Traumspringer - Alex Rühle - E-Book

Traumspringer E-Book

Alex Rühle

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Beschreibung

Vorsicht, sie sind auf der Jagd nach deinen Träumen! Leon ist ein Traumspringer. Er kann unbemerkt in die Träume von anderen schlüpfen. Aber nicht nur das: Eines Nachts taucht er ein in eine verborgene und geheime Welt. Hier sammeln und archivieren Morpheus und seine Geschwister seit vielen tausend Jahren die Träume der Menschen. Doch Morpheus, der Hüter der Nacht, ist dringend auf Leons Hilfe angewiesen. Nur Leon kann wie ein nächtlicher Agent zwischen Tag- und Traumwelt hin- und herspringen und so herausfinden, was Morpheus' Bruder Krato im Schilde führt. Denn nach einem Streit ist Krato spurlos verschwunden. Er hat gedroht, die Traumarchive zu plündern. Will er etwa die Träume der Menschen zu Geld machen und in ein einzigartig neues Handyspiel verwandeln?

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Seitenzahl: 242

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Alex Rühle

Traumspringer

Mit Illustrationen von Max Meinzold

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für alle, denen gesagt wird, sie sollen aufhören zu träumen

1

Alles ging los an dem Morgen, als ich die schwarze Fledermaus sah. Wir hatten gerade Mathe bei Herrn Pallenberg und ich schaute schon eine Weile lang zum Fenster raus. Da draußen war gar nichts Besonderes, aber hier drinnen war ja erst recht nichts Besonderes, sondern nur wieder Schule. Ich guckte auf den Sportplatz, dann über den leeren Pausenhof, rüber zu den Fahrradständern, wo ein alter Mann mit einem großen grauen Hund stand. In dem Moment kam sie von der Seite angeschossen, wie ein dunkler Pfeil, und flatterte jetzt ganz nah vor unserem Fenster rum.

Erst dachte ich, das ist ein schwarzer Vogel. Eine Amsel oder so was. Aber Amseln haben doch einen gelben Schnabel. Und einen richtigen Kopf. Das hier war höchstens eine Amsel ohne Kopf, und geköpfte Amseln können ja wohl kaum fliegen.

Das Ding hatte spitze Krallen an den Flügeln. Dreieckige Ohren. Einen kleinen, geduckten Kopf. Und dann sah ich die Augen. Schwarz. Starr. Wie aus Metall. Oder dunklem Glas. Der Körper flatterte nervös umher, aber sein Blick schien sich direkt in mich hineinzubohren.

Das konnte nur eine Fledermaus sein. Aber so dicht vor unserem Klassenzimmerfenster? Und mitten am Tag? Die fliegen doch nachts, dachte ich. Und warum starrt die mich so an? Filmt die mich, oder was?

Das war dann aber auch das Letzte, was ich dachte, plötzlich hörte ich nämlich Max fluchen. Max saß neben mir. Er hatte den ganzen Morgen unter der Bank irgendein neues Handyspiel gespielt. Jetzt zischte er »Scheiße!« und haute sein Handy so fest auf den Tisch, dass das Display einen Sprung bekam. Herr Pallenberg hielt vorne an der Tafel mitten in der Bewegung inne. Er hatte gerade eine Formel aufgeschrieben, jetzt stand er reglos da, und es sah aus, als würde er mit der Kreide tief in die Tafel reinzeigen.

Alle hielten die Luft an. Man spürte richtig, wie in Herrn Pallenberg die Wut hochstieg. Nur Max kriegte das gar nicht mit. Er war anscheinend immer noch stinksauer, weil er gerade verloren hatte, und murmelte laut vor sich hin: »Mist … wieder verkackt.«

In dem Moment fing Herr Pallenberg an, mordsmäßig rumzuzetern, wie unverschämt wir sind und alle total spielsüchtig, und am Ende schrie er: »Es reicht! Ich setz euch jetzt um. Und damit basta.«

Max musste vor in die erste Reihe. Ihn hat die ganze Schimpferei null beeindruckt. Er ließ Herrn Pallenbergs Zornausbruch einfach an sich abregnen, raffte sein Zeug zusammen und schlurfte nach vorn. Und ich muss sagen, insgeheim war ich erleichtert, dass Max von mir weggesetzt wurde, weil es echt anstrengend ist neben ihm. Mit dem Konzentrieren tu ich mich eh schwer, weil ich so gern an andere Sachen denke. Wenn dann auch noch direkt neben mir jemand unterm Tisch daddelt und ständig angibt, was für Hammerspiele er auf seinem Handy hat, weil sein toller Papa ihm schon wieder eins geschenkt hat …

Na ja, jedenfalls wurde dann die ganze Klasse neu gemischt, und ich hab gar nicht richtig aufgepasst, sondern draußen nach der Fledermaus gesucht. Aber die war jetzt weg. Nur der Mann mit dem Riesenhund stand noch immer bei den Fahrrädern. Seltsamerweise schien der auch zu mir rüberzustarren. Der stand da unten, die Arme über dem Bauch verschränkt, rührte sich nicht und schaute direkt her. Sein Riesenhund saß neben ihm und reckte die Schnauze in die Höhe, als würde er irgendetwas wittern. Ich wollte dem Mann gerade winken, einfach weil ich verunsichert war, als Herr Pallenberg sagte, ich soll vorkommen in die zweite Bank, neben Elias.

»Du träumst mir dahinten einfach zu viel, Leon«, sagte er.

Was gar nicht stimmt, ich guck nur gerne, was draußen passiert. Die zehn Sekunden Fledermaus waren garantiert spannender als alles, was Herr Pallenberg in einer Stunde auf die Tafel schreibt. Aber ich hab nichts gesagt, bringt ja eh nichts, mit Lehrern zu streiten.

Elias war der komische Neue, der mit niemandem sprach und diesen Akzent hat, als würde schwere feuchte Erde an all seinen Sätzen kleben. Als er zu Beginn des Schuljahres in die Klasse gekommen war, hatte Herr Pallenberg gesagt, Elias komme aus Tschetschenien und wir sollten alle nett zu ihm sein. Er hatte ihm den Arm um die Schulter gelegt und in einem Ton geredet, als wäre Tschetschenien eine schwere Krankheit oder Behinderung. Die tschetschenische Grippe.

Wir haben Elias in den ersten Wochen mehrmals gefragt, ob er mitspielen will beim Fußball. Er hat jedes Mal nur den Kopf geschüttelt. Wir waren eigentlich auch sonst ganz nett zu ihm, aber er hat immer so unfreundlich reagiert, dass wir es irgendwann aufgegeben haben. Als Max ihn mal fragte, wo er denn wohnt, zog Elias den Kopf ein und sagte: »Beim Onkel.«

»Ah, und wo wohnt dein Onkel?«

Elias runzelte kurz die Stirn, sagte: »Woanders als deiner«, und ging weg.

»Dann halt nicht, du Blödmann!«, rief Max ihm hinterher.

Seltsam war, dass er von Anfang an ziemlich gut Deutsch sprach. Später hab ich dann verstanden, warum.

In den Pausen stand Elias alleine rum. Das tat mir schon leid, ich bin da selber lange genug allein rumgestanden und weiß noch genau, wie sich das anfühlt. Vielleicht weil ich in der Fünften als Einziger ohne einen Freund in die Klasse gekommen bin. Oder weil ich eben stiller bin als die anderen. Jedenfalls war es monatelang die Hölle. Diese Pausen, die einem vorkommen, als würden sie zwei Stunden dauern. Alle spielen und rennen rum und weichen einem dabei aus wie einem Baum oder einem Papierkorb, der im Weg rumsteht, aber gar nicht wirklich da ist. Bei Elias kam noch dazu, dass er ziemlich müffelte. Nach feuchten Kleidern. Oder nach Kellerluft. Max rief manchmal einfach so durch die Klasse: »Fenster auf, hier stinkt’s!«

 

Ich packte jetzt mein Schulzeug und setzte mich vor in die zweite Bank, direkt ans Fenster. Elias rückte zur Seite und schob seine Sachen ganz an den Rand der Bank.

»Passt schon«, sagte ich. Elias sagte nichts.

Dafür warf mir Max einen Zettel rüber. Der hatte vielleicht Nerven. Vor drei Minuten war die größte Schimpftirade des Jahres auf ihn eingeprasselt und jetzt schrieb er schon wieder Zettel. Ob ich nachmittags mit zum Schuppen komme.

Den Schuppen hatten wir zwei Wochen vorher beim Spielen an den Gleisen entdeckt, versteckt hinter riesigen Sträuchern. Max hatte an dem Tag vorgeschlagen, entlang der Gleise nach Pfandflaschen zu suchen. »Weil doch viele Leute ihre Flaschen aus dem Zug werfen.« Wir fanden das alle eine super Idee. Wir, das waren Max, Robert, Nina und ich. Robert ist der größte Fan von Max, er läuft ihm seit der fünften Klasse nach. Früher ist er immer mit seinem Rennrad rumgefahren und hat für Radrennen trainiert, aber seit Max sagte, er finde das uncool, hat er mit dem Training aufgehört. Und Nina ist der Hammer, aber das muss ich irgendwann in Ruhe erzählen.

Die drei suchten um die Wette, ich kam eher so hinterhergetrödelt. Nach einer halben Stunde war klar, dass wohl doch nicht so viele Leute ihre Flaschen aus dem Zug warfen. Wir hatten bis dahin einen toten Igel, ein schmutzverkrustetes Sweatshirt, eine leere Coladose, das Hinterrad von einem Kinderfahrrad und einen alten Lederkoffer voller Sand gefunden, aber keine einzige Flasche.

»Und wenn«, sagte Nina, »dann würde die im Schotter der Gleise eh kaputtgehen.«

Wir wollten gerade aufgeben und nach Hause gehen, da rief uns Max. Er war fast bis zu den Weichen gelaufen. Da stand dieser Schuppen. Uralt. Von Efeu überwachsen. Gut versteckt zwischen Büschen und Bäumen. Perfekt. Seit diesem Nachmittag bauten wir den Schuppen zu unserem geheimen Treffpunkt um. Wir versprachen einander, niemandem davon zu erzählen. Und ich hatte zum ersten Mal, seit ich auf dem Gymnasium war, das Gefühl, irgendwo dazuzugehören.

 

Max schrieb jetzt in Herrn Pallenbergs Unterricht auf den Zettel, dass er am Nachmittag ein kleines Sofa aus dem Keller seiner Eltern zum Schuppen schleppen will. Ob wir ihm dabei helfen. Logo, dass ich mitwollte. Aber da kann man nichts machen: Kleine Schwester ist kleine Schwester, Geburtstag ist Geburtstag, und Wunsch ist Wunsch. Also schrieb ich Max, dass ich in den Zoo muss, weil meine Schwester sich das gewünscht hat. Ich wollte ihm gerade den Zettel rüberwerfen, als ich mitten in der Bewegung erstarrte. Draußen. Vorm Fenster. Da war immer noch die Fledermaus. Oder wieder. Ich saß ja jetzt zwei Fenster weiter vorn. Und direkt vor der Glasscheibe flatterte dieses schwarze Vieh und starrte mich mit seinen kalten Metallaugen unbeweglich an.

»Hey, Leon!« Herr Pallenberg hatte mich anscheinend schon ein paarmal gerufen. Mein Mund stand offen. Ich sah wohl ziemlich seltsam aus, wie ich so starr und steif zum Fenster rausglotzte. Ein paar Mädchen kicherten.

Ich schaute zu Herrn Pallenberg und sagte: »Da … da draußen …« Aber als ich ihm die Fledermaus zeigen wollte, war nur noch der leere Pausenhof zu sehen. Hinter den Fahrradständern ging gerade der Mann mit dem Hund weg.

»Oh Mann, Leon«, sagte Herr Pallenberg, »du bist wirklich der größte Träumer, den’s gibt.«

In dem Moment war ich echt beleidigt. Ich konnte ja nicht wissen, wie recht er damit hatte.

2

Lotti hatte zu ihrem Geburtstag fünf Freundinnen eingeladen, weil sie ja fünf wurde. Am Nachmittag im Zoo sind sie alle erst mal zum Streichelzoo gerannt und haben die Ziegen und Schafe betatscht. Als dann ein Pfleger vorbeikam, haben sie den mit ihren bekloppten Fragen gelöchert: Machen die Schafe anderes Kacka als die Ziegen? Bist du auch der Chef von den Elefanten? Macht man Ziegenkäse aus Ziegen?

Der Pfleger achtete gar nicht auf sie, sondern rief plötzlich sehr streng: »Hey, du da!«

Tatjana, eine von Lottis Freundinnen, die bei uns im Nachbarhaus wohnt, wurde knallrot.

»Ja du!«, sagte der Pfleger. »Du fütterst die Ziege doch nicht im Ernst mit deiner Lakritze, oder?«

»Ääääh…«, sagte Tatjana und steckte ihre Hand mit der Lakritze in die Jackentasche. »… Neee.«

Oh Mann.

Ich kam mir so was von doof vor. Wenn mich Max oder Nina hier entdeckt hätten, wär ich im Erdboden versunken vor Scham. Als Zwölfjähriger will man nicht einem Haufen kleiner, peinlicher Mädchen hinterherdackeln. Mama hat bald gemerkt, wie blöd ich mich fühle, und wir haben ausgemacht, dass wir uns zwei Stunden später am Ausgang treffen.

Ich bin sofort im Zoo den Hauptweg runtergerannt, Affenhaus, Elefantenwiese, Löwengehege, kenn ich eh alles auswendig und es war auch wieder so voll, alle Besucher latschen ja immer nur diese eine Straße lang. Ich bog in einen stillen Seitenweg, der sich durch hohe Bäume schlängelt, und ging erst mal eine Weile lang in die Voliere, wo diese knallroten Vögel leben, die immer so laut kreischen. Ein paar leuchtend rote Federn lagen auf dem Weg herum. Hier drin war niemand und man konnte durchs Gitter den blauen Himmel sehen und ein paar Wolken, die ruhig hinter dem Gittermuster vorbeizogen.

Auf der anderen Seite der Voliere kam ich dann zu den Wölfen. Die tun mir immer am meisten leid, weil man ihnen ansieht, wie scheußlich es ist, eingesperrt zu sein. Wölfe laufen in freier Wildbahn zwanzig Kilometer am Tag. Hier im engen Gehege rennen sie so oft im Kreis, dass sie über die Jahre tiefe Rinnen in die Erde gelaufen haben.

Ein riesiger silberschwarzer Wolf blieb abrupt stehen, hob den Kopf und schnupperte in meine Richtung. Dann setzte er sich hin und fixierte mich so starr, dass ich nervös wurde.

»Was ist?«, habe ich ihn gefragt, einfach nur um die Stille zu unterbrechen. »Was schaust’n so?«

Der Wolf blinzelte ein paarmal, wandte den Kopf zum Fledermaushaus, stand dann auf und verschwand lautlos zwischen den Bäumen.

Das Fledermaushaus wurde erst vor wenigen Monaten eröffnet. Es ist riesig und angeblich eine Sensation, mit ganz seltenen Fledermausarten. Ich ging durch eine schwarze Tür in das halbdunkle Haus, in dem es schön kühl war, und blieb stehen. Um mich an das Dunkel zu gewöhnen. Aber auch weil ich darauf wartete, dass die kleinen Fledermäuse an mir vorbeiflogen. Erst spürt man ja ihren Lufthauch. Dann erkennt man sie, aber nur wie ein dunkles Wischen. »Nachtflecken«, hat Lotti die Fledermäuse mal genannt.

Diesmal spürte ich keinen Lufthauch. Und ich konnte auch keine einzige Fledermaus erkennen. Es war wirklich seltsam, diese leere Dunkelheit, das ganze Haus wirkte wie ausgestorben. Ich musste an den unheimlichen Moment am Vormittag denken, als das kleine schwarze Ding mit diesen fiesen Augen vor unserem Klassenzimmer rumgeflattert war, und rief vorsichtig: »Hallo?«

Irgendwo knisterte es, als ob jemand eine Plastikfolie zerknüllte, sonst war da nur schwarze Stille. In der Tropfsteinhöhle vor mir, in der sonst immer mehrere Fledermäuse kopfüber hingen, tropfte nur das Wasser vor sich hin. Diese leisen Ploppgeräusche machten die Stille noch unheimlicher.

Plopp.

Stille. Dunkel. Nichts.

Plopp.

Ich suchte die Tropfsteinhöhle mit den Augen ab, irgendwo mussten die Fledermäuse doch sein. Und plötzlich hatte ich dieses seltsame Gefühl. Als ob am Ende des Ganges, ganz hinten, jemand steht. Unbeweglich. Jemand, der noch dunkler ist als die Dunkelheit. Jemand, der mich die ganze Zeit stumm beobachtet. Ich schluckte und wunderte mich, wie laut das Schlucken hier drinnen klang.

Noch mal sagte ich: »Hallooo?«

Nichts.

Nur wieder dieses Knistern. Und direkt neben mir, im Wasserbecken: Plopp.

Nichts.

Plopp.

Ich hielt die Luft an, zählte im Kopf bis drei und rannte dann auf den schmalen Lichtschlitz zu, der unter der Ausgangstür durchschien, die Hände vorgestreckt wie ein Blinder.

Als ich durch die quietschende Holztür ins Freie kam, saugte ich erst mal tief Luft ein, wie jemand, der durch ein endlos langes Schwimmbecken getaucht ist. Licht! Luft! Und das Geräusch von rauschenden Bäumen im Wind.

Puh.

Wirklich seltsam, wie schnell man im Dunkeln Angst bekommt. Aber auch hier draußen hatte ich noch das Gefühl, dass das da drinnen keine normale Dunkelheit gewesen war.

Dann sah ich den kleinen Kiosk. Ich wunderte mich kurz, warum es ausgerechnet hier, im hintersten und ruhigsten Eck des Zoos, einen Kiosk gab. Und warum ich den noch nie zuvor gesehen hatte. Der Kiosk hatte einen hölzernen Verkaufstresen. Darauf standen diese runden Gläser mit Schraubverschluss, in denen normalerweise Gummischlangen, Colafläschchen und weiße Mäuse liegen. Die Gläser schienen aber leer zu sein.

Dahinter saß ein alter Mann. Er trug Zoowärterkleidung, grüne Jacke, braune Hose, Gummistiefel … Der bärtige Kopf lag auf seiner Brust, die Hände hatte er über dem Bauch gefaltet, er schien tief zu schlafen, sein Bauch hob und senkte sich gleichmäßig. Hinter ihm standen weitere Gläser. Als ich genauer hinsah, fiel mir auf, dass all die Gläser gar nicht leer waren. Schwammen da etwa träge Quallen drin herum? War das Nebel? Was auch immer es war, es waberte still in den Gläsern vor sich hin und leuchtete von innen. Wie bunte Glühwürmchen, die im Inneren einer Wolke schweben.

Ich drehte mich kurz um, um zu schauen, ob hier noch jemand war. Jemand, der das Ganze genauso seltsam fand wie ich. Aber da war niemand. Vorsichtig berührte ich eines der Gläser. Es war kühl und glatt und durchsichtig, und je länger ich hineinschaute, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass gar kein Glas da war, sondern nur dieser seltsam wabernde Nebel.

»Fass das nicht an, die darf man nicht stören«, sagte eine tiefe Stimme.

Ich zuckte zusammen. Der Mann sah mich ruhig an. Er hatte sehr große, braune Augen. Sein Blick irritierte mich. Er schaute nicht besonders streng oder böse, aber irgendetwas daran war zutiefst beunruhigend.

»Wen darf man nicht stören?«, fragte ich.

Statt zu antworten, kramte der Alte in seiner Weste herum und reichte mir dann einen Kaugummi in Silberpapier: »Probier mal.«

Ich zögerte. Er nickte mir aufmunternd zu. Als ich das Papier aufmachte, sah ich, dass der Kaugummi schwarz war.

»Keine Angst«, sagte der Mann. »Und schöne Träume!«

Der Kaugummi schmeckte echt merkwürdig – salzig, bitter, fruchtig, süß, alles auf einmal. Mir wurde etwas schwindlig und ich sagte: »Wie bitte?«

»Schöne Bäume«, wiederholte der Mann und zeigte nach oben in die Buchen. Als ich seinem Finger mit den Augen folgte, wär mir vor Schreck fast der Kaugummi aus dem Mund gefallen. In den Ästen der Bäume hingen Hunderte von Fledermäusen. Es war unglaublich, überall diese reglosen Tiere. Kopfüber. Wie Wolken aus großen, schwarzen Tropfen. Sie hatten sich in ihre Flügel gehüllt und starrten mit ihren kalten, dunklen Augen zu uns runter.

Der alte Mann schien das ganz normal zu finden. Er sortierte in aller Ruhe seine Gläser und polierte sie mit einem schwarzen Tuch, das er aus seiner Jacke geholt hatte. Als ich die Gläser jetzt ansah, musste ich an den Biounterricht denken. Unser Lehrer hatte uns ein menschliches Gehirn gezeigt, das in irgendeiner Flüssigkeit eingelegt war. Das wolkige Zeug in den Gläsern erinnerte mich an die schrumpeligen Hirnwindungen, nur dass hier alles weicher und wattiger aussah. Außerdem schwebten diese Glühwürmchenlichter darin herum. Wie winziges Wetterleuchten. Als ich länger in eines der Gläser schaute, wurde ich ziemlich müde.

Der Alte sah mich ruhig an, als würde er mich prüfen oder so. Um irgendwas zu sagen, fragte ich: »Kann man Ihre Gläser kaufen?«

Er lachte tonlos, während er mit seinem glänzenden Tuch an einem großen Glas rumputzte. »Nein, wirklich nicht, die sind unverkäuflich. Jedenfalls solange es nach mir geht.«

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Ein Kiosk, in dem man nichts kaufen kann. Stumm starrende Fledermäuse. Ein alter Mann. Und dazu diese seltsamen Gläser. Keine Ahnung, wie lange ich mir das alles angeschaut habe. Jedenfalls zog der Mann irgendwann eine runde Uhr an einer langen Kette aus seiner Hosentasche.

»Hmm, halb sechs«, sagte er. »Ich glaube, du kommst zu spät.«

»Halb sechs?«, rief ich. »Kann gar nicht sein. Ihre Uhr geht falsch.«

»Wär mir neu«, sagte der Alte, »die geht pünktlich, seit es Uhren gibt.«

Er hielt mir das Zifferblatt hin. Tatsächlich, es war halb sechs. Jedenfalls auf seiner uralten Taschenuhr.

»Jetzt lauf schon«, sagte der Alte, »deine Mutter wartet längst.«

Ich rannte los. An dem riesigen Wolf vorbei, durch die Voliere, den geschlängelten Weg entlang und zurück auf den Hauptweg, der jetzt menschenleer war.

Als ich am Ausgang ankam, standen da Lottis Freundinnen und reckten die Hälse nach mir. Tatjana sah mich als Erste und rief aufgeregt: »Frau Helling, Frau Helling, er ist hier!« So eine blöde Streberin. Erst fast die Ziegen umbringen mit ihrer klebrigen Lakritze und dann bei Mama einschleimen. Die kam dann auch gleich aus der Richtung des Streichelgeheges angelaufen und sah wirklich sauer aus.

»Mann, Leon, wo warst du denn? Wir hatten fünf Uhr gesagt. Nie kann man sich auf dich verlassen.«

So ein Mist. Mama sagt so oft »nie«: »Nie hörst du mir zu.« – »Nie machst du, was ich sage.«

»Ich verstehe das auch nicht«, sagte ich, »ich war höchstens zwanzig Minuten weg.«

»Ach, red keinen Blödsinn. Wir warten hier schon seit einer halben Stunde, deine Schwester hat Geburtstag und alle Eltern sind wahrscheinlich schon bei uns zu Hause zum Abholen.«

Lottis Freundinnen scharten sich um Mama wie Küken um eine Henne und liefen mit ihr durch den Ausgang. Und dann ging alles wahnsinnig schnell. Ein schwarzer Pfeil, der von der Seite angeschossen kam. Die Mädchen, die alle gleichzeitig zu schreien begannen. Lotti, die sich die linke Schläfe hielt, taumelte und auf den Boden fiel. Mama kniete über ihr, ein Mann rief, das sei eine Fledermaus gewesen. Als ich nach oben sah, zog eine riesige Wolke aus schwarzen Punkten über den Himmel, lautlos, schnell, in Richtung Wald.

3

Am Abend war dann ziemlich miese Stimmung. Mama war kaputt vom Geburtstag und rührte still in ihrem Teeglas rum. Ich glaub, sie war vor allem geschockt von dem Fledermausangriff am Ende des Zoobesuchs. Sie schaute auch dauernd besorgt zu Lotti rüber, die jetzt ein Pflaster an der Schläfe hatte und so blass war, dass man eine Ader an ihrer Stirn sah. Lotti erzählte Papa von der Robbenfütterung und wie sie lange einem spielenden Elefantenbaby zugeschaut haben. Von der Fledermaus sagte sie kein Wort, so als hätte sie den Angriff gar nicht richtig mitbekommen. Papa hörte kaum zu, sondern murmelte nur »ah ja« und guckte währenddessen in sein Handy. Ich war auch ziemlich still. Auf dem Heimweg hatte ich versucht, Mama von dem seltsamen Kiosk und den Fledermäusen zu erzählen, aber sie hatte mich sofort wütend unterbrochen: »Jetzt schwindel mich nicht auch noch an. Ich hab echt keine Nerven für deine ewigen Tagträumereien.«

Wenn ich mit Mama streite, kommen mir immer so schnell die Tränen und ich muss dauernd schlucken. Also sagte ich einfach gar nichts mehr.

 

Als Papa nach dem Abendessen fragte, ob was in der Schule war, antwortete ich nur, dass ich jetzt neben Elias sitze.

»Wer ist denn Elias?«, fragte Mama.

»Weiß ich auch nicht so genau«, hab ich geantwortet.

Das war dann auch wieder falsch.

»Mann, du musst doch wenigstens mal wissen, mit wem du in die Klasse gehst«, sagte Papa genervt.

»Wie denn?«, verteidigte ich mich. »Der sagt doch nichts.«

»Na, dann seid ihr euch ja ähnlich. Wann willst du Traumtänzer eigentlich endlich mal aufwachen?«

»Gar nicht, ich geh jetzt ins Bett«, sagte ich.

Ich wollte in mein Zimmer, weil ich sauer war. Papas »wenigstens« ist fast noch fieser als Mamas »nie«. Du musst doch wenigstens mal … Als ob ich gar nix weiß und wenigstens das jetzt, das kann doch selbst ein Trottel wie ich mal wissen.

Als ich schon fast an der Küchentür war, sagte Mama noch: »Ach, übrigens, eine Nina hat angerufen, als wir im Zoo waren.«

»Oh«, sagte ich und guckte konzentriert auf die ganzen Postkarten, die bei uns an der Kühlschranktür kleben. »Was wollte sie denn?«

»Ist auf’m Anrufbeantworter.«

»Ah«, sagte ich und gab mir alle Mühe, dass dieses »Ah« so uninteressiert klang wie nur möglich, während ich die Postkarte mit dem Sonnenuntergang überm Meer noch etwas genauer studierte als zuvor.

Ich bin dann aber doch ziemlich schnell zum Telefon im Flur gegangen und hab mich durch die alten Anrufe geklickt:

»Hallo, ihr Lieben, ich bin’s, die Oma …« Piep, weiter.

»Hier ist Papa, ich komm später heute und …« Piep, weiter.

»Ja, also, hallo, hier ist die Tatjana und ich wollte die Lotti …« Oh Gott, bloß weiter.

Aber dann endlich: »Hey, Leon, Nina hier. Wollte nur sagen, dass wir uns Mittwochnachmittag wieder treffen. Weißt schon wo. Max und Robert können auch. Wär schön, wenn du Zeit hast. Ciao.«

Ich starrte auf den roten blinkenden Knopf und fühlte dieses Gefühl. Wie warmes Gold, das sich im ganzen Bauch ausbreitet.

Ist wirklich komisch, das mit Nina. Früher hab ich sie nicht einmal wahrgenommen. Aber seit vier Wochen ungefähr – wobei, »ungefähr« stimmt nicht, ich weiß ja noch genau, wann und wo es war. Im Freibad, mit Max, am ersten Tag der Pfingstferien.

Es war einer dieser typischen Nachmittage mit Max. Der benimmt sich ja immer, als ob er auf einer Bühne wäre, und checkt dauernd heimlich, wer ihm alles zusieht. Wenn kein anderer da ist, redet er mit mir. Aber wenn irgendwer guckt, muss er seine Show abziehen. Vom Fünfer springen. Lauter lachen, als man eigentlich lacht. Hauptsache, cool. Ich fühl mich nach so einem Nachmittag immer grau und langweilig.

Aber an diesem Tag war Nina auch da, mit ihrer Freundin Shermin, und erst war es wie früher, also, ich hab sie gar nicht richtig gesehen, nur so: »Hallo« – »Hallo«. Aber als wir grad rübergingen zum großen Becken, saß sie da lachend im Gras und das Wasser tropfte aus ihren braunen Haaren und lief direkt unterm Hals in dieser kleinen Kuhle zusammen, wo die Knöchelchen links und rechts so schön unter der Haut zu sehen sind. Ninas Haare lagen ihr nass auf den Schultern und beim Heimradeln hab ich gar nicht mehr verstanden, dass ich sie vorher nie bemerkt habe. Und Max und ich, wir hatten selbst noch nasse Haare, als wir die Valleystraße runtergeradelt sind, und ich weiß noch, wie ich dachte, dasselbe Wasser, in dem sie auch rumgeschwommen ist.

 

Ich stand immer noch im Flur, starrte auf das rote Blinken des Anrufbeantworters und hätte Ninas Nachricht am liebsten noch mal angehört, aber in der Küche war es ganz still geworden, jede Wette, die lauschten alle drei heimlich. Also bin ich in mein Zimmer.

Ich hab mich ausgezogen, ins Bett gelegt und wieder an Nina gedacht. Und dass ich morgen unbedingt mit zum Schuppen muss. Während ich so an die Decke starrte, erkannte ich ein dunkles Muster in der Tapete. Wie eine riesige Fledermaus. Und da fiel mir der seltsame Typ im Zoo wieder ein. Sein Kiosk. Die Gläser voller Nebel …

Und dann …

Ich weiß nicht, wie ich das, was danach passiert ist, erzählen soll. Weil es dermaßen verrückt ist. Immer noch. Auch jetzt, Wochen später, wo alles vorbei ist: Die Traumregale geplündert. Die Fledermäuse wieder zurück im Zoo. Die Geheimfabrik von Krato abgebrannt und ich aus dem Krankenhaus draußen.

Ich erinner mich noch daran, wie ich wahnsinnig müde wurde, während ich auf das Muster in meiner Tapete starrte. Wie ich mich wunderte, dass sich darin ja lauter flatternde Fledermäuse verstecken. Dass ich plötzlich wieder den seltsamen Geschmack von dem schwarzen Kaugummi im Mund hatte. Aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich eingeschlafen bin. Ich weiß auch den Anfang meines Traumes nicht mehr, aber ich kam bald in diese scheußliche Szene, die ich seit der Fünften oft träume: Auf dem Schulweg, kurz vor acht. Ich renne, so schnell ich kann, weil ich verschlafen habe. Als in der Ferne das Schulhaus auftaucht, höre ich schon den Gong und weiß: zu spät! Wieder nicht geschafft. Dann renne ich ewig an der Hecke entlang, die unser Schulgelände von der Straße trennt. Ich will die Treppe zum Haupteingang hochlaufen. Aber sobald ich die Treppe betrete, kommen mir lautlos die Stufen entgegen, wie bei einer Rolltreppe, die nach unten läuft. Ich renne und renne, doch die Eingangstür am oberen Ende der Treppe kommt einfach nicht näher. Als ich dann endlich im Schulhaus stehe, verschwitzt und total außer Atem, ist da dieser lange, schmale Gang, den ich runterlaufen muss. Hinter den Türen der Klassenzimmer hört man Lehrergemurmel, der Unterricht hat natürlich längst begonnen. Je länger ich renne, desto länger wird auch der Gang.

Normalerweise geht dieser Traum so weiter, dass ich unser Klassenzimmer nicht finde und hilflos herumirre, bis ich schweißüberströmt aufwache. Diesmal aber kam mir im Gang eine Frau entgegen. Die sah völlig anders aus als unsere Lehrerinnen. Eleganter. Fast wie eine Gräfin oder so. Schwarzes Kleid bis zum Boden. Und wie die ging. Als ob sie schweben würde. Aber vor allem hatte sie Riesenaugen. Dunkel wie ein Moorsee. Mit denen hat sie mich stumm angesehen, als sie an mir vorbeilief. Ich hätte ihr sicher nachgestarrt, aber in dem Moment sprang direkt neben mir die Tür zu unserem Klassenzimmer auf, so schnell und laut, als hätte sie jemand von innen aufgerissen. Ich zuckte zusammen. Am Pult stand ein Mann und hielt ein aufgeschlagenes Buch in seiner Hand. Nicht irgendein Mann. Das war der Typ aus dem Zoo! Aus dem seltsamen Kiosk. Das gibt’s doch nicht. Ich schluckte. Er sah von seinem Buch auf, guckte ruhig zu mir rüber und nickte anerkennend. Als sei es was Tolles, wenn einer zu spät kommt. Er klappte langsam sein Buch zu, und ich weiß noch, dass es ganz schwarz war, also nicht nur der Umschlag, sondern auch die Seiten. Dann sagte er: »Du hast mich aber schnell gefunden.«

Der Mann wirkte jetzt viel größer als am Nachmittag. Beeindruckend. Mächtig. Es war so still, dass ich mein eigenes Schlucken hörte.

»Was ist los?«, fragte der Mann. »Warum starrst du mich so an?«

»Na ja«, sagte ich, »mein Traum geht eigentlich anders.« Und ich erinner mich noch genau, dass ich mich über meinen Satz gewundert habe, weil man im Traum ja keine Ahnung davon hat, dass man träumt.

»Woher willst du wissen, dass du träumst?«, fragte der Alte, als hätte er meine Gedanken gehört. »Komm rein und mach die Tür zu.«

Er sah mich wieder mit diesem seltsamen Blick an wie im Zoo. Irgendetwas in seinen großen Augen bewegte sich.

Ich trat langsam ins Klassenzimmer. Alles war wie immer, die Stühle, die Tische, an der Tafel stand sogar noch die Rechenformel, die Herr Pallenberg am Vormittag mit der Kreide hingeschrieben hatte. Kurz bevor er uns umgesetzt hat. Der einzige Unterschied zu heute Morgen: Draußen war es stockdunkel. Hier drinnen brannten die Neonleuchten an der Decke. Eine davon flackerte und machte dabei bitzelnde Geräusche. Der Mann und ich spiegelten uns in dem Fenster, durch das ich am Morgen die Fledermaus gesehen hatte.

Er folgte meinem Blick und winkte mir dann in der Scheibe zu: »Guten Abend, Leon. Ich heiße Morpheus.«

»Ah«, sagte ich. »Tag, Herr Morpheus.« Woher wusste der meinen Namen?

Morpheus wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern drehte sich zur Tafel. Er nahm den Schwamm und fing an, sie damit abzuwischen. Erst war alles ganz normal, die Matheformeln verschwanden, und wo der Schwamm über die Tafel fuhr, wurde sie von der Feuchtigkeit dunkel. Aber dann wurde sie noch dunkler, erst dunkelgrün, dann schwarz und dann … dann sah es auf einmal so aus, als ob Morpheus nicht nur die Kreidezahlen, sondern die ganze Tafel wegwischen würde.