn es die Ziele waren, die von der Gesellschaft an die Mauern in ihrem Kopf projiziert wurden, dann musste man diese Ziele hinterfragen. Wichtiger schien es ihr, stattdessen seine eigenen Ziele zu projizieren, damit diese überlagert wurden. Dieses Puzzleteil, also das Finden der eigenen Ziele, hatte Caroline vergangenen Samstag zu ihrem Gesamtbild hinzugefügt.
Sie war an jenem Abend auf einer Studentenparty in einem anderen Wohnheim gewesen und hatte sich mit zwei Typen unterhalten, die ihr einen Joint anbieten wollten. Sie hatte früher schon einmal Gras geraucht und wusste um die Wirkung. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie den Joint annehmen sollte. Eventuell würde die Droge sie in die Lage versetzen, neue Ideen zu entwickeln und andere Sichtweisen zu erkennen. Sie war jedoch später dankbar, dass sie abgelehnt hatte. Trotz dieser Ablehnung hatte Caroline sich mit den beiden Studenten unterhalten, da sie hoffte, dass diese durch ihren anhaltenden Marihuana-Konsum offener für ihre eigenen Gedanken gewesen wären. Doch sie musste feststellen, dass mit diesen Beiden nicht viel zu besprechen war. Die jungen Männer an jenem Abend noch nicht so zugedröhnt, so dass immerhin eine Unterhaltung möglich gewesen war. Zunächst schien es so, als ob sie ihre Gedanken über die Gesellschaft und den Erwartungen folgen konnten, ja sogar ihre Ansichten teilten. Sie hatten sogar noch weitere Anmerkungen, über die man durchaus nachdenken konnte. Aber die Schlussfolgerung der beiden konnte Caroline nicht teilen. Sie waren der Ansicht, dass sich die ganze Misere schon mit genügend Gras und Alkohol aushalten lassen könne. Und außerdem, so sagte der eine, der neben Caroline saß, gäbe es ja auch noch die Frauen, die einem eine schöne Ablenkung verschaffen könnten. O-der sagte er, es gäbe schöne Frauen, die schon für Ablenkung sorgen würden? Wie auch immer dieser Satz gelautet hatte; bei der Formulierung zwinkerte er Caroline verschwörerisch zu. Dann legte er, den Joint zwischen den Fingern, seinen linken Arm um sie und fasste sich mit der rechten Hand in seinen Schoß. Aber mit dieser Art von Ablenkung konnte und wollte Caroline nichts zu tun haben. Unter einem Vorwand beendete sie das Gespräch und ärgerte sich im Nachhinein, viel zu höflich gewesen zu sein.
Auf dem Nachhauseweg musste sie enttäuscht feststellen, dass es nicht ausreichte, sich dem Leben zu verweigern oder ihm zu entfliehen, auch wenn man die Misere, wie es der Kerl nannte, erkannt hatte. Die eigenen Ziele konnten doch nicht nur aus Ablehnung der erkannten Umstände bestehen. Oder wie und wo man die nächste Frau flach legten könnte. Aber immerhin hatte der Abend eine weitere Erkenntnis, ein weiteres Teil, eingebracht: Auch wenn du die Misere erkennst und dich ihr entziehen willst, brauchst du Ziele, die besser sind als die bisher angebotenen. Außerdem war es nicht ratsam, seinen Geist mit so einem Zeug zu vernebeln. Da konnte sie auch genauso gut fernsehen.
Dann fiel Caroline eine Begebenheit ein, die sie lange verdrängt hatte. Sie musste damals so elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein. Es war die Zeit kurz vor ihrer Pubertät und sie hatte alle möglichen Flausen im Kopf. In ihrer Nachbarklasse war ein Mädchen namens Nicole, die etwa ein Jahr älter als Caroline war. Sie war ein wildes Mädchen mit zerzausten Haaren und einer unflätigen Aussprache. In ihrer Klasse schien Nicole eine Außenseiterin zu sein, da sie in keine Schublade passte. Ebenso wie Caroline, die jedoch aus anderen Gründen in ihrer Klasse damals meistens außen vorstand und nicht sehr beliebt war. Es kam jedenfalls dazu, dass die ungleichen Außenseiter sich ein wenig anfreundeten und bald die Nachmittage miteinander verbrachten. Dabei war Caroline von der unkonventionellen und anarchisch anmutenden Nicole fasziniert. Ein wenig wollte das ruhige und brave Mädchen so sein wie die chaotische Mitschülerin. Caroline ließ sich von ihr zu allerlei Unfug anstiften und bekam einmal sogar einen Tadel, weil sie Nicole dabei geholfen hatte, die beiden Klassenbücher der Nachbarklassen zu vertauschen. Bei solchen Aktionen hatte sich Caroline nie so richtig wohl gefühlt. Aber sie wollte die Freundschaft von Nicole damals nicht aufs Spiel setzen. Das Mädchen aus der Nachbarklasse versprach ihr immer wieder die tollsten Dinge. Es handelte sich dabei um Geschenke, die ihr ihr Onkel angeblich mitgebracht hatte, die sie jedoch immer irgendwie vergessen oder verloren hatte.
Eine Zeit lang glaubte Caroline den Versprechungen von Nicole. Im Nachhinein kam sie sich wie ein Esel vor, der einer Mohrrübe hinterhergerannt war. Für Nicole schien es hingegen interessant zu sein, sich jemanden wie Caroline zu halten. So hatte sie ein Publikum für ihre Streiche und hatte Spaß daran, Caroline mit ihren Versprechungen zu manipulieren.
Natürlich erkannte Caroline diese Mechanismen erst später, nachdem Nicole von der Schule geflogen war. Von einem Tag auf den anderen waren somit ihre Treffen vorbei gewesen. Aber von da an nahm sich Caroline vor, sich nicht mehr ausnutzen oder manipulieren zu lassen. Sie war mehr auf der Hut und so hatte sie auch die armseligen Versuche der Kiffer von der Party erkannt, die ihr sicher nicht aus Freundschaft einen Joint angeboten hatten. Nein, sie würde ihr Puzzle nicht mit falschen Versprechungen und angeblich chemischen Heilsbringern füllen. Caroline wollte einen wirklichen Weg gehen, ohne Ablenkungen und Störungen.
Zu Hause angekommen, nahm sie das Buch von Serena in die Hand. Ihr Entschluss stand mittlerweile fest. Sie wollte sein wie Serena. Dazu würde sie auch den Ablenkungen widerstehen müssen. Aber sie sollte dabei einen Schritt nach dem anderen machen.
Der Vater
Wie sich herausstellen sollte, war es für Caroline gar nicht so einfach, ihre Schritte in der Spur zu halten. Am Tag der Klausur ging sie trotzdem in die Uni. Zu den gestellten Fragen schrieb sie auf so viel sie noch wusste. Aber durch die Versäumnisse beim Lernen hatte sie natürlich Lücken. Schließlich gab sie die Klausur ab mit dem Gefühl, dass sie doch lieber hätte lernen sollen. Dann waren endlich Semesterferien und sie fuhr für ein paar Tage zu Ihrem Vater. Auch hier musste sie feststellen, dass es nicht so einfach war, sich zurückzuziehen. Seit Jahren war ihr Verhältnis zu ihrem Vater nicht das Beste gewesen. Einen richtig offenen Streit hatte es zwischen beiden selten gegeben als Caroline noch zu Hause gewohnt hatte. Damals lebten beide aneinander vorbei und hatten wenig gemeinsam. Carolines Vater war nicht mehr die Bezugsperson für sie gewesen. Das hatte natürlich auch mit ihrer Pubertät zu tun. Caroline hatte sich verändert und ihr Vater konnte das nicht verstehen.
Es gab immer eine Art Trennwand zwischen Vater und Tochter. Die fehlende Mutter trug zu Carolines besonderer Entwicklung bei. Als junges Mädchen wollte sie mehr über ihre Mutter erfahren. Doch ihr Vater blockte diese Versuche ab und ließ wenig über die Vergangenheit durchblicken. Auch gab es keine anderen Verwandten, die Caroline geholfen hätten, mit dieser Situation fertig zu werden. Da sie merkte, wie wenig sie von ihrem Vater in Erfahrung bringen konnte, distanzierte Caroline sich immer weiter von ihm. Als junges Mädchen machte sie insgeheim ihn für das Verschwinden ihrer Mutter verantwortlich, gerade weil er so wenig über die damaligen Ereignisse erzählte.
Es wäre unmöglich gewesen, ihrem Vater jetzt von ihren Gedanken und Problemen zu erzählen. Er würde sie, wie so viele andere in Carolines Umfeld, sicherlich nicht verstehen. Natürlich fragte er nach dem Verlauf des Semesters. Caroline reagierte jedoch gereizt und antwortete nur einsilbig. Sie wollte nicht über die Klausuren reden müssen, denn das hätte zur Folge gehabt, ihrem Vater zu erklären, wieso sie sich in der letzten Zeit nicht auf das Studium konzentrieren konnte. Beim gemeinsamen Essen mit musste sie unwillkürlich an die letzten Tage zurückdenken und an den Weg, der noch vor ihr lag. Der Weg, der trotz der geplanten Anleitung durch das Buch doch noch so dunkel, rätselhaft und unmöglich schien. War ihr Vorhaben nicht ein wenig zu überzogen, zu abgedreht, als dass es tatsächlich durchführbar wäre? Ein Buch als Anleitung zum Leben zu verwenden? Was würden ihr Vater und alle Anderen von ihr denken, wenn sie davon wirklich erzählen würde?
Da waren sie wieder, die Mauern im Kopf. All diese Verpflichtungen und falschen Ziele, die sie von ihrem Vorhaben abbringen wollten. Sie schaute ihren Vater über den Essenstisch an. Welche Ziele hatte er wohl verfolgt in ihrem Alter? Was hatte er sich gewünscht damals und was führte dazu, dass ihre Mutter ihn und sie verlassen hatte? Von alleine schnitt ihr Vater das Thema nie an und sie hatte es inzwischen aufgegeben, ihn danach zu fragen. Aber immerhin hatte er sie nicht verlassen. Er hatte sie großgezogen – alleine. Hatte er da nicht auch das Recht, das Caroline etwas aus ihrem Leben machte? Hatte sie nicht deswegen auch Verpflichtungen ihm gegenüber? Vielleicht waren die angeblichen Mauern ja auch Leitplanken, die sie sicher vor dem Absturz in die Tiefe bewahrten. Caroline musste sich darüber weitere Notizen machen, sobald das Essen fertig sein würde.
„Caro, gibst du mir mal bitte das Salz. Caro!“ Erschrocken wachte sie aus ihren Tagträumen auf. Sie sah ihren Vater fragend an. „Du träumst schon wieder. Das Salz, bitte!“ wiederholte er fordernd.
„Ach so, ja.“ Sie reichte ihm ein wenig abwesend das Salz.
„Du bist genauso verträumt wie deine Mutter“ erwiderte er gereizt, als er das Salz entgegennahm.
„Was hat meine Mutter den mit dem Salz zu tun?“, fragte Caroline etwas angriffslustig, aber auch etwas überrascht, da er dieses Thema angesprochen hatte. Jetzt war eventuell ein guter Zeitpunkt, weitere ungeklärte Fragen zu stellen. Aber stattdessen verärgerte sie ihn noch mehr, indem sie unüberlegt antwortete: „War das der Grund, warum sie dich verlassen hatte? Weil sie einen Traum hatte?“ Der Satz passte eigentlich nicht so richtig in den Zusammenhang, aber Caroline wollte provozieren. Eigentlich wollte sie noch hinzufügen: …der Grund, warum sie es mit dir nicht mehr ausgehalten hatte? Aber dazu kam sie nicht. Das erschrockene Gesicht ihres Vaters als Reaktion auf ihre ausgesprochene Bemerkung hielt sie davon ab.
„Entschuldige Papa, ich habe es nicht so gemeint.“ Stille. Er schaute sie nur etwas entgeistert an. War die Situation noch zu retten? Sie versuchte, ihn zu beschwichtigen, ohne vom Thema abzuweichen. „Aber wenn du mir nie etwas von ihr erzählst, wie soll ich dann genau wissen, was passiert ist?“ Ihr Vater legte langsam die Gabel auf den Tisch. Ruhig antwortete er:
„Ich weiß. Deine Mutter hat mich einfach zu tief verletzt. Und wenn ich dich ansehe, dann sehe ich sie. Du hast ihre Augen. Aber du kannst ja auch nichts dafür. Ich will nur nicht, dass du die gleichen Fehler machst wie sie damals. Aber in den letzten Jahren habe ich oft gedacht, dass ich den eigentlichen Fehler begangen habe. Oder vielmehr, dass ich der Fehler war.“
„Wie meinst du das?“, wollte Caroline genauer wissen.
„Na ja, deine Mutter hatte tatsächlich viele Ideen und Träume. Ich war meist realistisch und musste sie bei einigen Dummheiten zurückhalten. Ich denke, sie hat sich mit der Zeit von mir eingeengt gefühlt. Und ich konnte sie nicht verstehen.“ Caroline blickte auf ihren Teller. Sie konnte ihn jetzt nicht ansehen. Die Gereiztheit, die beide vor einer Minute noch gezeigt hatten, war vorüber. Selten hatte er so selbstkritisch über ihre Mutter gesprochen. „Und das ist der Vorwurf den ich mir oft mache: Dass ich sie nie richtig verstanden habe und immer meinte, meine klare und analytische Sichtweise wäre die einzig richtige, die einzig rationale.“ Seine Stimme war ruhig, aber dennoch war in ihr ein wenig Schmerz verborgen. „Aber ich habe mittlerweile verstanden, dass es nicht immer nur darum geht, alles rational zu beleuchten und zu durchdenken. Manchmal muss man auch einfach loslassen können und sich allem hingeben. Den Dingen seinen Lauf lassen, verstehst du? Natürlich verstehst du das, du bist ja ihre Tochter.“ Das war für sie etwas Neues. All die Jahre hatte sie geglaubt, dass ihre Mutter die verantwortungslose Person darstellte, die beide im Stich gelassen hatte als sie noch ein Kind war. Ihre Mutter war die Träumerin gewesen, die in die Welt hinaus wollte und der die Enge in der Kleinstadtwohnung zu viel wurde. Sie hatte immer Dummheiten im Kopf gehabt und war oft unzufrieden gewesen. So war Caroline mit dem Groll ihres Vaters auf ihre Mutter aufgewachsen.
Er hingegen verlor nie die Kontrolle und war immer sachlich. So war sie erzogen worden und so handelte sie auch oft. Ihr wurde bewusst, wie schwer es eigentlich war, sich von der eigenen Erziehung zu lösen. Selbst wenn sie andere Einsichten erkannt hatte und bewusst in eine andere Richtung steuerte, war es nicht leicht, die Teile, die sie als Kind beigebracht bekommen hatte, ob gut oder schlecht, abzuschütteln. Sie konnte auf dem Weg schwanken, aber die Leitplanken der Kindheit blieben. In einem Punkt hatte ihr Vater Recht: sie war dennoch die Tochter ihrer Mutter. Das lag natürlich auch an den Genen. Er sprach weiter:
„Ich hätte mehr auf sie eingehen sollen, anstatt auf sie in meinem Sinne einwirken zu wollen. Gemeinsam hätten wir einen Weg gefunden.“ Caroline antwortete, um überhaupt etwas zu sagen:
„Du bist eben wie du bist. Und sie war wie sie war. Es ist immer schwierig, sich zu ändern.“
„Nein, es gibt immer Möglichkeiten, wenn man es gemeinsam will. Mir ist es nur zu spät aufgefallen, dass es an mir lag. Ich war zu sehr festgefahren in meinen Abläufen und meiner Kontrollsucht. Deine Mutter hat mich oft wahnsinnig gemacht, aber sie hat mich auch zum Lachen gebracht. Erst durch sie und ihre Ideen kam die Abwechslung in mein Leben. Natürlich auch durch dich. Aber du warst ja noch so klein. Ich habe zu spät erkannt, dass sie eigentlich der Engel war, der mich retten sollte. Und meine Unzufriedenheit ihr gegenüber richtet sich eigentlich gegen mich, Na ja, zumindest teilweise“. Wieso fing ihr Vater gerade jetzt mit dieser Beichte an? Caroline war in der letzten Zeit nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Er war irgendwie älter geworden, das konnte man sehen. Das Alter schien so manche Dinge zu beschleunigen, auch wenn es sich nur um Eingeständnisse von Fehlern in der Vergangenheit handelte. Es schien, als ob er ihrer Mutter verzeihen konnte. Er aß weiter, ohne weiter auf das Thema einzugehen und Caroline stelle keine Fragen mehr. Sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
Später auf ihrem Zimmer brummte ihr der Kopf. Zu den ohnehin schon verwirrenden Erkenntnissen der letzten Tage kamen nun neue, sie direkt betreffende Einsichten hinzu. Sie musste sich mithilfe ihres Notizbuches erst einmal einen Überblick verschaffen. Als Erstes hielt sie fest, dass es nicht so verkehrt ist, seinen Träumen nachzuhängen. Denn Träume sind ja irgendwie auch Ziele. Nur dass die Träume oft unerreicht scheinen, aber dafür die Mauern im Kopf und in der Realität durchsichtig machen. Also sind Träume die Ziele jenseits der Mauern, also die wahren Ziele.
Als Zweites notierte sie, dass die Menschen unterschiedlich waren und jeder andere Träume hatte. Das war erst mal nichts Neues. Aber man sollte immer Verständnis für den Anderen und dessen Ziele entwickeln und nicht darauf beharren, dass die eigene Einstellung zum Leben die einzig wahre war.
Drittens ist die Erziehung etwas, das man, so gerne man auch möchte, nicht verleugnen konnte. Ihr Vater war für Caroline größtenteils für diese Erziehung zuständig gewesen. Die dadurch vermittelten Werte und Einsichten konnte eine Leitplanke, aber auch eine Mauer bedeuten. Auch ihr Vater konnte nicht aus seiner Haut. Aber man kann sich seiner Erziehung bewusst werden und die Dinge, die hinderlich sind, überwinden. Das schien jedoch Zeit zu brauchen.
Und viertens hatte ihr Vater seine Meinung über ihre Mutter scheinbar in der letzten Zeit geändert. Auch wenn ihre Mutter nicht mehr da war, hatte er seine Beziehung zu ihr verbessert. Diese konnte natürlich nicht darauf reagieren und sie hatte ihn auch nicht umgestimmt. Er allein war darauf gekommen, sich mit ihr zu versöhnen. Alles hatte sich im Laufe der Jahre in seinem Kopf abgespielt, ohne wesentliche Einwirkung von außen. Das bedeutete, dass eine Beziehung im Kopf weiter bestand, auch wenn die Bezugsperson nicht mehr anwesend war. Es war möglich, die Beziehung nachträglich zu beeinflussen. Dies benötigte jedoch Zeit. Aber auch hierbei, so schloss Caroline, würde es schneller gehen, etwas im Kopf zu ändern, wenn man sich des eigentlichen Zustandes bewusst war und offen dafür, seine eigenen Fehler zu sehen. Wenn es sich um vergangenes Fehlverhalten handelte, dann war es auch möglich, über die Schwächen der Anderen hinwegzusehen. Schließlich fand ja alles nur im eigenen Kopf statt.
Durch das Gespräch mit ihrem Vater offenbarten sich ihr auf einmal so viele neue Puzzleteile. Aber anstatt, dass diese das Gesamtbild ein wenig konkreter gemacht hätten, hatte Caroline das Gefühl, der Rahmen habe sich vergrößert. Sie beschloss, ihren Vater nicht mehr so kritisch zu sehen und ihre Mutter nicht mehr dafür zu verurteilen, dass diese sie verlassen hatte. Die Vergangenheit konnte man sowieso nicht ändern. Sie überlegte, was die neuen Zusammenhänge für ihr Vorhaben bedeuteten. Wenn jeder Mensch so speziell ist, wie könnte es ihr dann gelingen, so wie Serena zu werde? Mal ganz abgesehen davon, dass Serena eine Figur aus einem Buch war. Aber andererseits hatte Serena auch einen Traum. Einen Traum, den sie sich erfüllt hatte. Und Caroline hatte denselben Traum. So unterschiedlich konnten sie also nicht sein.
War sie schon so weit, um den ersten Schritt zu gehen? Hatte sie genügend Mut? Sie dachte über die letzten Tage und Wochen nach. Was war alles passiert, seitdem sie das Buch gelesen hatte? Es hatten sich so viele Gedanken in ihrem Kopf befunden, so viele Puzzleteile, die geordnet werden mussten. Einige Teile hatten sich an ihren Platz gefügt, neue waren an anderen Ecken dazu gekommen. Erst jetzt erkannte Caroline, dass sie sich schon längst auf dem Weg gemacht hatte und dabei war ihr Vorhaben umzusetzen. Zwar hatte sie noch keine Schritte unternommen, die ihre Situation geändert hätten. Sie war nicht wie Serena im Buch nach Südostasien gereist und hatte nicht angefangen, an der Schule dort zu lehren. Sie hatte nicht mit dem Segeln begonnen und hatte auch kein eigenes Boot. Das waren alles weit entfernte Dinge für sie. Dennoch spürte sie, dass sie ihre Reise schon längst in ihrem Kopf angefangen hatte. Und zwar ihre ganz persönliche Reise. In ihrem Kopf packte sie ihre Koffer und sammelte das Rüstzeug zusammen, das sie für ihre Reise benötigen sollte. Sie hatte begonnen, Mauern einzureißen, die sie zuvor an dieser Reise gehindert hatten.
Zweifel
Serena hatte zahlreiche Erfahrungen in ihrer Welt gemacht. Wobei die Welt im Buch eine erfundene Welt in eines Romans war und demnach ihre Erlebnisse natürlich nicht wirklich stattgefunden hatten. Caroline konnte und wollte sich nicht davor verschließen. Dennoch musste die Autorin von Stadt, Land, Meer, Ellen Dorothy, bestimmt in irgendeiner Weise diese Erfahrungen gesammelte haben, sonst hätte sie diese nicht so lebendig beschreiben können. Waren die Serenas Erlebnisse für Caroline wirklich umsetzbar und wo sollte sie anfangen? Es ging in dem Buch ja nicht nur um eine weite Reise, sondern auch um das Segeln. Doch selbst so eine Fahrt nach Südostasien war für Caroline momentan nicht möglich. Immerhin hatte sie ein Studium, um das sie sich kümmern musste. Es waren zwar Semesterferien, doch Caroline empfand, dass diese für solche Pläne zu kurz waren. Außerdem war es für sie ihrer Meinung nach noch zu früh, um sich auf diesen Teil des Weges zu wagen. Sie beschloss, sich daher anderen im Buch beschrieben Erfahrungsgebieten zu nähern. Daher entschied sie sich, auf dem nahegelegenen See in der Nähe der Wohnung ihres Vaters einen Jollen-Segelkurs zu absolvieren. Dafür waren die Semesterferien schon geeignet. Die verkorkste Klausur musste wahrscheinlich am Ende der vorlesungsfreien Zeit wiederholt werden, aber daran wollte Caroline jetzt nicht denken.
Also meldete sie sich an. Der Kurs wurde von einer kleinen Segelschule angeboten und es gab noch einen freien Platz. Bevor es jedoch aufs Wasser ging, mussten einige Theoriestunden absolviert werden. In ihrem Kurs waren fünfzehn Teilnehmer, Caroline eingeschlossen. Der Segellehrer hieß Sven und war Mitte fünfzig. Er erklärte erst einmal die verschiedenen Begriffe und Redewendungen, die an Bord einer Jolle verwendet wurden. Da saß Caroline nun und versuchte, sich alle neuen Wörter und Passagen einzuprägen. Anstatt für die Klausuren zu lernen, befasste sie sich mit einem Stoff, der überhaupt nichts mit ihrem Studium zu tun hatte. Neben ihr saß Martin, der sich mit eben diesen Kursinhalten sichtlich abmühte und Sven immer wieder dumme Fragen stellte. Im Studium musste man den jeweiligen Stoff lernen, um im Leben voran zu kommen. Aber den Segelkurs taten sich alle freiwillig an. Nicht, dass es nicht interessant gewesen wäre. Es ging immerhin weitestgehend um physikalische oder mathematische Zusammenhänge. Dieser Umstand erleichterte es denjenigen, die sich in so einer Materie auskannten, den Themen zu folgen. Doch alle Teilnehmer hatten ein Ziel: sie wollten ein kleines Boot führen können. Ob Martin wohl auch einen Traum hatte? Aber so gestresst wie er sich gab, schien es eher, als ob er gezwungen worden war, hier dabei zu sein. Der Weg zum eigenen Traum scheint nicht immer leicht zu sein, dachte Caroline. Sie musste den Kurs unweigerlich mit ihrem Studium und den Vorlesungen vergleichen. Irgendwie waren ja das Studium und die damit verbundene Aussicht auf Arbeit und Verdienst auch irgendwie freiwillig, trotz der ganzen Mühen und Entbehrungen von Freizeit und Eigenbestimmung. Der Verdienst konnte schließlich dazu genutzt werden, sich seinen Traum zu erfüllen.
Wie so oft schweifte Caroline in ihren Gedanken ab: Geld - immer nur ging es nur ums Geld. Es eröffnete viele Möglichkeiten, wenn man es hatte, konnte aber sehr hinderlich sein, wenn man es nicht hatte. Wieder erkannte Caroline eine Mauer. Im Roman konnte Serena ohne diese innere und äußere Mauer auskommen, um ihren Traum zu erfüllen. Irgendwie war ihr das Glück zugeflogen. Aber Caroline konnte das so nicht einfach nachmachen, so sehr sie sich das auch wünschte. Alleine der Segelkurs kostete sie schon über zweihundert Euro. Aber wer für seinen Traum weiterkommen wollte, musste wohl etwas investieren. Ob es nun Zeit oder Geld war, für umsonst war nichts zu haben.
„…und wie heißt das, wenn der Wind in dieser Situation von Steuerbord kommt? Caroline? Hallo?“
„Was, was?“ fragte die Angesprochene aufgeschreckt. Sven sah Caroline erwartungsvoll an, während er mit dem Finger auf ein von oben gezeichnetes Segelboot mit Windpfeilen zeigte. Verdammt! dachte sie. Wie soll ich denn hier weiter kommen, wenn ich ständig anderen Gedanken nachhänge. Irgendwie bin ich wohl doch die Tochter meiner Mutter.
„Wie war die Frage noch gleich?“, fragte sie schüchtern. Sven wiederholte für sie geduldig die Frage und gab auch gleich die Antwort. Er strahlte viel Ruhe aus und sie hatte den Eindruck, dass er sich wirklich dafür interessierte, ob alle den Stoff lernten. Sein Unterrichtsstil war anders als bei den meisten von Carolines Professoren an der Uni, die nur ihre Vorlesungen durchzogen und für die die Studenten nur eine Matrikelnummer waren. Wer jedoch Segellehrer war, verdiente nicht viel und musste demnach viel Spaß an seinem Beruf haben. Ein bekannter Spruch fiel ihr ein: Wer sein Hobby zum Beruf macht, muss nie mehr arbeiten. Für Caroline war daher schnell klar: Sven war deswegen so ein entspannter Typ, weil er das Segeln als Ausgleich hatte und weil es ihm sichtlich Freude bereitete, andere in den gleichen Genuss seines Hobbys zu versetzen. Das bewunderte sie. Er schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Von da an nahm sie sich vor, aufmerksamer zu sein. Schon bald bemerkte sie, dass sie viel mehr Spaß am Stoff hatte und auch nicht mehr durch ihre Gedankenwelt abgelenkt wurde. Vielleicht war das ja auch ein Ausweg aus dem magischen Dreieck des Lebens, in dem man nie alle drei Enden vereinen konnte: wenn man schon arbeiten musste, dann sollte es wenigstens Spaß machen.
Abends in ihrem Zimmer im Haus ihres Vaters hatte Caroline Zeit, über den vergangenen Tag nachzudenken. Sie hatte ihm erzählt, dass sie nun einen Segelkurs machen würde. Er war sichtlich überrascht gewesen und entgegnete:
„Du und segeln? Du hast dich doch nie für Wassersport interessiert. Ich glaube nicht, dass du lange dabeibleibst. Wenn du mich fragst, ist das raus geschmissenes Geld“. Um einer Auseinandersetzung zu entgehen, hatte sie lieber nichts darauf geantwortet und war wortlos auf ihr Zimmer gegangen. Warum traute ihr Vater ihr nur so wenig zu? Hatte er eventuell Recht? War sie nicht viel zielstrebiger geworden, wenn es um ihren Traum ging? Sie stellte fest, dass ihr Entschluss, Serena zu folgen, weit größere Konsequenzen haben würde, als sie es jetzt überhaupt überblicken konnte. Sollte dieser Entschluss richtig umgesetzt werden, würden die Folgen ihr ganzes weiteres Leben beeinflussen. Wenn sie jedoch dazu nicht bereit war, dann könnte sie jetzt hier sofort mit ihrem Vorhaben aufhören. Sie würde normal wieder zur Uni zurückkehren und den Weg gehen, der von Anfang an für sie geplant war. Das würde auch bedeuten, alle Gedanken, die sie in den letzten Tagen und Wochen gehabt hatte, zu vergessen. Es würde keinen Grund mehr geben, sich ablenken zu lassen. Das Puzzle in ihrem Kopf, welches sie sich mühsam aufgebaut hatte, auch wenn es noch klein und verstreut erschien, müsste sie wieder aufbrechen und seine Teile in alle Winde zerstreuen, um alles zu vergessen. War es aber dafür nicht schon zu spät? Hatte nicht der Gedanke, weiter nach den zusätzlichen Teilen zu suchen, während sie Serena folgte, schon so tief Besitz von ihr ergriffen, dass es eigentlich keinen Weg mehr zurück gab? Dennoch schien sie jetzt zu zweifeln. Tat sie wirklich das Richtige? Und hatte sie überhaupt das Richtige, was immer es genau war, erkannt? Dann wären Zweifel auch wieder nur Mauern, die im Kopf entstehen und sie davon abhielten, das Richtige zu tun.
Nur ein paar Sätze ihres Vaters hatten sie zweifeln lassen. Was bringt den Menschen dazu, an dem, was er als richtig erkannt hatte, zu zweifeln? Wieso stellt er sich immer wieder die gleichen Fragen, obwohl er weiß, wie die Lösungen dazu aussehen sollten? Andererseits hatte Caroline mittlerweile verstanden, dass jede Mauer auch eine Leitplanke sein konnte. Sie hatte erlebt, wie so ziemlich alle Gedanken, die sie in den letzten Wochen beschäftigten, dazu geführt hatten, ein neues Puzzlestück, auch wenn es noch so klein war, zu entdecken.
Caroline sah ihr Gesicht beim Zähneputzen im Spiegel. Welche Seite des Spiegels war die Richtige? Sie wusste nur, dass sie die richtige Caroline war, und nicht die gespiegelte Caroline auf der anderen Seite. Aber konnte sie sich sicher sein?