Traumsignale - Stefan Gril - E-Book

Traumsignale E-Book

Stefan Gril

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Beschreibung

Surrealistische Träume eines Sehers. Ein Traumseher bin ich, dessen Geist nachts im Schlaf in einer Ballon - Gondel über Land und Meer fliegt. Ich sehe die Schlafenden in der nächtliche Landschaft unter mir und kann ihre Träume erkennen.

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Ein Traumseher bin ich, dessen Geist nachts im Schlaf in einer Ballon - Gondel über Land und Meer fliegt. Ich sehe die Schlafenden in der nächtliche Landschaft unter mir und kann ihre Träume erkennen. Die Menschen würden sich im Wachzustand vor mir fürchten.Was ist das besondere an uns Traumsehern, das die Menschen vor uns erschrecken lässt? Wir besitzen die Fähigkeit, jedermann von verschiedenen Seiten gleichzeitig anzusehen. Dem, der uns den Rücken zukehrt, können wir, ob er will oder nicht, gleichzeitig ins Gesicht schauen. Deshalb haben besonders die, welche einen nächtlichen Beruf ausüben, wie Diebe, Fallensteller oder Meuchelmörder eine panische Angst vor mir. Einige dieser Träume habe ich hier aufgeschrieben.

Über den Autor: Stefan Gril, bürgerlich Dr. Ernst Flaig, ist Naturwissenschaftler im Ruhestand und freiberuflicher Maler und Autor surrealistischer und gesellschaftskritischer Erzählungen. Weitere Veröffentlichung: „Die Erlebnisse eines wahnsinnigen Pilgers bei seinen Wanderungen durch die reale Welt“, erschienen im BoD Verlag

Inhalt

Prolog

Die Welt Orbitanien

Die Lokomotive

Die plötzliche Party

Fluchtversuch

Das Tanzturnier

Hochwasser

Nima

Meine Ärztin

Der Staubplanet

Am Ort der Zärtlichkeit

Zwei Zeithorizonte

Die Einsame Venus

Das fünfte Jahrtausend

Die geträumte Frau

Prolog

In meiner Gondel fliege ich über Land und Meer. Die glitzernden Sterne und die silberne Sichel des Mondes erzeugen fahles Licht und tiefschwarze Schatten im Relief der Landschaft unter mir. Wolken jagen über den nächtlichen Himmel, verdunkeln manchmal die Szenerie, die das Auge kaum ahnt. Die Häupter der Berge sehen einmal aus, als seien sie mit Zucker übergossen, dann wieder wirken sie gewalttätig drohend oder prachtvoll majestätisch. Die Lebenden sind in tiefen Schlaf gefallen, nur wenige Lichtpunkte zeigen auf jene, denen Lust oder Pflicht, Unruhe oder Verzweiflung eine Nachtwache aufgetragen haben. Und während die Lebenden von ihrem Schlaf, diesem kleinen alltäglichen Tod, in bewusstloser Starre gehalten werden, tanzen die abgeschiedenen Geister auf Straßen und Plätzen. Wohin der Wind meine Gondel treibt, ist jede Nacht ein neues spannendes Abenteuer. Der Ballon, der die Gondel meiner geheimen Exkursionen trägt, hat mich schon in hundert Städte und Länder entführt. Menschen habe ich gesehen, die erschraken oder sich fürchteten, wenn sie mir, dem Traumseher begegneten.

Das ist nämlich mein Beruf. Was ist das besondere an uns Traumsehern, das die Menschen vor uns erschrecken lässt? Wir besitzen die Fähigkeit, jedermann von verschiedenen Seiten gleichzeitig anzusehen. Dem, der uns den Rücken zukehrt, können wir, ob er will oder nicht, gleichzeitig ins Gesicht schauen. Deshalb haben besonders die, welche einen nächtlichen Beruf ausüben, wie Diebe, Fallensteller oder Meuchelmörder eine panische Angst vor mir.

Sie wissen, dass sie ihr Gesicht vor mir nicht verstecken können, sie wissen oder ahnen, dass ich das, was ich nachts im Traum gesehen habe, mit hinüber nehme in das Wissen des Tages.

Meine Träume sind Spiegelbilder der Realität. Weil die Schatten der Wolken am Nachthimmel immer dann den Mond verdunkeln, wenn die Seele eines Gequälten in den Himmel schreit, sind viele Konturen zwielichtig und Gesichter mehrdeutig. Weil der Traumseher alle Dinge von zwei Seiten anschaut, werden die janusköpfigen Geister der Nacht, die Gutes und Böses, Helles und Dunkles, Feines und Rohes gleichzeitig verkörpern, zu einem mehrdeutigen Ereignis, das für ihn selbst vollkommen transparent, für Andere aber rätselhaft ist.

Grenzenlos sind meine Träume in Raum und Zeit. Weil Träume nicht das Sein, sondern das Wissen spiegeln, sind die vierdimensionalen Gesetze des Alls in ihnen aufgehoben. Einmal besuche ich Kongo-Mombota den I. - den großen Weisen des fünften Jahrtausends. Wir diskutieren die ganze Nacht über Aristoteles und Nostradamus. Ein Andermal trägt mich die Gondel zu einem der größten Meister der bildenden Kunst - sein Name ist seit vierzehntausend Jahren eine Legende. Er heißt „der Magier von La Madeleine”. Ich schaue ihm bei der Arbeit an seinen Wandbildern über die Schulter und gleichzeitig ins streng verschlossene Gesicht: er lächelt und ist blind. Wie kann er blind sein und solche Meisterwerke schaffen? Ich erkenne die Logik der Szene: Weil er in der ewigen Nacht der Höhle von Madeleine keine optische Signale wahrnehmen kann, haben sich seine Augäpfel nach innen gedreht, nun schaut er auf den Kosmos der Bilder in seiner eigenen Tiefe.

Ja, wenn der Nachtwind günstig ist, vielleicht besuche ich dann morgen oder übermorgen Homer, oder Sokrates. Oder ich fliege an das Ende der Raumzeit und schaue in eine chromgelb strahlende Ewigkeit hinein, in der der gesamte Kosmos nur ein mathematisch definierter Punkt ist.

Was lehren mich meine Träume? Der menschliche Geist hat ein riesiges Potential. Er kann Wahrheiten und Weisheiten von schier unendlicher Dimension entwerfen. Aber die menschliche Moral ist bis ins Mark verrottet. Sie ist durch die Fäulnis Habgier, den Schimmel Neid und den Bazillus Intoleranz unheilbar infiziert. Da gibt es keine Therapie. Zivilisationen kommen und vergehen, ökonomische Potentiale werden aufgetürmt bis unter den Himmel.

Und immer wieder muss alles zusammenstürzen, weil es ohne Moral kein Fundament hat.

Einige meiner kurzweiligen Träume seien hiermit dem geneigten Leser zum Nachdenken oder zur Erbauung übergeben.

Die Welt Orbitanien

Mein Vater ist ein überaus mächtiger Mann. Das Haus, in dem er residiert, ist so groß, dass meine zahlreichen Geschwister und ich es niemals geschafft haben - obwohl wir alle in diesem Hause geboren sind - alle Räume zu betreten oder auch nur annähernd ihre Funktionen und Geheimnisse zu erfahren.

Mein Vater, der sich seine Heiligkeit nennen lässt - zudem hat er noch viele weitere Titel, von denen noch die Rede sein wird - übt in unserer Welt einen großen Einfluss aus.

Obwohl er nicht eigentlich politisch tätig ist, hat er fast jeden Tag Politiker und Diplomaten unter seinen Gästen, die es sich zur Ehre anrechnen, wenigstens einmal zum Übernachten in den geheimnisumwobenen Teil des Hauses, welcher „der Bereich der kryptischen Rituale „ genannt wird, eingeladen zu werden.

Wodurch nun, nach meinen Erinnerungen alle nachfolgenden Ereignisse ausgelöst wurden, hat nur wenig mit den kryptischen nächtlichen Vergnügungen dieser Besucher zu tun, dafür viel mit einer jungen Frau von ergreifender Schönheit und hoher Bildung, die mein Vater als hochbetagter weißhaariger Greis zur Frau begehrte, obwohl er zu dieser Zeit noch mit meiner Mutter in ehelicher Gemeinschaft lebte. Bevor ich die Ereignisse, die unser aller Leben dramatisch verändern sollten, in ihrer zeitlichen Abfolge erzähle, muss ich die Topographie des Hauses in dem wir lebten, etwas genauer schildern:

Die Räumlichkeiten des Hauses sind in sechs Abteilungen gegliedert. Blickt man von der vorderen Giebelseite her auf das Haus, so ist es durch zwei Eingangsportale und hinter diesen sich öffnende Arkadengänge in drei Zeilen gegliedert. Die rechte Zeile, zu der man über den als „Weg der Gesellschaft“ bezeichneten rechten Arkadengang gelangt, wird „Bereich der öffentlichen Rituale“ genannt. Es ist der Bereich, in dem Empfänge, Geselligkeiten und für die Öffentlichkeit bestimmte Aktionen und Rituale stattfinden. Man betritt diesen Bereich durch die „Halle der Belobigungen“ die an ihrer rechten Seite vom „Raum der Verdammung“ und dem „Raum der Vorverurteilung“ begrenzt wird. In der Tiefe schließt sich hieran das „Atrium der Geselligkeit und Glückseligkeit“ an.

Die mittlere Zeile der Räume wird von der vorderen Giebelfront her durch den „Raum für die Bewirtung von Jedermann“ eröffnet. Der Raum ist im Stil einer Schiffskajüte gehalten, mit sehr viel metallisch glänzenden Beschlägen an Möbeln und Wänden und einer riesigen in Messing und rotem Holz gehaltenen Bar, an der Diener Getränke servieren und an der die Gäste des Hauses, aber auch Jedermann, woher auch immer er komme, den Bedarf an alkoholischen Getränken und an öffentlichen oder geheimen Gesprächen decken kann. Hinter dieser Freizone der Begegnung erstreckt sich der Zentralteil der Mittelzeile, der, da er keine Verbindung zur Außenwelt hat, nur fensterlose Räume umfasst. Man nennt diesen Teil den „Bereich der kryptischen Rituale“ er umfasst die zahlreichen Schlafräume für Familienmitglieder und Gäste, Versammlungsräume von kellergewölbeartigem Charakter, außerdem Kapellen und Gebetsgrotten in einer solchen Zahl, dass für jede Religion, jede Naturphilosophie und jeden Geheimbund ein eigener Raum zur Verfügung steht. Meine erste Bekanntschaft mit diesem Teil des Hauses war ein Initiationsritual, dem ich mich zur formellen Beendigung meiner Kindheit unterziehen musste. Bei diesem Anlass erlebte ich, dass die Räume sich über viele Etagen in die Tiefe hinunter fortsetzen. Mehrere riesige Treppen erschließen eine fast endlose Zahl von Stockwerken einer unterirdischen Welt und scheinen dafür gebaut zu sein, eines Tages Tausende in die Katakomben hinabströmen zu lassen. Das letzte Stockwerk besteht aus einem Kreuzgewölbe mit massiven Pfeilern und wird „Saal des höchsten Gerichts“ genannt.

Blickt man vom vorderen Giebel her auf die linke Zeile, so öffnet sich hier der linke Arkadengang „Weg des Individuums“ er führt im vorderen Bereich zu einer Gruppe von Gymnastikhallen, Sportplätzen und Theatern, die diesem Teil den Namen „Arena der Spiele“ gegeben haben. Das Zentrum dieses Teils ist unter dem Namen „die Sonnenbank“ bekannt, in dieser wird Freizeitgestaltung in allen erdenklichen Variationen betrieben.

In der Tiefe schließt sich an diesen Bereich die „Zone der Erinnerungen“ an, hier findet man Museen, historische und ethnologische Ausstellungen. Seit ich denken kann, ist der zentrale Teil dieser Zone mit einer historischen Architekturdarstellung belegt, diese zeigt die eher trist anmutende Häuserzeile einer Bauerndorfes, Hütten und Stallungen in primitiver Bauweise, Geruch von Armut und Mühsal überall. Aber es ist eine Geistersiedlung, die Bewohner sind nicht zu sehen oder spielen unter dem historischen Aspekt keine Rolle. Die wirkliche Bedeutung des Exponates ist umstritten, aber die offizielle Diktion lautet, dass es den Ort darstellt, an dem mein Vater, die graue Eminenz hinter den Großen unserer Welt, in diese unsere Welt einzutreten beschlossen hatte.

Bleibt noch, den sechsten Teil des Hauses zu beschreiben: er erstreckt sich quer über die gesamte Breite und liegt vor dem hinteren Giebel. Er führt den Namen „Reich der Meditation“ und enthält Räume, die dem Denken, Gestalten und der Meditation gewidmet sind. Es finden sich dort Lichträume für Maler und Bildhauer, Meditationsräume für Wissenschaftler, Bibliotheken für Erfinder sowie beschauliche Gärten und Werkstätten, in denen man jeder skurrilen Idee nachgehen kann. Es ist dieser Teil des Hauses, in dem ich mich seit meiner Kindheit am wohlsten fühle und den ich am liebsten überhaupt nie verlassen hätte.

Nun ist es aber so völlig anders gekommen, ich habe nicht nur das Reich der Meditation, sondern auch das Haus, in dem mein Leben sich erfüllen sollte, verlassen, bin in die unbekannte Wildnis jenseits des Hause hinausgegangen und beobachte hier, als Wolf unter Wölfen, allabendlich das Anzünden und Erlöschen der Lichter. Worauf ich warte? Auf die große Abrechnung mit dem verhasst gewordenen Herrscher in jenem Haus, oder darauf, dass er eines Tages stirbt und mir die Rückkehr an meinen angestammten Platz möglich wird.

Dieser Tag mag aber sobald nicht kommen, der alte Mann erfreut sich bester Gesundheit und, wie ich in meiner neuen Umgebung erzählen höre, soll er sogar unsterblich sein.

Das Messer, das den Gedanken schneidet Meine Mutter, Gaia von Ozeanien, stammt aus einer einflussreichen ozeanischen Herrscherfamilie. Bevor mein Vater sich entschloss, unsere Welt Orbitanien zu betreten, weil sie nach seiner Meinung eine progrediente Erkrankung ihrer Moral aufwies, welche zu korrigieren und neu zu orientieren er sich verpflichtet fühlte, besaß das Haus der Ozeanier die größte Machtfülle. Besonders in den Bereichen des freien Assoziierens ökonomischer Potentiale, der Ausbeutung der Menschheit sowie des Hinterlassens verbrannter Erde war Ihnen fast jedermann tributpflichtig.

Mein Vater betrat Orbitanien vermutlich an jenem ländlichen Ort, den die erwähnte Ausstellung in der Zone der Erinnerungen darstellt, zentrierte die Moral der Welt auf seine eigene Person, indem er Anbetung und Kult um seine Person schuf und entzog somit den Ozeaniern gewissermaßen die Geschäftsgrundlage, auf der ihr Imperium aufgebaut war. Die Ozeanier erkannten die Ausweglosigkeit ihrer Lage, sie baten um Frieden, der ihnen gewährt wurde und den sie dadurch zu festigen suchten, indem sie ihm ihre Kronprätendentin Gaia zum Geschenk anboten. Mein Vater vermählte sich mit Gaia und die Ozeanier traten dem von ihm gegründeten Kult zur „Anbetung des Alten Weisen“ bei. Die Zukunft der Menschheit schien gesichert, zumal der Verbindung zahlreiche Söhne und Töchter entsprossen, die das von meinem Vater errichtete Haus mit Leben erfüllten und, nachdem sie herangewachsen waren, zu Verwaltern seiner zahlreichen Abteilungen bestimmt wurden.

Von meinen Geschwistern will ich hier nur die beiden besonders erwähnen, die in meiner Geschichte eine besondere Rolle spielen sollten:

Mein älterer Bruder mit dem Namen „Schwert, das den Alten schützt“. Er erhielt nach seiner Initiation den Titel „Magier der uralten Dinge“ und wurde zum Verwalter der Zone der Erinnerungen ernannt. Er besaß einen äußerst konservativen Charakter und zeichnete sich durch fromme Verehrung seiner Heiligkeit, unseres Vaters aus.

Mein jüngerer Bruder mit dem Namen „Sohn der Sonne“ erhielt nach dem gleichen geheimen Zeremoniell der Initiation, das in einer der unterirdischen Grotten im Bereich der kryptische Rituale stattfand, den Titel „Sieger der großen Spiele“ und war somit Marschall der „Arena der Großen Spiele“ wo er sich auch fast ununterbrochen aufhielt und man ihn meistens in der Sonnenbank bei glücklichem Müßiggang beobachten konnte.

Zu meiner eigenen Person ist zu sagen, dass ich seit frühester Kindheit von den lichtdurchfluteten Räume der Maler und Bildhauer und den herrlichen Gärten der Philosophen und stillen Klausen der Denker fasziniert war, an denen der sechste Teil des Hauses eine große Fülle aufwies. Mein Kindheitsname war „Messer, das den Gedanken schneidet“. Er wurde, wie die Kindernamen all meiner Geschwister, nur solange verwendet, bis die erste Initiation vollzogen war und ich den Titel „Prätendent der Meditation“ erhielt, mit dem ich künftig angeredet wurde.

An das Initiationsritual selbst erinnere ich mich nur ungern. Es war ein die Sinne verwirrendes Zeremoniell in einer Krypta der tieferen Stockwerke, in dessen Verlauf ich dem Kult zur „Anbetung seiner Erhabenen Weisheit“ beizutreten und das Gelübde abzulegen hatte, mich für die Einhaltung und weitere Verbreitung dieses Kultes einzusetzen. Als Belohnung erhielt ich am Ende der Prozedur den erwähnten Titel.

Ich hätte wohl mit dem Verlauf der Dinge zufrieden sein und mich der Verwaltung meines Deputates widmen können, wenn nicht unmittelbar nach meiner Einweihung ein Ereignis stattgefunden hätte, das mich zwang, meine Existenz, meine Familie, das Haus und meinen Vater, den „Spender der Weisheit und der reinen Lehre“ einer kritischen Bewertung zu unterziehen, deren Ergebnis es war, dass ich zu ihm, der auch noch den Titel „Großer Vereiniger der geheimen Ideen“ führt, auf eine rasch immer größer werdende Distanz gehen musste.

Meine Mutter Gaia hatte seit langem einen müden und kraftlosen Eindruck gemacht. Es war nicht zu übersehen, dass sie neben ihm, dessen Vitalität sich niemals zu erschöpfen schien, rapide dahinsiechte. Bei seinen zahlreichen Empfängen und Feierlichkeiten, zu denen er sich stets mit dem feierlichsten seiner Titel „Meister der großen Zeremonie“ anreden ließ, war Gaia nur noch zum Defilee der Gäste anwesend und zog sich dann sehr bald in ihre Suite im Zentrum des Bereiches der kryptischen Rituale zurück. Ich war über ihren Zustand sehr beunruhigt und gedachte, sie in ihren Räumen aufzusuchen um mit ihr zu sprechen und die Ursache ihres Leidens zu erfahren. Zu meiner Überraschung wurde mir der Zutritt durch eine Armee von Türhütern verwehrt, mit der Begründung, als „Prätendent der Meditation“ könne ich den Bereich der kryptische Rituale nur mit ausdrücklicher Genehmigung seiner Heiligkeit, des Spenders der Weisheit und der reinen Lehre, betreten. Dieser aber habe hierzu ein ausdrückliches Verbot ausgesprochen. Ich zog mich in das Reich der Meditation zurück und begab mich in einen kleinen von mir sehr geschätzten Gebetsraum mit dem Namen „Krypta der Zukunft“. Der Verdacht, dass seine Heiligkeit, der große Vereiniger der geheimen Ideen, etwas vor mir zu verbergen hatte, lag nahe. Ich beschloss, ab sofort ein Tagebuch zu führen um über die Aufzeichnung meiner Beobachtungen, Gedanken und Analysen einen Schlüssel zu dem Geheimnis in die Hand zu bekommen, von dem seine Heiligkeit, mein Vater neuerdings umgeben zu sein schien. Ich war sicher, ihm auf die Spur zu kommen - schließlich war ich noch vor kurzem das „Messer, das den Gedanken schneidet„ genannt worden.

Tag der Erscheinung seiner Heiligkeit.

An diesem höchsten Feiertag unserer Familie ist der Bereich der öffentlichen Rituale mit Fahnen geschmückt. Politiker und Gesandte aus aller Welt bevölkern die Halle der Belobigungen und nehmen Orden entgegen. In der Mitte des Atriums der Geselligkeit und der Glückseligkeit ist ein Thronsessel errichtet, seine Heiligkeit, der Meister der großen Zeremonie, thront als unübersehbares Zentrum über dieser Welt. An seiner Seite Gaia, blass und morbide. Vor langer Zeit war sie es, die ihm half, sein Imperium zu errichten, die seine Kinder gebar und ihm die Scharen der Adoranten zuführte. Er hat sie ausgesaugt und ausgelaugt wie man einen Weinschlauch leertrinkt, hat ihre Lebenskraft ausgebeutet um damit selbst unsterblich zu werden.

Der Magier der uralten Dinge hält eine Laudatio auf seine Heiligkeit , in der die Erneuerung der Moral einer barbarisch gewordenen Menschheit gepriesen wird und die darin gipfelt, jedermann zum Beitritt in den Kult zur Anbetung seiner erhabenen Weisheit aufzufordern.

Als ob es jemanden gäbe, der da noch nicht Mitglied wäre. Die Zeremonie und die Rede meines Bruders erscheinen mir wie eine stumpfe Indoktrination, ich ertrage sie nicht.

Im Raum für die Bewirtung von Jedermann treffe ich einen, der auch lieber die Wahrheit in einem Glas Wein sucht: den Sieger der großen Spiele. Die Zeremonie dieses Tages passt vom Umfang her nicht in seinen Intellekt und allem geistigen, das mehr ist als ein Weinschlauch, weicht es aus. Als ich aber mit ihm über Gaia spreche, finde ich meinen ersten Verbündeten: er bestätigt meine Beobachtung und akzeptiert meine Erklärung dazu.

Bilokationstag

Heute verlief dieser Tag sehr ungewöhnlich. Es ist üblich, dass der „Große Vereiniger der geheimen Ideen“ im Atrium der Geselligkeit und Glückseligkeit ausgesuchte Gäste empfängt, vor allem die Diplomaten fremder Mächte, während das Gerücht umgeht, dass er gleichzeitig in einem der verborgensten Räume des Bereiches der kryptischen Rituale, welcher die „Kapelle der geheimen Entscheidung“ genannt wird, einen magischen Vitalisierungsritus zelebriert. Da bei dieser Zeremonie niemand außer ihm selbst anwesend sein darf, kommt es darauf an, an seine Fähigkeit zur Bilokation unerschütterlich zu glauben. Für mich steht fest, dass er damit die Ergebenheit seiner Anhänger testet und mögliche Zweifler identifiziert.

Zweifler werden, sobald sie erkannt sind, in den Saal des höchsten Gerichtes geführt, welcher das tiefste Stockwerk des Bereiches der kryptischen Rituale ausfüllt. Dort erhalten sie Belehrungen und rituelle Waschungen und kehren glaubensgefestigt zurück. Dieser Vorgang ist ein fester Bestandteil des Bilokationstages. Heute abend aber geschah dies: Gaias Platz neben seiner Heiligkeit war zunächst leer geblieben. Dann trugen Diener eine Statue herein, ein vollkommenes Abbild Gaias, mit der Schönheit ihrer Gesichtszüge aus der Zeit vor ihrem Siechtum. Beim Anblick der Statue sanken die Adoranten in den Staub und die Vertreter der fremden Mächte ließen Blumengebinde hereintragen und ihr zu Füßen legen. Während ich hier in meiner Klause, der Krypta der Zukunft, sitze und die Ereignisse überdenke, offenbart sich mir die Wahrheit an einem winzigen Detail:

Die Statue hatte mich angesehen. Für den kurzen Moment des Blickkontaktes war dieses wortlose Einvernehmen da, wie ich es früher, als ich noch „Das Messer, das den Gedanken schneidet“ war, verspürte, wenn meine Mutter mich ansah.

Die Statue ist Gaia selbst und kein Abbild!

So hat er ihrem Siechtum also ein Ende gemacht, indem er sie mit Hilfe irgendwelcher kryptischer Rituale, die er wie ein Zauberer aus dem Hut ziehen konnte, in einen entvitalisierten und eternisierten Zustand versetzte.

Da ich dieses niederschreibe, wird mir klar, dass mir wohl bald Ereignisse von großer Tragweite bevorstehen werden.

Diplomatentag

Der Meister der Großen Zeremonie hat den Botschafter von Ektonien zu Gast. Der Sieger der Großen Spiele, mein Bruder „Sohn der Sonne“ veranstaltet dazu eine Parade schöner sonnengebräunter Menschen, die fähnchenschwenkend an dem Botschafter vorbeimarschieren. Ich selbst bin von Seiner Heiligkeit dazu bestimmt, das Schauspiel, das in der Halle der Belobigungen stattfindet, von ferne - vom Raum der Vorverurteilung her - zu beobachten. Ich weiß, was mir diese einer Rüge gleichkommende Weisung beschert hat: seit der Eternisierung Gaias hält er mich nicht mehr für loyal. Wie gut beobachtet!

Die Ektonier sind eine aufstrebende Macht und beim freien Assoziieren ökonomischer Potentiale inzwischen so erfolgreich wie vor Zeiten die legendären Ozeanier, und es kann kein Zweifel bestehen, dass „Der Spender der Weisheit und der reinen Lehre“ versuchen wird, sich diese Macht tributpflichtig zu machen. Dabei wird er die Forderung nach einer Kontrolle der Moral zum Vorwand nehmen, sie in die verschiedenen Rituale seines Personenkultes zu zwingen.

Am Ende ist es mir noch gelungen, den Botschafter von Ektonien zu einem Gespräch in mein Reich der Meditation zu entführen. Hier, unter vier Augen, während wir durch die Wandelhalle der Denker spazieren, erfahre ich von ihm, unter welchen Zwang Ektonien inzwischen steht: die ektonische Führung erwägt ernsthaft, ihm eine ihrer erlauchtesten Töchter anzubieten um so dem existenzbedrohenden Druck entgehen zu können.

Tag der Vereinigung

Der Vereinigungstag, der stets mit großem Gepränge begangen wird, erinnert an die Vermählung des „Spenders der Weisheit und der reinen Lehre“ mit Gaia von Ozeanien. Zu den Feierlichkeiten werden so viele bedeutende Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland geladen, dass die riesige Halle der Belobigungen zum Bersten überfüllt ist. Heute liegt eine kaum zu beschreibende Spannung über der ganzen Szene.

Im Atrium der Geselligkeit und der Glückseligkeit herrscht nervöser Betrieb, der Thron Seiner Heiligkeit ist neben dem Standbild Gaias errichtet, und der Magier der uralten Dinge, der wie immer den Gästen den gleichen Vortrag über die Geschichte dieser Verbindung halten soll, hat offenbar nicht seinen besten Tag. Schon beim Verlesen der Gästeliste wirkt er verstört und unkonzentriert, häufig bleibt sein Blick beim Standbild seiner Mutter Gaia hängen und es scheint, als ob er von dort heimliche Signale empfinge, die ihn aus der Fassung bringen und den Strom seiner Worte zu einem unverständlichen Gewelsch verändern. Als der Botschafter von Ektonien begrüßt wird, sehe ich durch die geöffnete Tür des Raumes der Verdammung, der mir diesmal als Standort vorgeschrieben ist, zum ersten Mal die junge Frau: Sie wird als Eos, Tochter des Botschafters von Ektonien vorgestellt. Ihre Erscheinung ist von vollendeter Schönheit und Harmonie, ihr Teint ist dunkel, fast ebenholzschwarz, wie es für die Ektonier typisch ist. Die nun folgenden Ereignisse laufen so glatt und wie selbstverständlich ab, dass ihre äußerste Befremdlichkeit kaum jemandem zu Bewusstsein kommt. In der Introduktion von Eos erläutert der Magier der uralten Dinge, dass sie, eine der höchstgeborenen Töchter Ektoniens, die Interpretation der traditionellen ektonischen Tempeltänze in einer Meditationsschule ihres Landes erlernt habe und seither bei besonderen Anlässen diese Tänze auch zur Schau stelle.

An dieser Stelle hebt seine Heiligkeit die Hand, es wird still. Eine winkende Geste bedeutet Eos, heranzutreten. Sie nähert sich seiner Heiligkeit bis auf die vorletzte Stufe seines Thrones.

Dort beginnt sie, ihre Kleider abzustreifen. Okarina und Panflöte erklingen in diesem Moment, vom Meister der großen Zeremonie exakt geplant. Eos beginnt, sich im Tanze zu wiegen. Die Schönheit des Körpers, die Harmonie der Bewegungen, der trauernde und doch glutvolle Ausdruck in jeder Figur des Tanzes lassen die anwesenden Männer in einem kaum jemals so tief empfundenen Meer von Sehnsucht versinken. Sie interpretiert den wahrscheinlich ältesten Tanz der Welt, dessen Bezeichnung „Anima“ nur unvollkommen wiedergibt, welcher Gefühlsreichtum hier ausgedrückt wird. Ich schaue fasziniert auf dieses Spiel der Bewegungen und die Schönheit des unbekleideten Frauenkörpers, und ich schaue mit Erschrecken auf die Statue Gaias, die sich um einen Viertelkreis gedreht hat und mit flehenden hilflosen Augen auf die Szene starrt. Es ist der Augenblick der Erkenntnis.

Kognito, dieser launische Kobold, der sich nur zeigt, wenn es ihm gefällt, ist diesmal im rechten Augenblick zur Stelle. Ich sehe ihn, der sich „Seine Heiligkeit“ oder „Spender der Weisheit und der reinen Lehre“ oder manchmal einfach „Der Alte Weise“ nennen lässt, als einen machtgierigen Dämon - hinter der heiligen Maske eine Fratze von Gier, Geilheit und Machtbesessenheit. Die Eternisierung von Gaia ist nur unvollständig vollzogen worden - ein Zeichen, dass sie sich bis zuletzt heftig dagegen gewehrt haben muss - und nun mutet er ihr zu, in ihrem hilflosen Zustand mit anzusehen, wie ihre Nachfolgerin gekürt wird.

Hier in meiner Klause, im verborgensten Winkel meines Reiches der Meditation, wird mir, während ich die Ereignisse des Tages niederschreibe, erst klar, welche Tragweite mein Entschluss hatte, den mir zugewiesenen Platz im Raum der Verdammung unter Missachtung aller protokollarischen Regeln zu verlassen und quer durch die Halle der Belobigungen davon zu stürmen. Offene Rebellion! Im messingbeschlagenen Interieur des Raumes der Bewirtung von Jedermann sah jeder Lichtreflex wie eine Dämonenfratze aus, erst ein scharfes Getränk konnte meine Gedanken wieder zur Ruhe bringen. Etwas ziellos ging ich dann die Arkaden des Weges des Individuums hinunter. Inmitten der Pulks von ordensgeschmückten Laureaten traf ich den Sieger der Spiele, der plaudernd und lachend den Gästen sein Reich erläuterte.

Und da war Eos, die ihm die Worte von den Lippen las. Die Würfel sind gefallen. Dieses Tagebuch wird nicht mehr viele Eintragungen haben.

Sonnentag

An diesem Tag ist es Aufgabe des Siegers der großen Spiele, den Bewohnern von Orbitanien die heitere Seite des Lebens zu präsentieren. In den Arenen und Theatern sieht man bunt und sommerlich gekleidete Menschen, das größte Gedränge herrscht in der Sonnenbank, deren gewaltige Ausmaße kaum zu überblicken sind. Es finden sich dort verschiedene Meeresstrände sowie ein Hochgebirgspanorama mit einem in der Sonne gleißenden Gletscher.

Wer sich dieser Attraktion nähert, muss seine Augen hinter dunklen Gläsern schützen. Der Sohn der Sonne, der mir ergebene Bruder, und als Sieger der großen Spiele Herr dieser Märchenwelt, hat Eos zu einem Spaziergang auf den Gletscher eingeladen, und nun stehen wir hier in diesem Kosmos aus Licht und sprechen über die Zukunft. Eos ist ein Phänomen.

Sie ist Absolventin der vornehmsten ektonischen Meditationsschule. Sie hat alle ektonischen Künste und Wissenschaften studiert und den in jeder Generation nur einmal vergebenen Titel „Lichtgestalt der ektonischen Meditation“ errungen. Wir diskutieren über tausend Fragen gleichzeitig und haben das Gefühl, dass wir Jahrhunderte brauchen werden um uns auch nur annähernd auszuloten. Sobald unsere Gedanken aber die Zukunft berühren, erschrecken wir gleichzeitig. Ich sehe in ihre dunklen Augen, deren Tiefe mich verwirrt, unter ihrem winddichten Umhang ahnt meine Phantasie den schlanken Frauenkörper, ich sehe ihren hinreißenden Tanz „Anima“ im Atrium der Geselligkeit und der Glückseligkeit - und wieder ist Kognito, der Kobold der das Wissen hütet, zur Stelle: Eine Vision gibt er mir ein - darin schreite ich, Eos an meiner Seite, durch rauchende Trümmer des Hauses Orbitanien. Die Trümmer aber bedeuten für uns keinen Untergang, nein, sie sind die Zukunft, die Hoffnung, das Leben, das ewige Du. Eos begreift sofort, was ich mit dieser Formulierung ausdrücken will, sie hält meinem Blick stand, beantwortet ihn mit einer stolzen und fordernden Aufwärtsbewegung des Kopfes. Wer mich gewinnen will, muss Sieger sein und Herr seines Reiches. Und ich will und werde dich gewinnen, Anima!

Aber hier in Seinem Reich, wo er jeden Gedanken überwacht, ist der Gedanke an diese Zukunft ein tödliches Risiko. Ich schließe dieses Tagebuch, denn das, was jetzt zu tun ist, muss getan werden ohne ausgesprochen - ja ohne auch nur gedacht worden zu sein.

Das Neue Tagebuch

Erinnerungstag

Hier draußen unter den Steppenwölfen hat jemand mir ein leeres Journal in die Hand gedrückt und erklärt, Eos schicke es mir, um darin die Chronik der kommenden Ereignisse für die Nachwelt festzuhalten. Eos!

Sie hatte nicht nur jeden meiner Gedanken im Gespräch beantwortet und dabei ihr persönliches Verständnis der Welt sichtbar gemacht, sie hatte auch das begriffen, worüber wir aus Vorsicht nicht sprechen konnten. Drüben, in Orbitanien, gehört der Erinnerungstag dem Magier der uralten Dinge. Die Menschen drängen sich in der Zone der Erinnerungen, durchstreifen die Museen und Ausstellungen und gehen schließlich - eine Pflichtübung für jedermann - in die Halle, in der vor der Ausstellung „Ort Seiner Heiligen Erscheinung“ mein Bruder, der Magier der uralten Dinge, seinen bekannten Vortrag darüber hält, warum Seine Heiligkeit ausgerechnet in diesem tristen Ambiente in Orbitanien erschien, um dessen Moral zu reformieren. Hier in meiner Wildnis, die nicht mein Haus und nur vorübergehend meine Bleibe ist, gibt es jedoch auch interessante Erinnerungen. Die Steppenwölfe, die mich eine Chronik schreiben sehen, kommen ohne Umstände herbei und berichten mir von den Überlieferungen ihres Volkes. Da gibt es die Sage, dass sie vor langer Zeit Ozeanier gewesen sein sollen und dass ihre Mutter Gaia geheißen habe. Ein weißer Magier aber habe Gaia entführt und das Reich Ozeanien an den vier Ecken angezündet und in Schutt und Asche gelegt. Die Überlebenden dieser Vernichtung warten seither auf einen Messias, einen Sohn Gaias, der sie nach Hause führen und ihr neues Reich begründen soll.

Während drüben in Orbitanien die letzten Gäste das Haus verlassen und die Lichter verlöschen, schare ich meine wölfischen Brüder um mich.

Rede an die Steppenwölfe

Meine wölfischen Brüder, Ozeanier!

Ihr wart einst eine große Nation, euer Einfluss reichte vom Orient zum Okzident, von der Glut bis zum Eis und von den Wassern bis zum Himmel. Aber die Machtfülle eures Volkes hatte euch korrumpiert. Im freien Assoziieren ökonomischer Potentiale seid ihr gewissenlos und ohne Rücksicht auf irgendwelche Folgen vorgegangen, habt ignoriert, welche Blutspur euer Tun durch das Land zog. Bei der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen wart ihr so maßlos, dass eure Welt in Gefahr war, zu einem Scherbenhaufen zu werden. Auch eure Mutter Gaia hättet ihr in eurer Gier womöglich noch umgebracht.

Eure Scherbenhaufen sind zu eurem Scherbengericht geworden: Der Glanz ist dahin, das Reich verbrannt, die Besten eures Volkes sind geopfert worden und nur die Wildnis ist euch geblieben, in der ihr ums Überleben kämpfen müsst. Ihr seid korrupt und habt die Moral der Gier geopfert. Schart euch um mich, ihr Steppenwölfe, ich weise euch eine neue Moral, und ich werden euch führen, dorthin, wo alles seinen Anfang nimmt.

Ich weise euch eine neue Moral:

Wer nimmt, der soll auch geben. Ihr sollt aber niemals mehr nehmen, als der, der euch tributpflichtig ist, auch entbehren kann.

Ihr sollt die Quellen heiligen. Nur eine saubere Quelle kann Leben spenden. Und ihr sollt in den Tiefen der Quellen das Bildnis eurer Mutter Gaia sehen und verehren.

Ihr sollt Maß halten. Der Maßlose verwüstet die Welt und am Ende den Boden, aus dem er selbst gewachsen ist.

Ihr sollt das Feuer bewahren und zügeln. Das Feuer wurde euch gegeben als eine Chance, euch zu Höherem zu entwickeln. Wenn ihr es aber nicht zügelt, so wird es zuerst eure Häuser, dann eure Herzen und schließlich eure Gehirne verbrennen.

Ihr sollt jeden Tag etwas für eure Zukunft tun. Und ich will, dass ihr auch die Zukunft eurer Kinder und Enkel heilig haltet, sonst wird eure Art verdammt sein in Ewigkeit.

Ihr sollt die uralten Dinge bewahren. Vergesst niemals, wo ihr herkamt und welch steinigen Weg ihr gegangen seid. Und ich will, dass die uralten Dinge ein Richtscheit seien für euer Heute.

Und nun weise ich euch ein neues Ziel: Lasst uns gehen, meine wölfischen Brüder und unsere Welt Yggdrasil errichten. Yggdrasil soll die Welt der Gerechten und Maßvollen, der frommen Bewahrer und der klugen Erneuerer sein.

Während ich noch diese letzte Zeile niederschreibe, ist eine mächtige Bewegung um mich her. Meine Rede an die Steppenwölfe hat sich in Windeseile verbreitet und nun kommen sie alle, die eine neue Welt und eine neue Moral wollen. An der Spitze einer Armee marschiere ich im Morgengrauen Orbitanien entgegen.

Epilog

Auszug aus einem Festvortrag des Bewahrers der uralten Dinge, gehalten am Tage der Erscheinung des Heiligen Magiers des Wissens.

Verehrte Gäste, liebe Schwestern und Brüder!

Wir begehen heute in Freude und Dankbarkeit den Tag, an dem Seine Heiligkeit, der Magier des Wissens und der Verkünder der neuen Moral, in unserer Welt erschien, um dem Reich des Bösen, Orbitanien, den Todesstoß zu versetzen und unser Reich Yggdrasil zu errichten. An dieser Stelle, wo wir gerade stehen, im Zentrum der Zone der Erinnerungen, sehen wir die Projektion einer ländlichen Gegend, Hütten und Stallungen eines Bauerndorfes, exakt den Punkt markierend, an dem seine Heiligkeit unsere Welt betrat. In einer Vitrine sehen wir die beiden heiligen Tagebücher, “Das Alte Tagebuch” und “Das Neue Tagebuch” genannt, die Seine Heiligkeit verfasste, um mit dem Bösen abzurechnen und die neue Moral zu formulieren. Auf der gegenüberliegenden Wand sind die Ereignisse unserer Staatsgründung in Stein gemeißelt. Dort heißt es:

“Als der Magier des Wissens an der Spitze seiner Armee der Steppenwölfe bei Tagesanbruch vor Orbitanien erschien, wurde ihm, wie auf eine Verabredung hin, das linke der beiden Tore, der Zugang zu den Arkaden des Individuums, geöffnet. In der Türöffnung erschien der Sohn der Sonne, der sich vor seinem Bruder in den Staub warf und ihm die Füße küsste. Sogleich wurde Feuer an die vier Ecken Orbitaniens gelegt und seine Heiligkeit, der Magier des Wissens, schritt die Säulen am Weg des Individuums hinunter. Mit gewaltigen Fausthieben schlug er gegen die verschlossene Tür zum Reich der Erinnerungen. Der orbitanische Magier der uralten Dinge, mein Vorgänger an dieser Stelle, trat ihm mit einem Schwert entgegen, wurde aber von der Armee der Steppenwölfe hinweggefegt. Aus dem Bereich der kryptischen Rituale wurde unsere Mutter Eos befreit und, als die Säulen schon unter der Wirkung des Feuers einzubrechen begannen, trug man aus dem Atrium der Geselligkeit und der Glückseligkeit die Marmorstatue unserer Urmutter Gaia heraus. Nichts sonst blieb von Orbitanien, dem Reich des Bösen. Ungezählte Bibliotheken und Museen, unzählbare Kunstschätze aus den Werkstätten der Maler und Bildhauer gingen unter. Von dem Alten Weisen, der Orbitanien beherrscht und mit der Anbetung seiner Person tyrannisiert hatte, wurde nie mehr eine Spur gefunden. Man sagt, er sei in die tiefste Katakombe seines Hauses gegangen und habe sich dort nach dem geheimsten seiner Rituale selbst eternisiert.

Verehrte Anwesende, den Verlust der geistigen Schätze Orbitaniens betrauern wir nicht, haben wir doch in unserer Mutter Eos und Seiner Heiligkeit, dem Magier des Wissens, eine unversiegbare Quelle für alles Wissen dieser Welt. Und so beten wir, wie es üblich ist, an diesem Tag:

“Heilige Mutter Eos, heiliger Vater, du Magier des Wissens! Geheiligt seien die Quellen und das Bildnis unserer Urmutter Gaia in ihrer Tiefe, wir verehren euch!

Gebt uns Bescheidenheit, heute und immer und helft uns, Maß zu halten, damit wir unsere Erde nicht verwüsten, aus der wir gewachsen sind!

Gebt uns die Kraft, unser Feuer zu zügeln, damit unsere Herzen und Gehirne nicht Schaden nehmen!

Lasst uns an das Morgen denken und an das Übermorgen bei all unserem Tun.

Lasst uns den heiligen Gründer unserer Welt verehren, den lebendigen Geist!

Die Lokomotive

Wenn der Regen gegen die fünf Meter hohe Stahltür der Montagehalle prasselt, dann erklingt der polyphone Lärm einer verheißungsvollen Symphonie. Einer Symphonie, deren Orchester uns mit Fanfaren, Posaunen und Trommelwirbeln anfeuert, deren Chöre uns zurufen: „Hier draußen ist das Leben, hier draußen ist die grenzenlose Freiheit, hier draußen ist die Zukunft!

„ Deshalb liebe ich den Regen, weil seine Musik die einzige Botschaft von draußen ist, die uns unmittelbar erreicht. Uns, die hier seit undenklicher Zeit in der Innenwelt gefangen sind, hält der Gedanke an die verheißene Freiheit aufrecht, die Freiheit, die da kommen soll, wenn wir unser Werk erfolgreich zum Abschluss bringen.

Unser Werk: das ist die riesige Lokomotive, die auf den Schienen in der Montagehalle steht.

Die heute noch ein Torso ist, die aber vielleicht schon bald unter Dampf stehen wird um hinauszurollen und uns mitzunehmen in die verheißene Welt, aus der wir alle kamen und die wir vergessen haben.

Wir alle: das sind die Arbeitsbrigaden der Ingenieure und Konstrukteure, der Schmiede und Schweißer, der Mechaniker und Elektriker, der Mineure und Bergleute, niemand weiß genau, wieviele wir wirklich sind.

Jeder einzelne ist schon so lange hier, dass er sich an das frühere Leben nur noch vage erinnern kann. Wir sind gewaltsam hierher verschleppt worden. Manche kamen einzeln, manche in Gruppen, aber alle erzählen die gleiche Geschichte.

Die Häscher kamen nachts und holten sie aus den Betten, oder Sonntag nachmittags beim Spaziergang, wo die Opfer von ihren Familien getrennt und fortgetrieben wurden. Wir wurden in einen stockdunklen Tunnel getrieben und stundenlang vorwärts gepeitscht.

Wir stießen uns die Köpfe blutig in der Dunkelheit. Manche fielen vor Erschöpfung zu Boden, sie wurden zertrampelt. Schließlich empfanden wir das trübe Licht am anderen Ende des Tunnels schon als erlösendes Zeichen, in der “Halle der Ankunft” betraten wir die neue Welt, die nun unser Zuhause sein sollte. In dieser Halle arbeitet ständig ein Trupp Mineure daran, sie zu erweitern. Der Lärm der Presslufthämmer ist ohrenbetäubend, der Abraum, den sie erzeugen, wird in Grubenhunde geworfen, die in Zügen von dreißig bis vierzig in dem gleichen schwarzen Stollen verschwinden, aus dem die Neuankömmlinge in die Halle gelangen. Ich versuchte bei meiner Ankunft vergeblich, eine Erklärung dafür zu finden, weshalb mir auf dem Weg hierher weder ein solcher Zug, noch überhaupt irgendein Gleis aufgefallen war. Auch andere hatten sich über das Phänomen gewundert, aber wir sprechen kaum darüber. Die meisten hier sind im Laufe der Zeit recht schweigsam geworden, unsere Kommunikation beschränkt sich zumeist auf unsere Arbeit. Bei dem Versuch über das Rätsel unserer Ankunft in dieser Welt zu sprechen, bekommen wir alle Probleme - der Eine bekommt einen Schreikrampf unter der Last des unerträglichen Heimwehs, ein Anderer einen Wutanfall gegen „die, die das mit uns gemacht haben”.

Einmal begann sogar ein junger Konstrukteur, der daheim eine junge Frau und ein wenige Monate altes Baby zurücklassen musste, Amok zu laufen. Wir mussten ihn anketten, nachdem er mehrere Kameraden verletzt hatte, woraufhin er sich ein Stilett in den Hals stieß.

Wir vermeiden es also, über unsere persönlichen Probleme zu reden. Wir besprechen unsere Arbeitseinteilung, diskutieren Konstruktionspläne, reden hin und wieder über die nächste Zukunft und über unsere Chancen, das Werk alsbald zu vollenden.

Wir: das ist meine Konstruktionsgruppe, deren Führer ich bin. Da ist Protop, der Ingenieur, mein zweiter Mann im Team. Er hat mit seinen Ideen wesentliche Anteile an der Konstruktion des Bremskraftverstärkers, der ein Teil des Brems- und Sicherheitssystems ist, für das ich mit meiner Gruppe verantwortlich bin. Protop ist ein schwieriger Charakter, er ist leicht frustriert und tendiert dazu, „die Brocken hinzuschmeißen”. Wenn er einen seiner Wutausbrüche gehabt hat, wirkt er häufig tagelang wie gelähmt, um danach abrupt in eine Phase hektischer Aktivität zu verfallen. Dann Bellmer: der Techniker, der mit den beiden Mechanikern Nathan und Laurix dafür zuständig ist, die Ideen, die Protop und ich auf dem Reißbrett entwickeln, in mechanische Bauteile umzusetzen. Bellmer hat eine schier unerschöpfliche Geduld. Weder die Ausbrüche von Protop, noch die gelegentliche Imbezilität Nathans oder Laurix’ Hang, sich zu drücken, haben ihn jemals aus der Ruhe gebracht. Auch meine permanente Ungeduld und meine Neigung, die Gruppe mit Terminforderungen unter Druck zu setzen, erträgt er gleichmütig und ohne erkennbare Regung.

Schließlich Zetkin: Der Elektroniker, zweiter Ingenieur meiner Gruppe, ist mit den Programmierern und Elektrotechnikern für die Steuerung unseres Sicherheitsmoduls zuständig. Zetkin ist übernervös und zerfahren, aber seine Steuerungsprogramme sind Genieblitze. Seit wir zusammenarbeiten, hat Zetkin ein Dutzend Algorithmen entwickelt, von denen jeder einzelne in jener anderen Welt, aus der wir kamen, ein Renner geworden wäre. Er besitzt keinerlei Autorität gegenüber den Elektrotechnikern, die seine Ideen in konkrete Schaltungen umsetzen müssen und die ihn unverhohlen als “Spinner” bezeichnen. Diese beiden, Poloni und Werhan, sind unsere „Enfants terribles”. Sie sind unsere Jüngsten und beide hatten in der anderen Welt keine Familienangehörigen. Sie sind aufsässig und weigern sich häufig, Zetkins Anordnungen Folge zu leisten. Immer wieder muss ich dazwischen gehen um zu schlichten und die Tiraden hässlicher Worte zu unterbrechen. Wenn es etwas gibt, das wir uns wirklich nicht leisten können, so ist es Zeitverlust durch Streitereien innerhalb der Gruppe. Auch Werhan und Poloni sind schließlich unentbehrlich, und wenn ich Ihnen ernsthaft ins Gewissen rede, dann hält das für ein paar Tage.

In der großen Konstruktionshalle haben wir einen bevorzugten Nischenplatz. Die beiden großen Zeichenmaschinen stehen direkt an der Wand und verdecken den hässlichen Fels. Im rechten Winkel dazu, an der zurückweichenden Seite der Nische, stehen die Tische der Elektroniker mit ihrem Gewirr von Platinen, Chips und Drähten, und gegen den offenen Raum der Halle hin stehen die schweren Werkbänke und die Drehbank der Mechaniker, derart, dass unser Platz hinter ihnen ein wenig verborgen ist. Hin und wieder gelingt es Laurix, sich zwischen den Maschinen unsichtbar zu machen und dann finden wir ihn dort, auf dem Boden kauernd, den Blick gegen die Felswand gerichtet, und manchmal hat er Tränen in den Augen. Dann müssen Bellmer und ich ihm Mut zusprechen, davon reden, dass unsere Anstrengungen eines Tages mit der Öffnung des großen Tores oben in der Montagehalle belohnt werden und wir zurückkehren in das Paradies. Laurix hat in der anderen Welt eine kranke Frau zurückgelassen, die auf seine Hilfe angewiesen war und seine Apathie ist Resignation, weil er nicht glauben kann, sie nach so unvorstellbar langer Zeit noch lebend wieder zu sehen.

Niemand weiß genau, wie lange das Projekt in dieser troglodytischen Welt schon läuft, niemand kennt seine Initiatoren, niemand hat je erfahren, auf welcher Rechtsgrundlage hunderte von Männern hierher verschleppt werden durften und nach welchen Kriterien sie ausgesucht wurden. Ist es eine Strafe oder eine Auszeichnung? Dient es dem Überleben der Menschheit oder ist es die Marotte eines geisteskranken Diktators? Und gibt es die Welt da draußen überhaupt noch? Unser Produkt, die große Lokomotive dort oben in der Montagehalle, hat seit langem keine sichtbaren Fortschritte mehr gemacht. Manchmal werden größere Baugruppen von den Montagekränen in ihre Position geschwenkt und in den Baukörper eingesetzt. Manchmal geschieht auch das Gegenteil, Teile werden wieder abtransportiert und nicht selten findet man komplizierte Mechanik als Schrott auf den Grubenhunden davonfahren und im Nichts verschwinden. Wir nennen sie “Esperanza” und sie ist wohl die größte ihrer Art, die je gebaut wurde, Viereinhalb Meter ist sie hoch und über zweiundzwanzig Meter lang, hinzu kommt noch der Kohlentender, der auf einem separaten Gleis bereitsteht und selbst stattliche zwölf Meter Länge hat. Sie hat sechs Paar Antriebsräder die über zweieinhalb Meter hoch sind, das Transmissionsgestänge ist so groß wie ein Doppel-T-Träger in der Decke eines Einfamilienhauses. Sie besitzt zwei Antriebsaggregate, eine konventionelle Kohlefeuerung und einen Hochdruckflammenreaktor für Schweröl als Treibstoff, der die eigentliche Sensation bei dieser Maschine darstellt. Denn ein solches Aggregat wurde noch nie in eine Lokomotive eingebaut. Es wurde hier von einer der für die Antriebstechnik zuständigen Konstruktionsgruppen entworfen und gebaut, und es hat seine Funktionsfähigkeit noch nie bewiesen, weil es den Kraftstoff dazu, das schwere Dieselöl, in unserer Welt gar nicht gibt. Die Knappen in der Halle unter uns fördern nur Steinkohle aus einem Stollen, den sie von der „Halle der Ankunft” aus in steilem Winkel abwärts aus dem Fels herausgebohrt haben. Es gibt Gerüchte, nach denen unsere Esperanza dazu bestimmt sei, mit einem Steinkohlevorrat an Bord durch feindliches Gebiet zu fahren, bis hinunter in eine Tiefebene, in der es keine Kohle, dafür aber Öl gibt. Niemand weiß, wie das Gerücht entstanden ist. Ich vermute, dass es von den Konstrukteuren des Hochdruckreaktors erfunden und ausgestreut wurde um zu verschleiern, dass ihre Erfindung eigentlich gänzlich sinnlos ist.

Diese Gruppe, die sich selbst als “Expertengruppe für Hochtemperaturantrieb” bezeichnet, ist in den Katakomben ziemlich umstritten. Sie verfügt als einzige über ein eigenes Entwicklungsteam. Der Chef der Truppe, Gyrus, gilt den einen als genialer Physiker mit visionären Ideen, den anderen als der Teufel persönlich. Zu dieser zweiten Kategorie gehören auch meine Ingenieure Protop und Zetkin, die eines Tages eine abenteuerliche Geschichte aus der Sozialhalle mit heraufbrachten. Danach soll Gyrus Physikprofessor und Forschungsleiter einer Rüstungsfirma gewesen sein, bevor es ihn hierher verschlug. In seinem Waffenkonzern sei heimlich an der Entwicklung von atomgetriebenen Raketen gearbeitet worden und man sei kurz vor den ersten Testflügen gestanden. Als er hier auftauchte, gelang es ihm in kurzer Zeit, Faber, den technischen Leiter des Unternehmens “Superlok”, von seinem Konzept eines Hochtemperaturreaktors zu überzeugen, durch den die Lokomotive aber in Wahrheit kurz nach ihrem Start in eine alles niederwalzende Rakete verwandelt werden solle.

Ich weiß, dass Protop und Zetkin mit den Technikern der Gruppe “konventioneller Feuerungsantrieb”, insbesondere deren Oberingenieur Ten Bergen und den Konstrukteuren Weckesser und Rapier einen freundschaftlichen, wenn nicht gar intimen Umgang pflegen, nachdem sie im Schlafbereich der Sozialhalle in deren Nachbarschaft leben. dass die Erbauer der beiden Antriebsaggregate einen erbitterten Krieg gegeneinander führen, ist kein Geheimnis. Mir selbst ist klar, dass der zu beklagende Mangel an jeglichem Fortschritt seinen Ursprung in dieser Feindseligkeit hat und dass das häufig zu beobachtende Wiederausbauen und Verschrotten gerade erst montierter Bauteile auf einer permanenten wechselseitigen Sabotage dieser beiden Gruppen beruht. Meine Kenntnis dieser Vorgänge verdanke ich dem Mann, der in der Sozialhalle seit Anbeginn - seit meinen Eintritt in diese Welt - seine Schlafmatte neben mir hat: Moll, dem Chemiker. Moll ist Spezialist für Hochtemperaturchemie und Mitglied von Gyrus’ Entwicklungsgruppe. Täglich nach der Arbeit treffen wir uns, und da es hier praktisch nichts anderes zu tun gibt, unterhalten wir uns stundenlang. Solange die Erinnerung an unser früheres Leben noch frisch war, bildeten die verlorene Identität, die Familie, die Heimat und die Sehnsucht, dies alles wiederzuerlangen, den Mittelpunkt unserer Gespräche. Inzwischen kreisen unsere Gedanken mehr um das unvollendete - vielleicht unvollendbare - Werk dort oben in der großen Halle, um die menschlichen Spannungen und feindseligen Emotionen, die an allen Enden stetig zunehmen, und natürlich um die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Wir wissen beide, dass unsere Chancen, jemals aus der gegenwärtigen Lage befreit zu werden, ausschließlich vom technischen Fortschritt abhängen, für den wir alle verantwortlich sind, dass aber Hass und Emotionen alle Hoffnung zunichte machen werden, wenn sie weiterhin das soziale Gefüge überwuchern.

Das Triumvirat, dem irgend jemand die Leitung unseres subterrestrischen Unternehmens übertragen hat, scheint unfähig zu sein - oder nicht willens, irgend etwas zu steuern. Da gibt es neben Faber, dem technischen Direktor, noch Vermehr, den Logistiker, der für Materialbeschaffung und Arbeitsplanung zuständig ist. Beide mögen wohl Fachleute ihres Gebietes sein, aber Führungspersönlichkeiten sind sie nicht, und sie vermeiden akribisch jede Stellungnahme zu den sozialen Spannungen. Gewiss nehmen sie was um sie her vorgeht wahr, aber sie verdrängen es, wie jemand, der - auf freiem Feld vom Gewitter überrascht - sich einredet, der Blitz schlüge doch nur dort ein, wo es Bäume gibt. Schließlich Bernstein, der Personaldirektor: er sieht seine Aufgabe darin, einen ständigen Strom neuer Männer für das Projekt zu requirieren, oder solche, die die Erwartungen nicht erfüllen, in dem gleichen schwarzen Tunnel wieder verschwinden zu lassen, durch den sie gekommen sind. Er wird allgemein als “das Krokodil” bezeichnet, womit seine Gemütsverfassung und seine Aufgeschlossenheit gegenüber psychischen Problemen richtig wiedergegeben sind.

Während Moll und ich die Köpfe zusammenstecken, leise plaudern und bei der Erwähnung des Namens “Krokodil” fast etwas Heiterkeit aufkommt, hören wir Geschrei und wüstes Fluchen auf der Treppe, die von der Konstruktionshalle herunterführt in die Sozialhalle.

Zetkin erscheint, hinter ihm der dicke Merlin, unser Programmierer, den wir gelegentlich “Zetkins Schatten” nennen, mit hochrotem Kopf. Das linke Revers von Zetkins Jacke hängt halb abgerissen herunter, über seine Backe läuft ein roter Strich, als habe er einen Hieb mit einer Peitsche erhalten. Dann tauchen auch noch Poloni und Werhan gestikulierend auf, meine halbe Mannschaft scheint wieder einmal in eine Rauferei verwickelt zu sein. Hinter Werhan kommen auch noch Weckesser und Rapier die Stiege herunter, die Konstrukteure der Gruppe “Kohlefeuerung”, alle brüllen durcheinander, klopfen sich dann aber freundschaftlich auf die Schultern. Ich sehe Zetkin fragend an, und er lässt sich mit hörbarem Ausatmen und einer wegwerfenden Handbewegung auf dem Boden nieder. Ich versuche, die Geschichte, die mir jetzt von fünf erregten Sprechern gleichzeitig entgegen sprudelt, zu sortieren.

Die Gruppe war in der Montagehalle und hatte versucht, eine Probeinstallation des linken Bremskreises vorzunehmen. Auf der Montagebühne in drei Metern Höhe sah sich Zetkin seinem Intimfeind gegenüber: Baal, dem Informatiker der Gruppe “Hochtemperaturantrieb”.

Baal, der seinen Fachkollegen Zetkin als “Simplifikator” zu bezeichnen pflegte, hatte einen großen Teil der Bühne mit seinen Messgeräten belegt und nicht die Absicht, für irgend jemanden - geschweige denn für Zetkin - auch nur einen halben Meter freizuräumen. Man giftete sich an, es kam zu einer Rempelei, eines von Baals Messinstrumenten kippte über den Rand der Bühne und zerschellte drei Meter tiefer. Jetzt hatte Baal ein dickes Starkstromkabel zur Hand und schlug zu. Sogleich waren auch seine zwei Assistenten, Ravenna und Herbach, in eine Rauferei mit Poloni und Werhan verwickelt, die - ungeachtet ihrer Geringschätzung Zetkins - Corpsgeist bewiesen und kräftig zulangten. Währenddessen war auf der rechten Bühne ein Trupp aus Ten Bergens Kohleantriebs - Gruppe tätig gewesen, angelockt vom Lärm kletterten sie über das Kopf-Montagegerüst auf die andere Seite hinüber und sahen mit johlendem Vergnügen eine Weile zu. Schließlich hielt es insbesondere Weckesser und Rapier nicht auf den Zuschauerplätzen, auf der Seite ihrer Freunde Poloni und Werhan griffen sie in das Geschehen ein. Erst als Ten Bergen und Gyrus gleichzeitig auf der Walstatt erschienen und ein lautes Donnerwetter von sich gaben, ließen die Kampfhähne von einander ab, zumal sie aus Erfahrung wussten, dass nun ein vergnüglicher letzter Akt der Darbietung folgen würde. Gyrus zu Ten Bergen: “Ich gratuliere, Herr Kollege, die Tatkraft ihrer Mitarbeiter ist eine wirklich gute Kompensation ihrer intellektuellen Unbedarftheit.”

Ten Bergen zu Gyrus:

“Vielen Dank, Herr Kollege, mit Hilfe meiner tatkräftigen Mitarbeiter werde ich in Kürze diesen Maulwurfbunker verlassen. Zu schade, dass Sie nicht dabei sein werden, da wir ja unmöglich Ihre fundamentalen Denkprozesse unterbrechen können.”

Gyrus zu Ten Bergen: “Sie sind wirklich witzig, mein Lieber, Ihre Formulierungskunst sollten Sie unbedingt bei einem bunten Abend zur Erbauung der Belegschaft zur Verfügung stellen.”

Ten Bergen zu Gyrus: “Aber nicht doch, mein Freund, da lasse ich Ihnen gern den Vortritt.

Sie müssten bei dieser Gelegenheit nicht einmal viel sagen, Ihre bloße Gegenwart wäre schon erheiternd genug.”

Gyrus hat sich bei diesen Ausführungen Ten Bergens bereits umgedreht und strebt mit seiner Mannschaft der Treppe zur Konstruktionshalle zu, in Richtung seiner “Denkfabrik”, wie er sein Areal in dieser Halle gern zu nennen pflegt. Ten Bergen aber treibt seine Leute zurück an die Montage und schärft ihnen ein, sich künftig nicht mehr durch Vergnügungen gleich welcher Art von der Arbeit ablenken zu lassen. Ereignisse der beschriebenen Art häufen sich in der folgenden Zeit. Wagner, der Chemiker der Kohlefeuerungs-Gruppe, Experte für Verbrennungskraftmaschinen und sein Fachkollege Moll - mein Freund und Nachbar - liefern sich eine heftige Fehde auf dem Leitstand der Lokomotive, wobei jeder den größeren Raum auf dem Kontrollpannel für die Überwachung seines Aggregates beansprucht. Sie wünschen sich gegenseitig die Pest an den Hals und sprechen wechselseitig die Überzeugung aus, dass der Andere jeden Fortschritt behindere und somit überflüssig sei. Ein andermal kommt es zur Bildung zweier Koalitionen, durch die fast der erreichte Status der Montage zunichte gemacht worden wäre. Die vierte der Konstruktionsgruppen, die Gruppe “Transmissionssysteme”, zuständig für die Übertragung der von den Antriebsaggregaten erzeugten Energie auf die Räder und die Schiene, erhält von Ten Bergen den Auftrag, alle Drehmomente und Kraftschlußmomente neu zu berechnen. Der Auftrag ist überflüssig und provokativ, denn das Resultat, das herauskommen muss, ist bekannt: Die Antriebsräder hätten zugunsten des Kohlefeuerungsantriebs verkleinert werden müssen. Die Lokomotive hätte nach einer solchen Operation nur noch mit der Kohlefeuerung betrieben werden können. Beim Betrieb mit dem Hochtemperaturreaktor wären die Beschleunigungswerte unkontrollierbar und die Maschine damit fast unsteuerbar geworden. Der Chef der Transmissionsgruppe, Le Gaillard, begreift, dass das Vorhaben Ten Bergens eine weitgehende Änderung der Konstruktion zur Folge haben muss und dass bis hin zur Konzeption des Grundkörpers eine andere, insbesondere viel kleinere Maschine dabei herauskommen würde. Le Gaillard und sein Konstrukteur Kateni verbünden sich mit der Gruppe von Gyrus und Moll und gemeinsam wird beschlossen, die Kohlefeuerung als Antriebsart fallen zu lassen und das Konzept zu einer reinen “High-Tec”-maschine umzugestalten. An dieser Stelle fühlen sich meine Ingenieure, Zetkin und Protop, bemüßigt, der Ten-Bergen-Gruppe beizuspringen und vehement gegen eine Änderung des Basiskonzeptes zu opponieren. Auch ich selbst kann mich nicht zurückhalten, Gyrus und Le Gaillard heftig dafür zu tadeln, dass sie bereit sind, aus Egoismus den Erfolg des Gesamtwerkes aufs Spiel zu setzen. dass aber auch Ten Bergen den gleichen Egoismus verfolgt, habe ich für einen Augenblick übersehen oder nicht wahrhaben wollen und das kostet mich die Freundschaft mit Moll. Es kommt zu einem Streik, beide Lager besetzen die Montagebühne der jeweils anderen um sie am Arbeiten zu hindern.

Um zu verhindern, dass die Streitenden in ihrer Rage etwas demolieren, klettere ich mit Ten Bergen und Wagner auf das Kopfgerüst, das den Baukörper in fünf Metern Höhe überspannt, von dort aus will sich Wagner mit einem Appell an die Vernunft an die Streikposten wenden.

Das noble Vorhaben gerät aber gründlich daneben, nachdem Wagner unter den Streikposten auch Moll entdeckt hat. Nachdem er einige ermahnende und besänftigende Sätze in das Megaphon gerufen hat, werden von der Richtung der Gyrus-Truppe her unflätige Zwischenrufe hörbar, die Wagner mit dem an die Adresse von Moll gerichteten Satz kommentiert:

“Sie sollten Ihren Leuten und sich selbst klar machen, Herr Kollege, dass Sie ohne unsere solide Basisarbeit nichts anderes als Traumtänzer wären und ohne jede Chance, auch nur einen einzigen Schritt aus dieser Unterwelt hinaus zu tun. Aber statt der dringend notwendigen Unterstützung kommen von Ihrer Seite ständig Querschüsse oder gar direkte Sabotage, wie das Beispiel des kürzlich von uns montierten Kohlenstaubinjektors zeigt, der einen Tag später auf der Abraumhalde auftauchte! Ich fordere Sie im Interesse aller auf, diesen Streik abzubrechen und ab sofort unsere Anstrengungen zu unterstützen, die darauf gerichtet sind, die Hölle, in der man uns hier gefangen hält, so schnell wie möglich zu verlassen.”

Moll stehen zwei Zornesadern auf der Stirn.

“Mit Ihrer kurzsichtigen Denkweise, Herr Wagner, werden Sie uns zum frühestmöglichen Zeitpunkt genau bis zur nächsten Müllhalde bringen. Wir wissen nicht, wie das Gelände draußen beschaffen ist, es kann sehr wohl eine zerklüftete Gebirgslandschaft sein. Bei der ersten Steigung wird Ihre Museumskiste gleich so gründlich aus der Puste kommen, dass sie von selbst wieder zurückrollen wird - hierher, an diesen Ort, den keiner von uns jemals wiedersehen möchte. Unser Hochleistungsantrieb ist auch für Sie unentbehrlich und Sie sollten uns dankbar sein für die enormen Fortschritte, die wir bisher erzielt haben.” Moll will noch weiter reden, aber das Megaphon wird ihm aus der Hand gerissen. Drei Techniker der Kohlefeuerungsgruppe, Herrmann, Bagpiper und der über zwei Meter große Hüne Gloster haben das Gerüst der Hochdruckreaktorgruppe gestürmt. In ihrem Windschatten stürmt Zetkin voran, der vermutlich die Situation nützen will um mit seinem Widersacher Baal abzurechnen. Wie ein Schatten hinter Zetkin - Merlin, der mit seiner Leibesfülle die Montagebühne gegen die Treppe hin abdichtet, so dass niemand entkommen kann. Eine wilde Schlacht entbrennt, am Ende haben wir zwei Dutzend Verletzte und die Lokomotive sieht aus wie ein gerupftes Huhn, nachdem alle demontierbaren Teile als Wurfgeschosse gedient haben. Als ich nach endlos langer und mühseliger Aufräumaktion, in der ich mit ein paar Besonnenen versuche, zu retten, was zu retten ist, die Sozialhalle betrete, liegt Moll mit einem dicken Gesichtsverband auf seiner Matte. Jemand hat ihm das Nasenbein gebrochen und er dreht mir ostentativ den Rücken zu. Ich versuche, mit ihm zu reden, zu erklären, dass ich mit der plötzlichen Attacke gegen seine Gruppe nichts zu tun hatte, jedoch vergebens. In der Nacht wälzt er sich vor Schmerzen auf seiner Matte hin und her, beginnt schließlich auf und ab zu laufen und jedes mal, wenn er dabei an mir vorbeikommt, sieht er mich hasserfüllt an.

Einige Wochen vergehen, in denen die Arbeit in der Montagehalle ruht und die Gruppen sich in der Konstruktionshalle einigeln und füreinander unerreichbar sind. Ich weiß, dass dieser Zustand der Lähmung überwunden werden muss und starte eine Aktion, um die Gespräche wieder in Gang zu bringen. Zuerst treffe ich Le Gaillard und wir sind uns sehr schnell einig, dass eine Bereitschaft zu Gesprächen und zur Versöhnung herbeigeführt werden muss, und zwar so rasch wie möglich, um einer allgegenwärtigen Gefahr zu begegnen, die wir alle zwar kennen, die jeder aber aus seinem Bewusstsein verdrängt: Das “Krokodil” hat bereits damit begonnen, die Mannschaften systematisch auszutauschen. Als erste verschwinden die, die sich während des Krawalls aktiv hervorgetan hatten und als Rädelsführer angesehen werden konnten. So sind eines Tages Gloster und Bagpiper aus Ten Bergens Gruppe verschwunden, dann vermisst Zetkin seinen Programmierer Merlin. Während die Gruppe Ten Bergens bald danach durch zwei neue Konstrukteure, Oberst und Mekonitsch, ergänzt wird, müssen wir uns ohne den Programmierer behelfen und Zetkin, den es besonders trifft, wird immer gereizter und nervöser. Dann verschwindet Kateni, Le Gaillards Konstruktionsingenieur, und dann Ergoteis, der Oberingenieur der Hochdruckreaktorgruppe, der während des Streiks neben Moll Wortführer dieser Gruppe gewesen war. Das Krokodil ist unerbittlich - ob ein Mann sich bewährt hat, ob er gar unentbehrlich ist, nichts davon scheint zu zählen. Und die Neuankömmlinge sind wie immer verängstigt, mutlos, resigniert, es kostet viel Kraft, sie in die Gruppen zu integrieren und es dauerte lange, bis sie schließlich bereit sind, nützliche Arbeit zu leisten. Le Gaillard und ich beschließen, uns die Arbeit zu teilen. Während er die leichtere Aufgabe hat, sich mit Ten Bergen zu verständigen, fällt es mir zu, mit Gyrus und Moll ins reine zu kommen. Da Moll nach wie vor von meiner Gegenwart keine Notiz nimmt, beschließe ich, als Stierkämpfer mitten in die Arena zu springen. Ich sehe, dass Gyrus mit seiner Mannschaft eine der üblichen Lagebesprechungen hat und setze mich ohne zu fragen einfach dazu. Nach einem kurzen Moment betretenen Schweigens erscheint ein gefährliches Lächeln auf Gyrus’ Gesicht:

„Sieh’ an, der Herr Oberbremser gibt uns die Ehre! Möchten Sie eine private Nachhilfestunde in Konstruktionslehre, oder wollen Sie einfach nur stören oder ein wenig sabotieren, was ja vielleicht Ihre Spezialität ist?”

Ich schlucke jeden Gedanken an eine direkte Erwiderung hinunter.

„Mein lieber Gyrus, seien Sie versichert, dass mir nichts ferner liegt, als Ihre Arbeitsbesprechung zu stören. Allein, der Grund meines Besuches ist von solcher Bedeutung, dass ich nicht auf eine bessere Gelegenheit warten kann. Wie Sie sicher bemerkt haben, hat das Krokodil damit begonnen, alle Personen, die an den Ausschreitungen im Rahmen des letzten Streiks beteiligt waren, systematisch zu liquidieren. Es hat wie üblich, bei den technischen Dienstgraden begonnen - eine Säuberung in der Führungsebene ist wahrscheinlich und innerhalb der nächsten Zeit kurzfristig zu erwarten. Es liegt an uns, ob wir tatenlos zusehen wollen, oder ob wir als Führungskräfte den Willen entwickeln, dem Unheil entgegenzutreten - solange noch eine Chance dazu besteht. Wenn Sie und ich aber erst einmal im schwarzen Tunnel verschwunden sind, dann ist auch die Möglichkeit einer Rückkehr in die Außenwelt vorbei. Unser Streit bringt uns ins Grab, Einigkeit könnte uns eine Chance eröffnen - und sei es nur die Chance, die Auseinandersetzung draußen in der Freiheit fortzusetzen.”

Gyrus sieht mich nachdenklich an, hinter ihm stehen Moll und Baal auf und mustern mich feindselig.

„Wo ist denn eigentlich Ihr Herr Oberingenieur Ergoteis?” frage ich scheinheilig - “ihm wird doch nichts passiert sein?”

Ich beobachte die Spannung in den Gesichtern. Gyrus findet als erster die passenden Worte:

„Also gut, wenn es ums Überleben geht, verbündet sich der Wolf mit dem Fuchs, und da ich in der Verantwortung für eine Handvoll Männer stehe, die wie ich nichts mehr herbeisehnen, als den Tag der Freiheit, bin ich zu einem Pakt auf begrenzte Zeit bereit. Sobald wir aber in Freiheit sind, werde ich Sie und Ihresgleichen den Schlangen zum Fraß vorwerfen.”

Ich kann seine Position uneingeschränkt akzeptieren, zumal mir klar ist, dass sein letzter Satz nur strategische Bedeutung hat, um das Gesicht gegenüber den eigenen Leuten zu wahren.

Der Frieden hält nur wenige Tage. Als ich morgens vor Beginn der ersten Montageschicht unsere neue Bremseinheit mit dem verbesserten Verzögerungssensor inspizieren will, steht unvermittelt Gyrus vor mir. Er wirkt verstört und zerfahren wie ein Mensch vor dem Ausbruch einer Panik.

„Moll ist verschwunden!” schreit er mich an, so als ob ich ihn entführt hätte. Mir fällt sogleich ein, dass ich das Fehlen meines Nachbarn in der Sozialhalle ebenfalls bemerkt habe.

Nur war ich darüber nicht weiter beunruhigt, da wir seit Wochen nicht mehr miteinander gesprochen haben.

„Was geht hier vor, um Himmels Willen - erst Ergoteis, jetzt Moll - wer ist der nächste?”

Gyrus japst nach Luft, aber es kommt noch viel schlimmer für ihn: Die Ingenieure Berner und Hamann kommen aus der Konstruktionshalle herauf - “Haben Sie Baal gesehen? Wo ist Baal? Eine Stunde suchen wir ihn schon!”

Gyrus ist weiß wie ein Leichentuch.

„Sie liquidieren uns alle, Himmelherrgott, warum macht denn keiner was? Warum machen wir nicht die verdammte Kiste startklar und hauen ab, bevor es zu spät ist? Oder wollt ihr im Dreck verrecken -” der gepflegte Zynismus Gyrus’scher Sätze ist einem proletarischen Alles-oder-Nichts-Jargon gewichen. Er wirkt lächerlich in seiner Panik. Ein Mann, der als Genie gegolten hat, schreit vor Angst um sein Leben und ich wartet eigentlich darauf, zu sehen, wie seine Hose nass werden würde. Ich lasse die Gruppe stehen und wende mich der Treppe zur Konstruktionshalle zu. Dabei versuche ich, so gemessen und würdevoll wie möglich zu wirken, aber das Herz schlägt mir bis an die Schläfen hinauf.