Tanatolien - Stefan Gril - E-Book

Tanatolien E-Book

Stefan Gril

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Beschreibung

Tanatolien Wir leben im Zeitalter des Anthropozän, in dem der Mensch zu einem der wichtigtsten Einflussfaktoren auf die biologischen geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Gottgleich entscheidet er, welche Wesen leben dürfen und welche nicht. Dem Zauberlehrling misslingt sein Schöpfungsversuch. Tanatolien wird zu einem Land der Kannibalen und zur Hölle

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Tanatolien

Wir leben im Zeitalter des Anthropozän, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Gottgleich entscheidet er, welche Wesen leben dürfen und welche nicht. Bei der Erschaffung neuer Wesen wird er zum Zauberlehrling.

Unter den vielen „GAU“ – Ereignissen, die inzwischen vor der Tür stehen, wird eines der schlimmsten bisher kaum beachtet, das aus dem Biotop kommt. Durch Stechmücken und von ihnen verbreitete Mikroorganismen wird der Planet allmählich unbewohnbar. Den homo sapiens kümmert das wenig. Allenfalls wehrt er sich durch massive Verbreitung von

Giftstoffen, die gegen die Mücken fast unwirksam sind, aber seine eigene Existenz nachhaltig gefährden.

Tanatolien ist ein utopisches Land, in dem die Entwicklung bereits zum Endpunkt geführt hat. Es ist eine Utopie, könnte aber Realität sein, weil es mit allen bekannten Naturgesetzen kompatibel ist.

Über den Autor:

Stefan Gril, bürgerlich Dr. Ernst Flaig, ist Naturwissenschaftler im Ruhestand und freiberuflicher Maler und Autor surrealistischer und gesellschaftskritischer Erzählungen. Weitere Veröffentlichung, erschienen im BoD - Verlag:

„Die Erlebnisse eines wahnsinnigen Pilgers bei seinen Wanderungen durch die reale Welt“

„Traumsignale“

Inhaltsverzeichnis

Sarkastische Vorbemerkung zum Thema

Wie wahrscheinlich ist der Super - Öko – GAU?

Tagebuch und Chronik des Calus

1. Teil, Abstammung und Werdegang

93,192 Mein Name ist Calus

99,192 Wer ich bin und wie ich wurde

90,203 Calotta und Ataviana, Abstammung

Die Nutri Ataviana

Nutris und Aktis

Submissio thanatoi, Unterwerfung unter den Tod

99,197 Myrmika

90,202 Thermodynamische Grundsatzrede

1. Historische Entwicklung

2. Gleiche Fehler führen immer wieder zu gleichen Problemen.

3. Flucht in die Tiefe

90,315 Ein Tag in den ektoterrestrische Fabriken

91,110 Eine Liturgie zu Ehren der drei großen Staatsgründer

91,216 Das Büro von Oligurius

Die culex aggressor ist keine natürliche Art.

91,217 Saga

91,220 Meine 12 Quadratmeter Standardgrotte

Ergocortus, Monoposto, Fissurio

91,244 Kompaktiertes humaniformes Calciumphosphat

Sarkophyten

Verbus erzählt die Geschichte von Thea Mantis

Merkatos Wahrheiten, die Macht der Maulwürfe

91,247 Vorbereitung der ersten Expedition

Diastin

Tagebuch und Chronik des Calus

Rapierons Schwur

Tagebuch und Chronik des Calus, Die Outroughs

91,320 Aleuron

91,322 Kaltwassersee

Geografische Skizze der Länder Diluvion, Mammalion und Aleuron.

91,326 die Gesetze Tanatoliens

91,331 Nahrung aus dem vergifteten Biotop

91,345 Schlehen und Atta gigantea

92,001 Neujahr mit Schneesturm

92,059 Resultate und Konsequenzen

Umsturz oder Transformation?

92,275 Weichenstellung

92,281 Verstärkung für den Detox

Ergebnisse der Aleuron – Expedition

Einschränkung der Handlungs- und Forschungsfreiheit

Eintrag 93,335: tanatolische Herrschaftsstrukturen,

Das zweite Tagebuch des Calus

93,358 Mammalion

94,007 Freiheit, Eis und Schnee

94,063 Das Wunder des Lebens

94,101 Eroberung der Outroughs

94,330 Schwertkämpfer Rapieron

94,350 Jäger und Sammler

95,020 unterschätzte Risiken

95,185 Problematische Rückkehr nach Tanatolien

95,202 Diadochenkämpfe

95,241 Wachsend ohne Widerstand?

97,031 ein Brückenkopf nach Mammalion

97,278 Geisterstadt Montanara

98,062 Neumammalion: Neustart oder Desaster?

98,091 Das geheime Verbrechen von Montanara

98,243 Freiheitsrausch und Organisation

99,201 Hochstadt, Hauptstadt Neumammalions

100,216 konspiratives Treffen

101,079 Planung und Katastrophe

101,288 Goldener Oktober?

Per aspera ad astra

102,031 Die Herrschaft wankt, fällt aber nicht

112,340 Rapieron Sohn des Calus

Ausbildung zum Genie

Krisen und Kriege der vortanatolischen Zeit.

Die Anopheleskrise Diluvions

Die Rache der Thea Mantis

Der Untergang Mammalions

Schlussbemerkung

Überleben in Neumammalion

Unterhändler Rapieron

Unsichtbarer Rapieron

Provokation und Entscheidung

Show down

Sarkastische Vorbemerkung zum Thema

Wie wahrscheinlich ist der Super - Öko – GAU?

Unsere Zivilisationen umspannen den Globus wie ein stählernes Netz, aus dem es kein Entrinnen gibt, aber auch kein Absturz größeren Ausmaßes möglich erscheint. Wir haben alles im Griff, die ökonomischen Potentiale reichen bis an den Himmel.

Die Welt produziert Nahrung für Menschen im Überfluss (wenngleich einige Querulanten immer noch den sogenannten Hungertod sterben, den sie sich durch mangelhafte Nahrungsaufnahme zuziehen).

Unsere Mobilität ist unbeschreiblich, zu Lande, zu Wasser, in der Luft und im Weltraum sind unsere Vehikel in solchen Massen unterwegs, dass sie bereits anfangen, die Sonne zu verdunkeln. Mit unseren metallischen Vögeln reisen wir in vierundzwanzig Stunden um die Erde (manchmal allerdings reisen ein paar lernfähige Mikroorganismen mit und sorgen dann am Ziel auf ihre eigene Weise für Stimmung).

Wir beherrschen alle Krankheiten (außer den wenigen, die uns beherrschen, aber was soll der Sophismus).

Wir haben die Rolle des Schöpfers in unserem Biotop übernommen, wir bestimmen, welche Arten leben dürfen und welche nicht (gelegentlich bringt das Biotop allerdings neue Arten hervor, die sich unserer Anweisung zur Nichtexistenz partout nicht fügen wollen - aber bitte sehr: tausende von Wissenschaftlern stehen bereit, Methoden zu deren Beseitigung zu erfinden).

Es gibt Leute, die kritisieren das alles (solche Kritik kann von aufrechten Fortschrittlern nur als Häresie, als Lästerung des Schöpfers Mensch angesehen werden).

Der exzessive Gebrauch von Antibiotika in der Landwirtschaft wird verdammt, weil er dazu führen soll, dass in absehbarer Zeit alle bekannten Antibiotika unwirksam sein werden. Wen kümmert diese Schelte? Wir glauben fest, dass der menschliche Verstand immer wieder neue Präparate entwickeln wird, jedes neue immer besser als alle Vorgänger.

Der massive Einsatz von Insektiziden soll angeblich dazu führen, dass sich resistente Stämme entwickeln, die dann als Krankheitsüberträger nicht mehr zu stoppen sind. Nun gut, wenn solche Erreger gemäß obigem Punkt womöglich resistent sein sollten, wir lassen uns unsere schöne neue Welt doch nicht mies machen! Die statistische Wahrscheinlichkeit für solche Ereignisse ist sehr gering, das sitzen wir aus! Und wenn doch was passiert - dann wahrscheinlich da unten bei den Negern oder wo auch immer, aber doch nicht in unserer keimfreien Gesellschaft.

Der Autor dieser Zeilen war dreieinhalb Jahrzehnte lang ein nützliches Rad im Getriebe des Fortschrittes. Das wachsende Unbehagen an der Zivilisation und das Gefühl, dass der homo sapiens sich systematisch den Ast absägt, auf dem er sitzt, resultiert keineswegs aus dem

Wissenschaftsbetrieb oder der Angst vor einem Versiegen des Fortschrittes. Vielmehr ist es der Mensch selber, die menschliche Natur, die man fürchten muss. Je klüger wir werden, desto unverantwortlicher gehen wir mit unseren Ressourcen um. Je reicher wir werden, desto schlimmer verwüsten wir die Basis, von der wir leben. Nordamerika lässt den brasilianischen Urwald abholzen, damit jeder Amerikaner zum Frühstück seine Zeitung auf dem Tisch hat, die er kaum noch liest. In unserer Nahrungsproduktion jagt ein Fälschungsskandal den anderen, ausgelöst von Leuten, denen das Reichwerden über Subventionen nicht schnell genug geht.

Das unten wiedergegeben Faksimile stammt aus den Internet-Nachrichten vom 13. Juli 2003 Betrachten Sie es, lieber Leser, und ziehen Sie Ihre Schlüsse.

Und hier noch eine Trouvaille aus der aktuellen Presse. Rhein - Neckar - Zeitung vom 17. Januar 2004:

Ich lade Sie ein zu einer Reise in ein utopisches Land, das Land Tanatolien. Es ist kein Paradies - es ist die Hölle. Es ist kompatibel mit allen mir bekannten Naturgesetzen, und mit der menschlichen Natur, wie ich sie sehe. Ein Land, das nicht existiert, das aber existieren könnte.

113,231 Prolog

Es ist der Tag 231 im Jahre 113 Tanatoliens.

Das schrille zirpende Singen der Turbinen liegt über dem ektoterrestrischen Areal, der gewaltige Luftstrom, den sie an sich reißen, wirbelt einen blaugrauen Staub auf, der in einem waagerechten Wirbel in den zwei riesigen Einlaufschächten verschwindet. Der neunzehnjährige Rapieron läuft so schnell er kann die dreihundert Meter zur Fahrstuhlhalle hinüber. Er weiß, dass dieser blaue Staub höchst gefährlich ist und dass er schlimmstenfalls sogar das atemlähmende Saron oder das Nervengift Tanatin enthalten kann, deshalb hält er die Luft an, als er am Turbinenhaus vorbeispurtet. In der Fahrstuhlhalle drängen sich die Bioten, es ist gerade Schichtwechsel und jeder hat es eilig, nach unten zu kommen, in die geschützte Welt des sanften Kunstlichtes und der gefilterten Luft. Drei oder vier Bekannte winken Rapieron und fordern ihn auf, sich zu ihnen zu gesellen.

Aber Rapieron hat heute keine Augen und Ohren für irgendjemanden. Denn soeben ist etwas Ungeheuerliches passiert, das seinen Puls bis an die Belastungsgrenze nach oben gejagt hat: oben in der Fabrik hat ihn Saga, eine ältere Biotin, angesprochen, hat ihn in einen überwachungstoten Winkel hinter dem Calcinierer gezogen und ihm ein Buch in die Hand gedrückt. Saga steht in dem Ruf, hochgradig unzufrieden und nicht staatstragend zu sein.

Rapieron kennt Gerüchte, die sie sogar mit einer Verschwörung in Verbindung bringen wollen. Hier nun, hinter dem Calcinierer, umgeben vom tosenden Geräusch der Maschinen, erklärt sie ohne Umschweife:

“Tagebuch und Chronik von Calus, deinem Vater. Lies es, denke nach und handle.”

Und im nächsten Moment ist Rapieron wieder allein, mit einem Gegenstand in den Händen, der sich wie glühendes Eisen anfühlt. Vater? Eine archaische Bezeichnung für den Inseminator. Das Wort wird aus ethischen Bedenken nicht mehr gebraucht ist praktisch verboten. Calus? Der bekannteste Staatsfeind der jüngsten Geschichte! Von ihm sollte Rapieron abstammen?

Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit schießen Rapieron durch den Kopf. Er weiß, dass er zwei Mütter hatte und dass diese ungewöhnliche Konstellation wie ein Staatsgeheimnis gehütet und niemals, niemals! verraten werden durfte. Seine geliebte Amme Eudorina hatte ihm an seinem sechsten Geburtstag anvertraut, dass sie nicht seine genetische Mutter sei.

Deren Identität sei Teil des Geheimnisses um Rapierons Existenz, das sie ihm, auftragsgemäß, zu einem geeigneten Zeitpunkt offenbaren würde.

Und nun diese Nachricht, die offenbar einen Teil der angekündigten Offenbarung darstellte: Calus! Rapieron erinnert sich, dass in dem Haus, in dem er mit seinen Müttern wohnte, ein großer ernsthafter Mann mit ihnen lebte, dessen Name nie genannt wurde. Wenn Rapieron zu ungeduldig wurde, nannte Eudorina den Mann gelegentlich «Justus den zweiten», was für den wissbegierigen Kleinen sehr unbefriedigend war. Aber er beobachtete auch, dass die Neumammalioner ihm mit großem Respekt begegneten. Justus der zweite musste ein sehr bedeutender Mann gewesen sein. Aber Calus der Revolutionär, und auch noch Rapierons Vater? Er kann es nicht fassen. Zugleich durchdringt eine luzide Ahnung das Bewusstsein des Neunzehnjährigen: Warum bin ich, was ist mein Auftrag? Calus wird es mir sagen.

Er verbirgt das Buch unter seinem Overall und geht langsam zurück an seinen Platz. Endlos lange braucht die Kabine bis hinunter bis zum 10. endoterrestrischen Niveau. Rapieron ist nicht in der 3. Etage ausgestiegen, wo seine Behausung liegt, er ist bis zum tiefsten Punkt des derzeitigen Ausbaus gefahren, denn hier unten ist noch keine Überwachungsanlage installiert. Er verschwindet hinter einem Stapel Baumaterial, zieht das Buch unter seinem Overall hervor und blickt sich misstrauisch um. Es ist niemand hier unten, auch die Mineure haben Schichtwechsel. Das Buch ist bis zur letzten Seite voll mit handschriftlichen Eintragungen, und schon im ersten Satz wird zur Gewissheit, dass dies tatsächlich Tagebuch und Chronik von Calus, dem von der Aktijugend heimlich verehrten Rebellen und Staatsfeind ist.

Tagebuch und Chronik des Calus

1. Teil, Abstammung und Werdegang

93,192 Mein Name ist Calus

Werter Leser, der du dieses Buch vor Augen hast und dich fragst: «wer ist das, der solche Ungeheuerlichkeiten aufschreibt und der Nachwelt hinterlässt?» wisse, dass nichts von alledem erfunden ist. Es ist der Notschrei, mit dem ein kümmerlicher Rest einer ehemaligen Menschheit in die Hölle gefahren ist. Von mir wirst du keine Spur auf dem Planeten mehr finden, die Materie aus der ich einst bestand, liegt im ewigen Matmos, die Person, die ich war wird nicht mehr wiederkehren.

Mein Name ist Calus. Ich bin Brigadegeneral im Ressort von Aposef, dem Verwerter, logistisch und wissenschaftlich ausgebildet mit allem Wissen unserer Zeit. Als Leiter einiger Expeditionen in die Outroughs Mammalion und Aleuron kenne ich die Exosphäre wie kein anderer und in unserer eigenen engen Welt Tanatolien gibt es keinen Winkel der mir unbekannt wäre. Als Thermodynamiker sehe ich voraus, dass wir keine Überlebenschance haben werden, wenn wir in unserem Staatswesen so weitermachen, wie bisher. Die Biomasse unserer Welt ist zu klein für ein stabiles Gleichgewicht, daher gibt es nur die Alternative, dass wir uns entweder zu den Outroughs hin öffnen oder absterben. Da die Führung unseres Staates korrupt und gänzlich unfähig ist, wird sie die Entscheidung, den Kampf mit dem Gifthauch der Outroughs zu beginnen, niemals treffen. Ich sehe die Dinge so kristallklar, dass ich mich verpflichtet fühle, selbst die notwendigen Fakten zu schaffen, was nicht weniger bedeutet, als einen kompletten Umsturz des Systems.

Dieses Tagebuch ist aus meinen Notizen während verschiedener Outrough – Expeditionen hervorgegangen. Ich sitze hier im 8. Tiefgeschoss unserer Welt, im Endlager des humaniformen Calciumphosphates, bei trübem Licht und schreibe meine Erlebnisse und Gedanken für die Nachwelt auf. Sollte es eine Nachwelt geben, so soll sie dieses Buch finden und wissen, wie wir aus eigenem Verschulden zugrunde gegangen sind.

Nun auf zur Tat: Ein Staatstreich muss gut geplant und vorbereitet sein.

99,192 Wer ich bin und wie ich wurde

Ich wurde am 67,192 geworfen, auf den Tag vor 32 Jahren. Deshalb will ich heute, am 99,192, diesem 32 Jahrestag meiner Inkarnisierung, zu Protokoll geben, wer ich bin und wie ich wurde. Meine Gebärmutter war eine von der Norm unserer Bevölkerung etwas abweichende Biotin, indem sie gleichzeitig besonders fett und besonders unzufrieden war.

Die fetten Individuen gelten deshalb als erwünschte Spezies, weil sie bei der allgemeinen und für alle gleichen Mangelernährung anzeigen, dass sie thermodynamisch gesehen Biomaschinen mit einem hohen Wirkungsgrad sind. Solche werden bevorzugt für die Nachzucht der Biokin ausgewählt, da man erwartet, dass ihre Nachkommen genügsam sind, das Anwachsen der Entropie gering halten und mit einem minimalen Ausschleusen von Biomasse aus dem Kreislauf auskommen. So war denn auch meine fette Gebärmutter in den Genuss gekommen, ihren persönlichen Letalisierungstermin noch um die Dauer meiner Herstellung hinausschieben zu können. Andererseits galt ihre Unzufriedenheit, welche sie anlässlich eines öffentlichen Verherrlichungsrituals zu Ehren der Gottesanbeterin äußerte, als Zeichen überdurchschnittlicher Intelligenz. Da eine solche in ihrem persönlichen Lebensplan nicht vorgesehen und sie auch nicht Mitglied irgendeines Nachwuchskaders war, konnte es sich nur um einen Atavismus handeln, der nach unseren Gesetzen die sofortige Letalisierung erforderte. Da sie jedoch eine moderne Biotin war, die von archebiotischer Insemination überhaupt nichts hielt, hatte sie sich beim Pollutionsamt staatlich inseminieren lassen und besaß hierüber, unübersehbar, einen Stempel in ihrer ID-Karte. Hier galt nun, dass Gravidität, die laufende Synthese eines neuen Biokin, als Faktum von generellem Vorrang eingestuft wird, so dass ihre unverzügliche Letalisierung nicht vollziehbar war.

Warum diese Priorität gilt in unserer Welt, die jedem Individuum doch nur eine kurze und entbehrungsreiche Lebensspanne bieten kann, ist wiederum leicht mit den thermodynamischen Grundprinzipien unseres Staatswesens zu erklären. Zum Einen wäre der Abbruch einer Biokinsynthese aus energetischen Gründen unökonomisch, da die Kosten der komplizierten Produktion zu keinem volkswirtschaftlichen Nutzen führen würden, zum Anderen ist das Biokin während seiner Wachstumsphase die effizienteste Biomaschine überhaupt, da es mit der aufgenommenen Nahrung die eigene Masse vergrößert und genießt insoweit Vorrang, auch Vorrang vor der Nahrungsproduktion. Diesem ethischen Grundsatz unserer Gesellschaft verdanke ich es, dass ich am 67,192 planmäßig geworfen wurde. Meine Gebärmutter wurde unverzüglich danach letalisiert und ich kam in die staatliche Aufzuchtstation. Diese Station gehört übrigens zum Ressort des Peitschers, sie befasst sich neben der physischen Aufzucht der jungen Bioten auch mit deren Ausbildung und staatlichen Indoktrination, sowie ihrer sorgfältigen Selektion zu einer der beiden Gruppen, in die unsere Bevölkerung eingeteilt ist: Nutris und Aktis.

90,203 Calotta und Ataviana, Abstammung

Calotta stand unvermittelt vor mir und sprach mich ohne Umschweife an.

“Ich habe etwas für dich, mein junger Genius, das dich sicher interessieren wird, so ein paar Informationen über dich selbst und warum du so eine Ausnahmeerscheinung bist in deiner Altersklasse, oder warum du vielleicht gar keine Ausnahme bist ... “

Sie war allerdings nicht bereit, meiner Neugier sogleich Futter zu geben, legte den Zeigefinger an die Lippen und blickte unmissverständlich zum Richtmikrophon hinüber. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag in ihrem Büro, denn im Büro kann die Verwalterin der Letaltermine unverdächtig mit jedem sprechen. Im fahlen Kunstlicht von Calottas Büro steckte ich die Nase ziemlich ungläubig in einen dreiundzwanzig Jahre alten Folianten, den sie aus dem Archiv geholt hatte.

Die Nutri Ataviana

Die Nutri Ataviana war meine Gebärmutter gewesen, hier las ich zum ersten Mal amtliche Eintragungen, durch die ihre mir bisher so ferne Existenz Wirklichkeit wurde. Der Stempel vom Pollutionsamt bestätigte den Inseminationstermin. Meine Zeugung war, obwohl sie nur eine Nutri war, unter Anwendung der höchsten gesellschaftlichen Norm, dem Verzicht auf archebiotische Begattung, vorgenommen worden. Was hatte sie dazu bewogen? Ich versuchte angestrengt, mir Ataviana vorzustellen und so, wie ihre Gene in den meinen waren, glaubte ich, ihre Gedanken in den meinen wiederentdecken zu können. Die Wirklichkeit entglitt mir, mein Geist betrat eine Phantasiewelt. Ich war in diesen Schoß zurückgekehrt, horchte auf den Herzschlag über mir, genoss das Gewiegtwerden bei jedem Schritt. Dann las ich die Eintragung in ihrer Personalakte, die mir tatsächlich den Zugang zu ihrer Gedankenwelt öffnete. Vier Wochen nach der Insemination war sie wegen drohenden Abortes erneut beim Pollutionsamt erschienen. Sie beschwerte sich mit derben Worten über die amtliche Schlamperei und verlangte kategorisch eine Neogestagen-Injektion. Neogestagen war eines der letzten Produkte gewesen, die die Industrie vor der Ökokatastrophe entwickelt hatte. Dass es noch immer hergestellt wurde und in Rahmen der Perinatalkontrolle eine Rolle spielte, konnte einer Nutri unmöglich bekannt sein. Was aber noch überraschender war: Ataviana erschien von da an alle 15 Tage mit der gleichen Reklamation, zeigte ein amtliches Attest vor, wonach diese berechtigt sei und erhielt eine weitere Injektion. Zwischenzeitlich fiel sie der Staatspolizei dadurch auf, dass sie während einer öffentlichen Liturgie im Rahmen der Inaugurationsfeiern der Gottesanbeterin lauthals Kritik an den Verhältnissen übte. Der Polizeibericht lag der Akte bei, in einem Protokoll wurden Zeugen benannt, nach deren Aussagen sie die große Dreiheit als korrupt bezeichnet hatte. Für den evidenten Nahrungsmangel, der als offizielle Ursache ihrer Graviditätsprobleme festgestellt worden war,machte sie die Staatsführung verantwortlich und behauptete, dass diese einen großen Teil der Nahrungsproduktion in ihren eigenen Vorratssilos verschwinden ließe. Der Polizeibericht schloss mit der Feststellung:

“Malkontentes Verhalten, Lästerung der Großen Dreiheit, Aufwiegelung. Umgehende Letalisierung nach dem Ende der bestehenden Gravidität wird angeordnet.”

Immerhin schien ihre Aufmüpfigkeit Wirkung zu haben, da man ihr von da an anstandslos die geforderten Neogestagen -Injektionen gab. Ich sah Calotta prüfend ins Gesicht. Was hatte das mit dem Neogestagen auf sich? Ich bin kein Reproduktionsexperte, aber ich hatte von dieser Droge gehört. Sie wird nur in Ausnahmefällen angewendet und nie öfter als einmal.

“Woher wusste sie davon, etwa von dir?”

Calottas Antwort war wie die Zündung einer Sprengladung:

“Sie war meine Schwester. Wir stammen vom gleichen Vater ab. Unser Vater, Justus Theodicius, war einer der Getreuen aus der Armee des Hohen Stafflers, war also Diluvioner.

Er legte den Treueschwur, die ´Submissio thanatoi´, ab”.

Ich verstand die Botschaft erst nach einigen weiteren Erklärungen. Calotta hatte bewusst die verbotenen Relationsbezeichnungen “Vater” und “Schwester” benutzt, um eine irreversible Situation des Mitwissens zu erzeugen, in der ich nur auf einem von zwei Wegen weitergehen konnte: sie bei der Staatspolizei anzeigen und letalisieren lassen, oder auf den Kern ihrer Botschaft zugehen, Mitwisser und Mitverschwörer werden. Nicht nur aus Neugier, weil ich das Geheimnis meiner Zeugung und Erzeugung vollständig kennen lernen wollte wählte ich letzteres, sondern auch aus dem Gefühl heraus, dass dies eine Schicksalssekunde war, der Moment, in dem sich mir der Sinn meiner Existenz offenbaren konnte.

Myrmika hielt seit einiger Zeit meine Hand wie mit einem Schraubstock umklammert. Wir waren auf halber Höhe des Treppenschachtes zum ersten Stock, es war vollkommen finster hier. Ich spürte ihr Gesicht nah vor dem meinen. Dieses erstaunliche Wesen hatte meine Botschaft verstanden, bevor ich sie vollständig ausgesprochen hatte.

“Calus, was immer dein Auftrag ist in unserer Welt, was dein Weg auch sein mag, ich bin an deiner Seite. Die Sache mit dem Neogestagen, das war Calottas Idee?”

Sie war es in der Tat. Calotta, die jüngere der beiden Schwestern, war kurz zuvor in die Aktiklasse aufgenommen worden. Da sie in der Tradition ihrer Abstammung Logistik und Disposition zum Inhalt ihrer Ausbildung gemacht hatte, kam sie in den Bereich des Hohen Stafflers und wurde hier im Ressort des Terminators zur Verwalterin der Letaltermine bestellt.

Ataviana und Calotta hielten die Erinnerung an ihren Vater wach. Er war ein ernster Mann gewesen, hatte im Diluvionkrieg zahlreiche Vergiftungen erlitten und nach einem Anophelesangriff lange an der Schlafkrankheit gelitten. Er leistete den Treueschwur und führte eine Brigade Mineure, als man begann, den großen Schacht zu bauen. Sehr bald erkannte er die Konsequenzen des Treueschwures: Die Führer konnten mit jedermann machen, was ihnen beliebte. Sie nutzten diese Situation aus, um für sich persönlich ein Leben in Wohlstand zu organisieren. dass Hunderttausende starben, war ihnen gleichgültig. Da der Treueschwur ihn persönlich band, erzog er seine Töchter im Geiste des Widerstandes.

Nachdem man festgelegt hatte, dass nur Nutris zur Reproduktion zugelassen werden sollten, musste Ataviana eine Nutri werden, um gebären zu können. Die jüngere, Calotta, wurde zur Akti erzogen um den Staat und seine verwundbaren Stellen im Blick zu haben. Als Calotta Verwalterin der Letaltermine wurde, hatte sie in der Tat eine sensible Schlüsselposition erobert. Sie fand heraus, dass Neogestagen eingesetzt wurde, weil es den Abort eines Fötus verhindern konnte. Sie fand auch heraus, dass Neogestagen eine Nebenwirkung hatte: Es führte zu einer Überexpression der Neocortexregion. Es bestand die Gefahr der Entwicklung sogenannter “Hypergnostiker”, Individuen, deren Verstand so hoch entwickelt sein könnte, dass sie für das geduldige Ertragen der tanatolischen Lebensverhältnisse nicht mehr geeignet sein würden. Da niemand voraussagen konnte, was solche Individuen schließlich anrichten würden, durfte Neogestagen stets nur einmal verabreicht werden. An dieser Stelle zeigte Calotta überragende Fähigkeiten als Strategin: Ataviana ließ sich staatlich inseminieren und der beschriebene Coup mit der wiederholten Neogestagen -Injektion wurde mit Hilfe des Dienststempels von Calottas Amt inszeniert. Warum? Die beiden Schwestern wussten sehr wohl, dass der Aufbau einer Widerstandsbewegung, sollte sie auch nur den Hauch einer Chance haben, mit sehr langem Atem geplant sein musste. Sie selbst fühlten sich zu schwach, allein eine Untergrundorganisation zu errichten, die mächtig genug sein konnte um die Führer aus ihren gut gesicherten Sesseln zu kippen. Dieses Ziel, das ihnen ihr Vater als Credo ihres Lebens mitgegeben hatte, konnte nur auf einem Wege erreicht werden: man brauchte einen Maulwurf, einen, der fähig war, den Weg durch die Instanzen der Macht zu gehen, aufzusteigen bis an die Spitze um den Apparat dann von oben her auszuschalten. So wurde das Biokin geplant, das als Calus das Licht der Welt erblickte. Atavianas Letalisierung war unvermeidbar, aber ihren Beitrag zur Revolution hatte sie geleistet. Bei Calottas letzten Worten stieg ein bisher nicht gekanntes zwiespältiges Gefühl in mir auf: das Bewusstsein, unbesiegbar zu sein, zugleich aber auch die Angst, die Größe der Aufgabe zu unterschätzen und zu versagen. Nicht für eine Sekunde war ich im Zweifel, dass ich die mir angetragene Rolle übernehmen würde. Calus, der Revolutionär. Ich hatte den Sinn meiner Existenz gefunden. Dass ich in jungen Jahren mehr weiß mehr begreife als die meisten Tanatolier, dass ich manche Zusammenhänge sogar besser beurteilen kann als die Große Dreiheit an der Spitze unseres Staatswesens, ist also kein Zufall. Mein IQ war mir nicht von der Natur in die Wiege gelegt. Ich verdanke ihn der Vision eines Kämpfers, den ich nie gekannt habe, dessen Gene und Geist aber in mir sind. Ich fühle mich nicht als sein Nachfolger, ich bin er selbst, ich bin die Inkarnation von Justus Theodicius und ich werde zu Ende bringen, was er begonnen hat! Ich spürte Myrmikas Körper an den meinen gepresst. Der Aufbau unserer Organisation hatte begonnen, wir hatten gerade unser drittes Mitglied gewonnen.

Nutris und Aktis

Die Nutris dienen vorwiegend zur Erhaltung der Biomasse. Sie werden nach dem Erreichen ihrer vollen Größe kaduziert, ihr Letaltermin wird amtlich festgelegt und sie haben dann einige Jahre Gelegenheit, sich am Produktionsprozess zu beteiligen und an Kundgebungen und Verherrlichungsritualen teilzunehmen. Wenn sie fett genug sind und ihr IQ gering ist, erhalten sie eine Fertilitätslizenz und können bei strenger Beachtung der ihnen zugeteilten Quote Biokine produzieren. Mit letzterem allerdings gibt es einige Probleme in unserer Gesellschaft, wie ich an anderer Stelle noch erklären werde. Die Aktis werden auf eine Aufgabe in Verwaltung und Politik oder je nach Fähigkeiten Wissenschaft oder Produktion vorbereitet, sie werden verschiedenen Führungskadern als Nachwuchs zugeordnet. Sie durchlaufen eine verlängerte Indoktrinationsphase, an deren Abschluss eine scharfe Selektion steht. Die ungeeigneten Individuen werden unmittelbar letalisiert, die übrigen, die ca. 10% der Bevölkerung ausmachen, werden später das Funktionieren des Staatswesens garantieren.

Da sie zu diesem Zweck unvermeidbar eine überdurchschnittliche Intelligenz besitzen und in die geheimen Wahrheiten eingeführt werden müssen, ist ihnen jegliche Bioreproduktion untersagt. Ihre notorische Unzufriedenheit, als Folge ihrer Intelligenz, aber eben auch bedingt durch ihre Einführung in die geheimen Wahrheiten, stellt eines der größten Probleme des Staates dar. Meine erste Begegnung mit Bastonard, dem Peitscher, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Ich war zehn Jahre alt, und die erste Selektionsprüfung, die über den Übergang in die Nutriausbildung oder die Aktischulung entscheidet, stand bevor. Bastonard pflegt bei diesem Anlass persönlich den Nachwuchs zu besichtigen und so hatte ich mein erstes Gespräch mit diesem Bioten, der Mitglied der Neunergruppe der «Großen Ansager» und somit einer der Mächtigen in unserem Staate ist. Ich war erstaunt dass dieser Olympier mir, dem Zehnjährigen, auf meine Fragen nur vage und ausweichend antworten konnte, während er mit meinen Antworten offenbar Probleme hatte. Er fragte, ob ich wisse, was die Outroughs seien. Ich antwortete, dass es nicht darauf ankomme, zu wissen, was sie seien, sondern Ideen zu entwickeln, was man mit ihnen machen könne. Wir beendeten das Gespräch in beiderseitiger Unzufriedenheit und ich wurde in die Liste der Aktis geschrieben, mit dem Vermerk: “hochgradige Malkontenz, für Nachwuchskader Neunergruppe vorgesehen”. Das erste Geschichtsbild, das den jungen Bioten vermittelt, wie ihr Staat Tanatolien entstand und das ihnen eine Begründung liefert für unsere auf der Beachtung der Thermodynamik, der Bereitschaft zum Selbstopfer sowie der Verehrung der Großen Dreiheit beruhenden Ethik, erhielt ich noch vor der Selektion, also gemeinsam mit den Nutris, von Delatorius. Aus der Sicht meines heutigen Wissens kann ich nur ungläubig den Kopf darüber schütteln, wie der alte Delatorius, der die Anfänge Tanatoliens noch selbst miterlebt haben dürfte, dabei Fakten, Fälschungen und Phantasien zu einem unentwirrbaren Knäuel vermischte. Delatorius’ Persönlichkeit war von archaischer Struktur: nichts an ihm war vorprogrammiert, wo heutige Tanatolier sich in staatstragender Lethargie üben, war er geschäftig wie ein Archebiot, versuchte er, sich in Szene zu setzen, inszenierte er Aufsehen. Seine auffallendste Eigenschaft war seine hündische Ergebenheit gegenüber seinem Vorgesetzten, Sykophas, dem Leiter des Ausbildungswesens und Vertrautem von Bastonard. Das Gebräu aus der Phantasiewelt von Delatorius lässt sich in verkürzter Version etwa wie folgt wiedergeben: Vor der Gründung von Tanatolien gab es drei Superstaaten: - Diluvion, welches die Tiefebene und die Meere beherrschte, - das weite Land Aleuron mit hunderten von Städten und breiten Verbindungsstraßen zwischen diesen, schließlich - das schattig bewaldete Mammalion, in dem die turmhohen Bäume so dicht wuchsen, dass das Sonnenlicht nicht bis zum Boden drang. Die Welt war voller Biomasse, die sich in tausende verschiedener Arten gliederte, selbst das Meer war voll davon. Die Vorfahren der heutigen Bioten, die sich “Menschen” nannten, was so viel bedeutete wie “Bioten des höchsten Ranges”, waren die Herren der Welt. Ihre Anzahl betrug viele Milliarden und sie kannten das Recycling noch nicht, da dieses von der Mutter Natur selbst für sie erledigt wurde. Fast alle Bioarten waren essbar, sie enthielten nicht das mindeste Gift und so schwelgten die Bioten in unbegrenztem Nahrungsüberschuss. Nur in wenigen Bezirken gab es Mücken, die gefürchteten Krankheiten, Fieber und Blindheit, waren selten. Aber das Paradies wurde zerstört. Die Regierungen von Mammalion und Aleuron taten sich zusammen, um Diluvion zu erobern, weil sie das Meer beherrschen wollten. Sie erfanden eine Waffe, welche die in den Sümpfen von Diluvion vorkommenden Anophelesmücken und Simuliamücken in aggressive Bestien verwandelte, die ihre Brutgebiete verließen und in großen Schwärmen über das ganze Land herfielen, wobei sie mit ihren Stichen vor allem Fieber und Blindheit verbreiteten. Die Menschen flohen aus Diluvion, bis es fast unbewohnt war. Um dieses Gebiet besetzen zu können, erfanden die Mammalioner eine weitere Waffe, mit der Anopheles und Simulia vernichtet wurden. Sie besetzten Diluvion und erklärten es zu ihrem Eigentum. Die Aleuroner fühlten sich übertölpelt und sannen auf Rache. Sie erfanden eine Waffe, durch die die in Aleuron vorkommende Culexmücke sich stark vermehrte und ungemein aggressiv wurde. Eier und Kokons der Culex wurden in großen Mengen aus Flugzeugen über den Flusstälern der Flüsse Flume, Seedus und Corta abgeworfen.Die Culexschwärme brachten den Menschen in Mammalion Blindheit, Fieber, Cholera und Geschlechtskrankheiten, welche die Mammalioner dahinrafften. Mammalion schickte daraufhin giftige Dämpfe nach Aleuron und Diluvion, welche in kurzer Zeit die gesamte Biomasse dieser Länder so verseuchten, dass sie unbrauchbar wurde. Hinzu kam dass die Culex sich bei ihrer Ausbreitung entlang der Flusstäler nicht an Landesgrenzen hielt und weit nach Norden bis in das Tiefland von Toggenport und in die Sumpfgebiete von Diluvion vordrangen. Die Bewohner der Tiefebenen starben zu Millionen. Die Überlebenden versuchten, sich durch die Flucht in die Berge von Mammalion zu retten. Dort wurden sie Opfer der von ihnen selbst erzeugten Culexschwärme.

Submissio thanatoi, Unterwerfung unter den Tod

In dieser Situation erstanden den Menschen drei wunderbare Führer, die an der Grenze zwischen Aleuron und Mammalion die Überlebenden um sich scharten und die Sicherung ihrer Zukunft in die Hand nahmen. Sie hießen “Hoher Staffler”, Großer Produktionsleiter” und “Gottesanbeterin”. Der Große Produktionsleiter stammte aus Mammalion und war dort für die Herstellung der Vernichtungswaffen zuständig gewesen. Der Hohe Staffler war ein Diluvioner, der den Rückzug der Bevölkerung aus den verseuchten Gebieten organisiert hatte. Die Gottesanbeterin schließlich stammte aus Aleuron und soll die Erfinderin der gegen Mammalion so erfolgreich eingesetzten Mücke culex aggressor gewesen sein. Nachdem sie erkannt hatten, dass keiner von ihnen noch irgendetwas gewinnen konnte, schlossen sie Frieden und gründeten den Staat Tanatolien, der ausschließlich friedliche Staatsziele haben und das Überleben einer kleinen Schar von Getreuen sichern sollte. Wer zu den Getreuen gehören wollte, musste bei seinem Leben schwören: den Führern ergeben zu sein und blind zu gehorchen, sein Leben zu beenden, wann immer die Führung dies für notwendig erachten sollte, hart zu arbeiten und Entbehrungen hinzunehmen, gemeinsam mit der Führung an der Entwicklung einer neuen Staatsethik zu arbeiten, deren Ziel die stabile Fortexistenz der Getreuen und ihrer Nachkommen sein sollte. Dieser Schwur wurde an die Nachkommen überliefert als „Submissio thanatoi”, Unterwerfung unter den Tod und lieferte schließlich auch den Namen des neuen Staates. Von den etwa 20 Millionen Überlebenden der Katastrophe leisteten 4 Millionen den Treueschwur. Sie begannen auf der Stelle damit, Gräben um ihr Territorium herum auszuheben und in der Mitte einen Schacht anzulegen, der ihnen ein unterirdisches Zufluchtsreich eröffnen sollte. Die Bezeichnung “Menschen”, der das Odium von Gewalt und Vernichtung anhaftete, wurde durch das unbelastete “Biot” ersetzt. Abstammungsbezeichnungen, wie “Vater” und “Mutter”, die auf die Herkunft von Menschen hindeuteten, wurden nicht mehr verwendet. Diejenigen, die den Treueschwur nicht leisteten, wurden in die verseuchten Gebiete abgedrängt, für die sich die Bezeichnung “Outroughs” einbürgerte. Die erste Generation der Bioten hatte noch die alten Ernährungsgewohnheiten, die auf der Verwendbarkeit der Biomasse in den Outroughs beruhte. Sie starben zu Tausenden an den Giften in dieser Nahrung und an den Angriffen der Stechmücken, denen sie bei deren Beschaffung ausgesetzte waren. Erst langsam wurde klar, dass Tanatolien nur eine Chance haben konnte, wenn es sich als Biokreislauf vollständig vom Rest der Welt isolierte. Die Grundlage dieser Erkenntnis lieferten die Thermodynamiker. Die erschreckende Tatsache, dass nur noch der Biot als Nahrungsgrundlage des Bioten in Frage kam, führte zu der Entwicklung des Recyclings und der Einteilung der Bevölkerung in die Klassen der Nutris und der Aktis. Damit waren die Grundlagen der neuen Staatsethik geschaffen: der «sanfte Kannibalismus».

Am Ende dieser Phase gab es noch eine Million Überlebende, die nun vollständig in den endoterrestrischen Anlagen wohnten. Dieses naive Geschichtsbild aus der Phantasie des alten Delatorius ist schon fast alles, was Nutris im Rahmen ihrer Ausbildung erfahren. Die Wahrheit um die Vorgänge, die die Ökokatastrophe auslösten, schimmert wohl schwach wie durch einen rosa Schleier hindurch. Obwohl der Brigadegeneral Calus und hochdekorierte Hoffnungsträger Tanatoliens, der ich heute bin, eher lächeln sollte bei der Erinnerung an die hündische Ergebenheit, mit der Delatorius seinem Vorgesetzten Sykophas durch die Erfindung dieses “Geschichtsbildes” zu gefallen suchte, packt mich doch eher der Zorn. Die stumpfe Schicksalsergebenheit des Bioten, der naive Glaube an die Große Dreiheit, der konsequente Mangel an Initiative, alles dankbar akzeptierend, was ihm das Denken abnimmt und brav sein Stratcorn kauend, so wünscht sich Sykophas den bequem zu handhabenden und leicht zu recycelnden Bioten Tanatoliens. Über Sykophas, fast eine Generation jünger als Delatorius und seinen wenig staatstragenden Charakter, seine Intriganz und vor allem seine kriminelle Energie, mir der er junge Biotinnen, vor allem fette Nutris zwang, ihm als sexuelle Lustobjekte zu Willen zu sein, wurden in der Aufzuchtschule zahlreiche Anekdotenverbreitet. Er war derart gefürchtet, dass sein Auftauchen im Unterricht den jungen Schülerinnen als eine Heimsuchung erschien, auf die sie in wohlerzogener Weise mit der Lethargie der “submissio thanatoi” reagierten. Der Lehrer Delatorius trug viel zu diesem Erziehungsergebnis bei. Und dabei, Bioten, seit ihr einmal Menschen gewesen! Menschen, die sich zur Wehr setzten, mit persönlichen Wünschen, Hoffnungen, Aufbegehren, Revolutionen in den Gehirnen! Eines der Ziele meines Staatsstreiches soll es sein, das Bildungswesen zu reformieren, die Kenntnis der Wahrheiten zu fördern und das Geschichtsbild vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und Leute wie Sykophas in die Calcinierungsanlage zu werfen.

99,197 Myrmika

Ich habe heute Myrmika fast wie unter hypnotischem Zwang ins Vertrauen gezogen.

Myrmika! Die Calcinierungsingenieurin und Assistentin des Verwerters Aposef, der unser gemeinsamer Vorgesetzter ist, ist eine der erstaunlichsten Biotinnen unserer Generation. Als Leiterin der Calcinierungsanlage, in der das humane Biomaterial nach der Letalisierung entwässert, zerlegt und zu einer Vielzahl instantisierter Zwischenprodukte aufgearbeitet wird, trägt sie eine ganz außerordentliche Verantwortung. Viele der dort angewandten Techniken sind ihre Erfindungen oder von ihr mit unerschöpflichem Ideenreichtum wesentlich inspiriert. Zur Assistentin des Verwerters stieg sie auf, als diesem bei einer Inspektion der Calcinierungsfabrik zum ersten Mal das von ihr entwickelte Stratcorn vorgestellt wurde. Das Verfahren, bei dem die Oberfläche der letalisierten Bioten nach einer Vortrocknung in einer besonderen Apparatur abgeschilfert und einer Tieftemperatur-Vakuum-Instantisierung unterzogen wird, stellt den kürzesten und direktesten Kreisprozess dar, der bisher entwickelt wurde. Entsprechend gering ist der Entropieverlust und der thermodynamische Wirkungsgrad erreicht fast 50%. Aposef war von dieser Spitzenleistung so beeindruckt, dass Myrmika ihn seither bei allen wichtigen Entscheidungen berät.

Teilweise muss sie ihn sogar zu den Strategiekonferenzen der Neunergruppe begleiten, deren Ergebnisse als Staatsgeheimnisse gelten. Stratcorn ist seitdem in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. In Lokalen, auf den Wartebänken vor dem zentralen Aufzugsschacht, sieht man Bioten ihre Chips aus Stratcorn kauen. Wäre es nicht, wie alle unsere Ressourcen, viel zu knapp, es könnte eine Volksbelustigung sein. Ich war an diesem Abend mit Myrmika unterwegs, so wie schon an vielen Abenden vorher. Sie hat mit Calotta, mit der mich eine langjährige Freundschaft verbindet, eine gemeinsame Wohnung im dritten endoterrestrischen Stock, eine Viertelstunde vom Zentralschacht entfernt. Als Biotinnen der Aktiklasse haben sie Anspruch auf eine Behausung in solch zentraler Lage, dass sie aber zu Zweit über zwölf Quadratmeter verfügen, verdanken sie der Übersicht Calottas, die im Ressort des Terminators Faidros die Letaltermine verwaltet und somit immer über günstige Gelegenheiten informiert ist.

Den Lesern dieses Tagebuches verrate ich hier ein streng gehütetes Geheimnis, das, wenn es publik würde, für uns beide die sofortige Letalisierung zur Folge hätte:Wir haben einen gemeinsamen Sohn, Rapieron, der nun fünf Jahre alt ist und im Ressort des Köderers Deleas mit dem Nutri – Nachwuchs seines Jahrgangs aufwächst. Wie wir dieses ungeheuerliche Verbrechen gegen die Staatsraison zustande gebracht haben, und wie wir den ganzen Vorgang vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen konnten, dazu werde ich mich an anderer Stelle äußern.

Ich holte Myrmika in ihrer Wohnung ab und wir schlenderten durch die spärlich beleuchteten endoterrestrischen Straßen. Da wir beide bekannte Aktis sind, müssen wir unsere Gefühle füreinander in der Öffentlichkeit verbergen. Wir gingen also in einigem Abstand nebeneinander her, unser Ziel war eine Tanzbar im ersten Stock, in der uns weniger die Tanzmusik anlockte, nach der dort zumeist die Nutris ihre Paarungsrituale einzuleiten pflegen, sondern die allgemeine Lärmkulisse, bei der man sich ungeniert unterhalten kann, ohne gleich von einem der Richtmikrophone, die überall installiert sind, eines Staatsverbrechens überführt zu werden. Und wir hatten uns an diesem Abend viel, wirklich sehr viel zu sagen. Wir nahmen auch nicht den Aufzug, sondern gingen über die Treppenschächte hinauf, die nach Anbruch des Feierabends kaum benutzt und fast unbeleuchtet sind. Ich spreche mit Bedacht über meine Freundschaft zu Calotta, die bisher meine einzige Vertraute und “Mitverschwörerin” ist, die meine Gedanken kennt als wären es ihre eigenen nein, weil es ihre eigenen sind! Ich will Myrmika behutsam an diesen Punkt heranführen, weil ich ahne, dass sie nicht etwa aus Zuneigung zu mir, sondern aus intellektueller Einsicht eine Verbündete werden wird. Sehe ich etwas wie Eifersucht in den so wunderschönen und so vertrauten Gesichtszügen meiner Myrmika, sehe ich ihre Mundwinkel in kaum wahrnehmbarer Abwehr herabgezogen? So erkläre ich ihr, während wir die Treppe zum zweiten Stock hinaufklettern, welcher Art meine Beziehung zu der viele Jahre älteren Calotta ist und wie unsere Freundschaft ihren Anfang nahm. Es war einer der bewegendsten Tage in meinem Leben, der 90,202.

Der Tag wurde zum Meilenstein meiner Entwicklung. Obwohl mir bisher nur Bruchteile der Geschichte unseres Staates und seiner Gründer aus den Archiven gezeigt worden waren, erkannte ich die Widersprüche und Lügen, die wohl dazu dienten, die katastrophale Wahrheit zu verschleiern. Diese Wahrheit türmte sich wie ein drohender Nebel über unserer Welt auf, die wenigen, die sie wirklich kannten, schwiegen.

Ich war gerade vor kurzem dreiundzwanzig Jahre alt geworden, hatte das Studium der Thermodynamik und das Pflichtstudium der tanatolischen Staatsgeschichte in kürzester Zeit absolviert und meine Altersgenossen damit um Äonen hinter mir gelassen. Die beiden Rektoren unserer Universität, Extasia und Hymnos, schworen, sie hätten so etwas noch nie erlebt, wie sich da ein Jungbiot mit Höchstgeschwindigkeit, quasi explosionsartig, zu einem Spitzenwissenschaftler und künftigen Anwärter auf höchste Staatsämter entwickelte .

„Wie eine Culex aggressor, die sich aus dem Kokon herauswindet, die Flügel spreizt und sofort in den Angriffsmodus schaltet“, meinte Extasia, die es nicht fassen konnte.

Ich selbst konnte es allerdings auch nicht fassen. Was geschah mit mir, warum?

Ich hatte an der Staatsakademie mein Abschlussexamina abgelegt. Hymnos, der Mirador und Extasia, die Liturgin, beide Mitglieder der Neunergruppe der Großen Ansager und gemeinsam Patriarchen der Akademie, verliehen mir in einem feierlichen Staatsakt die Würde eines “Hohen Thermodynamikers”. Mit meinen dreiundzwanzig Jahren war ich nun der jüngste Akademiker meiner Generation, und meinen Altersgenossen im Erwerb einer ersten Staatswürde um Jahre voraus. Schließlich betrat sogar «FrouFrou» mit einem großen Begleitkonvoi den Festsaal um mir persönlich zu gratulieren. FrouFrou, das ist Intringa, die Gottesanbeterin, Mitglied der Großen Dreiheit und Vorgesetzte der beiden Akademierektoren Hymnos und Extasia. Den Spitznamen FrouFrou öffentlich auszusprechen, wäre eine letalisierungswürdige Majestätsbeleidigung. Dennoch ist er allgemein bekannt, auch von ihren Orgien, bei denen die Hüllen fallen und Drogen konsumiert werden, weiß jedermann. Dieser lüsternen Mückenvertilgerin die Hand reichen zu dürfen, benebelte mir etwas den Verstand, so dass ich nach ihrem Abgang, der sich ebenso turbulent gestaltete wie ihr Auftritt, wohl mit einem ziemlich unintelligenten Gesichtsausdruck in der Menge der Bioten herumgestanden sein muss.

Und nun hatten Hymnos der Mirador und Extasia, die Liturgin mich ausersehen, unserer illustren Führerschaft mit einem wissenschaftlichen Gourmetstückchen die Zeit zu vertreiben, das mit entscheidend sein sollte, ob man mich in den Elitenachwuchs des Dreierkaders aufnehmen könne. Deshalb hatte ich eine ausgewogene Rede vorbereitet, die einerseits durch Kritik an den Verhältnissen und Staatslenkern meine intellektuelle Befähigung aufzeigen, andererseits aber auch durch Verschleierung Loyalität demonstrieren sollte. Dass ich am Ende des Tages endgültig zum Revolutionär wurde, verdanke ich Calotta.

90,202 Thermodynamische Grundsatzrede

1. Historische Entwicklung

Die Nachricht, dass ein ganz junger Nachwuchswissenschaftler aus dem Nachwuchskader der Neunergruppe eine Grundsatzrede halten würde, die womöglich weitreichende staatspolitische Bedeutung haben könnte, hatte den kompletten Aktikader herbeigelockt. Ich war mir bewusst, dass die Situation durchaus explosiv werden könnte. Die Rivalitäten zwischen den Etablierten, die ihre Pfründe zu verteidigen gedachten und dem an die Macht drängende Nachwuchs führten besonders bei der Neubesetzung lukrativer Ämter immer wieder zu revolutionären Aktionen und der Letalisierung der Aufrührer.

«Was wird uns dieser Calus denn schon zu sagen haben ...»

«Zeig ihnen, wo sie stehen Calus!»

Totenstille.

„Ihr Verehrungswürdigen der Staatsmacht, ihr Träger der großen Verantwortung, ihr lieben Freunde aus den Nachwuchsgruppen!

Ich will nun darstellen, wie unser Staatswesen entstand, wie es wurde was es ist und wie es dazu kommen konnte, dass wir, die einst in Freiheit auf dem Planeten lebten, uns jetzt in einem Ameisenbau verkriechen müssen, um die Gefahren die uns unsere Vorfahren hinterlassen haben, überleben zu können. Und ihr werdet Fakten zu hören bekommen, die zeigen, dass alle Hoffnung vergebens ist. Tanatolien ist dem Untergang geweiht, wenn wir so weiter machen wie eben jetzt. Ein Überleben kann es nur geben, wenn wir uns zu einer radikalen Abkehr von der gültigen Staatsdoktrin entschließen, was aber niemand will.

Ausrichtung aller Aktivitäten des Staates und all seiner Organe, strikte Beachtung der Naturgesetze, allen voran der Thermodynamik, kann eine Chance sein. Aber die Zeit ist gegen uns. Die Tür zum Ausgang aus der Hölle ist nur noch kurze Zeit offen. Sehr bald wird sie sich für immer schließen. Einer von uns wird der Letzte sein, er kann das Staatsarchiv abschließen und den Schlüssel in den Matmos werfen.“

Ein heftiger Tumult erhebt sich in den vorderen Reihen wo die Granden Platz genommen haben. Basilius, der große Produktionsleiter - als Mitglied der Großen Dreiheit, der höchsten Führungsebene Tanatoliens, hat er fast gottähnlichen Status – erhebt sich und brüllt ins Auditorium:

«Unerhört, wer hat diesem Greenhorn erlaubt,unsere staatstragende Arbeit zu verunglimpfen? Die Veranstaltung ist beendet!»

«Basilius, du bist so uneinsichtig wie eh und je» ereifert sich Kuratorius, der als großer Staffler so etwas wie unser Staatspräsident ist.«Lass den jungen Bioten seine Argumente darlegen und seine Zukunftsideen, dann urteile. Die Veranstaltung geht weiter!» Heftiges Getrampel in den hinteren Reihen. Der Nachwuchs applaudiert mit den Füßen.

„Verehrtes Publikum, ich beginne mit einer knappen historischen Zusammenfassung, weil vielleicht nicht alle wichtigen Einzelheiten jedem bekannt sind. In der alten Welt hatte man infolge der Klimaerwärmung zunehmend Probleme mit der unkontrollierbaren Ausbreitung von Insekten und der von diesen übertragenen Krankheiten. Am schlimmsten war eine gegen alle verfügbaren Medikamente resistente Mutante der Malariamücke, die die ausgedehnten Sümpfe des Küstenlandes Diluvion unbewohnbar machte. Der diluvionische General Magierus Hohenstaffler, unser hochverehrter Staatsgründer, setzte auf das von der aleuronische Universität entwickelte Insektizid «Anophelexit». Mit dieser Entwicklung trat zugleich eine charismatische Figur erstmals ans Licht: Thea Mantis, Professorin für Molekularbiologie und Genetik an der Universität von Myrtilla in Aleuron. Sie wurde bald als «der Welt beste Dipterologin» bezeichnet und gehörte schließlich zu den Staatsgründern Tanatoliens.

Das im Labor von Thea Mantis entwickelte Produkt erwies sich als hoch wirksam, war aber noch unerprobt. Magierus erwarb von der Universität eine Lizenz für die Produktion unbegrenzter Mengen. Thea Mantis warnte ihn davor, es großflächig anzuwenden, weil das toxikologische Profil noch nicht ausreichend geprüft sei. Aber Magierus hatte keine Wahl. In Diluvion kam es bereits zu Aufständen, der Regierung wurden Versäumnisse und Fehlentscheidungen vorgeworfen. Eine Gruppe «Aktivisten gegen die Pandemie» sollte angeblich einen Staatsstreich planen. Magierus ging auf’s Ganze, die Methoden, mit denen er sich bei der schönen Thea in Szene setzte und schließlich durchsetzte, stellen ein eigenes bemerkenswertes Kapitel unserer Staatsgeschichte dar. Magierus bekam was er wollte.

Diluvion stellte nun große Mengen Anophelexit her, die direkt und ohne weitere Kontrollen zu den Brutgebieten der Anopheles in den Sumpfgebieten gerollt wurden.Die Mücken wurden so stark dezimiert, dass man schon glaubte, sie ausgerottet zu haben.

Hatte Magierus es geschafft, war die Welt nun malariafrei? Die Antwort kam im folgenden Sommer. Urplötzlich traten riesige Schwärme einer gegen Anophelexit resistenten Malariamücke auf, dazu auch noch unvorstellbare Massen einer neuen Kriebelmückenart «Simulia excessiva». Die Malaria war mit Wucht zurück, die von Simulia übertragene Blindheit wurde zur schlimmsten Pandemie, die Diluvion je erlebt hatte. Die Entstehung neuer Stechmückenstämme war von Thea Mantis vorausgesagt worden, falls nur ein Zehntel Prozent der Population überleben sollte.

Nun stand die Glaubwürdigkeit von Magierus Hohenstaffler auf dem Spiel. In Protestmärschen und Demonstrationen skandierte man bereits das Wort «Volksverräter!» und es gab eine Verschwörungstheorie, nach der die Mikrobiologin Thea Mantis aus Aleuron Magierus hintergangen haben sollte, mit dem Ziel, Diluvion zu schwächen und eine Einverleibung durch Aleuron vorzubereiten. Das konnte Magierus unmöglich hinnehmen, zumal er selbst Pläne hatte, Aleuron zu assimilieren. Er setzte seine Wissenschaftler unter Druck, so schnell wie möglich ein Insektizid gegen die neue Simulia zu entwickeln. Parallel dazu ging er an die Realisierung einer abenteuerlichen Idee: Informationen waren durchgesickert, das der aleuronische Entomologe Kongregastus, ein Mitarbeiter von Thea Mantis und maßgeblicher Mitautor der Anophelexitstudie an einem neuen Breitbandinsektizid arbeitete, das alles Bisherige in den Schatten stellen sollte. Kongregastus bekam vom diluvionischen General und Staatspräsidenten persönlich ein Angebot, das er kaum ablehnen konnte. Sollte er sich entschließen, diluvionischer Staatsbürger zu werden, würde man ihn sofort zur Rektor der Universität in Seedon machen und seine Forschungen mit unbegrenzten finanziellen Mitteln ausstatten. Kongregastus ergriff die Chance und vollendete die Entwicklung der neuen Wundersubstanz «Simuliatoxit» nach kurzer Zeit in Seedon.

Als kaum die Synthese im Labor gelungen war, ordnete Magierus sofort die Massenproduktion an. Die Warnungen, erneut ein unerprobtes Gift mit völlig unbekanntem Wirkprofil in großen Mengen in die Umwelt zu bringen, überhörte er. So wurde «Simuliatoxit» zum Menetekel für Magierus. Und es wurde schlimmer, als beim Unfall mit der Anophelesmücke. Zunächst traten gewaltige Schwärme Simulia auf, diese waren so dicht, dass man teilweise mit einer Milliarde Mücken pro Kubikmeter Luft rechnen musste. Der größte Teil der Nutztiere und tausende Menschen wurden dahin gerafft. Dann kam der Höhepunkt: Es trat eine neue hoch aggressive Culexart auf, die als «Culex aggressor» katalogisiert wurde. Woher kamen diese? Eine These besagte, dass das Simuliatoxit zahlreiche Wespenarten ausgerottet haben sollte, welche sich hauptsächlich von Insekten und hier wiederum von Culex ernährten. Nachdem ihre Fressfeinde nicht mehr da waren, geriet die Culex aggressor außer Kontrolle. Auch hier gab es wieder eine Verschwörungstheorie mit der Person Thea Mantis. Es hieß, Culex aggressor sei keine natürliche Art und der erste vollständig im Labor hergestellte Organismus - von wem? - natürlich von Thea Mantis, der einzig die Fähigkeit hierzu zugetraut wurde. Culex aggressor war resistent gegen fast alles und die Bekämpfung mit neuen unerprobten Toxinen verbot sich, weil die Mücken eine so hohe Stechfrequenz hatten, dass sie lebensgefährliche Konzentrationen im Blutplasma erzeugen konnten.

Vor diesem Gegner blieb nur noch die Flucht.

Flucht? Wohin denn?

Als ob das Desaster noch nicht groß genug wäre, stellte man schließlich fest, dass die Zerfallsprodukte von Simuliatoxit, Nekrol und Pulmogen, besonders in Aleuron als unsichtbare Giftschwaden durch die weite Ebene der Felder und Wiesen waberten und hundertfachen Tod brachten.

Demonstrationen und Proteste nahmen schließlich ein Ausmaß an, durch das sich die Politik zum Handeln gezwungen sah. Nur - welche Handlungen waren jetzt noch denkbar? Einmal mehr verkündete das Institut von Thea Mantis eine «Sensation»: In der kürzesten jemals benötigten Zeit konnte das Institut ein Ultrabreitbandinsektizid namens „Nematocerin“ entwickeln, das in der Lage sein sollte, in kurzer Zeit dem kompletten Insektenkosmos den Garaus zu machen. Toxikologische Daten interessierte schon niemanden mehr, Thea Mantis wurde als die Retterin der Menschheit gefeiert und man begann, Nematocerin in gewaltigen Hektoliter-Mengen zu produzieren und in der Umwelt zu versprühen.

2. Gleiche Fehler führen immer wieder zu gleichen Problemen.

Riesiger Jubel über den Anfangserfolg: die Stechmücken wurden drastisch zurück gedrängt. Allerdings fand im folgenden Frühjahr keine Bestäubung von Blütenpflanzen und Obstgehölzen statt, es kam zu Nahrungsmittelknappheit und lokalen Hungersnöten.

Die Vögel fielen tot vom Himmel, ihre Nahrungsbasis existierte nicht mehr.

Eine eilig einberufene Katastrophensitzung der maßgeblichen Anführer, Magierus Hohenstaffler aus Diluvion, Thea Mantis aus Aleuron und Magnus Faktor aus Mammalion führte zu einem heftigen Streit mit gegenseitigen Kriegserklärungen. Hohenstaffler gab den Unschuldigen.

„Die armen Vögelchen, na ja, Lateralschäden.“

Wenig später kamen weitere «Lateralschäden» ans Licht. Nematocerin erwies sich als instabil. Durch Einwirkung von Feuchtigkeit und UV-Strahlung zerfiel es zu Saron, einem starken Atemgift und Tanatin, einem starken Nervengift. In den feuchten Tiefebenen Diluvions starben die Menschen zu tausenden. In einem großen Treck flohen die Menschen aus Diluvion nach Aleuron, in der Hoffnung, dort vor Saron, Tanatin und der schreckliche Culex aggressor sicher zu sein. An der Grenze trafen sie mit Flüchtlingen aus Aleuron zusammen, die vor den Giften Nekrol und Pulmogen in Diluvion sicher zu sein glaubten.

Es kam zum Kampf zweier unbewaffneter Heere. Mit bloßen Händen erschlugen und erwürgten sie sich. Die Sicherheitsorgane der beiden Staaten sahen unbeteiligt zu. Sie hatten den Befehl, Überlebende über die Grenze in den anderen Staat abzuschieben. Tausende von Leichen blieben auf dem Schlachtfeld liegen und die Culex– und Simuliaschwärme hatten Festtage.

Um die eigene Bevölkerung zu schützen, beschloss die Regierung von Mammalion, mit ferngelenkten Flugzeugen mehrere tausend Tonnen Nematocerin auf dem Schlachtfeld zwischen Diluvion und Aleuron abzuwerfen. Die Mücken verschwanden, aber die nun auftretende Konzentration von Saron und Tanatin machte das Gebiet dauerhaft unbewohnbar.

Beide Stoffe erwiesen sich als äußerst stabil und konnten nicht mehr aus der Biosphäre entfernt werden.

Zu dieser Zeit kam erstmals die Idee auf, in der Tiefe der Erde Zuflucht zu suchen. Ameisen schienen das von Menschen angezettelte Inferno unbeschadet zu überstehen, in der Tiefe ihrer unterirdischen Bunker konnten sie das Problem wohl aussitzen.

Würde der Mensch es den Ameisen nachmachen können?