TraumZeitRisse -  - E-Book

TraumZeitRisse E-Book

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Beschreibung

Ich bin keine Heldin und ich werde die Welt nie wirklich besser machen. Deswegen will ich gehen. Kilian Hamidi  Gehen und Bleiben, Leben und Tod, Traum und Realität, was geschieht, wenn sie verschwimmen?  Und was passiert in den Grenzbereichen?  Krieg, Kindheitsträume, Cyber Punk, Reptiloiden und kafkaeske Albträume – so breit gefächert sind die Themen der jungen Autor_innen, die zum selbstgewählten Thema Realitätsverlust diese Fragen beantworten. Es sind Texte voller Einsamkeit, Zärtlichkeit, Misstrauen und Poesie. Wer bin ich? Kann ich meinem Bewusstsein noch trauen? Gehört meine Gedankenwelt noch mir oder bin ich längst fremdgesteuert? Diese Ideen ziehen sich durch die 21 Kurzgeschichten.  Sie reißen Löcher in das Leben, das sie ihm auferlegen und lächeln durch sie hindurch, sehen nichts als strahlende Aussichten vor dem Hintergrund seines Schweigens. M.J. Heiduczek

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Seitenzahl: 291

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Autor_innen legen Wert darauf hinzuweisen, dass in einigen Texten die Themen Gewalt, psychischer Grenzbereich, Tod eine zentrale Rolle spielen.

TraumZeitRisse

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.de abrufbar.

Originalausgabe

Copyright © 2024 by Primero Verlag GmbH,

Kirchstraße 42 88489 Wain

www.primeroverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat und Korrektorat:

Christoph Fromm, Wain

Yvonne Ramp, München

Katharina Schröder, Innsbruck

Umschlaggestaltung:

Hannah Benjes

[email protected]

Satz:

Lucky Illustration Ramona Arbinger

[email protected]

Druck und Bindung:

FINIDR s.r.o.

www.finidr.cz

Printed in Czech Republic

ISBN

978-3-9825916-1-2

Inhalt

Krieg

Drei Finger Nadine Schmidt

Der Namenlose Paula Klöver

Kinder

Aus der Asche ein Affe Nina Funk

Der Geschichtenerzähler Lea Lühmann

Die Entdeckung im Dunkeln Paulina H. Winkler

Wispern in den Wänden Mirjam Schmidt

Albträume

Waldschafe Leoni Ritter

Im Auge des Sturms Kilian Hamidi

Photosynthese Pia Stadhaus

Wenn ihr geflüstert habt Marie Neßhöver

Der Blick Tobias Schiefer

Eine Nacht im Krankenhaus Yannik Blanke

Einfach schlafen Almedina Elkasovic

Fleur de Elysium Jana Knösel

Das Summen im System Lucy Hammann

Die Haltestelle Mona Thaden

Science Fiction

Risse M. J. Heiduczek

Flori and the Machine Mirjam Weinzierl

Charybdis Jessica Grube

Orangensaft und Kaffeebohnen Kim Puntke

Teppichboden und tote Fliegen Hannah Benjes

Drei FingerNadine Schmidt

Er hatte schöne Hände: den ganzen Tag hätte sie ihm beim Bleistiftanspitzen zuschauen können. Seine Knöchel arbeiteten wie Zahnräder unter seiner Haut. Und wie spitz er die Stifte machte! Als schärfe er ein Florett. Die Mine so dünn, dass sie kurz vor dem Abbrechen war. Manchmal riss die jähe Präzision seiner Linien Narben in die Notenblätter. Aber selbst die Kringel aus abgeschabtem Holz, die beim Spitzen zu Boden fielen, sahen ästhetisch aus.

»Da«, sagte er und bohrte den Stift ins Papier. »Crescendo. Nicht: Ich lasse eine Spinne auf die Tasten fallen und Polka tanzen. Und Sechzehntel, Fräulein, keine Achtel. Wenn du mich schon einschläfern willst mit deinem Geklimper, dann solltest du zumindest die Töne treffen.«

Sie stellte die Finger zurück auf das vergilbte Elfenbein, die letzten beiden Fingerglieder aufrecht wie ein Regiment Soldaten.

Wenn er sie quälen wollte, ließ er sie Mandarinen in der Handfläche halten, während sie übte.

»Um die Fingerstellung zu verbessern«, behauptete er.

Fielen sie runter, was sie meistens taten, musste sie von vorn beginnen, wieder und wieder, bis alle Muskeln und Sehnen in ihren Händen schmerzten oder er vorzeitig die Geduld verlor.

Auch diesmal unterbrach er sie nach zwei Takten.

»Fingersatz«, schnarrte er und klopfte ihr mit dem Stift aufs Handgelenk, nicht fest, aber so, dass sie’s spürte. »Eins-fünfdrei-fünf-zwo-vier-drei-fünf. Los. Von Anfang an.«

Die Tür zum Garten stand offen; mit jedem Windhauch ergoss sich der zitronenhelle Mainachmittag von draußen ins Zimmer, streute weißen Knöterich aufs Parkett. Sie drehte eine Haarsträhne um den Daumen und seufzte tief. Für ihn spielte sie gern den Tölpel; er merkte es nie.

»Können Sie’s mir nicht nochmal zeigen? Sie wissen doch, ich lerne so schlecht, wenn ich’s direkt allein versuchen soll.«

»Weil du lieber mit den Wimpern klimperst als auf dem Klavier.« Schnaubend scheuchte er sie von der Bank, so wie ein Gerfalke eine Taube verjagt, und ließ sich dann selbst darauf nieder, ordnete seine Federn.

Er war ein Freund ihres Vaters: die neueste Errungenschaft.

»Musiker«, pflegte ihre Mutter zu sagen, wenn man sie auf den Gast ansprach. Dazu spitzte sie die Lippen, was gleichbedeutend war mit: Hält sich für was Besseres. Ihr Mann war einer der führenden Fabrikanten in der Rüstungsindustrie, hatte dem Kaiser höchstselbst die Hand geschüttelt: So sah Erfolg aus!

Wenn er dabei nur nicht weichherzig gewesen wäre wie ein zahnloses Mütterchen. In Künstlerkreisen lachte man über ihn, diesen Pinguin in Dreiteiler und gestärktem Kragen, der sich als Mäzen versuchte. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand.

Aber der Mensch muss schließlich jemanden finden, den er anbeten kann. Maximilian Lerchenfeldt.

Bevor er eines Abends vor der Tür gestanden hatte, war es ihr ein Zeitvertreib gewesen, den Namen dutzendfach in ihre Notizhefte zu schreiben. Von den Lippen ihres Vaters hatte er verheißungsvoll geklungen – versprach jemanden, den man Max rufen konnte, sobald man ihn besser kannte, die knappe Silbe grünblauschwarz wie ein Tannenwald in einem zu trockenen Sommer. Sie war entzückt, als sich herausstellte, dass er genauso aussah: lang und linkisch und rappeldürr, mit rußfarbenen Augen und einem Schopf wie ein struppiger Hund. »Hoffentlich haart er nicht auch wie einer«, knirschte ihre Mutter, die den Streuner von jetzt an füttern musste.

Haaren tat er nicht, jedenfalls nicht im Übermaß, doch er lag recht oft untätig auf dem alten Biedermeiersofa in der Stube, klagte über missglückte Kompositionen und verlangte nach verbalen Streicheleinheiten. Aus gutem Hause kam er nicht; dass er es überhaupt so weit gebracht hatte, Konzertsäle zu füllen, verdankte er einzig und allein seinem Talent sowie der Fähigkeit, sich bei denen lieb Kind zu machen, die ihm dienlich sein konnten. Das war keine einfache Sache für einen wie ihn: Er war es gewohnt, bewundert zu werden.

Siebenundzwanzig Knochen zählte die menschliche Hand; sie hatte es nachgelesen. Da gab es nicht nur Phalangen und Metakarpale, sondern auch kleinere, wie mit dem Meißel herausgebrochene Knöchelchen, die Hakenbein oder Mondbein hießen. Wenn sie ihn spielen hörte, so wie jetzt – Max, korrigierte sie sich, in Gedanken nannte sie ihn immer Max – dann stellte sie sich vor, wie all die winzigen Knochen ineinandergriffen, auf ihn übergriffen, als seien sie von einer inneren Harmonie beseelt: effizient, zwanglos. Sein Skelett bestand sicher aus Elfenbein – ihres Vaters liebster Witz. Doch was sonst hätte eine solche Affinität zwischen Mann und Instrument hinreichend erklären können? Ein Misston brach den Fluss der Musik.

Über ihnen sprang das elektrische Licht an, spülte den kühlen graugrünen Schimmer, der im Nachgang des Nachmittags ins Zimmer gesickert war, zurück in den tauatmenden Garten.

Sie rieb sich die Augen wie eine Fliege, die mit klebrigen Flügeln aus einem Glas Limonade gefischt wird, und streckte faul die Glieder. Max hingegen war aufgesprungen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. In der Tür stand ihr Vater.

»Ich dachte schon, das ist meine Tochter, die da spielt.«

Er wollte, dass etwas aus ihr wurde: kein schnöder Zahlenmensch, wie er einer war. Kumpelhaft klopfte er Max auf die Schulter. »Wart ihr denn fleißig?«

Manchmal, wenn ihre Mutter Besorgungen machte, überredete sie Max, die Klavierstunde ein wenig auszudehnen.

Dann taten sie es in ihrem Zimmer unter der Dachschräge; nur dann durfte sie Max zu ihm sagen. Sie lag in seiner kantigen Umarmung, räkelte sich im Glanz seiner ruppigen Freundlichkeiten und starrte an die Decke. Da waren Gesichter im Holz; sie konnte sie durch den Anstrich schimmern sehen, ganz deutlich.

Knorrige Altherrenfratzen, deren Augen und Stirnen konzentrische Falten warfen; die langen, trägen Visagen hutbewehrter Damen, die gewohnheitsmäßig über ennui klagten, und mondgesichtige Kinder, die Köpfe rund wie ein Käserad.

Sie alle waren da, lagen im Holz wie Mücken in Bernstein, und jedes einzelne befahl ihr: Schau mich an. Das war es also, was ihr blühte. Sie hob die Hand und schob sie in Max’ schilfbraunes Haar, packte fest zu. Der sollte sie auch ansehen, jetzt, wenn er es sonst schon versäumte. »Louise«, sagte er über ihr, »Louise«, und waren Männer nicht lächerlich, so unendlich lächerlich?

Zur Strafe kniff sie ihn heftig in die knochige Hüfte.

Sie hatte ihm verboten, sie beim Namen zu nennen. Von seinen Lippen klang Louise violettweißgrün wie eine geblümte Gardine: runzlig, altbacken, falsch. Besser, er nannte sie Fräulein – ach was, besser, er nannte sie überhaupt nichts.

Er hatte kluge Finger, aber sobald er den Mund aufmachte, bekleckerte er sich selten mit Ruhm.

»Sie hört nicht«, beschwerte er sich eines Abends bei ihrem Vater. Die beiden saßen bei Zigarren und Cognac im Salon; sie kauerte auf dem Treppenabsatz darüber und lauschte, die Zehen unter das Nachthemd gezogen.

Es war so dunkel, wenn man aus dem Fenster sah.

»Hört nicht?« Der Vater lachte polternd. »Na, das Problem kennen meine Frau und ich auch.«

Sie konnte von ihm und Max nur die Schatten sehen, die im ockerfarbenen Zirkel der Lampe flackerten: Abbilder der Menschen, die sie kannte, nicht die Menschen selbst.

Max fiel nicht in das Gelächter ihres Vaters ein.

Stattdessen hörte sie ihn husten; er war das Rauchen nicht gewöhnt. »Das Fräulein kann ein störrisches Biest sein, ja«, räumte er ein. »Aber das meine ich nicht.«

Durch die fein gedrechselten Stäbe des Treppengeländers beobachtete sie, wie das Abbild seines Fußes ungeduldig auf-und ab wippte. Er war ein nervöser Mensch, voller zu stark gespannter Saiten; obwohl sie seine Hände nicht sehen konnte, wusste sie, dass sie ruhelos umherflatterten wie lose Oktavblättchen. Stillstand war ihnen fremd.

»Ich will dir ja glauben, dass du die Töne hörst, in deinem Kopf«, sagte er manchmal zu ihr. »Aber mein Ohr erreichen sie nicht.« Vielleicht war es das, was er an jenem Abend zu ihrem Vater sagte, vielleicht etwas gänzlich anderes. Später konnte sie sich nicht erinnern. Sie sah nur, wie der Lichtkreis, den die Lampe auf den Teppich warf, bis auf einen Nadelpunkt zusammenschrumpfte; fransige blaue Schatten sammelten sich auf den Treppenstufen. Vor ihren Augen erhob sich ein Faden aus gleißender Helligkeit, stieg auf wie eine Rauchsäule und verlosch. Sie spürte die Furcht in sich wachsen wie jemand, der einen Kiesel in einen finsteren Brunnen wirft und auf einen Aufprall horcht, der nie kommen wird.

»Ich verbitte mir diese Attitüde.« Der Vater war aufgestanden; sie erkannte es am Strömen der Schatten auf der Tapete.

Einer ragte auf, breit wie eine Wolkenwand, während der andere – Max – unter ihm zu welken schien, als fürchte er den Regen.

Hätte er sich erhoben, wäre er größer als ihr Vater gewesen, und warum bloß kam er denn nicht aus dem Sessel hoch?

Doch zu spät: Schon fuhr ein Zeigefinger hinab auf sein Brustbein. »Meine Tochter besitzt Talent. Sie werden es aus ihr herauskitzeln, Herr Lerchenfeldt, oder Sie sind die längste Zeit Gast in diesem Haus gewesen.« Da wurden aus der täglichen Klavierstunde fünf und aus ihrem Körper ein Klangraum, in dem jeden Morgen beim Aufwachen jemand dumpf eine Stimmgabel anschlug, dass es ihr nur so in den Knochen vibrierte; und sie trug diesen Ton in sich wie eine Glocke im Nebel, über den ganzen Tag hinweg, bis sie endlich zu Bett gehen durfte und er verklang, sobald sich das Dunkel um sie schloss.

Zu Anfang wünschte sie sich manchmal, es möge sie doch der Vater oder wenigstens die Mutter erwischen, dort mit Max unter der Dachschräge. Wenn auch nur damit alles ein Ende hätte.

Aber es kam nie jemand und klopfte, platzte nie jemand herein, als sie sich schließlich das Abschließen abgewöhnte.

Vielleicht waren sie zu blauäugig, um etwas zwischen ihr und ihrem spröden, mürrischen Max zu vermuten oder vielleicht kümmerte es sie einfach nicht. Vielleicht war es in Ordnung, wenn die eigene Tochter ein Flittchen war, solange sie bloß eine große Pianistin würde.

»Louise«, japste Max über ihr, »Louise«, und war das nicht auch schon Marter, die Enge dieser Gewohnheit, Haut an Haut?

Mit der Zeit begann sie die Vorhänge zuzuziehen, gleich morgens nach dem Aufstehen. Es war immer so hell in diesem Zimmer; man ertrank ja in diesen Wogen aus elfenbeinfarbenem Licht, die zum Fenster hereinschwappten.

Die Dunkelheit war es, die es zu konservieren galt, damit nicht alles die Farben verlor, so wie eine alte Fotografie ausblich, wenn sie zu lang an einem sonnigen Platz hing. Und fühlten die schmalen schwarzen Tasten nicht ebenso, die nach Luft schnappten, hinschwanden in all dem Weiß? Nachmittags legte sie sich oft hin, auch wenn es im Sommer unter dem Dach so heiß wurde, dass an Schlaf eigentlich nicht zu denken war.

Aber man musste die Zeit totschlagen, wo es ging - sie entglitt einem so leicht. Einmal erwachte sie vom Flirren des elektrischen Ventilators, desorientiert, irgendwann gegen halb sieben.

Hinter den Vorhängen lag die Glut eines Juliabends: eine pfirsichweiche Wärme, in die man willenlos hineinfiel. Sie widerstand dem Drang, die Vorhänge zu öffnen.

Aber sie wagte sich doch die Treppe hinunter und schlüpfte dann durch die Küchentür hinaus in den Garten, damit sie dem Klavier im Salon nicht begegnete. Max lag unter dem Apfelbaum, den Strohhut tief ins Gesicht gezogen. Rauchend. Das hatte er sich angewöhnt; sie verabscheute den Geruch. Doch sie ging trotzdem zu ihm hin, auf Sohlen, die schon die Nacht im Gras lauern spürten, und schob ihm mit dem bloßen Fuß das Hosenbein hoch. »Fräulein«, sagte er warnend.

Er sah nicht zu ihr auf – vielleicht, weil beide Hände damit beschäftigt waren, eine Spur Tabak auf ein braunes Papier zu krümeln, vielleicht auch, weil auf der Terrasse der Vater in seinem Korbstuhl saß und in der Börsenzeitung blätterte.

Max schnappte zu wie eine Auster, wann immer der alte Mann in der Nähe war; nicht einmal einhaken durfte sie sich bei ihm, wenn sie sonntags mit den Eltern flanieren gingen.

Sie ignorierte sein gereiztes Zischen geflissentlich und lehnte sich über ihn hinweg in den Baum, angelte nach einem Apfel und schlug die Zähne hinein, dass es krachte. Nur am Rande nahm sie wahr, wie Max ihren Knöchel umfasste. Seine Handflächen waren härter geworden während der letzten Monate, und genauso sein Ton. »Schluss mit den Spielchen«, sagte er. »Du hast den ganzen Nachmittag auf der faulen Haut gelegen. Geh üben.«

»So, so.« Ungerührt blickte sie zu ihm hinunter.

»Auf der faulen Haut also. Und was ist es, das du hier treibst – höhere Mathematik vielleicht?« Sie ließ den angebissenen Apfel in seinen Schoß fallen. »Und schau, die Gravitation hast du auch schon erfunden!«

»Louise«, zischte Max verärgert und fuhr auf. »Herrgott.«

Sie hinderte ihn am Aufstehen, indem sie ihm aufs Hosenbein trat. »Na was, Herr Lerchenfeldt? Glaubst du, Papa kauft dir keine neue Hose, wenn die hier ruiniert ist?« Sie klaubte den Apfel aus dem Gras, ohne auf den Dreck zu achten, der nun daran klebte, und biss erneut hinein.

»Ah. Wintergoldparmäne. Ganz altmodische Sorte.«

»So wie ich, meinst du?« Die Augenbrauen hebend schnippte er die Tabakkrümel von seinem Bein und wand ihr den Apfel unsanft aus den Fingern. Seine Zähne gruben sich in die Spuren, die zuvor ihre hinterlassen hatten; er verzog den Mund zu einem Strich. »Sauer«, sagte er. Es war längst Herbst.

Seine Arme waren braun von den Launen des Sommers, sein Hals sonnenwarm, wo er im Hemdkragen verschwand. Sie setzte sich neben ihn auf den Rasen und fuhr mit dem Zeigefinger die Linie seines Schlüsselbeins entlang; beobachtete, wie seine Hand im Gras zuckte und ihre doch nicht aufhielt in ihrem Tun. Seine Knöchel lagen wie Knäufe unter der verwitterten Haut.

Sie malte sich aus, wie er sie sich ausmalte. Ein Geist trivialer Vergnügungen, würde er sagen, möglicherweise zu einem Freund aus dem Konservatorium, während sie einen Stapel Notenblätter für das nächste Konzert durchgingen. Ein albernes Ding, weder von Talent noch Belang. Aber wer braucht schon das eine oder das andere, wenn Vati nur reich genug ist?

Ihre Hand kroch unter seinen zerknitterten Kragen, betastete die kleinen runden Halswirbel, die wie Perlen an einer Schnur aufeinanderfolgten. Sie stellte sich vor, wie es wäre: woanders. Sie und er, in einer Mansardenwohnung, in der es durchs Dach regnete, so wie bei Spitzwegs Armem Poeten. Sie am Tisch, auf einem der kippligen Stühle, mit einer Katze auf dem Schoß über das Kreuzworträtsel in der Zeitung gebeugt. Max, wie er am Herd vor sich hin pfiff und Eier in die Pfanne schlug, sich eine Zigarette in den Mundwinkel klemmte, unsinnige Vorschläge für ihr Rätsel machte und darüber das Frühstück anbrennen ließ. Aber schließlich wurde ihr auch das lästig; er wurde ihr lästig.

Sie stahl der Mutter Geld aus dem Portemonnaie und behauptete, Max habe es getan. Wenn sie dem Vater vorspielen musste, haute sie absichtlich grobe Fehler in ihre Stücke, bloß um dann in Frustration die Ellbogen auf die Tastatur zu stützen und zu seufzen, »Ach Papa, Herr Lerchenfeldt hat wieder nicht mit mir geübt.« Das trug ihnen beiden Schelte ein: Max bekam von ihrem Vater postwendend die Leviten gelesen und sie von Max, wann immer sie das nächste Mal allein miteinander waren.

»Willst du mich bestrafen, Louise?«, fragte er oft, bleierne Müdigkeit in seinem Galgenvogelgesicht. Als sei er es, der ihr Mitleid verdiente. Ihre Welt war so zusammengeschnurrt, dass sie sich auf diese eine Frage reduzieren ließ.

Sie kreiste darum wie ein Geier um ein Stück Aas und starrte dabei die Dachschräge an, die selbst im Halbdunkel so voller Gesichter war. Dicht an dicht standen die ungebetenen Zeugen ihres Scheiterns, schauderten, wichen ihr aus. Sie sah sie an sich vorbeidrängen, diese blasierten Massen, und dann war es ihr, als blickte sie selbst von dort oben auf sich herunter, schwerelos über sich schwebend, ein uraltes, verhärmtes Staubgespinst, das Einlass verlangte in diesen unbekümmerten jungen Körper.

»Louise?« Es erstaunte sie, dass Max noch da war – dass er noch Platz hatte, neben ihr. Sie hatte sich abgewöhnt, ihn anzuschauen. Er war noch knochiger geworden in den letzten beiden Jahren; an seiner Hüfte gab es nicht mehr viel zu kneifen. Aus aschdunklen Augen blickte er zu ihr hinüber, ermattet von der Gewohnheit. Zwei Wochen später brachte er sie zum Vorspiel ins Konservatorium.

»Hat keinen Sinn, länger zu warten«, sagte er. »Entweder sie kann es jetzt oder sie lernt es nie.« Der Blick ihres Vaters sagte, dass sie es besser zu können hatte. Und das tat sie: Die passende Ausrede hatte sie sich schon vor Wochen zurechtgelegt.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie in liebenswertem Ton zum Fachbereichsvorstand, als Max sie vorstellte. »Meine Hände sind immer so kalt bei diesem Wetter. Fühlen Sie nur – ich habe ganz steife Finger.« Draußen hatte es zweiundzwanzig Grad.

Der Schulflügel war aus Nussbaumholz: voller Gesichter.

Das war alles, woran sie sich noch erinnerte, als sie nach einer Viertelstunde den Raum verließ. Die Schnurrbärte und Schnauzbärte und großen Federhüte der Damen.

Max saß vor der Tür auf einer der harten Bänke, in sich zusammengesunken wie ein Greis. Als er mühsam aufstand, fuhr er sich mit dem Handgelenk über die Augen; er fragte sie nicht, wie es gelaufen war. Zuhause ließ sie ihm den Klavierdeckel auf die Finger fallen. Die schönen guten Elfenbeinfinger. Der Vater hielt sie nicht auf.

Sie sah ihn nur einmal wieder. Nach dem Krieg war das, fünfzehn Jahre später, kurz nach dem Börsencrash in New York. In einem Park in einer fremden Stadt liefen sie sich über den Weg. Es war Januar. Der kälteste seit Jahren.

Eisverkrustete Spinnweben hingen zwischen den Bäumen wie Zuckerwerk. Er war es, der sie ansprach; sie hätte ihn nicht erkannt, obwohl er sich kaum verändert hatte.

Nur grau war er geworden. Aber er ging jetzt anders, geduckt wie ein frierendes Tier. »Louise?«

Ihr Name klang aus seinem Mund noch immer wie Großmutters Gardinen. Sein Name hingegen erstarb farblos, ungehört auf ihren Lippen; sie mochte ihn nicht mehr Max nennen.

Wie es ihr ging, wollte er wissen. Was sie all die Jahre gemacht hatte. Was die Jahre aus ihr gemacht hatten.

Sie hakte sich bei ihm unter, wie sie es früher nie hatte tun können, aber stellte nun fest, dass ihnen beiden die nötige Leichtigkeit abhanden gekommen war. Schwer hingen sie aneinander; sein sehniger Arm hielt den ihren wie ein Joch.

Doch die Zeit hatte auch ihre Scham verschluckt. Ihn stützend erzählte sie ihm, dass sie Lehrerin geworden war – in Ermangelung musischen Talents. Das ließ ihn einen Augenblick innehalten, blass vor Verlegenheit.

»Ich war dir wohl kein guter Lehrmeister«, sagte er dann, nur halb im Scherz. Sie sah hoch zu ihm – noch immer musste sie an ihm hochsehen – und empfand mit einem Mal eine erstickende Zärtlichkeit. »Du hast mir Geduld beigebracht, damals«, sagte sie zu ihm. »Wusstest du das?«

Er sah sie bloß an; die Schwerkraft zog an den Falten unter seinen Augen, in denen das Nachleuchten eines Lächelns nistete. Fast hätte sie den Arm ausgestreckt, um ihn zu kneifen – nicht fest, bloß so, dass er’s spürte. Aber nur fast.

Über ihnen hatten sich die Äste mit Flechten bedeckt, wollten wohl nackt nicht gesehen werden. Sie wäre gern mit ihm einen Kaffee trinken gegangen, irgendwohin, wo es warm war, doch er rührte sich nicht vom Fleck. Als sie stattdessen ihr Zigarettenetui aufklappte und ihm eine anbot, schüttelte er nur den Kopf.

»Wie?«, sagte sie. »Du rauchst nicht mehr?«

Er senkte den Blick. »Hab’s mir abgewöhnt. Selber drehen kann ich ja nicht mehr.«

Sie setzten sich auf eine Bank, bis ihnen die Hosenbeine festfroren und die Laternen eine nach der anderen aufflackerten wie Glimmstängel in der Nacht. Als er ihr zum Abschied die Hand reichte, war es die Linke, die er ihr gab; an der Rechten, die er beschämt in der Manteltasche barg, fehlten drei Finger.

Der NamenlosePaula Klöver

Mein lieber Bruder Johann,

die Lage im St. Jürgen Asyl für Geistes- und Nervenkranke, in dem ich seit einer Weile arbeite, verschlimmert sich von Woche zu Woche. Wir sind seit Kriegsbeginn noch stärker überbelegt als davor schon. Ursprünglich war unsere Anlage für rund 330 Patienten ausgelegt, aber seit Kriegsbeginn kümmern mein Team und ich uns um mehr als 500 von ihnen. Es kommen mehr und mehr Soldaten von der Front. Besonders aus Frankreich, ganz vorn aus dem Schützengraben. Es ist grauenvoll.

Wo ist die Stärke unseres deutschen Volkes geblieben? Ich habe die Männer für stresstoleranter gehalten.

Du kannst es dir nicht vorstellen, – große, starke Männer sitzen weinend in sich zusammengesackt da, am ganzen Körper zitternd. Wir haben alle Hände voll zu tun, die Männer ruhig zu stellen. Erst gestern kam ein besonders schlimmer Fall mit dem Krankentransport in meine Abteilung.

Sie haben ihn wohl langfristig zurück in sein Heimatland verlegt, sagte man mir. Er hat bei den Angriffen der Franzosen in der Champagne im Februar einen Granatensplitter abbekommen und im Affekt einen Franzosen erschossen.

Wie besessen murmelte er immer wieder »Ich habe ihn erschossen, ich habe ihn erschossen, ich sehe nur noch sein Gesicht.« Und dabei weinte er unkontrolliert, wippte vor und zurück. Seine Kleidung scheint auch noch aus dem Schützengraben zu stammen. Als ob das Schießpulver sich in seinen Lumpen verfangen und den Geruch des Krieges mit in unser Hospital gebracht hat.

Sie sagen, es sind rund 15.000 Mann auf deutscher Seite allein in der Champagne gestorben. Wie lang wird es noch so weitergehen?

Sag, Johann, wie geht es dir auf Vaters Landgut in Westfalen? Du kannst so unglaublich froh sein, dass du noch immer nicht eingezogen wurdest und auf dem Hof aushelfen darfst. Aber glaube mir, auch Männer in unseren Positionen werden nicht mehr lang in der Heimat bleiben dürfen.

Wenn sie die Soldaten an der Front weiter so verheizen, wird es schneller gehen als uns lieb ist, dass wir in einem Wagen in Richtung Schützengraben sitzen. Die Schwestern und Assistenzärzte hier im St. Jürgen Asyl tun wirklich ihr Bestes, aber sie sind nach diesem harten Winter an ihrer Belastungsgrenze. Auch das Essen wird langsam knapp, die Ernte und die Vorräte reichen nicht mehr lang. Ich hoffe, dass der Sommer dieses Jahr ertragreicher wird und die Felder der Bauern nicht wieder nur Missernten einbringen.

Gerade klopfte Schwester Erika an meiner Bürotür; sie habe Probleme mit dem Neuzugang. Namenlos sei er auch noch, immer wieder stammle er aber französische Bruchstücke und die Worte »terreur«, »mort«, »Gewalt«, »nein«!

Ich werde mich bald auf den Weg zu ihm machen und sehen, was ich tun kann. Es lässt mich emotionsloser werden, je öfter ich eine zerrissene und verstörte Seele sehe. Ich frage mich wirklich, woher dieser Anstieg an nervlichen Störungsbildern kommt. Der Krieg allein kann daran doch nicht Schuld tragen!

Sind wir vielleicht einfach sensibler geworden in der Wahrnehmung? Aber die vielen Soldaten, die nicht mehr aufhören können zu zittern, in sich zusammengesackt, das gab es doch früher nicht. Es ist mir wirklich ein Rätsel. Naja, ich melde mich wieder bei dir, sobald ich kann, mein lieber Johann!

Dein Bruder

Anton

Lieber Johann,

gerade habe ich den neuen Patienten von der Westfront eingehend untersucht. Dabei musste ich leider feststellen, dass nicht nur sein Bein mit dem Splitter in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auch sein Gesicht ist durch Schürfwunden, Schnitte der Splitter und den Schlamm des Schützengrabens entstellt. Selbst Menschen, die ihn womöglich kennen könnten, wären derzeit kaum in der Lage, ihn eindeutig zu identifizieren.

Es ist grauenvoll.

Am ganzen Körper ist er mit Wunden übersät, kleinere und größere, ältere und verkrustete Narben finden sich neben frischen, eitrigen und nässenden Verletzungen.

Das St. Jürgen Asyl Hospital ist gerade sicherlich der beste Ort für ihn. Hier kann er in der naturbelassenen Umgebung, den Gärten und Feldern ringsum und in den kleinen Häusern auf unserem Gelände hoffentlich genug Kraft schöpfen und sich erholen. Die Ruhe hier hat schon den schwierigsten Patientinnen und Patienten geholfen, ihr zerrüttetes Nervenkostüm zu stabilisieren und gestärkt in den Alltag zurückzufinden.

Auch wenn du es vielleicht nicht gern hören magst Johann, so erinnert mich der Namenlose ein wenig an dich.

Er besitzt eine ähnliche Statur wie du und einen herausgewachsenen Haarschnitt in der gleichen dunkelblonden Haarfarbe, wie du sie hast. Wenn ich so darüber nachdenke, können wir uns wirklich glücklich schätzen für unsere sauberen Betten, warmen Mahlzeiten und unsere geregelten Tagesabläufe. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie schrecklich es für mich wäre, wenn ich irgendwann an der Front Verbände wechseln und Beruhigungsmittel verabreichen müsste!

Gott verschone mich davor!

Sag Johann, wie geht es der Mutti?

Hat sie sich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, dass ihr Enkel Ludwig sich freiwillig gemeldet hat?

Weint sie immer noch so viel?

Ich hoffe, dass die Versorgung des Hofes gemeinsam mit dir ihr zumindest ein wenig Halt geben kann. Auch hier im Hospital ist die Arbeitstherapie die erfolgreichste Methode, um die Menschen zurück in den Alltag zu führen. Ich denke an dich und sende dir viel Kraft bei der Unterstützung von Mutti. Wenn ich dir in irgendeiner Art von Nutzen sein kann, schreibe mir umgehend einen Brief!

Ich werde schauen, was sich machen lässt.

Ich traue mich kaum zu fragen mein lieber Bruder, aber es brennt mir wirklich auf dem Herzen. Wie geht es dir in diesen Zeiten damit, dass dein Sohn sich aufgemacht hat, um unsere Soldaten zu unterstützen und unserem Vaterland zu dienen?

Versuche dich nicht von der Angst leiten zu lassen, dass ihm etwas passieren könnte. Er ist ein starker und intelligenter Bursche, er wird sich sicher nicht dumm anstellen und als Kanonenfutter enden. Hab Vertrauen, ich bin in Gedanken immer wieder bei dir, der Mutti und dem Ludwig.

Herzlichst,

dein Anton

Westfalen im Juni 1915

Lieber Anton,

es freut mich so ungemein von dir zu hören!

Immer wenn ein Brief von dir im Briefkasten liegt, werde ich sofort ein wenig entspannter. Auch Mutti hat sich sehr gefreut, von dir zu hören: Ich habe ihr deine Zeilen vorgelesen. Sie hat das erste Mal seit Wochen wieder ein wenig gelächelt, auch wenn das, was du berichtest, wirklich schrecklich ist.

Wie geht es dem Namenlosen jetzt?

Dein Brief hat mich nachdenklich gestimmt. Ich mag mir gar nicht ausmalen, dass es Ludwig so ähnlich ergehen könnte. Wir haben vor seiner Entscheidung dazu, die Soldaten an der Front zu unterstützen, immer wieder miteinander gesprochen.

Glaube mir, ich habe ihn mit all meiner Kraft versucht davon abzuhalten. Wie ich dir schon geschrieben habe, kann ich einfach nicht begreifen, wie man sich freiwillig einer solchen Umgebung aussetzen kann. Du schreibst, dass du nicht verstehst, wieso so viele Männer mit verändertem Gemüt aus dem Krieg zurückkommen. Anton, ich schätze dich als Bruder wirklich ungemein, aber bitte sei doch ehrlich mit dir selbst!

Diese Männer kämpfen zwischen Schutt und Asche, mit den Geräuschen der Artillerie über ihren Köpfen und ohne die geringste Möglichkeit, sich auch nur einen einzigen Tag von ihren Strapazen zu erholen. Sie sehen Verwundete, Tote und sind auch selbst für den Tod von vielen ihrer Leidensgenossen verantwortlich. Anton, so etwas kann der menschlichen Psyche nicht guttun! Du müsstest mit einem Nervengerüst aus Stahl in den Krieg ziehen, um unbeschadet zu deiner Familie zurückzukehren. Ich will zwar den Teufel nicht an die Wand malen doch ich fürchte, dass diese zurückgekehrten Männer nur die Ersten einer durch den Krieg gebrochenen Generation sein werden. Ich weiß, du siehst das alles ein wenig anders.

Du meinst, du könntest ihnen aus ihrer Misere heraushelfen, sogar Heilung herbeiführen. Aber Anton - ich glaube, dass wir realistisch sein müssen. Wenn du diesen Männern zumindest so weit helfen kannst, dass sie wieder halbwegs bei Verstand sind und körperlich genesen zu ihren Familien zurückkehren können, hast du mehr getan als so manch anderer.

Weißt du, ich habe das letzte Mal vor nunmehr vier Monaten von Ludwig gehört.

Ich weiß nicht, wohin seine Division sich aufgemacht hat.

Ich traue mich gar nicht mehr, die Nachrichten gründlich zu lesen und nach Informationen über seine Truppe zu forschen.

Ich hoffe einfach, dass ich bald wieder einen Brief von ihm erhalte oder zumindest die Nachricht, dass er am Leben und wohlauf ist. Erst vorletzte Woche hat mich Frau Meierdierks vom Nachbarhof den Landweg hinunter angesprochen, ob ich nicht etwas von ihm gehört hätte. Ihr Sohn Karl habe sich auch schon so lang nicht mehr gemeldet und langsam würde sie sich doch sehr sorgen. Am Montag dieser Woche dann hat Mutti mir die Todesanzeige im Westfalenkurier unter die Nase gehalten.

Karl soll in der Schlacht in der Champagne bereits Ende Februar gefallen sein, und mit ihm so viele weitere deutsche Männer!

Dein namenloser Patient kam doch auch von dort, oder nicht? Vielleicht haben Karl, Ludwig und er sich gekannt.

Weißt du, ob der Namenlose in einem Bataillon der 16. Division gekämpft hat? Ich würde dich bitten, ihn vorsichtig darauf anzusprechen, wenn er sich ein wenig bei dir eingelebt hat.

Es ist doch einfach grauenvoll.

Ich habe keine Worte dafür, ich mag gar nicht an die arme Frau Meierdierks denken. Ihr einziger Sohn, im Krieg gefallen.

Ich hoffe so sehr, dass es Ludwig gut geht.

Solange ich nichts über seinen Verbleib höre, versuche ich jedoch, guten Mutes zu sein und zu hoffen, dass er am Leben und gesund ist. Ich denke an dich, Anton.

Berichte mir gern, wie sich die Lage im Hospital entwickelt. Konntest du dem namenlosen Soldaten schon ein bisschen helfen? Lässt er sich auf deine Therapievorschläge ein?

Alles Liebe,

dein Johann

Bremen im Juni 1915

Lieber Johann,

ich danke dir sehr für deine ehrliche und schonungslose Antwort. Ich musste wirklich schlucken, als ich deine Zeilen gelesen habe. An deiner Einschätzung mag sicherlich etwas Wahres dran sein … aber ich kann der Realität einfach nicht ins Auge blicken. Ich habe in meiner Studienzeit so viel über die menschliche Psyche gelernt, so viel gesehen und erlebt.

Aber diese jungen, eigentlich kerngesunden Männer, die wieder zurückkommen und gebrochene Existenzen sind, Anton, ich kann es nicht verstehen. Ich liege mittlerweile immer länger wach, grüble viel und versuche zu verarbeiten, was geschieht.

Oh Johann, ich muss dir eine schreckliche und zugleich wunderbare Neuigkeit überbringen.

Ich weiß gar nicht, wie ich es in Worte fassen soll. Ich sollte dir doch weiter von unserem namenlosen Soldaten berichten.

Hast du mittlerweile etwas von Ludwig gehört?

Hat sich jemand von der Front bei dir gemeldet?

So langsam beschleicht mich nämlich eine Vermutung.

Der namenlose Soldat könnte möglicherweise unser Ludwig sein! Ich traue mich kaum, diese Vermutung aufzuschreiben.

Aber die Ähnlichkeit mit Ludwig wird immer stärker, je mehr die Verletzungen des Namenlosen abheilen.

Ich hielt es zuerst nicht für möglich, aber gestern Abend habe ich in meiner Wohnung die alten Familienfotos herausgesucht und auch noch eine Aufnahme von Ludwig bei seiner Schulabschlussfeier gefunden. Da ich Ludwig seit über einem Jahr nicht gesehen hatte und seitdem so unglaublich viel passiert ist, war ich mir erst unsicher.

Doch die Ähnlichkeit des Soldaten und des jungen Mannes, deines Sohnes, ist auf diesem Foto beinahe erschreckend.

Ich kann den Patienten derzeit noch nicht nach seiner Herkunft befragen, da es ihn zu sehr beunruhigen und seinen Heilungsprozess negativ beeinflussen könnte.

Aber Johann, kannst du mir bestätigen, dass dein Sohn Ludwig einen Leberfleck mit Umrissen, die an Italien erinnern auf seinem rechten Oberschenkel hat? Zum Glück hat der Granatensplitter sein linkes Bein getroffen, sodass dieses besondere Merkmal des rechten Beins erhalten geblieben ist.

Ich will dir keine voreiligen Hoffnungen machen, dich nicht beunruhigen. Aber wenn es sich bei dem namenlosen Soldaten wirklich um deinen Sohn handeln könnte, wäre das ein fast unvorstellbares Wunder! Wo in der Champagne doch so viele deutsche Soldaten ihr Leben lassen mussten und du bis jetzt von Ludwig keine Nachricht erhalten hast.

Der Namenlose hat uns noch keine Adresse oder Informationen über Familie und Verwandte geben können, aber sein Wortschatz erweitert sich rasant und es scheint, als ob seine Albträume und seine Weinanfälle in größer werdenden Abständen auftreten.

So oder so bin ich höchst gespannt, von dir zu hören.

Mir geht es den Umständen entsprechend gut, bitte sorge dich darum nicht und richte der Mutti herzliche Grüße von mir aus! Ich würde gern bald zu Besuch kommen, aber die Arbeit und die vielen Patienten lassen dies einfach nicht zu.

Medizinische Fachkräfte fehlen an allen Ecken und Enden, ich werde Tag und Nacht gebraucht.

Bis ganz bald, ich warte gespannt auf deine Antwort!

Dein Anton

Westfalen, Ende Juni 1915

Lieber Anton,

ich kann deinen Worten kaum trauen.

Als ich diesen Brief wie alle anderen gemeinsam mit der Mutti zum ersten Mal las, kamen uns beiden sofort die Tränen.

Ludwig hat das italienförmige Merkmal auf seinem rechten Oberschenkel schon seitdem er ein kleiner Junge ist.

Wir haben damals immer Witze über die Form des Leberflecks gemacht und gesagt, er werde aufgrund des Flecks sicher eine große Leidenschaft für italienischen Wein und Pasta entwickeln. Es ist ein so unglaublich großer Zufall, dass ich es einfach noch nicht wahrhaben will. Ich habe Angst, zu dir zu fahren: Ich weiß nicht, ob ich es aushalten kann, Ludwig so schwer verletzt zu sehen. Aber Mutti ist schon ganz Feuer und Flamme.

Kurz nachdem ich ihr den Brief vorgelesen und sie ihre Tränen getrocknet hatte, sprang sie auf und lief ins alte Gästezimmer, in dem sich mittlerweile die Spinnenweben an den Wänden und in den Ecken sammeln. Sie holte Besen und Kehrblech und fing sofort an zu putzen, als ob der Ludwig schon auf dem Weg zu uns aufs Landgut sei. Ich konnte sie nicht mehr bremsen.

Während ich diese Zeilen schreibe, steht Mutti schon in der Küche und ist am Kochen und Einmachen, damit der Ludwig auch ja wieder schnell auf die Beine komme. Die ganzen Vorräte des letzten Winters werden nun für seine Rückkehr verwendet. Anton, ich werde mich trotz meiner Angst und meiner Bedenken so bald wie möglich am Bahnhof informieren und schauen, wie schnell ich ein Zugticket nach Bremen bekommen kann.

Durch die vielen Truppen- und Materialtransporte kann es aber sein, dass die Züge derzeit nicht regelmäßig fahren.

Ich gebe trotzdem mein Bestes, so schnell wie möglich bei dir zu sein. Zur Not schlafe ich auch auf dem Wohnzimmerboden und reise schnellstens wieder ab, dann müssen wir auch keiner Seele davon berichten. Aber wenn es sich wirklich um Ludwig handelt, dann ist das wohl unser vorzeitiges Weihnachtswunder!

Und das schon im Juni! Hoffentlich kommt er schnell wieder ganz auf die Beine, sonst werde ich womöglich auch auf deine ärztliche Expertise zurückgreifen müssen.